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Dieser Beitrag analysiert die Konzepte der Originalität und der kreativen geistigen Arbeit nicht
nur aus rechtlicher Sicht, sondern bezieht auch andere Erkenntnisse über deren Bedeutung und
Sinn in der aktuellen digitalen Gesellschaft mit ein. Er schlägt daher ein Umdenken hinsichtlich
der Begriffe "Autor", "Autorschaft" und "Plagiat" vor, welche nur selten hinterfragt werden.
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Das Konzept der "Autorschaft" wird immer fragwürdiger. Denis Borges Barbosa macht
darauf aufmerksam, dass seit dem 19. Jahrhundert eine echte Mythologie rund um den
Begriff des "Autoren" entstanden ist.2 Denis Barbosa bevorzugt die Bezeichnung "origi-
nação" (Geburt, Generierung, Verbindungsaufbau) an Stelle von "Autorschaft". Diese
stellt die Beziehung der Quelle einer bestimmten Schöpfung mit dem geschaffenen
Werk dar. Ebenso zeigt Michel Schneider auf, dass Plagiate erst seit dem Beginn des
modernen Zeitalters verfolgt werden.3 Vor diesem Zeitpunkt spielte das Plagiat keine
große Rolle und wurde eher als "work-in-progress" angesehen.
2 Es ist notwendig, einleitend darauf hinzuweisen, dass die Frage der "Ästhetik" eines
kreativen Werkes oft so dargestellt wurde, als ob diese keine Rolle beim Schutz des
Urheberrechts spielt. Aber diese "Ästhetik" können wir im Rahmen der gesetzlich vor-
geschriebenen "Originalität" sehen. Das Urheberrecht weigert sich, die Ästhetik von
geistigen Werken zu bewerten, um zu vermeiden, Raum für Subjektivität (Willkürlich-
keit) bereitzustellen. Derartige Subjektivität könnte nämlich entscheidend für die Frage
sein, ob ein Werk durch das Gesetz "geschützt" werden wird.
Erkennen wir dementsprechend mit dem gesetzlichen Erfordernis der Originalität nicht
auch ein ästhetisches Minimum an?4
3 In diesem Sinne verweist Karin Grau-Kuntz darauf, dass die Verwendung des Wortes
"ästhetisch" im rechtlichen Kontext immer stark kritisiert worden sei. Jedoch glaubt sie,
dass der Begriff der "Ästhetik" zur Bestimmung der Schutzwürdigkeit notwendig ist.
Die Schöpfung sei nicht ein einzigartiges Produkt der persönlichen Wahrnehmung.
Wenn dem nämlich so wäre, hätten wir keine kollektive Geschichte und kein kulturelles
*
Besonderer Dank geht an Professor Thomas Hoeren, der an der Universität Münster die Forschung durch die
ITM unterstützt, und besonderer Dank geht auch an Giulia Piora, die den Text in eine sprachlich exzellente
deutsche Fassung gebracht hat.
1
Foucault, Michel: Was ist ein Autor?, Suhrkamp: Frankfurt 2003; und auch Schuh, Franz: Wen kümmert's,
wer spricht?, http://www.zeit.de/2000/36/Wen_kuemmert's_wer_spricht_ [Letzter Abruf: 04.07.2016].
2
Barbosa, Denis Borges: Criação e fruição. Os interesses jurídicos na produção intelectual, Liinc em Revista,
Rio de Janeiro, V. 7, n. 2, set./2011.
3
Schneider, Michel: Ladrões de Palavras. Ensaio sobre o plágio, a psicanálise e o pensamento, Editora
da Unicamp: Campinas 1990.
4
In Brasilien: Artikel 7, Lei 9.610/98.
Gedächtnis.5 Das Urheberrecht sei daher nicht als Zugangsrecht zum geistigen Werk,
als ein "Recht auf Kontrolle" des kreativen Prozesses, zu verstehen.
