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Gerhard Schweppenhäuser
Design, Philosophie
und Medien
Perspektiven einer kritischen
Entwurfs- und Gestaltungstheorie
Würzburger Beiträge zur
Designforschung
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Vorbemerkung
Die Philosophie hat sich in den letzten Jahren für neue Themenbereiche geöffnet.
Insbesondere Medien und Design sind Gegenstände philosophischer Reflexion ge-
worden. Dabei formieren sich methodologische, Disziplinen übergreifende Diskurse
– speziell dort, wo sich ›angewandte Philosophie‹ im Dialog mit Gestalterinnen
und Gestaltern sowie mit Künstlerinnen und Künstlern befindet. Während es einen
Diskurs über Medienphilosophie seit gut 15 Jahren gibt (siehe Margreiter 2016 und
2018; Schweppenhäuser 2018), hat die Debatte über philosophische Grundlagen
und Horizonte des Designs eigentlich gerade erst begonnen (siehe Dissel 2016,
Schweppenhäuser 2016, Arnold 2016, Schweppenhäuser und Bauer 2017 sowie Feige
2018)1. Anfang 2015 fand an der Fachhochschule für Kunst, Design und Musik in
Freiburg die Tagung Philosophical Perspectives On Design statt. Im Februar 2018
gab es auf der Tagung der Deutschen Gesellschaft für Ästhetik an der Hochschule
für Gestaltung in Offenbach ein Panel zum Thema Das ist Designästhetik. Im Juni
2018 veranstalteten die Universität Koblenz-Landau und die Hochschule Furt-
wangen in Kooperation mit der Deutschen Gesellschaft für Ästhetik die Tagung
Designästhetik – Theorie und soziale Praxis. Weitere Konferenzen und Publikatio-
nen werden folgen; auf diesem Gebiet ist in den kommenden Jahren eine intensive
Diskussion zu erwarten. Die Studien des vorliegenden Bandes setzen hier ein. Dabei
fokussieren sie die methodologische Perspektive der kritischen Theorie im Kontext
von Design- und Medienphilosophie. Die Aufsätze behandeln vornehmlich Fragen
des Zusammenhangs von Kommunikationsdesign mit ethischen, ästhetischen und
sozialphilosophischen Theoremen. Sie sind zum einen aus Vorträgen auf Fachta-
gungen und im Rahmen von Vortragsreihen, zum andern aus breit angelegten
monografischen Untersuchungen hervorgegangen. Alle dokumentieren einige
1 Eine in jeder Hinsicht bemerkenswerte Ausnahme ist das Buch von Andreas Dorschel
(2002).
V
VI Vorbemerkung
Literatur
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Verständigung, Verantwortung und Orientierung als Kriterien visueller Gestaltung,
Würzburg: Königshausen & Neumann.
Inhalt
VII
VIII Inhalt
Design ist eine »formgebende Tätigkeit« (Marx 1856–58: 222), die Materie, Praktiken
und Kommunikationen, vermittelt durch Entwerfen, brauchbar macht. Dadurch
ist Design in zweifacher Hinsicht auf Ästhetik bezogen, denn die Wahrnehmung
von Formen gehört akzidentell stets zum Modus des Gebrauchs, aber sie kann
mitunter auch selbst substantielle Gebrauchsweise sein.
Systematische Darstellung 1:
Typen und Perspektiven ästhetischer Einstellung
gibt es Theorien, die zeigen, dass sich Begriffe im Ganzen erst durch die dialektische
Rekonstruktion ihrer Bewegung durch Widersprüche hindurch entfalten. Spätes-
tens von dort aus erweist sich, dass die eingangs vorgenommene Ausklammerung
nicht aufrecht zu erhalten ist: Der Bereich der Natur ist nicht nur einer, der – als
»äußere Natur« – ästhetische Objekte und Räume für ästhetische Erfahrungen bzw.
Erlebnisse bereitstellt; er ist auch – als »innere Natur« – sozusagen der mediale Ort
des Ästhetischen selbst, nämlich Ort der Verbindung von Sinneswahrnehmungen,
Empfindungen und Gefühlen, welche ebenso zur Wesensbestimmung des Menschen
gehören wie seine Verstandesleistung.
Wie diese Verbindung in der philosophischen Ästhetik, in der das methodologi-
sche Paradigma der Interpretation bzw. Sinndeutung herrscht, jeweils beschrieben
wird, kann man sich an vier Typen der ästhetischen Einstellung vergegenwärtigen:
• Betrachtung,
• Erkenntnis,
• Erlebnis,
• Erfahrung.
bindungen von Subjekt und Objekt in der Gegenwart des ästhetischen Objekts.
Der Zwischenbereich, welcher Subjekt und Objekt umschließt, wird mit dem
Begriff der »Atmosphäre« gekennzeichnet (siehe unten, S. 15).
4. Erfahrung spielt im handlungsbezogenen Erklärungsansatz der pragmatisti-
schen Ästhetik die Hauptrolle. Ästhetische Erfahrung ist dort die vielgestaltige
Weise praktischer Weltaneignung: wechselseitige Veränderung von Subjekt und
Objekt, die nicht auf den Bereich der Kunst beschränkt bleibt, sondern diverse
Ebenen sozialer Interaktion betrifft. Schönheit oder formale Schlüssigkeit von
Objekten wird demnach nicht ohne Bezug zu ihrem Gebrauch empfunden. Die
Angemessenheit von Artefakten an Verwendungszwecke wird zum Kriterium
ästhetischen Gelingens, aber nicht im Sinne des designtheoretischen Funktio-
nalismus, sondern in einem erweiterten Sinn von »Verwendung«. John Dewey
(1934: 42) hat ästhetische Erfahrung als Praxis bezeichnet, die künstlerische und
außerkünstlerische Bereiche umfasst und nicht nur bei der Kunstrezeption im
Spiel ist, sondern auch beim Design der alltäglichen Umgebung: Das Untersu-
chungsfeld der Ästhetik ist für ihn »das Bewußtsein der Sinne«. George Herbert
Mead bezeichnet ästhetische Erfahrung als besondere Form der Erschließung von
Bedeutung. In der Industriegesellschaft würden die Menschen von der Erfahrung
der Zwecke abgetrennt, die sie in ihrem technisch-instrumentellen Handeln
eigentlich verfolgen. Im Glück der Betrachtung erfahren sie Lebensbereiche
und Objekte, die nicht im Mittel-Charakter für fremde Zwecke aufgehen. Die
Befriedigung, die solche Betrachtung gewährt, ist für Mead (1926: 345 ff.) ein
Anzeichen, dass es im Bereich der Ästhetik nicht um praxisferne Zweckfreiheit
geht, sondern darum, zwischen handlungsentlasteter ästhetischer Betrachtung
und lebensweltlichem Handeln Sinnzusammenhänge herzustellen.
Den vier Typen der ästhetischen Einstellung entsprechen grundsätzlich vier Per-
spektiven in Bezug auf ästhetische Erfahrungen bzw. Erlebnisse: die Beobachter-,
die Teilnehmer-, die Benutzer- und die Herstellerperspektive.
Die Herstellerperspektive wird in traditionellen Produktionsästhetiken und
Lehrbüchern, aber auch im zeitgenössischen Kreativitätsdiskurs zum Thema. In
der Teilnehmerperspektive hat die ästhetische Erfahrung handlungsrelevante Le-
bensbezüge. Ästhetische Objekte werden dann nicht losgelöst von Interessen und
Bedürfnissen betrachtet. Sie intensivieren das eigene Erleben oder drücken es herab;
sie haben Bedeutung, weil sie mit den eigenen Aktivitäten, Plänen, Hoffnungen
und Ängsten verbunden sind. Wenn es um Design geht, sind die Teilnehmer die
Benutzer. Stühle oder mobile Endgeräte zur Internetkommunikation z. B. werden als
ästhetische Objekte hauptsächlich im Modus ihrer Verwendung wahrgenommen.
Ein Stuhl lässt die Benutzer ihren Körper als einen durch die Form des Sitzobjekts
8 Design und Ästhetik
nach- und mitgeformten Körper empfinden; nicht nur für die aktuelle Dauer der
Nutzung, auch im Hinblick auf das Körpergefühl bei Dauerverwendung. Wurde der
Stuhl z. B. von Arne Jacobsen entworfen, ist das entsprechende Nutzungsempfinden
mit hoher Wahrscheinlich positiv. Kommt die Beobachterperspektive hinzu, kann
in diesem Fall eine handlungs- bzw. nutzungsentlastete Sichtweise den Stuhl als
Objekt der angewandten Kunst in die bewusste Wahrnehmung treten lassen. Selbst-
verständlich gibt es auch Mischungen von Hersteller- und Teilnehmerperspektive,
z. B. bei musikalischen und theatralen Aufführungen, sowie Mischungen von Her-
steller- und Beobachterperspektive, etwa bei der Reflexion auf eigene Produkte. Eco
(1962: 43) hat den Aspekt betont, dass Menschen durch eigenständige Aneignung
von Produkten des modernen Industriedesigns in die Lage versetzt werden, ihre
Lebensformen im ästhetischen Sinne, also »nach dem eigenen Geschmack und den
eigenen Bedürfnissen herzustellen und anzuordnen«.
Grundsätzlich kann man drei Typen der Kunstästhetik unterscheiden, die ihren
Schwerpunkt jeweils auf Darstellung (Mimesis), Ausdruck (Expression) oder Form
legen. Darstellungsästhetiken beschreiben, wie Kunstwerke Objektives im jeweils
eigenen Medium so wiedergeben, dass es für die Betrachter in transformierter Gestalt
gegenwärtig ist. Ausdrucksästhetiken beschreiben, wie Kunstwerke Subjektives so
formen, dass es als Expression nachvollziehbar und erfahrbar wird, der Empfin-
dungen und inneres Geschehen der Betrachter korrespondiert. Formästhetiken
beschreiben, wie Kunstwerke ihre eigene Formgestalt als solche in den Vordergrund
stellen. Die Frage ist, ob bzw. inwiefern sich diese Trias auch auf den Bereich der
angewandten Künste übertragen lässt. Hier zeigt sich, dass dies jeweils nur für
Teilaspekte sinnvoll ist, die allerdings nicht unwichtig sind. Wenn Designobjekte
auch eine Zeichendimension haben, spielt die Darstellung insofern eine Rolle, als die
Funktion des Objekts repräsentiert werden muss, damit es benutzt werden kann. Als
Beispiel für diese Hinsicht der Darstellungsästhetik kann man den postmodernen
Entwurf eines Fahrkartenautomaten von der Gruppe »Kunstflug« aus dem Jahre
1987 nehmen. Der Automat ist in seiner Funktionalität durch Mikroelektronik
gleichsam körperlos geworden und wird für die Benutzer nur dadurch erkennbar,
dass seine kommunikative Formensprache auf die herkömmliche Gestalt eines
Fahrkartenschalterhäuschens anspielt, in der ein Verkäufer sitzt (Selle 1994: 360).
Ein Beispiel für designerische Ausdrucksästhetik ist der, ebenfalls postmoderne,
Stuhl »Louis Ghost« von Philipp Stark. Hier ist das (imaginierte) Gefühl Gestalt
Design und Ästhetik 9
Formlosen gestellt wird. Das Formlose ist Chaos (griechisch für »regellose Masse«);
regelhafte Ordnung heißt im auf griechisch Kosmos, was auch »Schmuck« bedeu-
tet (daher »Kosmetik«). Das Formlos-Chaotische, Regellose ist das Hässliche, die
Form des Schönen ist »durch Ordnung, Maß und Proportion bestimmt« (Franke
2004, 329). Wo etwas zum Betrachten oder Anhören gestaltet ist, kommt es auf
Formen und Verhältnisse an. Gelungene (Kunst-)Werke und vollendete Geschöpfe
der Natur zeichnen sich dadurch aus, dass die innere Ordnung ihrer Form von
außen erkennbar ist. Schönheit muss zwar mit den Sinnen wahrnehmbar sein,
aber sie bleibt, dieser Auffassung zufolge, eine primär innere Eigenschaft: allge-
meine Struktur und Form, die den zahllosen verschiedenen Erscheinungsweisen
von Schönheit als ihr Wesen zugrunde liegt. Die Form macht ein Artefakt zum
gelungenen Objekt, ein Lebewesen zur anmutigen Gestalt und eine Landschaft
zum beeindruckenden Raum.
Bei Hume und Kant wird Schönheit nicht mehr als Eigenschaft der Objekte
verstanden, sondern als Werturteil des Subjekts. Sie ist demnach keine Eigenschaft
schöner Dinge, sondern ein Prädikat, das Objekten zugesprochen wird, die erfreu-
lich, anziehend, anmutig usw. wirken. Kants Theorie des Schönen richtet den Fokus
auf die Form des Urteils über Objekte, die im Subjekt Wohlgefallen erregen, ohne
dass es diese besitzen oder sich ihrer bemächtigen möchte. Die Empfindung stellt
sich demnach ein, weil der betrachtete Gegenstand in sich zweckmäßig erscheint,
obwohl dies beim Betrachter nicht mit der Vorstellung eines entsprechenden äußeren
Zwecks verbunden ist (also nicht mit der Vorstellung eines Verwendungszwecks
oder eines zu erreichenden Zielzustands, zu dem hin sich das Objekt entwickele).
Jedes ästhetische Urteil zielt implizit auf allseitige Zustimmung, strenggenommen:
Allgemeingültigkeit. Daran hält auch Kant bei aller Subjektivierung des Schön-
heitsbegriffs fest. Er nimmt an, dass es einen ästhetischen Gemeinsinn gibt, den
sensus communis aestheticus, einen common sense der ästhetischen Empfindung.
Streit über Geschmacksfragen ist also möglich und sinnvoll.
Hegel stellt hingegen die Eigenschaften der Objekte in den Brennpunkt. In diesem
Sinne können wir fragen: Warum wird einem Objekt das Prädikat »X ist schön«
zugesprochen und einem anderen nicht? Weil Schönheit die wahrnehmbare Folge
davon ist, dass sich die innere Freiheit eines Objekts der Betrachtung in der äußeren
Wirklichkeit ausdrückt, wäre Hegels Antwort. Auch für Hegel (1853–38: 155 f.) ist
die »Betrachtung des Schönen liberaler Art«: Betrachter wollen es nicht besitzen
und benutzen; sie lassen es, unabhängig von den eigenen Absichten, gewähren.
Ästhetische Urteilskraft und Geschmack sind demnach wohl subjektiv, aber sie
beziehen sich auf etwas, das dem Subjekt nicht gänzlich unterworfen ist. Sie sind
nicht unabhängig davon, die Eigenschaften des »schön« genannten Objekts sind
nicht beliebiger Art. Je harmonischer etwas im Verhältnis von Details und Ganzem
Design und Ästhetik 11
gestaltet ist, als desto schöner wird es empfunden. Den Grund sieht Hegel darin,
dass die wesentliche Form umso freier zur Erscheinung kommt, je artikulierter sich
die Form von etwas präsentiert. Desto größer ist dann die Wahrscheinlichkeit, dass
die Betrachter das Urteil aussprechen: »Dies ist schön.« Voraussetzung ist freilich,
wie schon Thomas von Aquin betonte, dass das Objekt unversehrt bzw. vollendet
ist, die Teile zu einem Ganzen zusammenstimmen und sein Erscheinungsbild klar
hervortritt (Franke 2004: 330).
Nietzsche lehnt die Verbindung der Ästhetik und Ethik in Hegels Konzept der
Schönheit als verwirklichter Freiheit ab. Die Einheit des Subjekts konstituiert sich
für ihn nicht primär über Intellekt und Vernunft, sondern über leibhafte Erfahrung,
wodurch sein Konzept von Ästhetik wieder markant auf das antike Verständnis
des Begriffs zurückgeführt wird. Nietzsche plädiert für ein Philosophieren »am
Leitfaden des Leibes« (Nietzsche 1885: 565; siehe Joisten 1993: 105 ff.). Deshalb
hält er auch Kants Theorie des Ästhetischen für falsch, denn ästhetische Objekte
würden genau dann begehrt, wenn sie sich als dem Lebensgefühl zuträglich, d. h.
als nützlich, erweisen.
In den ästhetischen Diskursen des 20. Jahrhunderts dominiert eine Tendenz
zur Diskreditierung der »schönen« Künste, die aus der Perspektive von Theorien
des Ästhetischen, welche an Wahrheit und Engagement orientiert sind, als ideo-
logische Verklärung des Scheiterns des Projekts humaner Zivilisation erscheinen.
Traditionelle ästhetische Werte wandern für eine Weile in den Bereich der durch
angewandte Künste ästhetisierten Lebenswelt aus, und somit auch ins Design.