Das Konzept des "Autors" erfordert eine Analyse, die nicht nur die Rechtswissenschaft
umfasst. Wie Roland Barthes andeutet, hat die Linguistik ein wertvolles analytisches
Werkzeug zur "Zerstörung" des Autors geliefert, indem sie zeigte, dass die Äußerung
5
Grau-Kuntz, Karin: Domínio Público e Direito do Autor. Do requisito da originalidade como
contribuição reflexivo-transformadora, Revista Eletrônica do IBPI
(http://ibpibrasil.org/ojs/index.php/Revel/issue/view/14), n. 6., S. 30 [Letzter Abruf: 04.07.2016].
6
Grau-Kuntz, Karin: Domínio Público e Direito do Autor. Do requisito da originalidade como contribuição
reflexivo-transformadora, Revista Eletrônica do IBPI (http://ibpibrasil.org/ojs/index.php/Revel/issue/view/14),
n. 6., cit., S. 33, 35 [Letzter Abruf: 04.07.2016].
7
Zum Beispiel: Safranski, Rüdiger: Friedrich Schiller oder Die Erfindung des Deutschen Idealismus, Carl
Hanser Verlag: München 2004, S. 72, 155.
8
Sarlet, Ingo/Kretschmann, Ângela: Direitos do autor como direitos fundamentais?, Revista Jurídica do
Cesuca, jun./jul. 2013, S. 10-19, http://ojs.cesuca.edu.br/index.php/revistajuridica/article/view/363 [Letzter
Abruf: 04.07.2016].
9
Santos, Manoel Joaquim Pereira dos: A questão da autoria e originalidade em direito de autor, in: Santos,
Manoel Joaquim Pereira dos/Jabur, Wilson Pereira/Ascensão, José de Oliveira, Saraiva: São Paulo 2014, S.
107.
nur ein leerer Prozess ist, der auch vollkommen ohne Gesprächspartner funktioniert.
Wenn er sagt "Die Geburt des Lesers ist zu bezahlen mit dem Tod des Autors"10 spricht
Barthes stattdessen von dem "Leser". Der "Leser" gehört zur Produktion des Textes
ebenso wie der Autor selbst. Es wäre eine sehr witzige Umkehrung des Urheberrechts,
wenn es dem Leser Rechte an einem Text gewährleisten müsste. 11
9 Man kann von einer modernen Krise der Begriffe "Urheberschaft" und "geistiges Werk"
sprechen. Der Autor ist "ein Produkt des Schreibens" – der Akt des Schreibens macht
den Autor, nicht umgekehrt. Seine Aufgabe ist es, die bestehenden Texte zu "ver-
schmelzen".12 Vom Verschwinden des Autors ausgehend entsteht Raum für eine Kritik,
die nicht nach der Identität des Autors im Text sucht.
10 Der Text ist nur zersplitterter Raum von Bedeutungen. Tatsächlich enthält jeder Text
mehr als einen Sinn, nämlich eine grenzenlose Vielzahl von Deutungen, die weder
Zentrum noch Ursprung haben. Dieser Gedanke reduziert die Macht derer, die schrei-
ben, und erhöht die Macht der Leser. Es ist nicht mehr der Autor, der spricht, sondern
die Sprache, die durch ihn kommuniziert.13
11 Und hier setzt der Sprung zu Marshall McLuhan an. "The medium is the message".14
Die Sprache ist das Ziel an sich, und der Autor ist nur ein Mittel, denn die Sprache
übertrifft denjenigen, der die Sprache benutzt. Wir wissen, dass die Aufwertung des
Autors mit dem Zeitalter der Romantik und der Aufklärung begann, als der Mensch
(gefühlt) das Zentrum des Universums geworden ist. Im Altertum und Mittelalter war
das geschaffene geistige Werk nicht immer eine "statische und definitive Realität". Die
Kultur wurde noch mündlich überliefert. Dies führte zu ständigen Veränderungen des
Werks: Das geistige Werk konnte nie als fertig angesehen werden. 15
12 In dieser Zeit unterlagen Werke den Löschungen, Ergänzungen, Änderungen von an-
deren Autoren. Ein gutes Beispiel sind die Canterbury Tales, die im 14. Jahrhundert
über einen Zeitraum von 40 Jahren geschrieben wurden. Geoffrey Chaucer ist der
Autor, es wird jedoch anerkannt, dass nach dem Tod des Urhebers über 20 Personen
an mehr als 80 Tales gearbeitet haben.