Ende des 20. Jahrhunderts hat die postmoderne Ästhetik darauf reagiert. Sie
proklamiert die unendliche Kontextualisierung der Lebenswelt durch Zeichen, deren
Bedeutungen immerzu neu interpretiert werden können und auf nichts Bleibendes
mehr bezogen sind. Ihre Merkmale sind »Seinsunsicherheit und Zeichenfreiheit«
(Weibel 1991: 208). Die populäre Variante postmoderner Ästhetik erklärt die Funk-
tionsorientierung der Moderne für veraltet und affimiert dekorativ-konsumistische,
stilvermischende Formensprachen der Massenkultur, die auf sämtliche Bereiche der
Produkt- und Kommunikationsgestaltung übertragen werden – nach der Devise:
»Learning from Las Vegas«. Schönheit ist hier von der Aufgabe entlastet, sinnliche
Erscheinung von Wahrheit zu sein. Die andere Variante postmoderner Ästhetik
geht davon aus, dass das Versprechen der Moderne, soziokulturelle Fortschritte
im Bewusstsein der Freiheit zu verwirklichen, im Verlauf der Destruktions- und
Katastrophengeschichte des 20. Jahrhunderts gebrochen wurde. Es sei jedoch
normativ nicht überholt, sondern befinde sich im »Widerstreit« (Lyotard 1987) mit
sich selbst. Zentrale Kategorie der Ästhetik ist nach dieser Auffassung nicht mehr
das Schöne, sondern das Erhabene – als Synonym für das nicht Darstellbare. Im
Anschluss an Lyotard – der seine Ästhetik an Werken des abstrakten Expressio-
12 Design und Ästhetik
nismus und der Konzeptkunst entwickelte – hat Wolfgang Welsch für das Design
des 21. Jahrhunderts die Orientierung an Pluralität und multidimensionalen
Identitäten gefordert. Es gehe einerseits um »eine neuartige Gestaltung« der Benut-
zeroberflächen entkörperlichter mikroelektronischer Apparate »durch projektive
Besetzung mit Metaphern, Visionen und Fiktionen«, damit auf ihnen »fiktionale,
emotionale, sensuelle und ikonische Werte« zur Erscheinung kommen könnten
(Welsch 1993: 216). Und andererseits gehe es um ein Design im erweiterten Sinne,
das den soziokulturellen Rahmen für alternative Formen von Wirtschaft, Politik
und des Umgangs mit der Natur entwirft (ebd.: 218).
Der Überschwang, der viele Proklamationen postmoderner Ästhetik kenn-
zeichnet, ist längst abgeflaut. Dennoch wurde das Bewusstsein für zwei wichtige
Aspekte geschärft: Designobjekte können als Gegenstände ästhetischer Erfahrung
beschrieben werden, die sich analog zu künstlerischen Objekten und ihrem Trä-
germaterial verhalten. Und Designprozesse können als Medien »aisthetischer«
Kommunikationspraktiken beschrieben werden, die stets auch im Horizont ge-
sellschaftlicher Emanzipation zu denken ist.
»schönen Künste«, sondern auch das Interesse am Schönen, das den angewandten,
»angenehmen Künsten« zugehört. Designobjekte können demnach als Medium
der Mitteilung von Gefühlen dienen (Böhme 1999: 29–34). Auch im Bereich der
Lebenswelt sei die Schönheit der gestalteten nützlichen und erfreulichen Dinge
frei, insofern sie nicht über rationale Begriffe zu erfassen ist. Frei aber auch im
praktisch-handlungsbezogenen Sinne: In einer Umgebung, die durch gestaltete
Objekte geprägt ist, entstehen Spielräume der Phantasie; das Lebensgefühl wird
stimuliert und die Kommunikation über die Gefühle der Betrachter in der Gegen-
wart schöner Objekte wird angeregt. Kants Schüler Schiller (1801) hat dies in seinen
Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen als »Vorschein des Reichs der
Freiheit« (Böhme 1999: 26) interpretiert.
Seit dem 20. Jahrhundert sind folgende Theorien der Ästhetik designrelevant:
• Funktionsästhetik,
• Emanzipationsästhetik,
• Warenästhetik,
• Atmosphären-Ästhetik,
• Informationsästhetik sowie
• neuronale und evolutionsbiologische Ästhetik.
Der funktionsästhetischen Lehre von Walter Gropius zufolge wird der optimal ge-
fertigte Gebrauchsgegenstand auch die schönste Gestalt haben. Erfahrene Benutzer
und Betrachter empfinden etwas, das mehr der Zierde dient als seiner Zweckbe-
stimmung, nicht als schön. Gestaltete Gegenstände sollen durch ihre Anwendung
im täglichen Gebrauch bestimmt sein; alles, was darüber hinausgeht, insbesondere
das Dekorative, ist überflüssig. Gropius ist der Klassizist in der Gestaltungspraxis
der Moderne. Er fragt wie Platon nach der Wesensbestimmung der Objekte durch
Funktionsrelationen; dies führt ihn »zu dem Ergebnis, daß durch die entschlos-
sene Berücksichtigung aller modernen Herstellungsmethoden, Konstruktionen
und Materialien Formen entstehen, die, von der Überlieferung abweichend, oft
ungewohnt und überraschend wirken.« (Gropius 1926: 168) Seit Ende der 1960er
Jahre wurden drei Argumente der Kritik am Funktionalismus vorgetragen. Der
Funktionalismus reglementiere und reduziere die Bedürfnisse der Menschen.
Zu diesem kulturtheoretischen Argument kommt ein ästhetisches: Der Funkti-
onalismus sei nicht das Ende der »Stile« und nicht die selbsternannte universale,
wissenschaftlich-ästhetische Antwort auf alle Gestaltungsfragen, sondern selbst ein
Stil unter anderen, legitimen. Nicht zuletzt gibt es ein philosophisches Argument:
Die These des Funktionalismus, dass etwas, das wahr und gut ist, per se auch schön
ist, stimme nicht.
14 Design und Ästhetik
Design, die Verpackung und die darum herum inszenierte Produktwerbung der
Ware geben dieses Versprechen, damit ihr Tauschwert im Kauf realisiert werden
kann. Der ästhetische Schein des Waren-Designs hat eine phantasmagorische
Funktion: Es produziert eine Wunsch-Welt der Gebrauchsphantasien, die aber für
den Produktionszweck keine Rolle spielen. Dieser besteht weder im Hochkapitalis-
mus der industriellen Massenproduktion noch im Spätkapitalismus der Oligopole
darin, Bedürfnisse der Käufer zu befriedigen. Waren müssen keinen wirklichen
Gebrauchsnutzen für die Käufer haben – sie müssen ausschließlich den in ihnen
abstrakt aufgehäuften Mehrwert realisieren, indem sie verkauft werden. An die
Stelle des Gebrauchswerts tritt das Bild des Gebrauchswerts, es »löst sich […] ab
vom Warenleib, dessen Aufmachung sich in der Verpackung steigert und von der
Werbung überregional verbreitet wird« (Haug 2009: 41).
Gernot Böhme unterscheidet in seiner Atmosphären-Ästhetik zwischen sinnlichen
und sozialen Eindruckscharakteren. Sich-Zeigen-Können und -Wollen gehören
demnach zur leiblichen Gegenwart als Teil eines Geflechts kommunikativer Äuße-
rungen. Kommunikation besteht nicht nur aus Mitteilung von Zeichen, die gedeutet
und verstanden werden, sondern auch aus Ausdrucks- und Eindrucksqualitäten:
Das Befinden, die Emotionalität, des einen kommt zum Ausdruck und bewirkt
einen Eindruck, der sich auf das Befinden des anderen auswirkt. Wenn Menschen
etwas oder sich selbst inszenieren, dient es der Steigerung des Lebens durch beson-
dere Erlebnisqualitäten. Inszenierungen von Kleidung, Haartracht, Wohnungen,
Haus und Garten oder öffentlichen Orten schaffen Atmosphären, in denen andere
einen Eindruck davon bekommen, wie jemand innerhalb einer Ausstrahlung zur
Erscheinung kommt und sich darstellt. Menschen spüren Atmosphären, wenn
sie in sie eintreten; sie sind Wirkungen auf Subjekte, die durch Eigenschaften von
Objekten ausgelöst werden. Design ist für Böhme »ästhetische Arbeit«, die darin
besteht, »Dingen, Umgebungen oder auch dem Menschen selbst solche Eigenschaften
zu geben, die von ihm etwas ausgehen lassen«, also: »Atmosphären zu machen«
(Böhme 1995: 35). In unserem Zusammenhang kann man auch Körper-Design als
»ästhetische Arbeit« bezeichnen.
Max Benses Informationsästhetik orientiert sich an den Naturwissenschaften und
deren beobachtender, klassifizierend-messender Herangehensweise. Sie versteht sich
als »materiale« und »objektive« Ästhetik und sieht ab von ästhetischen Empfindungen
der Produzenten und Rezipienten sowie von deren Interpretationen. Bense (1969:
7) fokussiert die ästhetischen Eigenschaften oder »Zustände« der Objekte, »die an
Naturgegenständen, künstlerischen Objekten, Kunstwerken oder Design beob-
achtbar sind«. Sie gelte es objektiv zu beschreiben. Um vom Objektivismus wieder
in die Dimension zeichenbasierter Information und Kommunikation zu gelangen,
unterscheidet Bense zwischen Zeichen und Signalen. Signale gehen demnach von
16 Design und Ästhetik
abgelöst.12Ob dies den falschen Schein verfestigt, dass die sozialen Relationen und
Konditionen, unter denen Menschen gestaltete Objekte produzieren, rezipieren
und anwenden, im Prinzip so unveränderlich sind wie Naturverhältnisse und
anthropologische Konstanten – oder ob es im Gegenteil dazu beiträgt, die Na-
turbasis gestalterischer Arbeit klarer zu begreifen, auf deren Grundlage Design
als »ästhetische Form praktischer Welterschließung« (Feige 2018: 9) in historisch
immer wieder neuen Gestalten stattfindet, wird sich zeigen. Um es mit Marie Luise
Kaschnitz zu sagen: Es steht noch dahin.
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Design und Ästhetik 19
Der erste Teil dieses Textes enthält eine kurze Beschreibung der Gegenstände und
Methoden kritischer Theorie. Im zweiten Teil werden die Umrisse einer kritischen
Theorie des Designs mithilfe eines ideengeschichtlichen Exkurses skizziert. Im
dritten Teil wird – in Auseinandersetzung mit einem kürzlich vorgelegten Beitrag
zu einer politischen Designphilosophie – zu zeigen versucht, was kritische Design
theorie als Ideologiekritik leisten kann.
* Der Text ist aus einem Vortrag hervorgegangen, den ich am 7. Juni 2017 im Rahmen der
Vortragsreihe Architektur & Ideologie. Die Herrschaft der Ware und der urbane Raum
an der Technischen Universität Darmstadt gehalten habe. Er erscheint auch in: Philoso-
phie des Designs, hrsg. v. Daniel Martin Feige, Florian Arnold u. Markus Rautzenberg,
Bielefeld: Transcript (Schriftenreihe des Weißenhof-Instituts zur Architektur- und
Designtheorie), 2018.
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 21
G. Schweppenhäuser, Design, Philosophie und Medien, Würzburger Beiträge zur
Designforschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-22225-3_2
22 Philosophie und kritische Theorie des Designs
und »Alltagswirklichkeit« (ebd.: 46) ausmachen lässt. Später wurde das Konzept der
Emanzipation durch das der Kommunikation erweitert; damit sollte der Einsicht
Rechnung getragen werden, dass nicht nur die Arbeit Grundlage des sozialen Fort-
schritts im Bewusstsein der Freiheit ist, sondern auch intersubjektive Verständigung.
Aus dieser Sicht wird das humane Potenzial »zur kommunikativen Verständigung«
(ebd.: 49) durch selbstgemachte gesellschaftliche Fremdbestimmtheit gefährdet,
die »eine Kritik der gesellschaftlichen Kommunikationsverhältnisse« (ebd.: 59)
erforderlich macht. Die kritische Theorie ist nicht als normativistische Theorie
konzipiert, die Versprechen einklagt, die in der Aufstiegsphase der bürgerlichen Ge-
sellschaft gegeben und später, in der Phase ihrer Konsolidierung, gebrochen wurden,
sondern, wie gesagt, als dialektische Theorie, die in der kritischen Rekonstruktion
der Bewegung der Begriffe durch ihre Widersprüche hindurch die Gegensätze und
Antagonismen rekonstruiert, deren begriffene Darstellung ihre philosophische
Reflexion zu sein beanspruchte (und mitunter noch immer beansprucht, sofern sie
sich nicht, im Sinne des linguistic turn, von der Analyse von Sachfragen abgewendet
und gänzlich der Analyse von Sprachfragen verschrieben hat).
Kritische Theorie analysiert ihre Untersuchungsgegenstände, indem sie Konflikte
beschreibt, die ihnen zugrunde liegen. Dabei unterscheidet sie zwischen Wirklichkeit
und Möglichkeit des Gegenstandes. Sie stellt die zu beobachtenden Phänomene
und die zu (re-)konstruierenden Gesetzmäßigkeiten dar, denen gemäß sich die
Phänomene »verhalten«. Und sie konstruiert die Potenziale, die in Phänomenen
und Gesetzmäßigkeiten enthalten sind, sich aber nicht entwickeln können, weil sie
durch den zugrundeliegenden Konflikt gehemmt oder blockiert werden. Phänomene
der Wirklichkeit sind aus den Metamorphosen der Begriffe herzuleiten, in denen
sich Veränderungen der Stellung des Gedankens zur Objektivität manifestieren
– also aus der dialektischen Rekonstruktion der Bewegung der Phänomene. Die
dialektische Bewegung der Begriffe ist die Darstellung der widersprüchlichen
Entfaltung der Sachen. »Dialektik«, sagte Adorno in einer Frankfurter Vorlesung,
ist »eine Methode des Denkens, aber auch mehr, nämlich eine bestimmte Struktur
der Sache« (Adorno 1958: 9).
philosophische Methode der kritischen Theorie ist, wie gesagt, die dialektische
Darstellung innerer, gegensätzlicher Bestimmungen im jeweiligen Gegenstand.
Im Sinne einer vorläufigen, unsystematischen Aufzählung von Phänomenen der
Wahrnehmung und der Gebrauchserfahrung im Alltag können die Gegensätze, die
das Produktdesign und das Kommunikationsdesign kennzeichnen, mit folgenden
Begriffspaaren beschrieben werden: Bedürfnis und Begehren; Information (bzw.
Aufklärung) und Reklame (bzw. Public Relations); verständigungsorientierte und
strategische Kommunikation; enger und weiter Designbegriff (Formgebung als
äußerliche Zutat oder als soziale Gestaltung).
Wenn eine kritische Theorie des Designs nicht beim bloßen »Einerseits-ande-
rerseits« oder »Sowohl-als-auch« stehen bleiben (siehe unten, S. 28–35), sondern der
Bewegung der Gegensätze in sich nachgehen will, dann sollte sie zeigen können, dass
sich ein »Basiskonflikt« beschreiben lässt, der Designphänomenen (und Designdis-
kursen) der Gegenwart als Einheit von einander widersprechenden Bestimmungen
innewohnt. Analoge und digitale Artefakte und Kommunikationsformate sind dazu
vor dem Hintergrund der Frage zu betrachten, wie sich in ihnen das (gedanklich und
normativ) Allgemeine einer autonom gestalteten Lebenswirklichkeit in der privaten
und in der öffentlichen Sphäre (deren Trennung dabei überwunden würde) zum
partikularen Motiv der privaten Aneignung unter Bedingungen gesellschaftlicher
Herrschaftsausübung verhält, in dem es zum Ausdruck und zur Wirkung kommt.
Die thesenhafte Antwort lautet, dass das Partikulare die Realisierung eines vernünf-
tigen Allgemeinen konflikthaft blockiert und zugleich seine Entwicklung durch
produktive Ergänzung ermöglicht. Sie lautet daher auch, dass die Emanzipation
des Besonderen (in Gestalt des partikularen Profitinteresses) die Formulierung
eines (nicht abstrakt, sondern konkret gesellschaftlich) Allgemeinen überhaupt
erst möglich macht, dessen Verwirklichung es dann jedoch, im geschichtlichen
Verlauf, tendenziell erstickt. Die Dialektik des Universalen und Partikularen ist
als soziale Dominanz des Partikularen stillgestellt, wobei das Partikulare um seine
Singularität gebracht wird, weil es in der Warenform zum abstrakt-allgemeinen,
einheitsstiftenden Prinzip der gesellschaftlichen Reproduktion erhoben wird.
Der grundsätzliche Konflikt besteht also in dem Verhältnis von Produktiv-
kraftentwicklung und Produktionsverhältnis, das Designformen und -formate
hervorbringt und ihre Entfaltung (d. h. ihre Nutzung im Hinblick auf Produktion
und Rezeption) zugleich befördert und hemmt. Wie kommt dieser Konflikt zum
Ausdruck? Design wird in der bürgerlichen Gesellschaft in Gestalt partikularer
Ästhetisierung realisiert. Zugleich enthält es aber ein telos, welches darüber hin-
ausreicht: die bedürfnis- und verständigungsorientierte Gestaltung der alltäglichen
Lebensverhältnisse. Die bestehende, durch gesellschaftliche Arbeitsteilung sich
herstellende Form von Design enthält insofern einen normativen, emanzipatorischen
Philosophie und kritische Theorie des Designs 25
Überhang über die gesellschaftliche Form, in der sie sich herstellt. Durch Design
wird eine humane Gestaltung der Lebens- und Arbeitswelt überhaupt erst ermög-
licht. Zugleich steht selbstbestimmter Nutzung und sozialem Design (autonomer
Produktion) jedoch eine fremdbestimmte Überformung bzw. eine Präformation
der Formgestaltung gegenüber. Letztere geht indes nicht zwingend aus der Be-
schaffenheit von Materialität und Struktur oder aus Medien und Formen hervor.
Sie entsteht vielmehr durch die spezifischen Gesetzmäßigkeiten ihrer Verwertung:
Soziales, öffentliches Potenzial wird blockiert durch private Aneignung des durch
Design produzierten Mehrwerts.
Mit anderen Worten: Design kann Ausdruck und Werkzeug von Freiheit und
kultureller Selbstbestimmung sein, es ist zunächst einmal aber Instrument der
Profiterzeugung in der Warenökonomie und der Kontrolle im Dienst politischer
Herrschaft. Das öffentliche (menschheitlich-uinversale) Potenzial wäre freilich nicht
ohne die private Verwertungsstruktur zu haben. Oder, vorsichtiger formuliert: Das
Potenzial manifestiert sich vorerst überhaupt nur in der falschen, aber wirklichen
Gestalt. Denn ohne die den Produktionsverhältnissen immanente Profitausrich-
tung wäre Design als Bestandteil der Produktivkräfte nicht entwickelt worden.
Und ohne entsprechende politische Herrschaftsmaßnahmen, Gesetzgebung und
Zwangsgewalt hätte sich die ökonomische Gesetzmäßigkeit nicht entfalten können,
die nun wie ein Sach- oder Naturzwang erscheint. In vereinfachter marxscher Ter-
minologie kann man daher von einem Konflikt zwischen dem Gebrauchswert und
dem Tauschwert des Designs sprechen. Design hat dekorative, phantasmagorische
und eskapistische Momente, aber auch konstruktiv-emanzipatorische. Der reale
Partikularismus ist die Grundlage des ideologisch-phantasierten Universalismus
einer sittlich und ästhetisch gestalteten Welt, eines gelingenden Lebens für alle.
Zugleich ist diese Phantasie jedoch auch entstellter Vorschein eines noch nicht
existierenden realen Universalismus.
Dass das Potenzial autonomen sozialen Designs auf Realisierung wartet, die
durch die Grundlagen blockiert wird, denen es sich verdankt, kann nicht ohne
historische Reflexion begriffen werden. Kunst und industrielle Produktion traten im
19. Jahrhundert mit der Entfaltung der Industrialisierung auseinander. Die Arbeit
wurde zentrale gesellschaftliche Vermittlungsinstanz, aber nicht als selbstbestimmte
kreative Arbeit, sondern als Lohnarbeit. Kreative Arbeit wurde dem Bereich der
autonomen Künste zugeordnet. Dort wurden nicht per se als Waren gedachte
Artefakte produziert. Ästhetisch betrachtet, ist ihr Warencharakter akzidentell,
aber für den freien Künstler als Marktsubjekt ist er unverzichtbar. Lohnarbeit
hingegen gehört in den Bereich der Herstellung und Vermarktung von Waren. In
der Moderne befreite sich die Nützlichkeit gleichsam aus ihrer untergeordneten
Funktion gegenüber der Schönheit. Der »ästhetische Überschuß, der die Produktion
26 Philosophie und kritische Theorie des Designs
des Handwerks beseelte« (Wellmer 1985: 115), erschien unter den Bedingungen
industrieller Produktion unzeitgemäß. Er wurde als volkswirtschaftlich schädli-
cher Überfluss diffamiert, am wort- und wirkmächtigsten bekanntlich bei Adolf
Loos. Die Freiheit der Künste war eine späte, fragile Errungenschaft und zudem
nur von kurzer Dauer.
An den weltanschaulichen Kunstdebatten gegen Ende des 19. Jahrhunderts lässt
sich zeigen, dass im überlieferten Streit um »freie« und »angewandte Kunst« wahre
und ideologische Momente ineinander verschlungen sind. Ästhetische Erfahrung
befreite sich in dieser Phase von fremdbestimmten Einschränkungen. So rechnete es
der Kunstwissenschaftler Konrad Fiedler (1881: 115) dem Naturalismus in Literatur
und Malerei hoch an, dass er »die Emanzipation der Kunst aus der Bevormundung
durch eine fremde Autorität« bewirkt habe. Kunst »will nicht mehr Mittel sein
für fremde Zwecke, sie will von jedem Zwang befreit sein« (ebd.: 116) – nur noch
das Leben und die Welt darstellen, wie sie sind. Die Auffassung des l’art pour l’art
radikalisierte diese Haltung, obwohl sie sich gegen Naturalismus und Realismus
richtete. Nun ging es nicht mehr um eine welthaltige, »getreue Darstellung«
(ebd.: 108). Die »Ansicht […], daß die Kunst einen ganz bestimmten Teil der dem
menschlichen Geschlecht gestellten Aufgaben zu lösen habe« (ebd.: 114), wurde
ihrerseits als »Bevormundung« (ebd.: 115) empfunden. Werke wurden denkbar und
gestaltbar, die nur ihrem eigenen Formgesetz verpflichtet sind; Werke, die sich der
Unterordnung unter Kriterien verweigern, die außerhalb der Logik ihrer Form und
deren Rezeption liegen. Zugleich war diese Emanzipation der ästhetischen Erfah-
rung aber auch eine Absage an die objektive Verpflichtung auf humane Zwecke,
der alle Produkte unterliegen, also auch künstlerische. In der Ablösung von dieser
Verpflichtung trieb Kunst, die bei sich selbst bleibt, die ideologische Unwahrheit der
alten Trennung von körperlicher und geistiger Arbeit auf die Spitze. Jene Trennung
ist die Signatur gesellschaftlicher Herrschaft. Sie wäre als solche nicht zu affirmieren,
sondern selbst noch einmal der Kritik zu unterziehen – nicht durch Verzicht auf
ästhetische Produktion, sondern durch Reflexion auf diesen Widerspruch, die im
Fortgang der Arbeit am Formgesetz selbst durchsichtig zu vollziehen wäre. Wenn
und solange dies unterbleibt, setzt sich autonome Kunst ins Unrecht gegenüber der
angewandten Kunst. Ihre Freiheit wäre eben nicht die Setzung als Selbstzweck, die
verabsolutierte Arbeitsteilung, die den Vorzeichen gesellschaftlicher Herrschaft
verhaftet bleibt. Freiheit der Kunst müsste sich immer auch durch ihre Bindungen
an humane Zwecken manifestieren. Die soziale Aufgabe der Künstler tritt nur zu
Tage, wenn ihre Arbeit in den Dienst herrschaftlicher und kommerzieller Zwecke
genommen wird. Insofern hat es ein Moment der Ideologie, wenn die »angewandten«
Künste aus dem Schatten der »freien« treten und gleichberechtigt werden wollen.
Andererseits ist Zweckgebundenheit der Kunst zunächst einmal Heteronomie.
Philosophie und kritische Theorie des Designs 27
Der Weg zu einer dialektischen Theorie des Designs führt über die Frage nach
Wahrheit und Ideologie des Konzepts von Design. In dem Buch Weltentwerfen des
Architekten Friedrich von Borries, der in Hamburg Designtheorie lehrt, gibt es dazu
vielversprechende Ansätze. Methodisch geht Borries allerdings nicht dialektisch
vor, sondern dichotomisch. Er formuliert eine Reihe ambivalenter Merkmalsbe-
stimmungen, um die Zwiespältigkeit des Designs in Geschichte und Gegenwart zu
bestimmen. Dabei verwendet er einen weiten Designbegriff, der nicht nur Produkte
und Oberflächen umfasst und nicht nur äußere Erscheinungsformen, sondern vor
allem auch innere, strukturelle Formen: »Design gestaltet die Form, in der eine
Gesellschaft ihr Zusammenleben organisiert.« (Borries 2016: 30)
Mit Recht bezeichnet Borries die Tätigkeit von Designern als »Entwerfen« (ebd.:
11). Von diesem Begriff ausgehend, knüpft er an ein existenzialontologisches Wort-
spiel aus Heideggers Sein und Zeit an, wo es heißt, der Mensch werde ins Dasein
geworfen und müsse sich durch einen Ent-Wurf wieder aus dieser Ge-Worfenheit
herausarbeiten. Borries versieht Heideggers Motiv mit einem Gegensinn: Alles, was
entworfen und gestaltet ist, sei sowohl ent-werfend (im Sinne von befreiend), als
auch unter-werfend. Entwerfen ist demnach nicht nur Entwurf als komplementäres
Gegenstück zur heideggerschen »Geworfenheit«, sondern auch »das Gegenteil von
Unterwerfen« (ebd.: 9).
2 »Die Technik zieht […] in ihrer heute vorherrschenden Form […] alle soziale und poli-
tische Fantasie an sich […], sie droht jede andere Möglichkeit des besseren sozialen und
politischen Lebens in technische Utopie zu verwandeln. Fortschritt wird tendenziell
synonym mit einer Welt der besser funktionierenden Flachbildschirme, Handys, Com-
puter und Funknetze als moderne Warenfetische. Das Mittel Technik mutiert damit
selbst zum Subjekt und die Menschen und ihre Körper werden zu deren Anhängseln:
ihre Käufer, ihre Datengeber, ihre Ausbeutungsobjekte […]. Diese Relation bildet die
Kehrseite der neuen Möglichkeiten der Benutzung digitaler Geräte.« (Bock 2016: 23)
Philosophie und kritische Theorie des Designs 29
Dies begründet Borries zunächst mit einem Gedanken, den er von Hannah
Arendt übernimmt. Die Konditionen des menschlichen Zusammenlebens sind
einerseits gegeben und werden als solche vorgefunden, andererseits unterliegen sie
aber auch ständiger Umgestaltung. »Der Mensch lebt unter Bedingungen, die die
Menschheit selbst geschaffen hat« (ebd.: 16), resümiert Borries und bringt diese Un-
terscheidung zwischen Individuum und Gattung in Verbindung mit den Konzepten
der Entfremdung und Verdinglichung sowie dem Theorem vom Fetischcharakter
der Ware bei Marx. Der Schein, dass nicht die gesellschaftlichen Beziehungen
der Menschen, sondern natürliche Eigenschaften der Waren die wirtschaftliche
Reproduktion und deren politische Regulierung bestimmen, werde durch Kul-
turindustrie perfektioniert. Andererseits könne jener Schein aber durch Design
entzaubert werden. Denn Design könne sichtbar, »anschaulich, greifbar« machen,
»welche gesellschaftlichen, ökonomischen, politischen, kulturellen Bedingungen
der Gestaltung der Dinge zugrunde liegen. Design kann […] als Ausdruck von Nor-
men, aber auch von Ängsten und Hoffnungen verstanden werden: Es verdinglicht
die Bedingungen«, die nun »selbst zum Gegenstand von Design« (ebd.: 18) werden
können. Die Tätigkeit von Designern versteht Borries daher als »grundlegenden,
emanzipatorischen Akt« (ebd.: 11). Denn »Design schafft Freiheit« (ebd.: 9). Den
politischen Aspekt des Entwurfs leitet Borries von Vilém Flusser her, der die Welt
nicht als Gegebenheit, sondern als Ergebnis menschlichen Entwurfs konzipiert
habe. Dass dieser Zug nicht so recht zu Arendts Konzept passt, bei der die Welt
immer auch Gegebenheit ist, stört den philosophierenden Architekten nicht weiter.
Design ist ihm zufolge Bedingung der Möglichkeit von »Handlungen, die zuvor
nicht möglich oder nicht denkbar waren«; dadurch begrenze Design »aber auch
den Möglichkeitsraum, weil es neue Bedingungen schafft. Alles, was gestaltet wird,
entwirft und unterwirft.« (Ebd.) Designen ist also in sich zwiespältig und damit
mehr als nur eine arbeitsteilige oder bloß ästhetische Tätigkeit. »Diese dem Design
inhärente Dichotomie ist nicht nur eine gestalterische, sondern eine politische.
Sie bedingt Freiheit und Unfreiheit, Macht und Ohnmacht, Unterdrückung und
Widerstand.« (Ebd.: 10)
In der Tat: Viele Designprodukte können ihre Benutzerinnen und Benutzer
sowohl einschränken als auch entschränken. Stühle können entlasten und eine
freie Körperwahrnehmung unterstützen, aber auch zu Haltungen nötigen, die
physisch unzuträglich und repräsentativ falsch sind, etwa hierarchisch erhöhend
oder erniedrigend. Digitale Kommunikationstechnologien können freiheitliche
Selbstverständigung und politische Willensbildung ermöglichen; sie setzen ihre
Nutzerinnen und Nutzer aber auch dem Sperrfeuer der Werbepropaganda aus,
lassen sie ins Überwachungsnetz der Staatsgewalt gehen und formatieren nicht
nur ihre mitteilende Kommunikation, sondern auch ihre Selbstexpression und
30 Philosophie und kritische Theorie des Designs
zu ihrer Umwelt neu organisiert sind« (ebd.: 25). Was zeichnet Design aus, das
auf diese Weise entwirft? Es versuche, »seinen Benutzern und Rezipienten echte
Handlungsspielräume für ihr Leben zurückzugeben. Es stattet sie mit den Techno-
logien, Werkzeugen, Instrumenten und Symbolen eines selbstbestimmten Lebens
aus.« (Ebd.) Design als Form politischer Praxis ist demzufolge ein unerlässlicher
Bestandteil der Auseinandersetzung mit den natürlichen Lebensgrundlagen. »Der
Mensch führt einen Kampf gegen die Natur. […] Naturgewalten, Begegnungen mit
wilden Tieren etc.« würden »den Menschen immer wieder an seine existenzielle
Unterworfenheit« (ebd.: 58) erinnern.3 Design, so Borries, sei überlebensnotwendig,
weil jede Art von Arbeit und Technik aktiv oder passiv mit Gestaltung zusammen-
hängt. Design, das von der Angst ums Überleben bestimmt ist, könne seinerseits
lebensbedrohliche Folgen annehmen. Borries stützt sich auf Gehlen, Anders und
Sloterdijk und betont, dass schützende Institutionen sich gegen diejenigen kehren
können, zu deren Schutz sie gedacht sind; dass »die Entwürfe« »des Menschen«
»seine eigenen Fähigkeiten« »überfordern«; und dass Design in der Moderne eine
Macht simuliert, welche die Menschen in Wahrheit nicht haben, weil ihr individu-
elles und kollektives Überleben bedroht bleibe. Daher verfestige sich das zeitweilig
angelegte, angstgetriebene »Überlebensdesign« zum dauerhaften »Sicherheitsde-
sign«, es werde zum Selbstzweck und »stellt den permanenten Ausnahmezustand
her.« (Ebd.: 51) »Angst ist das Herrschaftsinstrument der Gegenwart.« (Ebd.) »Eine
Steigerung erfährt die Angst des Menschen vor der Natur in der Angst vor der
zweiten Natur.« (Ebd.: 59) Entsprechend würden Gesellschaft und eigenes Selbst
tendenziell heteronom, also unterwerfend, gestaltet. Dagegen biete entwerfendes
Design befreiende Kräfte auf. Design sei im sozioökonomischen Alltag verwurzelt,
könne aber kraft »spekulativer Wunschproduktion und künstlerischer Imaginati-
onskraft« (ebd.:137) auch darüber hinaus gelangen und »neue Möglichkeiten von
Welt« (ebd.) entwerfen.
Borries’ Designphilosophie, soviel dürfte deutlich geworden sein, will heterogene
gedankliche Motive verbinden. Phänomenologie und Neoaristotelismus werden
schwungvoll mit einer neomarxistischen Kantlektüre verquickt. Heideggers existen-
zialontologischer Kalauer über das Entwerfen aus der Geworfenheit soll mit Arendts
Begriff der Bedingtheit und Flussers Projekttheorie des Subjekts gewissermaßen
politisiert werden und dadurch als kantianische Grundlage einer sozialen Gestal-
3 An dieser und an anderen Stellen verfällt Borries in einen Jargon der Eigentlichkeit,
der an jenen erinnert, den Adorno bei der Heidegger-Schule der jungen Bundesrepub-
lik Deutschland beobachtete. Der Jargon nehme, nur scheinbar radikal, »das gesamte
menschliche Dasein« (Bollnow in Adorno 1964: 435) ins Visier; dabei produziere er
Wort- und Denkhülsen, die die soziale und historische Vermitteltheit des Daseins
verdecken.
32 Philosophie und kritische Theorie des Designs
4 »In der Stimmung wird das In-der-Welt-Sein, das das Dasein ›zu sein‹ hat […], hinsicht-
lich seines Vor- und Aufgegebenseins erschlossen; im Entwurf ›wirft‹ sich das Dasein
in das vorgegebene Zu-Sein als sein Worumwillen und versteht es als ›Möglichsein‹. In
der Befindlichkeit wird gleichsam die Notwendigkeit dieses Möglichseins erschlossen,
im Entwurf wird es als Möglichsein erschlossen.« (Tugendhat 1970: 305.)
Philosophie und kritische Theorie des Designs 33
ich mir als existierender Mensch vor Augen führe, worin der letzte Grund meines
Daseins besteht, gebe ich mir ein Ziel und dem Sein etwas vor. Ich überschreite das
Dasein; indem ich ein Weltbild entwerfe, mache ich mir sozusagen ein vorläufiges
Bild vom Sein. Das tue ich aber nur, damit das Sein selbst sich mir offenbart und
mir zu verstehen gibt, was es wirklich ist. Bei Heidegger (1929: 39) klingt das so:
»Der Entwurf von Welt […] ist […] auch immer Überwurf der entworfenen Welt
über das Seiende. Der vorgängige Überwurf ermöglicht erst, daß Seiendes als
solches sich offenbart. Dieses Geschehen des entwerfenden Überwurfs, worin
sich das Sein des Daseins zeitigt, ist das In-der-Welt-Sein.« Das Sein gibt sich eine
zeitliche Form, indem es sich gleichsam als Dasein inkorporiert; es nimmt nicht
nur zeitlich, sondern auch räumlich Gestalt an. Ich wiederum gehe als Seiender
in die Welt, in meine Welt, ein – nur um sie und mich selbst zu überschreiten und
dadurch seiender zu werden. Erst dann gewinne ich die »Möglichkeit der Wahr-
heit des Verstehens von Sein«, und solches Verstehen ist für Heidegger (1929: 40)
nichts anderes »als enthüllendes Entwerfen von Sein«. »Und so ist der Mensch,
als existierende Transzendenz überschwingend in Möglichkeiten, ein Wesen der
Ferne«, verkündet Heidegger (1929: 54) am Schluss seiner Überlegungen. »Nur
durch ursprüngliche Fernen, die er sich in seiner Transzendenz zu allem Seienden
bildet, kommt in ihm die wahre Nähe zu den Dingen ins Steigen. Und nur das
Hörenkönnen in die Ferne zeitigt dem Dasein als Selbst das Erwachen der Antwort
des Mitdaseins, im Mitsein mit dem es die Ichheit darangeben kann, um sich als
eigentliches Selbst zu gewinnen.« (Ebd.)