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13 In der digitalen Welt scheint man zu einem Punkt zurückzukehren, an dem die intel-
lektuellen Werke wieder eine "flüssige" Natur erlangen können, und zwar durch digitale
Technologien, die jeder Individualität, Einzigartigkeit und Begrenzbarkeit zuwider-
laufen. Wie Bellei16 erklärt, verliert die Figur des Autors derzeit seine kulturelle Kraft,
weit entfernt von den historischen Kräften, die den Autor aufbauten. Hatte Barthes also
Recht, als er feststellte, dass der Begriff der Urheberschaft an Boden verloren hat?
14 Die Figur des Autors schlägt erst im 20. Jahrhundert Wurzeln, im Lichte der Vermö-
gensinteressen der Kreativindustrie. Es scheint, dass heute viele von der Idee des
"Schöpfers" profitieren. Der allgemeine Wunsch ist es, freier atmen zu können und
nicht in einer Welt leben zu müssen, in der der Gemeinsinn in ein Gefängnis gesetzt
und den Zwängen der Ausschließlichkeitsrechte ausgesetzt wird. Das Urheberrecht
10
Barthes, Roland: O rumor da língua, Martins Fontes: São Paulo 2004, S. 3.
11
Barthes, Roland: Der Tod des Autors, in: Jannidis, Fotis/Lauer, Gerhard/Martinez, Matias/Winko, Simone
(Hrsg.), Texte zur Theorie der Autorschaft, Reclam: Stuttgart 2000, S. 185-193.
12
Cavalheiro, Juciane dos Santos: A concepção de autor em Bakhtin, Barthes e Foucault. Signum: Estudos
Ling.: Londrina, m. 11/2, dez. 2008, S. 69, 79.
13
Bellei, Sérgio Luiz Prado: A morte do Autor. Um retorno à cena do crime, Rev. Cria. Crít., São Paulo, n. 12,
jun. 2014, S. 164, 168, 170.
14
McLuhan, Marshall: Understanding media. The extensions of man, McGraw-Hill Book: New York 1964.
15
Santos, Manoel Joaquim Pereira dos: A questão da autoria e originalidade em direito de autor, in: Santos,
Manoel Joaquim Pereira dos/Jabur, Wilson Pereira/Ascensão, José de Oliveira, Saraiva: São Paulo 2014, S.
110.
16
Bellei, Sérgio Luiz Prado: A morte do Autor. Um retorno à cena do crime, Rev. Cria. Crít., São Paulo, n. 12,
jun. 2014, cit. S. 165.
Richard Posner wies schon auf den schwierigen Begriff des Plagiats hin: "Das Auf-
kommen von Plagiaten geht auf die Zeiten der Aufklärung und Romantik zurück"18. Er
stellte fest, dass der Begriff eine riesige historische Last aus den Zeiten der Romantik
und Aufklärung trägt und eng mit der damaligen Überbewertung des Individuums und
der Originalität verknüpft ist.
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17 Wir beobachten heute, dass das Konzept des Plagiats einen tiefgreifenden Wandel
durchlaufen hat, vor allem insoweit, als dass die Kreativindustrie an einem weiten
Urheberrechtsschutz interessiert ist, um möglichst hohen Gewinn erzielen zu können.
All dies wird heute, mit der digitalen Welt, langsam zu Ende gehen. 19 Ist das aktuelle
Plagiat nur ein Bruch mit der Moderne, der durch das Internetzeitalter die Strukturen
des Urheberrechts erschüttert? Stellen zum Beispiel die akademischen Plagiate von
Studierenden einen Betrug dar oder sind sie nicht als kooperative Beziehungen zu
sehen, die weiter untersucht werden sollten? Ist das Plagiat immer ein Verstoß gegen
Ausschließlichkeitsrechte oder ist es etwas Moderneres?20
18 4. Marktwirtschaft und der Schutz der geistigen Arbeit
Das Modell der Marktwirtschaft "ist nicht die einzige Möglichkeit, die menschliche Krea-
tivität zum Blühen zu bringen und zu erhöhen".21 Unter bestimmten Umständen führt
der Mangel an eigentumsbasierten Anreizen nicht zu einer "geringeren Produktion" von
intellektuellen Werken oder zu einer niedrigeren Qualität der geistigen Arbeit.22
17
Ascensão, José de Oliveira: Direito de autor, hoje – Publicações Periódicas e Obra Colectiva. Conferência
pronunciada na Universidade Complutense, Madrid, diad 24/03/1993. S. 7, 19.