Transzendenz ist hier ein Bereich, aus dem sich das Sein höchstselbst meldet. Es
erteilt mir, dem bloß Seienden (sofern ich denn imstande bin, dies zu vernehmen),
den Bescheid, meine »Ichheit« dranzugeben. Ich befreie mich im Entwurf lediglich
von meiner überheblichen Haltung gegenüber dem Sein. Solches Entwerfen zielt
per se nicht auf Selbstermächtigung, Befreiung oder gar Emanzipation, sondern
auf Demut. Unterwerfung ist das Ziel des heideggerschen Entwurfs und zugleich
sein letzter Grund.
Aus der Perspektive der kritischen Theorie lautet die Quintessenz der Hei-
degger-Lektüre: Die Existenzialontologie supponiert konkreter, je besonderer
Subjektivität eine vermeintlich übergreifende Allgemeinheit des Ontologischen.
Heideggers Trick, heißt es in Karl Heinz Haags Frankfurter Habilitationsschrift,
ist die »Ersetzung des philosophierenden Subjekts durch das Wort ›Dasein‹« (Haag
1960: 80). Im einzelnen Dasein inkorporiere sich gleichsam das allgemeine Sein
und damit werde das »›Sein‹ zum ›Wesen des Menschen‹« (ebd.) gemacht. Wenn
dann vom »Denken des Seins« (Heidegger 1949: 7) die Rede ist, soll das sowohl ein
Denken des allgemeinen, überzeitlichen Seins selbst sein, als auch das Nachdenken
des Menschen. Dieser wiederum ist für Heidegger als einzelner Mensch – nicht
34 Philosophie und kritische Theorie des Designs
unerhellte Autorität.« (Ebd.: 344) Vier Jahre vor dem großen »Erwachen«, der
Machtübergabe an die Nationalsozialisten, schwärmte Heidegger (1929: 54), dass
der bloß daseiende Mensch »im Mitsein« seine »Ichheit darangeben« solle, »um sich
als eigentliches Selbst zu gewinnen«. Aus Adornos (1963: 344) Perspektive gehört
solches Philosophieren zur Frühgeschichte jener kulturindustriellen »Beförderung
und Ausbeutung der Ich-Schwäche, zu der die gegenwärtige Gesellschaft, mit
ihrer Zusammenballung von Macht, ihre ohnmächtigen Angehörigen ohnehin
verurteilt«. Heideggers komplementäre Anordnung von Geworfenheit und Ent-
wurf erweist sich als autoritative Verklammerung, aus der sich Menschen, die als
»Dasein« zu Exemplaren des »Seins« depotenziert sind, schlechthin nicht befreien
können. Im Ent-Wurf können sie sich allenfalls ihres Ichs entledigen; dass sie sich
zu selbstbestimmten Subjekten machen, ist in der existenzialontologischen Lehre
nicht vorgesehen. Heideggers Konzept des Weltentwerfens, das er nicht erst als
praktizierender Nationalsozialist, sondern bereits kurz nach Sein und Zeit publi-
ziert hat, steht den emanzipatorischen politischen Intentionen der Borries’schen
Philosophie des Entwerfens diametral entgegen.
lismus hingegen sei der subjektive Faktor auf halben Wege steckengeblieben. Sein
gedankliches Überschreiten sei, verglichen mit der revolutionären Herausarbeitung
des gesellschaftlich Neuen, »täuschende, bestenfalls verfrühte Harmonisierung«
(ebd.: 169). Gleichwohl seien die gedanklichen »Vervollkommnungs- und Bedeu-
tungsfiguren« (ebd.), die aus derartiger Ideologie hervorgehen, von hoher Relevanz
für ein antizipierendes Bewusstsein.
An diesem Punkt könnte eine kritische Theorie des Designs an Bloch anknüpfen
(ohne sich die Aporien seiner leninistischen Theorie der Revolution einzuhandeln).
In Momenten der ideologischen Intention von Philosophie und Kunst, meinte
Bloch, sei eine zwar »uneigentliche«, aber keineswegs gänzlich unauthentische
»Antizipation des Besseren« (ebd.) aufbewahrt. Daher sei die »intendierte Verschö-
nerung des Vorhandenen […] immerhin keine des Schlecht-Vorhandenen, und sie
will von letzterem nicht bewußt, also betrügerisch ablenken« (ebd.). »Die Frage ist
nun«, schrieb Bloch, »ob und inwieweit sich der vorwegnehmende Gegenzug mit
einem bloß verschönernden berührt.« (Ebd.) Dies gilt über die Philosophie hinaus
zum einen für die Architektur, die Bloch im Prinzip Hoffnung betrachtet, und zum
andern für das Design, nämlich im Sinne des Gestaltungsdiskurses in Blochs Geist
der Utopie. Dieser Gestaltungsdiskurs spürt der eigentümlichen Bewegung nach,
in der angewandte Kunst, in einer Art »Vorspiel« und »Korrektiv«, die Grenze »zur
transzendierenden Form« und zum »mehrdimensionalen, transzendierenden Or-
nament« (Bloch 1923: 29; siehe Bloch 1954: 819–872) erkundet und sich anschickt,
sie zu überschreiten.
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Marcuse, Herbert (1964): »Industrialisierung und Kapitalismus im Werk Max Webers«, in:
Ders., Schriften, Bd. 8, Springe, zu Klampen, 2004, S. 79–99.
Mareis, Claudia (2014): Theorien des Designs zur Einführung, Hamburg: Junius.
Mensching, Günther (1992): Das Allgemeine und das Besondere. Der Ursprung des modernen
Denkens im Mittelalter, Stuttgart: Metzler.
Mertin, Andreas (2002): »Die Hand Gottes oder die Rückkehr der Priester. Das Ende der
Kunst als Exekutivform des Bilderverbots?«, in: Magazin für Theologie und Ästhetik Nr.
17/2002 (https://www.theomag.de/17/am61.htm [letzter Abruf: 12.8.2018]).
Tugendhat, Ernst (1970): Über den Wahrheitsbegriff bei Husserl und Heidegger, Berlin: de
Gruyter, 2. Aufl.
Wellmer, Albrecht (1985): »Kunst und industrielle Produktion. Zur Dialektik von Moderne
und Postmoderne«, in: ders., Zur Dialektik von Moderne und Postmoderne. Vernunftkritik
nach Adorno, Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 115–134.
Designtheorie zwischen Aufklärungskritik
und Gegenaufklärung*1
Designtheorie zwischen Aufklärungskritik und Gegenaufklärung
In der Diskussion über eine wissenschaftliche Fundierung der Praxis von Ge-
stalterinnen und Gestaltern wird seit Langem zwischen einem engen und einem
erweiterten Begriff von Design unterschieden. Claudia Mareis (2014: 41) spricht
zutreffend von einer »Entgrenzung des Designbegriffs«. Bruno Latour hat sich
vor einigen Jahren – mit einer Hommage an Peter Sloterdijk, der seinerzeit der
Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe als Rektor vorstand – in diese Debatte
eingebracht. Latour arbeitet mit einem sehr weiten Designbegriff, der jegliche
gestalterische Aktivität umfasst – nicht bloß die Gestaltung »alltäglicher Objekte«
des Gebrauchs, sondern überhaupt gestaltende Eingriffe in »Städte, Landschaften,
Nationen, Kulturen, Körper, Gene und […] die Natur selbst« (Latour 2009: 357).
Dieser Designbegriff, meint der Technik- und Wissenschaftssoziologe, sei ein »wirk-
samer Ersatz für die Begriffe des Machens, Bauens und Konstruierens« (ebd.: 367).
Der homo faber habe als Hersteller, Bauherr und Konstrukteur zur Überheblichkeit
tendiert; postmoderne Designer seien in dieser Hinsicht viel bescheidener. Latour
* Ursprünglich ein Vortrag bei der Tagung Der aufrechte Gang im windschiefen Kapi-
talismus: Sozialkritik und Ethik in der marxistischen Tradition des Kollegs Friedrich
Nietzsche in Weimar am 10. Januar 2016. Für Anregungen, Hinweise und Kritik danke
ich Christian Bauer, Wolfgang Fritz Haug, Peter Jehle und Ilse Schütte-Kronauer. Der
Text erschien unter dem Titel »Ideologie und Utopie des Designs. Latours Designthe-
orie zwischen Aufklärungskritik und Gegenaufklärung« in: Der aufrechte Gang im
windschiefen Kapitalismus. Modelle kritischen Denkens, hrsg. v. Rüdiger Dannemann,
Henry Pickford u. Hans-Ernst Schiller, Wiesbaden: VS, 2018, S. 255–272. Der Obertitel
des Aufsatzes war als Hommage an das gleichnamige, wegweisende Buch von Gert Selle
aus dem Jahr 1973 gedacht. Eine frühere Fassung publizierte Das Argument. Zeitschrift
für Philosophie und Sozialwissenschaften, Heft 315 (1/2016), S. 68–81. – Teile des Textes
wurden in das Buch Ethik im Kommunikationsdesign. Verständigung, Verantwortung und
Orientierung als Kriterien visueller Gestaltung aufgenommen, das ich gemeinsam mit
Christian Bauer verfasst habe (Würzburg: Königshausen & Neumann, 2017, S. 205–227).
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 39
G. Schweppenhäuser, Design, Philosophie und Medien, Würzburger Beiträge zur
Designforschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-22225-3_3
40 Designtheorie zwischen Aufklärungskritik und Gegenaufklärung
müssen« (ebd.: 360). Weil Dinge nicht darauf reduziert werden dürften, dass sie
Produkte menschlicher Arbeit sind, habe man sich (generell, aber insbesondere
als Designerin und Designer) vom Konzept der Neuschöpfung und der absoluten
Anfänge und Ursprünge zu verabschieden. Gegen die Hybris der säkularisierten
Vorstellung einer creatio ex nihilo – die übrigens schon Adorno (1965), unter ganz
anderen Voraussetzungen, bekämpft hat – macht Latour geltend, dass Design
transitorisch ist: Es sei »immer etwas Abhelfendes«, nämlich eine »nachfolgende
Aufgabe« im besten Sinne, die darin besteht, etwas, das »stets […] bereits […] da«
ist, »lebendiger, kommerzieller, verwendbarer, benutzerfreundlicher, annehmbarer,
nachhaltiger und so weiter zu machen« (Latour 2009: 361).
Damit soll die inhärente Ethik des Designs zu Tage treten: Wenn es keine Tat-
sachen gibt, sondern nur Dinge und Kombinationen von Dingen und Lebewesen,
gelte die moderne Dichotomie von Tatsachenfeststellungen und Werturteilen nicht
mehr. Vielmehr werde klar, dass Design per se eine normative Dimension hat. Wenn
alles designt ist, sei die Frage unabweisbar, ob etwas »gut oder schlecht designt
worden ist« (ebd.: 362). Dann werde klar, dass es keine normfreie Faktizität gibt.
Alles, was uns umgibt, ist stets auch von uns mitproduziert und daher bewertbar
und bewertungsbedürftig.
Latours Unbehagen am Dogma der Dichotomie von Sein und Sollen, die sich seit
Hume und Max Weber eingebürgert hat, ist nachvollziehbar. Aber um seine De-
sign-Ethik einschätzen und bewerten zu können, muss man klären, was er überhaupt
unter »Moderne« versteht. Latour zufolge ist diese Epoche durch die philosophische
Alternative »Emanzipation« oder »Bindung« (ebd.: 365) gekennzeichnet. Dahinter
steht, so würde ich philosophiegeschichtlich etwas präziser formulieren, auf der
einen Seite die revolutionäre Linie der kritisch-materialistischen Philosophie vom 18.
bis zum 20. Jahrhundert. Und auf der anderen Seite stehen die gegenaufklärerische
Philosophie des 19. und der Neokonservatismus des 20. Jahrhunderts. Während
jene den Fortschritt propagiert hätten, bilanzieren diese seine Kosten.
Latour (2008: 22) schließt den »Modernismus« heideggerisch mit dem »Humanis-
mus« kurz; Moderne werde »oft über den Humanismus definiert«, schreibt er, und
dabei würde »die gleichzeitige Geburt der ›Nicht-Menschheit‹« vergessen, nämlich
»die der Dinge oder Objekte oder Tiere«. Das soll bedeuten, dass Dinge, Objekte und
nichtmenschliche Lebewesen ihren ontologischen Status nur vermittelt durch eine
differenzproduzierende Selbstdefinition des Menschen zugewiesen bekommen, der
ihr So-Sein depotenziert, indem er sie sich verfügbar macht. Die Unterscheidung
zwischen Mensch und Nichtmensch hat demnach kein fundamentum in re. Der
Designtheorie zwischen Aufklärungskritik und Gegenaufklärung 43
1 Siehe dazu Loheit 2015 (340 ff.), der das Buch Das unmögliche Objekt. Eine postfundamen-
talistische Theorie der Gesellschaft von Oliver Machart (Frankfurt/M. 2013) diskutiert,
in dem Heideggers metaphysikkritischer Ansatz auf die Soziologie übertragen wird.
44 Designtheorie zwischen Aufklärungskritik und Gegenaufklärung
auf alle Fälle zwischen dem metaphorischen Sprachgebrauch der kritischen Theorie
und der »ontologischen Gleichschaltung aller Dinge und Lebewesen« (Haug 2015:
326) unterschieden werden. Wenn Horkheimer, Adorno oder Benjamin sich dem
Ausdruck der Dinge zuwandten, taten sie dies, um an den Dingen die Spuren ihrer
Zurichtung durch die Menschen wahrzunehmen. Sie suchten, mit semiotischem
Blick, nach indexikalischen Zeichen; sie wählten die Darstellungsform der Allegorie
als Übersetzungsmedium für nichtsprachliche Ausdruckscharaktere. So wird die
»Sprache« der Dinge lesbar wie ein Text.2 Latour hingegen phantasiert von einem
»Parlament der Dinge«, in dem die Rechte nichtmenschlicher Wesen ausgehandelt
werden, also die vermeintlichen Rechte all jener vernetzten »Aktanten«, unter denen
sich Latour auch Mischwesen aus Mensch und Maschine vorstellt. So wird aus einer
richtigen Einsicht, die dabei helfen könnte, dass wir lernen, ›die Dinge ausreden
zu lassen‹, am Ende eine Variante des Obskurantismus, bei dem das Konzept des
Subjekts abstrakt negiert wird.
Die Wurzeln dieser Negation scheinen tief in Latours Heidegger-Rezeption
verhaftet. Heideggers ›neuer Humanismus‹ »verwirft […] alle Subjektauffassungen,
die zu ›Biologismus‹ und ›Pragmatismus‹ führen« (Rockmore 2000: 171). Aber
sein Antisubjektivismus ist autoritär. Karl-Heinz Haag hat das im letzten Kapitel
der Kritik der neueren Ontologie herausgearbeitet. Sein Ergebnis: »Man muß die
Heideggersche Fundamentalontologie als den Versuch bezeichnen, das Wissen
einzuschränken, um für ein archaisches Denken Platz zu schaffen.« (Haag 1960:
93) Ebenso wie »der moderne Positivismus […] verkündet auch sie dem Individuum
einfach, daß das Abstrakte für konkret zu gelten habe, daß es die Wahrheit sei.
Sie dient so objektiv der Negation der Menschlichkeit.« (Ebd.)3 »Dinge, die sich
2 Scott Lash (1999) hat in seiner Auseinandersetzung mit Latour betont, dass es einer
materialistisch inspirierten Deutung der Dingwelt um »Objektsuche als allegorische
und metonymische Praxis« geht. Methodisch sei dabei so vorzugehen, dass »wir Objekte
reflexiv der zeitgenössischen Kultur entnehmen und dann in unsere eigene allegorische
Ordnung wieder einbetten, eine Ordnung, die nicht- und postnarrativ ist. Eine Ordnung
der Suche, des Verfolgens […]. Es hat mit dem zu tun, was Lefèbvre einen ›Weg‹ nennt,
einen materiellen Weg, einen indexikalischen und taktilen Weg, dem wir folgen, den wir
dann verlassen und wieder aufnehmen. Vielleicht produzieren wir auf diese Weise Sinn
und Bedeutung in der zeitgenössischen Kultur.« In ironischer Zuspitzung gegen Latour
formuliert Lash sein Resümee: »Wir Nichtmodernen sind nicht Vermittler, sondern
materialistische ›Verfolger‹, Spurensucher. Wir finden nicht Kant’sche Regeln, sondern
›Wege‹. Wir schaffen unsere Hybriden nicht durch Vermittlung als Analogie-Maschinen,
sondern als ›Verfolger‹, als AllegoristInnen.«
3 Haags damaliger Kollege Hermann Schweppenhäuser hat den autoritären Gestus von
Heideggers Ermächtigungserklärung der Sprache über die sprechenden Subjekte kritisiert.
»Die Sprache ist das Haus des Seins«, heißt es in Heideggers Brief über den Humanismus.
Designtheorie zwischen Aufklärungskritik und Gegenaufklärung 45
versammeln« und »uns angehen«: Das ist Latours postmoderne Neuausgabe der
neo-ontologischen Anweisung, dass »das Abstrakte für konkret zu gelten habe«.
Wenn Latour unterstellt, Humanismus und Moderne seien identische kulturelle
Bewegungen, dann übergeht er, auf Heideggers Spuren, die Unterschiede zwischen
dem modernen wissenschaftlichen Selbstverständnis und der geistesgeschichtlichen
Selbstgenügsamkeit des Neuhumanismus im 19. Jahrhundert, als die gefestigten
Eigentums- und Produktionsverhältnisse der bürgerlichen Gesellschaft offenbar
dazu geführt hatten, dass die Radikalität der Reflexion der Totalität von Natur und
Gesellschaft im Medium einer philosophischen, kritischen oder gar revolutionären
Vernunft nachließ.
Für Latour liegt der Fehler des ›alten‹ Humanismus ebenso wie für Heidegger darin,
dass er in traditioneller Metaphysik verhaftet ist. Doch Latour scheint dabei zu
übersehen, dass die Philosophie der Moderne sich von der traditionellen Metaphy-
sik abgesetzt hat. Dazu passt es, wie er den Frontverlauf der Kontroverse zwischen
Habermas (2001; siehe Quante 2015) und Sloterdijk (1999), anlässlich von dessen
Überlegungen zu Gentechnologie und Menschenzüchtung, neu definiert. Haber-
mas’ Haltung erscheint bei Latour als Kritik eines modern-humanistischen, aber
skrupulösen Philosophen am skrupellosen Machbarkeitsdenken der Moderne. Doch
die Kritik übersehe, dass der Problemkern die übergeordnete Differenz zwischen
den Subjekten (den Menschen) und den Objekten (den Sachen) ist. »Habermas ent-
geht«, schreibt Latour (2009: 368), »dass Humanisten, wenn sie Menschen anklagen,
›Menschen wie Objekte zu behandeln‹, überhaupt nicht merken, dass sie selbst die
Objekte unfair behandeln. Ein Humanist kann sich nicht vorstellen, dass Objekte
Dinge sein können […]. Humanisten beschäftigen sich allein mit Menschen; alles
Übrige ist für sie bloße Materialität oder kalte Objektivität.« Sloterdijk hingegen
erscheint bei Latour als Kritiker des falschen, gewalttätigen Objektivismus: Er
»behandelt Menschen nicht als objektive Tatsachen, wie es eben die Humanisten
tun. Sondern er behandelt sowohl Menschen als auch Nicht-Menschen als ›An-
gelegenheiten von großer Wichtigkeit‹, mit denen sorgsam umgegangen werden
muss« (Latour 2009: 368).
Nicht Subjekte sprechen und denken, sondern die Sprache selbst. Heidegger behauptet,
dass »deren Wesen, ganz wie bei mythischen Gottheiten, in ihrem Namen liege, welcher
für alle Reflexion und Vermittlung tabu ist« (Schweppenhäuser 1958: 143).
46 Designtheorie zwischen Aufklärungskritik und Gegenaufklärung
Wer die Pathologien der Moderne auf zuviel Vernunft zurückführt und dem Den-
ken der Aufklärung anlastet, geht in die Irre. Der Begriff wissenschaftlicher und
praktischer Vernunft war von 1789 bis 1918 (sowie in den anschließenden Jahren
der künstlerischen Avantgarden, die ihn kritisch unter die Lupe nahmen) durch ein
wohlbegründetes Vertrauen gekennzeichnet. Demnach könnte es gelingen, durch
freie Forschung und ihre Kommunikation im öffentlichen Diskurs die Lebensver-
hältnisse für alle zu verbessern. Dazu galt es, den Fortschritt der Wissenschaften
und ihre philosophische Reflexion in Einklang mit dem technischen Fortschritt der
Produktion und Verteilung von Gütern zu bringen. »Die französische Aufklärung
ist ein großes Beispiel für die Auseinandersetzung zwischen der Vernunft und den
Designtheorie zwischen Aufklärungskritik und Gegenaufklärung 47
4 Am Ende dieser Linie steht die Klage über »die Heimatlosigkeit des neuzeitlichen Men-
schen«, zu der die moderne Technik beiträgt, in der sich das »Wesen des Materialismus
verbirgt« (Heidegger 1947: 27).
5 Latour (2008: 65) vertritt innerhalb des postmodernen Diskurses eine »nichtmoderne«
Position, die (immerhin) eine »retrospektive Haltung« einnimmt, »die entfaltet, statt
zu entlarven; die hinzufügt, statt wegzulassen; die verbrüdert, statt zu denunzieren;
die sortiert, statt zu demaskieren«. Aufgrund dieser Haltung solle es möglich sein,
»die Verfassung der Modernen« ebenso zu berücksichtigen, wie »die Populationen von
Designtheorie zwischen Aufklärungskritik und Gegenaufklärung 49
Hybriden, die sich unter dieser Verfassung ausbreiten, aber von ihr verleugnet werden«
(ebd.) – also: die Versammlung der ›Dinge‹.
6 Das Folgende entstand unter Verwendung von Schweppenhäuser 2016: 16–20.
50 Designtheorie zwischen Aufklärungskritik und Gegenaufklärung
Stellvertretendes Design
Den »zwiespältigen Charakter von Subjektivität« reflektieren ist also etwas anderes
als den Gedanken ersatzlos streichen, dass Menschen durch intersubjektive Ver-
ständigung und entsprechende Praxis zum Kollektiv-Subjekt ihrer selbstbestimm-
ten gesellschaftlichen Beziehungen werden könnten. Denn das hieße, die soziale
Geschäftsgrundlage von Design kündigen und seine immanente Ethik ignorieren.7
Für William Morris bestand der Zweck von Design im 19. Jahrhundert darin,
arbeitenden Menschen Befriedigung und Freude bei phantasievoller Qualitätsarbeit
zu vermitteln. Es sollte die seelische und somatische Entwicklung der Menschheit
unterstützen. Das sei aber nur durch die Überwindung des Klassenantagonismus
zu erreichen – wenn es »keine erniedrigten Klassen mehr gibt, denen man die
Schmutzarbeit aufbürden kann« (Morris 1879: 53) und alle Menschen frei, gleich
und solidarisch »inmitten schöner Dinge« (ebd.: 60) leben können. Der Darmstädter
Designhistoriker Kai Buchholz stellte fest, »dass sich die wesentliche kulturelle
Aufgabe des Designs seit 1850 nicht geändert hat. Nach wie vor geht es darum,
unter den Bedingungen der technischen Zivilisation eine humane Lebenswelt zu
gestalten« (Buchholz 2012: 205).
Design ist Entwurf für den Bedarf des Bestehenden – und Entwurf eines noch
gar nicht Seienden. Im Sinne von Ernst Bloch (1923: 28 f.) ist es ein »Vorspiel«: ein
»Wachtraum«, in dem der Blick hin »zu einer anderen Welt« gerichtet ist – also ein
Wachtraum der Befreiung. Und dafür, so meine These, brauchen wir ein stellvertreten-
des Design. Was heißt »stellvertretend«? Um das deutlich zu machen, möchte ich an
den Grundgedanken von Adornos negativer Moralphilosophie erinnern. Angesichts
der Unmöglichkeit, im ungerecht eingerichteten gesellschaftlichen Ganzen ethisch
»richtig« zu leben, solle man versuchen, ein »stellvertretendes Leben« zu führen.
Damit meinte Adorno, dass man versuchen solle, »in den engsten Beziehungen der
Menschen so etwas wie Modelle eines richtigen Lebens zu erstellen«; man sollte
also, wann immer es geht, so miteinander umgehen, »wie man […] sich vorstellen
könnte, daß das Leben von befreiten, friedlichen und miteinander solidarischen
Menschen beschaffen sein müßte« (Adorno 1956/57).
Daran möchte ich anknüpfen. Meine Maximen für ein »stellvertretendes Design«
variieren die altbekannte Antinomie, in die man nach Wolfgang Fritz Haug gerät,
wenn man versucht, »im Kapitalismus über diesen hinaus zu gestalten«8.
1. Man sollte daher so entwerfen, als ob das Primäre nicht Verwertung, Markt und
Image-Fragen wären, sondern der – womöglich lebenslange – Gebrauchswert.
2. Man sollte so entwerfen, als ob nicht Individualkonsum der entscheidende
Faktor wäre, sondern kollektive Aneignung.
3. Man sollte so entwerfen, als ob der Imperativ, Aufmerksamkeit zu erregen,
nicht die alleinige Existenzberechtigung für Beiträge zur öffentlichen Kom-
munikation wäre.
4. Man sollte so entwerfen, als ob die Beziehungen der Menschen nicht durch
Warenform und Tauschverhältnis modelliert wären.
5. Man sollte so entwerfen, als wäre Kommunikation an Verständigung und so-
lidarischem Handeln orientiert – und nicht an strategischer Bearbeitung von
»Zielgruppen« in »Kampagnen«.
6. Man sollte so entwerfen, als wäre jeder Mensch niemals nur Mittel für die
Ziele der Gestalter und ihrer Auftraggeber, sondern jederzeit zugleich Zweck
an sich selbst.
Literatur
Morris, William (1879): »Die Kunst des Volkes«, in: ders., Kunst und die Schönheit der Erde.
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Negt, Oskar (1974): Die Konstituierung der Soziologie als Ordnungswissenschaft. Struk-
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Europäische Verlagsanstalt.
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Pohrt, Wolfgang (1974): »Skizze zur Entwicklung des Verhältnisses von Wissenschaft und
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Sloterdijk, Peter (1999): Regeln für den Menschenpark. Ein Antwortschreiben zu Heideggers
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Steinert, Heinz, Hg. (1998): Zur Kritik der empirischen Sozialforschung. Ein Methoden-
grundkurs, Buchreihe Studientexte zur Sozialwissenschaft, Bd. 14, Johann-Wolfgang-Go-
ethe-Universität Frankfurt am Main, Fachbereich 3, WBE Methodologie.
Wellmer, Albrecht (1985): »Kunst und industrielle Produktion. Zur Dialektik von Moderne
und Postmoderne«, in: ders., Zur Dialektik von Moderne und Postmoderne. Vernunftkritik
nach Adorno, Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 115–134.
Nominalismus und Realismus
in der Ästhetik des Designs*2
Nominalismus und Realismus in der Ästhetik des Designs
Ästhetik als philosophische Theorie der Kunst fragt traditionell nach der freien
Schönheit von Objekten; sie vernachlässigt die Frage, ob es eine Schönheit des
Brauchbaren gibt. Die Designästhetik des Funktionalismus behauptet dagegen,
dass es eine von der Brauchbarkeit getrennte Schönheit nicht gibt. – Im Folgenden
befrage ich philosophische Konzepte der Schönheit auf ihre Brauchbarkeit für eine
Ästhetik des Designs. Und zwar mit Blick auf die Problematik, ob es sinnvoll ist
anzunehmen, dass es eine »den Objekten inhärente Eigenschaft, ›schön‹ zu sein«
gibt – oder ob »Schönheit und deren attraktive Repräsentation« nichts anderes
sind als »ein soziales Konstrukt, das zwar auf der Natur des Menschen basier[t],
aber diese Bedingungen kulturell weitestgehend überform[t]« (Brock 2002: 584)1.3
* Vortrag auf der Tagung Designästhetik – Theorie und soziale Praxis der Universität
Koblenz-Landau und der Hochschule Furtwangen in Kooperation mit der Deutschen
Gesellschaft für Ästhetik im Arp-Museum, Rolandseck, am 15. Juni 2018. Erstveröf-
fentlichung in: Musik & Ästhetik, 22. Jg., Heft 4/2018, S. 29–38.
1 »Eine historische Ausprägung des Disputs kennen wir als den mittelalterlichen Universa-
lienstreit oder den Realismus-/Naturalismusstreit in den Künsten des 19. Jahrhunderts.
In diesen querelles versuchte man zwischen beiden Positionen zu vermitteln. Man ging
von der beobachtbaren Tatsache aus, daß Menschen objektinhärente Eigenschaften aner-
kannten, indem sie sie als ›rot‹, ›belebt‹, ›schwer‹ oder andererseits als ›andersfarbig‹, ›un-
belebt‹ oder ›leicht‹ kennzeichneten. Diese gleichen Kennzeichnungen der verschiedenen
Dinge gewinne man aus der Zusammenfassung der Eigenschaften, die den verschiedenen
Dingen gleichermaßen zukommen: die Eigenschaft rot zu sein, lebendig zu sein, schwer
zu sein etc. Das hieße auch, daß die einzelnen unterschiedlichen Dinge Repräsentationen
der Eigenschaften seien, die sie gemeinsam haben. Also müßten diese gemeinsamen
Eigenschaften bereits vor der Ausformung der einzelnen Objekte in der menschlichen
Wahrnehmung, in Urteilen und Handeln/Herstellen gegeben sein. Die gemeinsamen
Eigenschaften nannte man Universalia. Die Frage lautete: sind diese Universalia auf
gleiche Weise real wie die verschiedenen Objekte, die sie gleichermaßen repräsentieren?
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 57
G. Schweppenhäuser, Design, Philosophie und Medien, Würzburger Beiträge zur
Designforschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-22225-3_4
58 Nominalismus und Realismus in der Ästhetik des Designs
Oder sind diese Universalia bloße Namen für die allgemeinen Eigenschaften, die wir aus
den verschiedenen Objekten durch Abstraktion gewinnen? Realist wurde genannt, wer
die ›Röte‹ oder die ›Schönheit‹ oder die ›Schwere‹ auf die gleiche Weise für real gegeben
hielt wie die als ›rot‹, ›schön‹ und ›schwer‹ wahrgenommenen Dinge. Nominalist wurde
genannt, wer die Universalia für bloße Substantiv-Bildungen von Eigenschaftsworten der
Dinge hielt. Nur eine gedankliche oder sprachliche Abstraktionsleistung ermöglicht es
uns, von ›Röte‹, ›Schönheit‹ und ›Schwere‹ zu sprechen, obwohl nur die einzelnen roten,
schönen und schweren Objekte real gegeben sind.« (Brock 2002: 585 f.)
Nominalismus und Realismus in der Ästhetik des Designs 59
nicht.« Und die Verwirrung würde sich fortsetzen, sagen die Nominalisten, wenn
ich nicht merke, dass »Die Lampe ist schön« kein ästhetisches Urteil ist. Denn hier
werde ja keine Eigenschaft von einem Objekt prädiziert, sondern eine Aussage über
meine Befindlichkeit gemacht. Korrekt müsste es lauten: »Ich empfinde Gefallen
an der Lampe.«
Kritiker des ästhetischen Realismus gehen aber noch weiter: Sie vertreten die An-
sicht, dass Dinge keine ästhetischen Eigenschaften haben können. Von Dingen könne
nur ausgesagt werden, dass sie natürliche Eigenschaften haben. Die Werthaltungen
der Subjekte, die sie betrachten, sind demnach etwas ganz anderes. Sinnvollerweise
könne ausgesagt werden: »Die Lampe ist mittelgroß«, »ist überwiegend weiß« oder
»besteht aus Metall«; aber nicht: »Die Lampe ist schön« oder »ist hässlich«. Sinnvoll
wäre eine Aussage wie zum Beispiel: »Gegenstände, die mittelgroß und überwiegend
weiß sind, aus Metall bestehen und Licht spenden, gefallen mir.«
Dagegen argumentieren Verteidiger des ästhetischen Realismus, dass es sinnvoll
sein kann, Dingen ästhetische Eigenschaften zuzusprechen. Sie weisen das Kate-
gorienfehler-Argument mit folgender Begründung zurück: Auch eine Person, der
mittelgroße, überwiegend weiße, aus Metall bestehende Gegenstände im Allgemei-
nen vielleicht nicht gefallen, könnte durchaus das Urteil aussprechen, dass diese
Lampe »schön ist«. Sie mag sie vielleicht nicht; aber aufgrund ihres Wissens über
Proportionen, Materialbehandlung und das Verhältnis von Funktion und Form,
sowie aufgrund designgeschichtlicher Kenntnisse, kann sie zu dem Urteil gelangen,
dass das sprachlich-kulturelle Prädikat »schön« in diesem Fall eine angemessene
Zuschreibung ist. Dann könnte sie sagen: »Ich mag die Lampe nicht, aber schön
ist sie«, oder: »Die Lampe gefällt mir zwar nicht, aber sie ist schön«. Wie einem
ja mitunter auch ein Mensch nicht gefällt, so schön er auch sein mag ... Solche
Aussagen müsste ein ästhetischer Nominalist als Selbstwiderspruch bemängeln,
da er die Aussage »X gefällt mir« als korrektes Äquivalent für »X ist schön« setzt.
– Die Person aus unserem Beispiel könnte also rational zwischen Attraktivität und
Schönheit unterscheiden.2 Noch etwas kommt hinzu: Die Person aus dem Beispiel
könnte ihre Aussage begründen; sie könnte Argumente anführen, um die Prädikate
»schön« und »hässlich« gegeneinander abzugrenzen, um ihre Verwendungsweise
auf jeweilige Objekte zu beziehen usw.
Wer möchte, kann sich diesen Problembestand bei Hume, Kant und Hegel
vergegenwärtigen. Hume und Kant verstehen Schönheit nicht mehr als Eigenschaft
der Objekte, sondern als Werturteil des Subjekts. Nicht als objektive Eigenschaft
2 Nebenbei: Falls es sich um einen Attraktivitätsforscher handelt, wäre das besonders er-
freulich, denn die tun in der Regel so, als sei ihnen diese philosophische Unterscheidung
unbekannt oder als hätte sie keine Relevanz für ihre empirischen Untersuchungen.