18
Posner, Richard: Law and Literature, Harvard University Press: Cambridge 1998, S. 519; Landes, William
M./Posner, Richard: An economic analysis of copyright law, in: Wittman, Donald A.: Economic analysis of the
law: selected readings, Blackwell: Oxford 2003, S. 83-96; Waiblinger, Julian: „Plagiat“ in der Wissenschaft,
Nomos: München 2012.
19
Lessig, Lawrence: Free Culture: How Big Media Uses Technology and the Law to Lock Down Culture and
Control Creativity, Penguin Press: New York 2004, S. 188.
20
Meltzer, Françoise: Hot Property. The Stakes and Claims of Literary Originality, The University of Chicago
Press: Chicago 2007, S. 6; Fischer, Florian: Das Literaturplagiat. Tabestand und Rechtsfolgen, Peter Lang:
Frankfurt 1996.
21
Barbosa, Denis Borges: Criação e fruição. Os interesses jurídicos na produção intelectual. Liinc em Revista,
Rio de Janeiro, V. 7, n. 2, set./2011.
22
Barbosa, Denis Borges, 2011, cit. 390.
19 Und ebenso bemerkte Benkler in Bezug auf Piraterie23: Die Piraterie entstand aus dem
Aufkommen der "Kulturindustrie(wirtschaft)". Wie von Ascensão hervorhoben, standen
noch nie "so viele Informationen zur Verfügung."24 Und noch nie war die
Informationsfreiheit derart bedroht, unter anderem durch die Einrichtung von globalen
Informationsnetzen sowie die zunehmende Konzentration von "Informations-
unternehmen."25
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20 Warum sollte man dann nicht fragen, ob das Urheberrecht heutzutage noch seine
Funktion erfüllt? Wer hat ein Interesse daran, dass urheberrechtliche
Ausschließlichkeitsrechte der alleinige Anreiz für das kulturelle Schaffen sein sollen?
Das Urheberrecht kann nicht als ein exklusives Recht gedacht werden, das dazu be-
stimmt ist, nur eine Ware zu schützen. Es muss in einem größeren Zusammenhang,
wie zum Beispiel mit dem Recht auf Zugang zu Informationen, Kultur und Bildung, ge-
sehen werden.
21 In diesem Sinne kann das Urheberrecht ein Beispiel für die Inkonsistenz zwischen
Menschenrechtspolitik, Demokratie und Märkten sein, und zwar in Bezug auf das intel-
lektuelle Vermögen, das im Netz reichlich und oftmals ohne Wettbewerb vorhanden ist.
Autoren, Leser und Verbraucher werden einen Weg finden, um in Besitz zu nehmen,
was ihnen natürlicherweise gehört, das heißt, den freien Zugang zu Kultur und
Information.
22 Der moderne Individualismus lässt auch Raum für kollektive Werke, bei denen alle
Beteiligten die Früchte der Zusammenarbeit erhalten. Das Interesse solcher Autoren
konzentriert sich mehr auf den Zugang zu Wissen und nicht auf ihre individuellen "Per-
sönlichkeitsrechte".26
23 Endlich dreht sich die anthropozentrische Welt wieder um die Gemeinschaft. Daran
kann man erkennen, dass sich der Urheberrechtsschutz in seiner übertriebenen Form
gegen die Interessen dieser Gemeinschaft stellt. Es ist an der Zeit, dass auch das
Urheberrecht sich an sozialen und kollektiven Interessen orientiert.
23
Benkler, Yochai: The wealth of Networks. How social production transforms Markets and Freedom, Yale
University Press: New Haven/London 2006.
24
Ascensão, José de Oliveira: Direito de autor, hoje – Publicações Periódicas e Obra Colectiva. Conferência
pronunciada na Universidade Complutense, Madrid, diad 24/03/1993.
25
Ascensão, José de Oliveira, 2001, cit. S. 1207.
26
In Brasilien: Artikel 24 (9.610/1998).