60 Nominalismus und Realismus in der Ästhetik des Designs
schöner Dinge, sondern als Prädikat, das wir Objekten zusprechen, die auf uns
erfreulich, anziehend, anmutig usw. wirken. »Schönheit ist keine Eigenschaft der
Dinge selbst: Sie existiert nur im Geist, der sie betrachtet«3, lehrte der Nominalist
Hume. Wenn aber die Wahrnehmung des Schönen eine subjektive Angelegenheit
ist, dann stellt sich die Frage, warum wir denn dem einen Objekt das Prädikat »ist
schön« zusprechen und dem anderen nicht. Urteilende Subjekte können sich ja
irren und falsche Prädikate aussprechen. Ästhetische Urteilskraft und Geschmack
sind subjektive Vollzüge, aber sie beziehen sich auf etwas, das dem Subjekt nicht
gänzlich unterworfen ist. Die Vollzüge sind nicht unabhängig und die Eigenschaften
des Objekts nicht beliebig austauschbar. Wenn man sagt »Ich finde X schön« oder
»X ist schön«, liegt unausgesprochen zugrunde, dass wir X schön finden, weil X
schön ist, also weil X diese oder jene Eigenschaft hat, aufgrund deren wir das Urteil
»ist schön« aussprechen.
Dem ästhetischen Subjektivismus steht also nicht nur ein leicht zu entkräftender
Objektivismus entgegen, sondern auch das Konzept der Affordanz aus der Psycho-
logie. Ihm zufolge nehmen »Lebewesen die Gegenstände in ihrer Umwelt vor dem
Hintergrund der eigenen Körperausstattung beziehungsweise den entsprechenden
Handlungsmöglichkeiten wahr[…]« (Zillien 2009). Kurz gesagt: Gegen ästhetischen
Subjektivismus spricht immer auch der »Angebotscharakter eines Objektes« (ebd.).
Das war auch Kant bereits klar. Er hat den Schönheitsbegriff im Anschluss
an Hume zwar subjektiviert, aber gleichwohl festgestellt, dass ästhetische Urteile
unausgesprochen auf allseitige Zustimmung zielen. Dass es einen ästhetischen
Gemeinsinn gibt, heißt freilich nicht, dass sich alle immer einig wären. Umgekehrt
wird ein Schuh daraus: Weil es ihn gibt, ist es sinnvoll, über Geschmacksurteile zu
streiten. Grundlage des Streits ist das Geschmacksurteil des Subjekts, aber bei der
Begründung oder Ablehnung dieses Urteils beziehen sich alle notwendigerweise
auch auf das Objekt, worüber geurteilt wird.
Bei Hegel dagegen wird Schönheit, die er als vermittelt über den subjektivie-
renden Geist denkt, wieder eine objektive Eigenschaft der schönen Dinge. Sie ist
für Hegel die wahrnehmbare Folge davon, dass innere Freiheit sich in der äußeren
3 »Beauty is no quality in things themselves: It exists merely in the mind which contem-
plates them; and each mind perceives a different beauty. One person may even perceive
deformity, where another is sensible of beauty; and every individual ought to acquiesce
in his own sentiment, without pretending to regulate those of others. To seek the real
beauty, or real deformity, is as fruitless an enquiry, as to pretend to ascertain the real
sweet or real bitter. According to the disposition of the organs, the same object may be
both sweet and bitter; and the proverb has justly determined it to be fruitless to dispute
concerning tastes. It is very natural, and even quite necessary, to extend this axiom to
mental, as well as bodily taste« (Hume 1742: I.XXIII.8).
Nominalismus und Realismus in der Ästhetik des Designs 61
4 Ein kurzer Rückblick in die Geschichte der Philosophie: Der »ältere philosophische
Begriffsrealismus« lehrte, dass »die Allgemeinbegriffe der Sprache deshalb die Wirk-
lichkeit ›treffen‹, weil nur das Allgemeine wahrhaft existiert«, weil »die Wirklichkeit
selbst eine logische (und damit sprachliche) Struktur« (Schmid Noerr 1986: 357) hat.
5 Dieser Absatz entstand unter Verwendung von Schweppenhäuser 2016: 15–16.
Nominalismus und Realismus in der Ästhetik des Designs 63
bezeichnet werden und Papprollen für Toilettenpapier nicht. Denn selbst so eine
Konvention ist ja stets auch sachlich motiviert. Ich würde also nur die Namen
auswechseln, die ich den Dingen gebe.
Und das lehrte der Nominalismus im ausgehenden Mittelalter. Begriffe waren für
ihn bloße Namen, ohne Halt an den Gegenständen, für die sie zeichenhaft stehen.
Der Neo-Nominalismus sagt das auch (Goodmann 1968 u. 1978). Daher kann (und
will) er keine philosophischen Begriffe verwenden. – Er möchte auch nicht erklären,
wie es sein kann, dass abstrakte Sachverhalte sich sozusagen materialisieren und
dennoch nicht aufhören, auch abstrakt zu sein. Theorien des Entwerfens kreisen
aber um diese Problematik. Es nützt nichts, wenn man so tut, als gäbe es sie nicht
mehr, wenn man die Sprache von allem Begrifflichen reinigt.
Damit will ich aber nicht sagen, dass ich die entmystifizierende Kraft des nomi-
nalistischen Ansatzes gering schätze. Und damit bin ich bei Adornos Theorie des
Nominalismus. Adorno (1970: 296–334) setzt methodologisch auf einer anderen
Ebene an: Er beschreibt, wie der Kampf gegen das Begrifflich-Allgemeine geführt
wurde, um die Befreiung des Besonderen zu konzipieren. Ästhetischer Nominalismus
ist bei Adorno eine produktions- und werkästhetische Kategorie in rekonstruktiver
Absicht. Historisch gehört sie zur europäischen Moderne des 19. und frühen 20.
Jahrhunderts und semantisch steht sie für ihr Programm der Emanzipation des
Einzelwerks von den Gepflogenheiten und Darstellungskonventionen der Gattung.
Adorno legt zweierlei dar. Erstens: Die Befreiung des besonderen Einzelwerks ist
ohne den Bruch mit den allgemeinen Rahmungen der Gattung, aus der es hervor-
geht, nicht denkbar. Zweitens: Das Einzelwerk wird jene allgemeinen Rahmungen
aber nie ganz los.
Das zeigt Adorno an musikästhetischen Formfragen, anhand der Fuge bei Bach
und der Durchführung im Sonatenhauptsatz bei Haydn und Beethoven. Schön-
bergs Ausbruch aus den Tonartbeziehungen des Quintenzirkels war die radikalste
Absage an die westliche Tonalität. Aber auch sie errichtete bekanntlich ein neues
Regime der Form: das Prinzip der Gleichberechtigung aller Töne und Halbtöne
einer Reihe von zwölf aufeinander bezogenen Tönen; eine Ordnung, aus der kein
emanzipiertes Einzelwerk ausbrechen soll.
Diese Ambivalenz kann man auch an einem anderen Beispiel belegen, das ganz
und gar nicht auf Adornos Linie liegt. Als Charlie Parker sich entschied, seiner
Version des Liedes »Cherokee« nicht durch ornamentale Variationen der Melodie
eine neue Gestalt zu geben, sondern dadurch, die Harmonien beizubehalten, aber
auf ihrer Grundlage improvisierend eine völlig neue Melodieführung zu entwi-
ckeln, war das formale Prinzip des Be Bop entstanden. Im Adorno’schen Sinne
nominalistisch, befreite Parker die Jazzimprovisation durch eine Aufwertung, die
sie formal ins Zentrum des musikalischen Geschehens stellt; er entfremdete den
64 Nominalismus und Realismus in der Ästhetik des Designs
Jazz von seinen Aufgaben als Tanzmusik. Zugleich war das formale Prinzip des Be
Bop aber eben auch ein allgemeines Prinzip der Beherrschung des musikalischen
Materials. Die Improvisation hatte entlang harmonischer Progression und vorge-
gebener Akkordfolgen durch verschiedene Tonarten zu erfolgen. Sie konnte jetzt
nahezu universal angewandt werden, um immerzu neue Wendung zu schaffen,
aber sie war nicht schlechthin frei, sondern in ein Set von Regeln eingebettet. Um
nur einige zu nennen: Das Thema war vor und nach der Improvisation unisono zu
spielen, die Verwendung von verminderter Quinte und unaufgelösten Septakkorden
war obligatorisch usw.
Nun aber wieder zurück zum Design. Der ästhetische Realismus der Design-
theorie wird von Walter Gropius’ gestalterischem Prinzip der Wesensforschung
beim Entwurf mustergültig verkörpert. Und selbstverständlich auch von dem
industriedesignerischen Prinzip der Typisierung, das daraus abgeleitet wurde.
Beim Entwurf, der Gestaltung und der Produktion von Gebrauchsgegenständen
und visuellen Kommunikationsmedien scheint es sich auf den ersten Blick zu er-
übrigen, nach nominalistischen Einzelformen zu suchen. Hier handelt es sich stets
um Einzelexemplare von Typen. Zur Aporie des ästhetischen Nominalismus, die
Adorno diskutiert, kommt es unter Bedingungen moderner Industrieproduktion
gar nicht erst. Die Produkte und Kommunikationszusammenhänge von Indus-
trie- und Grafikdesign sind von vornherein Exemplare, im Sinne von Charles
Sanders Peirce sind sie tokens, die auf einen type zurückverweisen. »Token« ist in
der semiotischen Terminologie von Peirce (1906: 4.537) bekanntlich der Name
für existierende Einzeldinge, »Type« der Name für die »definiert kennzeichnende
Form«: »a definitely significant form«, schreibt Peirce, verleiht den individuellen
Exemplaren ihre allgemeine Identität – nicht jedoch ihre besondere Identität. Die
Repräsentation des Type in verschiedensten Tokens ist ja auch im Buchdruck emi-
nent wichtig, wo es nicht um die emanzipierte Einzelform gehen kann, sondern
um distinkte und jeweils klar erkennbare Manifestationen des Allgemeinen im
Besonderen. Aber dennoch sind wir damit wieder mitten in der Nominalismus-
problematik angekommen. Nun allerdings nicht auf ästhetischem, sondern auf
ontologischem und epistemischem Gebiet.
Und da geht es in erster Linie um die Unterscheidung zwischen der äußeren
Form der Dinge (ihrer Erscheinungsform) und der inneren Form der Dinge. Bei
Aristoteles ist die innere Form die Wesensform; die innere Form eines Naturdings
ist die »gestaltende Form seines Werdens« (Haag 1983: 9). Bei Marx ist die innere
Form aller Dinge die Warenform, die nicht nur Artefakte, sondern auch Naturdinge
annehmen, sobald sie in den universalen Prozess der Verwertung eingegliedert
werden.
Nominalismus und Realismus in der Ästhetik des Designs 65
Wenn man die aktuelle Tendenz zur Individuierung im Design (genauer gesagt:
zur Individuierung der Designprodukte) betrachtet, scheint es, als sei das Problem
des ästhetischen Nominalismus zurückgekommen. Oder, besser gesagt, es scheint
im Bereich des Designs Relevanz zu gewinnen. Nicht zuletzt, oder sagen wir besser:
ganz besonders im Bereich des Selbst-Designs. Je höher die individuelle Besonder-
heit des eigenen Profils auf der digitalen Kommunikationsplattform, desto besser,
lautet die Maxime. Und desto erkennbarer, überwachbarer wird die Person hinter
dem Profil (Borries 2016; Bernard 2017). Die spannungsvollen Verschiebungen im
Kraftfeld von Allgemeinem und Besonderem bekommen hier eine Dimension, die
über den Bereich des Ästhetischen zwar weit hinausreicht, ihn als Medium jedoch
unabdingbar benötigt, um sich zu entfalten. Dabei entfaltet sich auch die Präsenz
des Allgemeinen im Besonderen, sozusagen als Kollateral-Effekt des intendierten
Designs.
Als man sich Ende der 1960er Jahre in der Designtheorie vom funktionalistischen
Paradigma verabschiedete, orientierte man sich am Theoriemodell des semiotischen
Strukturalismus, einer Fortsetzung nominalistischer Aufklärung. Designprodukte
und Designprozesse wurden mehr als Zeichen aufgefasst und weniger als nützliche,
zweckmäßige Objekte oder Verläufe. Als zentral galt nun der Aspekt, dass Design
Bedeutungszusammenhänge produziert, weil seine Produkte Bedeutungsträger
sind, die als Teile von Kodierungssystemen fungieren.
Im neueren designtheoretischen Diskurs ist bemerkt worden, dass dieser Aspekt
nicht nur vom Strukturalismus geltend gemacht wurde, sondern auch von der
kritischen Theorie. Adorno (1965: 381 f.) hat in seiner berühmten Rede vor dem
Werkbund in Berlin darauf hingewiesen, dass die ›praktischen Formen‹ der »Ge-
brauchsdinge« fast nie nur aus ihrem Gebrauch abzuleiten sind, sondern so gut wie
immer auch einen ›symbolischen‹ Charakter haben. Er hat nach Adorno zwei Ebenen:
Gestaltete Objekte können zeichenhaft auf anderes verweisen und sie können ein
Ausdrucksmoment haben. Mit Letzterem kommt der anti-nominalistische Aspekt
des Sprachbegriffs ins Spiel, den Adorno von Benjamin übernommen hatte. Sprache
ist demnach wesentlich nicht ein kodiertes System arbiträrer Verwendungsregeln,
sondern zum einen Ausdruck des Subjekts und zum anderen die Anstrengung,
den Dingen ihren einzig angemessenen Namen zu geben. Erst in dritter Linie ist
Sprache ein (nominalistischer) Code zur Bezeichnung und Verständigung.
Diese nominalismuskritische Sprachauffassung ist im designtheoretischen
Diskurs leider nicht zum Thema gemacht worden. Der Paradigmenwechsel von
der Funktionalität zur Semiotik und zur Semantik der Produkte wird vielmehr als
Einsatzpunkt des Kulturalismus interpretiert. Dieser wird affirmiert als »Bezug-
nahme auf übergeordnete sinnstiftende Kontexte und Strukturen« (Mareis 2014:
118), die dem designerischen Denken und Entwerfen gutgetan habe. Daher kommt
66 Nominalismus und Realismus in der Ästhetik des Designs
im Designdiskurs ein Aspekt nicht zum Tragen, die in Adornos und Benjamins
Fragmenten zu einer Theorie des Designs steckt: Dass die Befreiung der Dinge vom
»Fluch nützlich zu sein« (Benjamin 1982: 1130) eine praktisch-ästhetische Kritik
der kapitalistischen Produktions- und Verwertungsweise ist. Die traditionelle
Ausgrenzung der Brauchbarkeit aus der Ästhetik zugunsten eines vermeintlich
interesselosen Wohlgefallens am schönen Objekt, das zwar keinen Zweck habe, aber
in sich zweckmäßig organisiert wirke, wird bei Benjamin und Adorno gegenwendig
als Kritik an der gesellschaftlichen Trennung des Schönen vom Brauchbaren gelesen.
Denn die Dinge wären erst dann vom »Fluch« befreit, nützlich zu sein, wenn sie
nicht mehr auf ihren Tauschwert reduziert würden – und wenn die Menschen vom
»Fluch«, oder besser: vom Zwang befreit wären, ihre Arbeitskraft als Ware verkaufen
zu müssen. Dafür bedürfte es freilich »eines gesellschaftlichen Gesamtsubjekts«,
das seine Praxis an »einem gesamtgesellschaftlichen Zweck« ausrichtet und nicht
bloß »an partikularen Zwecken« (Adorno 1965: 393) der sozialen Herrschaft und
der Akkumulation von Kapital. Erst dann wäre es denkbar, aus der Verdingli-
chungsfalle herauszukommen. Wenn dann »die ganz nützlich gewordenen Dinge
ihre Kälte verlören«, schrieb Adorno (1965: 392), müssten vielleicht nicht allein
die Menschen »nicht länger leiden unter dem Dingcharakter der Welt: ebenso
widerführe den Dingen das Ihre, sobald sie ganz ihren Zweck fänden, erlöst von
der eigenen Dinglichkeit«. Mit diesem Gedanken knüpfte Adorno an die »exakte
Phantasie« der französischen Sozialutopien des 19. Jahrhunderts an. Er unterstellte
nicht, dass die Wahrscheinlichkeit realer Befreiung von sozialer Fremdbestimmtheit
dadurch ansteigen würde. Aber seine ästhetische Antizipation, dass die Dinge erst
dann gleichsam zu sich selbst kommen könnten, wenn sie von ihrer Instrumenta-
lisierung bei der »Beherrschung und Ausbeutung« (ebd.) der Menschen ›gereinigt‹
wären, scheint immer noch verlockend. Sie lässt sich aber nur denken, wenn die
nominalistische Verabschiedung der Begriffe nicht das letzte Wort hat.
Nominalismus und Realismus in der Ästhetik des Designs 67
Literatur
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v. R. Tiedemann, Bd. 10.1, Frankfurt/M. 1977, S. 375-395.
Adorno, Theodor W. (1970): Ästhetische Theorie, hrsg. v. G. Adorno u. R. Tiedemann, in:
ders., Gesammelte Schriften, Bd. 7, Frankfurt/M.: Suhrkamp.
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demann u. H. Schweppenhäuser, Bd. V.2, hrsg. v. R. Tiedemann, Frankfurt/M.: Suhrkamp.
Bernard, Andreas (2017): Komplizen des Erkennungsdienstes. Das Selbst in der digitalen
Kultur, Frankfurt/M.: Fischer.
Borries, Friedrich von (2016): Weltentwerfen. Eine politische Designtheorie, Berlin: Suhrkamp.
Brock, Bazon (2002): Der Barbar als Kulturheld. Gesammelte Schriften 1991-2002, hrsg. in
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Goodmann, Nelson (1968): Sprachen der Kunst, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1973.
Goodmann, Nelson (1978): Weisen der Welterzeugung, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1990.
Haag, Karl Heinz (1983): Der Fortschritt in der Philosophie, Frankfurt/M.: Suhrkamp.
Hume, David (1742): Essays, Moral, Political, and Literary, Part I, Essay XXIII: »Of The
Standard Of Taste« (http://www.econlib.org/library/LFBooks/Hume/hmMPL23.html
[letzter Abruf: 12.8.2018]).
Mareis, Claudia (2014): Theorien des Designs zur Einführung, Hamburg: Junius.
Peirce, Charles S.: »Prolegomena to an Apology for Pragmaticism«, in: The Monist, Bd. 16,
1906, S. 492–546 (Peirce: Collected Papers, 4.537; https://colorysemiotica.files.wordpress.
com/2014/08/peirce-collectedpapers.pdf [letzter Abruf: 12.8.2018]).
Platon: Timaios, in: ders., Sämtliche Dialoge, hrsg. u. übers. v. O. Apelt, Leipzig: Felix Meiner,
1922, S. 29–187 (Reprint Koblenz: Edition Kramer, 2013, Bd. VI).
Reicher, Maria E. (2005): Einführung in die philosophische Ästhetik, Darmstadt: Wissen-
schaftliche Buchgesellschaft.
Rosenkranz, Karl (1853): Ästhetik des Häßlichen, Stuttgart: Reclam, 2015.
Schmid Noerr, Gunzelin (1986): »Wahrheit, Macht und Sprache in der Philosophie. Zu
Horkheimers sprachphilosophischen Reflexionen in seinen nachgelassenen Schriften
1939 bis 1946«, in: Max Horkheimer heute: Werk und Wirkung, hrsg. v. A. Schmidt u. N.
Altwicker, Frankfurt/M.: Fischer, S. 349–370.
Schweppenhäuser, Gerhard (2016): Designtheorie, Wiesbaden: Springer VS.
Steinbrenner, Jakob (2016): »Wann ist Design? Design zwischen Funktion und Kunst«, in:
Design & Philosophie. Schnittstellen und Wahlverwandschaften, hrsg. v. J.-C. Dissel,
Bielefeld: transcript, S. 89–105.
Zillien, Nicole (2009): »Die (Wieder-)Entdeckung der Medien. Das Affordanzkonzept in der
Mediensoziologie«, in: Sociologia Internationalis. Internationale Zeitschrift für Soziologie,
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prof/SOZ/AMK/PDF_Dateien/Affordanz.pdf [letzter Abruf: 27.3.2018).
II
Philosophische Aspekte
des Kommunikationsdesigns
Ästhetische Erfahrung, Design und
Kommunikation*1
Ästhetische Erfahrung, Design und Kommunikation
Es gibt nicht viele philosophische Beiträge zur Ästhetik des Designs, und die sind
zumeist dem Produktdesign gewidmet. Das könnte mit dem zugrundeliegenden
Konzept ästhetischer Erfahrung zusammenhängen. Darauf möchte ich zu Beginn
eingehen und anschließend einen neueren Ansatz zu einer philosophischen Design
ästhetik diskutieren. In Abgrenzung davon werde ich dann, aus der Perspektive der
Kritischen Theorie, über Grundlagen einer Ästhetik des Kommunikationsdesigns
nachdenken. Danach werde ich noch einmal das Thema der ästhetischen Erfahrung
aufgreifen, nun aber unter Aspekten der Gehalts- und der Ereignisästhetik.
* Der Text lag meinem Vortrag auf dem Panel Das ist Designästhetik! beim X. Kongress
der Deutschen Gesellschaft für Ästhetik an der Hochschule für Gestaltung Offenbach
am 19. Februar 2018 zugrunde. Ich danke Oliver Ruf für die Einladung zur Mitwirkung
sowie Ruth Dommaschk und Thomas Friedrich für anschauliche Hinweise.
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 71
G. Schweppenhäuser, Design, Philosophie und Medien, Würzburger Beiträge zur
Designforschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-22225-3_5
72 Ästhetische Erfahrung, Design und Kommunikation
jeweils eigene Formen und Strukturen aus. Dadurch widersetzt es sich dem Ver-
stehen« (ebd.). Die »Irritation und Unverständlichkeit der Kunst« (ebd.) komme
daher, dass die Rezeption eines Kunstwerks ein Prozess ist, der nie abgeschlossen
werden kann. Jede Deutung, jede Entschlüsselung des Sinnes oder der Bedeutung
eines Kunstwerks, kann irgendwann an einen Punkt kommen, an dem sich neue
Sinnebenen und Bedeutungsgehalte erschließen, die sich zuvor nicht aufgetan
hatten (bzw. von denen wir zuvor keine Ahnung hatten).
Bertram verweist darauf, dass Hegel Ästhetik noch als Philosophie der ›schönen‹
Kunst bezeichnen musste, um klarzustellen, dass philosophische Kunsttheorie sich
nicht auf die nicht ›schönen‹ Künste bezieht. Also nicht auf die ›nicht freien Künste‹,
wie zum Beispiel das Kunsthandwerk. Heute, schreibt Bertram (2011: 14), müsse
man das nicht mehr hervorheben. Ästhetik könne bündig Philosophie der Kunst
genannt werden, denn Bereiche wie das Kunsthandwerk würden ja nicht mehr als
Kunst gelten. Wenn sie deshalb auch nicht in den Gegenstandsbereich einer Theorie
ästhetischer Erfahrungen fallen, wird der Begriff ästhetischer Erfahrung erheblich
verengt. Bertram und andere maßgebliche Ästhetiker legen den Schwerpunkt ihrer
Auseinandersetzung mit Kunstwerken denn auch auf das ›Verstehen‹, während
»Wahrnehmung« und ›sinnliche Auseinandersetzung‹ sekundär werden (ebd.: 12).
Die Position, die ästhetische Erfahrung mit Verstehen von Kunst gleichsetzt,
ist aber nicht die einzige. Es gibt andere Konzepte ›ästhetischer Erfahrung‹. Ich
möchte zwei hervorheben, die einander zwar nicht direkt widersprechen, aber einen
Gegensatz bilden. Das eine Konzept fokussiert die Distanz zur Alltagspraxis. Im
ästhetischen Erfahrungsmodus entfernen wir uns demnach von Handlungszwecken
und vom Nutzen der Objekte. Ästhetische Erfahrung ist dann wesentlich Lust am
gesteigerten Daseinsvollzug in produktiver, weil handlungs- und deutungsent-
lasteter seelischer wie somatischer Anspannung (Mead 1926; Henckmann 1998:
45 f.). Ästhetische Erfahrung ist hier primär Erfahrung der grundsätzlichen Un-
bestimmbarkeit ästhetischer Objekte und Wahrnehmungen, die es philosophisch
zu reflektieren gilt. Diese Position vertritt Christoph Menke, und ich zähle auch
Bertrams ästhetische Hermeneutik dazu. Daniel Martin Feige betont in Anknüpfung
an Adorno die kontraintuitive Irritationskraft von Kunst, in deren Formgesetz sich
Vernunft im emphatischen Sinne manifestiert: »Kunst als Kunst«, sagt Feige (2017:
208), ist »Ausdruck einer anderen Rationalität als der verkürzten Rationalität, die
bloß nach dem Nutzen von Gegenständen fragt«. Für Kunstwerke gelte, »dass sie
[…] in der Konstitution ihrer Elemente logisch und schlüssig sind, aber dennoch
keinen außerästhetischen Kriterien der Logizität und Schlüssigkeit gehorchen. Es
ist eine je individuell verkörperte […] unvertretbare […] und damit eine paradoxe
Logizität. Kunst eignet somit ein gegenüber der gesellschaftlichen Realität gegen-
Ästhetische Erfahrung, Design und Kommunikation 73
wendiges Moment: […] nicht durch […] manifeste Inhalte […], sondern vielmehr
durch ihre Form« (ebd.: 209).
Das andere Konzept fokussiert die Gegenseite der autonomen Form: Demnach
ist ästhetische Erfahrung »eine Weise, sich in der Welt zu orientieren« (Küpper und
Menke 2003: 11). Sie ist kein »subjektives Ereignis«, sondern »eine Praxis, in der
Subjekte und Objekte zusammengeschlossen sind« (ebd.: 13). Hier geht es um die
Weisen, in denen wir uns in ästhetischer Einstellung die Wirklichkeit erschließen
(Welsch 1993: 150). John Dewey hat dort angesetzt, aber nicht nur Pragmatisten
argumentieren so, sondern auch Neonominalisten und postmoderne Philosophen.
Sie bestätigen damit indirekt Sigmund Freud (1919: 229), der vor fast 100 Jahren
forderte, dass »man die Ästhetik nicht auf die Lehre vom Schönen einengt, sondern
sie als Lehre von den Qualitäten unseres Fühlens beschreibt«. Ästhetik ist dann
die philosophische Reflexion der Grundlagen und Grundformen des Erlebens und
des Urteilens in Bezug auf die natürliche und auf die gestaltete Umgebung des
Menschen. Ihre Gegenstände sind nicht nur Kunstwerke, sondern auch Dinge des
Alltagslebens und der Natur.
In diesem Sinne betrachtet Gernot Böhme das Design als Erfahrungsbereich
der Ästhetisierung des Alltags. Vielleicht sind seine Beiträge zur Ästhetik der an-
gewandten Künste gerade deshalb so innovativ, weil sie fest in der philosophischen
Tradition verankert sind. Böhme (1995: 10) möchte die philosophische Ästhetik
wieder als Theorie sinnlicher Erkenntnis rehabilitieren, um jene Erkenntnisweise
der Ästhetik, die »in der Welt etwas entdeckt, das anderen Erkenntnisweisen nicht
zugänglich ist«, als solche zu erfassen. Dafür nimmt er die ästhetische Erfahrungs-
weise in den Blick und grenzt sich von einer kognitivistischen Urteilsästhetik ab.
Die sei auf das Sprechen über ästhetische Objekte als Kunstwerke fixiert und darauf,
zu ›beurteilen‹, woran Menschen ästhetisch Anteil nehmen, also auf »die Frage
der Berechtigung der Teilnahme an etwas oder der Ablehnung von etwas« (ebd.:
23). Vor diesem Hintergrund will Böhme eine »neue Ästhetik« (ebd.: 7) und eine
»Kritik der ästhetischen Ökonomie« (ebd.: 10) begründen. Darauf werde ich noch
zurückkommen; aber zunächst möchte ich auf seine Lesart von Kant eingehen.
Böhme liest Kant nicht als kognitivistischen, auf Kunstwerke fixierten Urteilsäs-
thetiker, sondern als Geschmacksästhetiker, der den ästhetischen Sinn (wie in der
englischen Tradition) als Medium zivilisierter Verständigung versteht. Böhme
meint, »von den Objekten her« sei Kants Ästhetik in erster Linie eine »Ästhetik des
74 Ästhetische Erfahrung, Design und Kommunikation
statt von einem Stuhl. Für Kant drückt das ästhetische Urteil Wohlgefallen oder
Missfallen am Objekt aus; es ist indifferent gegenüber Fragen, die Erkenntnisse
über das Objekt betreffen, und ohne Interesse am Modus seiner Existenz.
2. So weit, so bekannt. Aber: Demnach gehören Designobjekte, streng genommen,
überhaupt nicht in den Geltungsbereich ästhetischer Urteile. Denn Designobjekte
werden immer auch im praktischen Interesse betrachtet. Sie werden, genauer
gesagt, nie nur betrachtet: Eine kontemplative Haltung zu Designobjekten ist
nicht möglich, solange ihre Betrachtung nicht vom Gebrauch getrennt wird.
Wenn Letzteres geschieht, sind sie aber keine Designobjekte mehr, sondern
Kunstobjekte. Menschen, die Museen besuchen, wissen das heutzutage; auch
in einer Duchamps-Ausstellung würde man seine Notdurft nur auf der Toilette
verrichten. Schiller (1792–93: 75, zit. nach Dorschel 2003: 97) war konsequent,
als er aus Kants Lehre vom ästhetischen Wohlgefallen, das frei von Interessen
sei, den Schluss zog, dass »die Nützlichkeit vom Schönen ausgeschlossen ist«,
und damit die moderne Autonomieästhetik begründete, die wenig später von
Carl Philipp Moritz und Goethe ausgearbeitet wurde. Paradox scheint es daher,
wenn Kant an exponierter Stelle Objekte der dekorativen Künste heranzieht, um
den Gedankengang seiner Ästhetik der Urteilskraft zu demonstrieren, die auf
der Differenz zu theoretischen und praktischen Urteilen fundiert ist. Nicht nur
Naturerscheinungen, sondern eben auch dekorative Künste dienen ihm dazu,
zu klären, was er unter ›freier‹, das heißt nicht ›bloß anhängender‹ Schönheit
versteht. Während ›bloß anhängende‹ Schönheit einem Objekt nur im Hinblick
darauf zugesprochen werde, ob es seinen Zweck perfekt erfülle, entfalle diese
Bedingung, wo wir es mit ›freier‹ Schönheit zu tun haben. Hier, sagt Kant, wür-
de das hochentwickelte Geschmacksurteil gerade darauf ansprechen, dass die
Schönheit »gar keinem nach Begriffen in Ansehung seines Zwecks bestimmten
Gegenstande zukomme[…], sondern frei und für sich gefalle[…]. So bedeuten«,
fährt Kant (1790: 310) fort, »die Zeichnungen à la greque, das Laubwerk […] auf
Papiertapeten usw. für sich nichts: sie stellen nichts vor, kein Objekt unter einem
bestimmten Begriffe, und sind freie Schönheiten.« Daher, und nur daher, könne
ihre rein formale Zweckmäßigkeit goutiert werden (Kant 1790: 303).
Darüber hinaus können sie auch noch praktisch nutzlose, »freie« Eigenschaften
haben, die wir ästhetisch beurteilen, wenn Muster und Farben unser Auge erfreu-
en und unseren Geist anregen, dem freien Spiel der Arabesken oder dem Muster
der Streifen nachzugehen. Und das geschieht, wenn ihre Ornamente, Farben und
Materialeigenschaften naturanaloge Merkmale aufweisen und dadurch das Leben
derer, die sich mit ihnen umgeben, kultiviert erscheinen lassen. Aber sie tun es im
Modus ihrer Verwendung, nicht nur kontemplativ und auch nicht nur kommuni-
kativ (worauf Böhme abhebt).
Kants Rezeptionsästhetik bezieht sich auf eine vorbürgerliche Ding- und Er-
fahrungswelt. Hier ist die letztlich inadäquate Trennung von Form und Funktion
angelegt, die später von der Architektur- und Designtheorie des frühen 20. Jahr-
hunderts in einer beeindruckenden Selbstinszenierung revoziert werden sollte.
Worauf basiert der Musterfall des autonomen Geschmacksurteils, in dem die
»Erkenntniskräfte ohne weitere Absicht« ›belebt‹ und ›beschäftig‹ werden und in
dem die Lust, die dabei empfunden wird, »auf keine Weise praktisch« ist? Er basiert
darauf, dass Erzeugnissen der erweiterten Reproduktion, also der Kultivierung
durch arbeitsteilige Naturbeherrschung im praktischen Alltagsgebrauch, formale
Schönheit attestiert werden kann, weil die Benutzer ihre Einstellung zum Objekt
wechseln. Das Konzept der ästhetischen Einstellung wird zwar bei Kant noch nicht
expliziert, aber ich halte es an dieser Stelle für vertretbar, den Gedankengang so
zu rekonstruieren.
Hinzu kommt im Bereich des Kommunikationsdesigns, dass das Erkenntnisurteil
hier ein wesentlicher Bestandteil des Rezeptionsvorgangs ist. Kommunikationsdesign
hat folgende Aufgabenbereiche: 1. Vermarktung und Verpackung; 2. Information
(z. B. in öffentlichen Verkehrsmitteln und Flughäfen); 3. Aufklärung und Bildung
(z. B. in Publizistik und Wissenschaft sowie in Medien aller Art, die Lehr- und Lern-
prozesse unterstützen); 4. Werte-Erziehung im öffentlichen Raum (z. B. Kampagnen
gegen Raserei auf Autobahnen oder medizinische Fotos auf Zigarettenschachteln); 5.
Unterhaltung. Innerhalb dieser Bereiche gibt es Querverbindungen der Funktionen
und Rezeptionspraktiken. Wenn man diese Bereiche und Verwendungsweisen aus
der Perspektive einer kantianischen Urteilsästhetik in den Blick nimmt, ist ihnen
eines gemeinsam: Die Objekte werden ent-ästhetisiert. Kommunikationsdesign
macht sie praktischen Interessen dienlich oder der Wahrheitsprüfung zugänglich
(oder beides). Es macht sie für nicht-ästhetische Zwecke verfügbar und unterläuft
die Unterscheidung zwischen theoretischen Erkenntnisurteilen, praktischen Hand-
lungsurteilen und Geschmacksurteilen. Der (vielleicht frustrierende) Befund lautet
also: Aus dieser Perspektive betreibt Kommunikationsdesign die Ent-Ästhetisierung
von Objekten und Rezeptionsprozessen.
Ästhetische Erfahrung, Design und Kommunikation 77
Was wäre hier die Entsprechung zu dem, was Andreas Dorschel, von dem eine
der wenigen philosophischen Untersuchungen zur Ästhetik des Produktdesigns
stammt, als die »Ästhetik des Brauchbaren« bezeichnet? Formaspekte visueller
Kommunikation sind vor allem Lesbarkeit, Verständlichkeit und, im weitesten Sinne,
bildhafte Anmutung. Ästhetische Aspekte sind in den Wirkungszusammenhängen
gestalteter Kommunikation keineswegs nur sekundäre, im Sinne Kants (1790: 310)
›bloß adhärierende‹ Qualitäten. Auch hier gilt, was Dorschel (2003: 9) vom Pro-
duktdesign sagt: »daß die Anforderungen der Sache ästhetische Qualitäten nicht
einschränken müssen, sondern« geradezu auch »provozieren können«.
Ich würde sagen, man könnte hier von einer »Ästhetik des Lesbaren« sprechen
oder von einer »Ästhetik des Mitteilbaren«. Aber über diesen semiotischen – genauer
gesagt: syntaktischen und pragmatischen – Aspekten darf man den phänomeno-
logischen Aspekt oder, wenn man so will, den wahrnehmungsphilosophischen
Aspekt des Sich-Zeigens von Formen nicht übersehen. Daher würde ich empfehlen,
in Anlehnung an Lambert Wiesing, hier von einer »Ästhetik der Sichtbarkeit«
zu sprechen. Nicht von ›reiner‹, ›isolierter‹ Sichtbarkeit, für die sich Wiesing im
Anschluss an Konrad Fiedlers formale Ästhetik interessiert. Im Kontext des Kom-
munikationsdesigns geht es eben nicht um jene »Abspaltung des Nursichtbaren,
des Schattenhaften zu einer eigenen Form des Seins«, wie Wiesing (2008: 175) – mit
Fiedler und Robert Musil – im Blick auf die Kunst betont.
Ich plädiere dafür, eine »Ästhetik der Sichtbarkeit« vom soziokulturellen Potenzial
des Kommunikationsdesigns her zu denken. Dafür gilt es, zwischen »sichtbar wer-
den« und »sichtbar machen« zu unterscheiden. Meine These ist: In der Vielfalt der
auf Singularität zielenden ästhetischen Formen visueller Designkulturen wie in der
Produktwerbung, der Dokumentation und im Selbst-Design kommt stets auch ein
Allgemeines »zur Erscheinung«, ein gesellschaftliches, kulturelles Allgemeines, das
Resultat von Abstraktion ist und zugleich von konkreter Herrschaft. Ich möchte
das erläutern, indem ich Umrisse einer kritischen Theorie des Kommunikations-
designs skizziere.
Grafikdesign gehört der bürgerlich-kapitalistischen Produktionsweise an, in der
die zeichen- und bildhafte Ästhetisierung industrieller Massenprodukte immer wich-
tiger wurde. Werbegrafik wurde im 19. Jahrhundert als Distributionsbeschleuniger
gebraucht, der »den Dingen über ihre Nützlichkeit hinaus noch eine verlockende
Außenseite« gibt, wie Georg Simmel 1896 schrieb (zit. nach Böhme 2016: 107). Im
78 Ästhetische Erfahrung, Design und Kommunikation
die ästhetische Erfahrung überhaupt und speziell die Inszenierung des eigenen
Lebens, die in eine widersprüchliche Dynamik hineingesogen werden.1
1 Der Kunstwissenschaftler Wolfgang Ullrich (2006: 42) erläutert »den Charakter der
Dingkultur« in Anlehnung an die Ästhetik Kants mit dem Hinweis auf die »Erfahrung«,
die wir im Umgang mit Artefakten machen. Es handele sich um eine »Erfahrung […], es
mit etwas zu tun zu haben, das zwar eine Richtung vorgibt, aber noch kein bestimmtes
Ziel definiert. Wie ein Baum oder ein Ornament zu diversen Phantasien veranlassen
und weder als bloß kontingent und gleichgültig noch als funktional fremdbestimmt
erfahren werden, so kann auch ein Ding, besonders ein Markenprodukt, jenseits seines
Gebrauchswerts sinnvoll scheinen, ohne daß man jedoch angeben könnte, worin genau
sein Sinn bestehen – und sich erschöpfen – sollte.« (Ebd.) So entstehe eine flexible Gestal-
tungsmöglichkeit für die Selbstpräsentation: »der individuelle Selbstentwurf erfährt eine
Bestätigung. Statt maßzuregeln oder zu determinieren, bietet das Ding seinem Besitzer
eine Formatierungshilfe, dient aber zugleich als Variable.« (Ebd.) Die Besonderheit des
einzelnen Dings ist freilich nur exemplarische Erscheinung eines Allgemeinen, das aus
der gesellschaftlichen Beziehung der Menschen zu den Konditionen der Warenform
resultiert. Oder, wie Ullrich (ohne Bezug auf die marxsche Theorie des Warenfetischs)
formuliert: »Daß sie nur eine allgemeine Aura besitzen, macht Markenprodukte jedoch
auch leicht verwechselbar. Ähnlich wie Losungen auf Parteitagen sind die Slogans, die
für sie werben, häufig nur ›leere Codes‹.« (Ebd.: 42 f.)
80 Ästhetische Erfahrung, Design und Kommunikation
Offenbar empfiehlt es sich, im Zusammenhang mit Design eben nicht nur For-
mästhetiken zu konsultieren, sondern auch auf zwei konkurrierende Modelle
ästhetischer Erfahrung zurückzugreifen.
(1) Ästhetische Erfahrung bedeutet seit Kant, formelhaft verkürzt: Perzeption plus
Reflexion. So auch in Hegels Philosophie der Kunst. Doch anders als in Kants dualem
Konzept des Geschmacksurteils, das auf seinen Grund im Subjekt zurückgeführt
wird, läuft es dort nicht auf das freie Zusammenspiel der Sinneswahrnehmung mit
der Verstandestätigkeit hinaus. Hegel will das Erkenntnismoment in der Sinnes-
wahrnehmung und das Wahrnehmungsmoment im Begriff rekonstruieren. Seine
philosophische Ästhetik beobachtet, wie sich diese Gegensätze durch einander
hindurchbewegen. Während sich in Kants Konzept ästhetischer Erfahrung die
befreite Subjektivität manifestiert, manifestiert sich in Hegels Konzept die ob-
jektivierte Freiheit. Im Mittelpunkt steht hier das Verstehen geschichtlicher, d. h.
soziokultureller Prozessgestalten in ästhetischer Rezeption. Ästhetische Objekte
verkörpern durch ihre jeweilige Form einen jeweiligen geschichtlichen Gehalt, der
ihre Stellung zur Objektivität bestimmt. Nimmt man Hegels nicht-formalistischen
Begriff der Form zum Ausgangspunkt, kann man sagen: Es geht um die Anschauung
von Sachgehalt und Wahrheitsgehalt ästhetischer Objekte.
Für Hegel gibt es bekanntlich drei symbolische Formen, in denen sich das Be-
wusstsein dem Absoluten – also Gott, der Unendlichkeit oder dem Geist – nähert.
Kunst produziert äußere, sichtbare Bilder; ihr Medium ist die Anschauung. Religion
geht einen Schritt weiter nach innen. Sie produziert innere Bilder – Träume und
Visionen; ihr Medium ist die Vorstellung. Philosophie als höchste Annäherung
an das Absolute durch Distanzierung vom sensuell Wahrgenommenen produziert
Begriffe; ihr Medium ist das Denken.
Anschauung und Vorstellung sind bei Hegel freilich alles andere als geistfrei.
Weil sie bereits am Begriff teilhaben, ist Kunst für ihn ein wahrheitsfähiges Medi-
um. Aber zugleich sind Anschauung und Vorstellung auch das Andere des Geistes.
Deshalb kann erst philosophische Erkenntnis den Wahrheitsgehalt von Kunstwer-
ken erschließen. Das Schöne als sinnliches Scheinen der Idee ist Erscheinung des
abstrakten Begriffs.
»Freie Kunst« und »angewandte« Künste sind in Hegels Ästhetik, wie zu Beginn
erwähnt wurde, in einem hierarchischen Gefälle angeordnet. Können Designobjekte
dann überhaupt als Verkörperung einer anderen Stellung menschlicher (Produk-
tions-) Freiheit zur Objektivität gelten? Als objektiv intendierte Werkästhetik
82 Ästhetische Erfahrung, Design und Kommunikation
rehabilitiert Hegels Kunstphilosophie die Produktionslehre. Sie tut das zwar als
Ideologie eines nachholenden Durchlaufens des Schöpfungsprozesses, welchen der
absolute Geist inauguriere. De facto ratifiziert sie jedoch die praktische Selbstge-
wissheit des modernen industriellen Produktionsprozesses. Die Gewissheit, dass im
schönen Werk Natur und Geist, Notwendigkeit und Freiheit anschaulich vermittelt
sind, transponiert den Gedanken, dass Natur ein »Moment menschlicher Praxis«
(Schmidt 1993: 19) ist, in die Ästhetik. Dann ist es nur noch ein kleiner Schritt
zur Entkoppelung des Konzepts ästhetischer Erfahrung vom Kunstbetrieb, zur
Einbeziehung von Gebrauchsgegenständen und Alltagsumgebungen als legitime
Gegenstände ästhetischer Rezeption.
Bekanntlich hat Hegel diesen Schritt aber nicht getan. Die Künste sind für ihn
unterschiedlich komplexe Medien der Darstellung Gottes, mit anderen Worten: der
Freiheit des Geistes. Aus dieser Perspektive ist die angewandte Kunst des Kommu-
nikationsdesigns, wenn überhaupt, dann eine Vorstufe zur ästhetischen Praxis. Es
handelt sich zwar nicht gerade, wie in der kantischen Perspektive, um eine Weise
der Ent-Ästhetisierung der Dinge. Aber die Ästhetik des Kommunikationsdesigns
ist – anders als die Architektur, die Hegel als symbolische Darstellung des Göttlichen
vermittels der Gestaltung seiner Behausungen lobt – eine immanente Ästhetik.
Die symbolisierende Gestaltung religiöser Devotionalien oder die religiösen
Semantiken, die Dingen des profanen Gebrauchs mitunter appliziert werden,
können nicht als Gegenargument herangezogen werden. Denn Hegels Entwick-
lungskonzept kann die gleichzeitige Ungleichzeitigkeit von symbolisch-bildlicher,
klassisch-humanistischer Skulptur und der romantisch-empfindsamen Kunstspra-
chen von Malerei, Musik und Literatur nicht als jeweils authentische Erscheinungen
unterschiedlicher Stellungen des Bewusstseins zur Objektivität gelten lassen. Der
Rückgang hinter den erreichten Stand der Ausbildung dieser Reflexionskünste auf
anschauliche Verbildlichung des Heiligen oder seiner Stellvertretungen wird als
regressive Verfallsform delegitimiert.
(2) Von Nietzsche ausgehend, formierte sich mit der Wende vom 19. zum 20.
Jahrhundert das Konzept der ästhetischen Einstellung als neues Paradigma. Eine
zentrale Begriffskonstellation in Nietzsches Philosophie ist bekanntlich die des
Werts, der Wertung und der Umwertung. »Werthgefühle und Werthunterschiede«
(Nietzsche 1886: 105) sind das A und O seines Denkens. Das ästhetische wird mit
dem praktischen Interesse verbunden, wenn Nietzsche (1872: 47) in seiner frühen
Theorie der Künste behauptet: »nur als aesthetisches Phänomen ist das Dasein
und die Welt ewig gerechtfertigt«. Mit negativem Bezug auf das Erkenntnisurteil
erklärt er die Kunst als zauberisches Heilmittel für theoretische Menschen, die in
der »Bewusstheit der einmal geschauten Wahrheit […] überall nur das Entsetzliche
Ästhetische Erfahrung, Design und Kommunikation 83
oder Absurde des Seins« (ebd.: 57) sehen würden. Ästhetische Erfahrung hat bei
Nietzsche »eine Affirmation des Lebens und damit das Weiterleben zu ermöglichen«
(Wellberry 2018). Dass diese Wende in der europäischen Philosophie nur durch
Zufall mehr oder weniger parallel mit der Ästhetisierung des (Alltags-) Lebens
durch die visuelle Kommunikation der industriellen Massenproduktion einsetzte,
halte ich für unwahrscheinlich.
Mit und nach Nietzsche eröffnet die ästhetische Einstellung als überlegene Al-
ternative zur moralischen Weltdeutung genuine Bereiche des Erlebens, weil es die
Kategorie des Ereignisses zum Fokus ästhetischer Reflexion macht. Nietzsche hat
das Werk als zentrale ästhetische Kategorie verabschiedet. An dessen Stelle tritt
der gestalterische Akt. Das schöpferische »Kunstschaffen« (Meyer 1993: 4) wird
als höchster Ausdruck des Lebens angesehen. Kunst ist beim späteren Nietzsche
nicht nur Überlebensmittel, sondern »Steigerung des Lebens«, weil sie »Ausdruck
des Schaffenden« (ebd.) ist.
Bei Nietzsche wird philosophische Ästhetik wieder zur Urteilsästhetik: Ästhe-
tische Urteile sind für ihn – und die hierin an ihn anschließende Phänomenologie
– grundsätzlich Werturteile (zur Phänomenologie siehe Henckmann 1998).
Wenn ästhetische Erfahrung primär nicht mehr auf Werke ausgerichtet ist, sondern
auf Reflexionsprozesse bei der Betrachtung, können Kunstobjekte ununterscheidbar
von Alltagsobjekten werden, ohne dass dies der ästhetischen Erfahrung Abbruch
täte. Rüdiger Bubner (2003: 47) hat den zeitgenössischen Trend zur Ausstellungs-
kunst in den Events gesehen, die in Museen und an anderen Stellen des öffentlichen
Raums stattfinden, als Folge der modernen Verschiebung ästhetischer Erfahrung auf
den Raum »zwischen Ding und Reflexion«. Das »planmäßige Schillern moderner
Kunstprodukte«, schreibt Bubner (2003: 42), »löst unvermeidlich eine Reflexionsfolge
aus. Täuschst du dich, oder täuscht das Objekt? Sind das Steine und Suppendosen,
oder ist das Ganze installiert? Was soll es denn bedeuten, wenn es schon nichts
sagt?« Für Bubner (2003: 47) geht die Subjektivierung der ästhetischen Erfahrung
mit dem Risiko einher, dass Kunstinszenierungen der Wiederbelebung der archai-
schen Kult-Funktionen dienen und der Kunstbetrieb zum wirtschaftspolitischen
Standortfaktor bei der »Image-Vermarktung in internationaler Urbanitätskon-
kurrenz« degeneriert. Andererseits sieht Bubner auch eine Chance darin, dass sich
der einst avantgardistische Reflexionszwang in einen kuratorischen Gemeinplatz
84 Ästhetische Erfahrung, Design und Kommunikation
verwandelt hat, denn daraus entstehe die Nötigung, in Diskurse einzutreten. »Kant
und die Kommunikationstheoretiker der Gegenwart«, schreibt er, »stellen sich
eine aufgeklärte Öffentlichkeit vor, deren Interaktion auf Grundlage subjektiver
Kunsturteile entsteht.« (Ebd.) Grundlage dafür sei Kants Konzept des ästhetischen
Gemeinsinns, der nicht nur die Grundlage für Verständigung über Schönheitsfragen
ist, sondern auch die psychische Instanz, welche die einzelnen Sinne »zur Einheit
einer verständigen Weltauffassung verbindet« (ebd.: 45).
Ich erlaube mir, Bubners Motiv hier mit einem Wort von Adorno zusammen-
zufassen, das er selbst nicht verwendet hat: die »Entkunstung der Kunst«. Und ich
plädiere nun dafür, »Entkunstung« der Kunst und die ästhetisierende Aufwertung
von Designobjekten als komplementäre Erscheinungen zu deuten.
Adorno spricht deshalb vom »Rätselcharakter« der Kunst: Er betont, dass
Kunstwerke sich der Kommunikation entziehen, ja, dass sie es tun müssen, um
authentisch zu sein, womit er meint, dass ihr Ausdruck und ihre Form nicht durch
soziokulturelle Wahrnehmung- und Darstellungsgewohnheiten gegängelt sind.
Aber dennoch stimmt es, wenn Bertram (2007: 37) konstatiert, dass Adorno Kunst
gleichwohl »in dem Sinne als kommunikativ« versteht, »dass sie durch Entzug in
das weltliche Verständnisgeschehen eingreift.«
Im Kunstsektor verlangt die inszenierte Rätselhaftigkeit der Dinge nach Refle-
xion über den Sinn, den Sinnverzicht und Deutungsverweigerung haben könnten.
Im Designbereich lädt die inszenierte Mehrfachkodierung des Zweckmäßigen zur
Deutung seines Sinngehalts ein.
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Ästhetische Erfahrung, Design und Kommunikation 85
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Photographie und ästhetische Reflexion*1
Photographie und ästhetische Reflexion
Photographie und ästhetische Reflexion
Die antike Philosophie kannte den neuzeitlichen Begriff der Ästhetik noch nicht.
Aisthesis hieß Wahrnehmung, auch Empfindung und Gefühl. In der Neuzeit war
Ästhetik zunächst die Lehre von den Erkenntnissen, die wir auf Grundlage der
sinnlichen Wahrnehmung haben. Man fragte: Wie erkennen wir etwas, ohne
Begriffe, Urteile und Schlüsse zu verwenden – also nur durch die Sinnesdaten? Im
19. Jahrhundert waren die Naturwissenschaften für die Frage zuständig, wie die
Sinneswahrnehmung funktioniert: Physik und Biologie, später auch Psychologie,
die Naturwissenschaft vom Menschen. Nun verstand man unter Ästhetik Kunst-
philosophie; man fragte, wie wir schöne ›Objekte‹ wahrnehmen, genauer gesagt:
›geistig wahrnehmen‹, also erleben und deuten.
Heute verstehen die meisten Philosophen unter Ästhetik Reflexionen, die sich auf
Kunst beziehen, aber auch die Weisen, wie wir uns in ästhetischer Einstellung die
Wirklichkeit erschließen (Welsch 1993: 150). In ästhetischer Erfahrung verbinden
sich affektive und kognitive Elemente. Warum ›brauchen‹ Menschen so etwas? Eine
Antwort lautet: Weil das der privilegierte Ort ist, an dem unser Fühlen präsent
wird. Oder, mit anderen Worten: Der Ort, an dem unsere Bedürfnisse artikuliert,
vergegenwärtigt und innovativ verändert werden. Das »Grundmotiv ästhetischer
Wertschätzung« ist das Bedürfnis »nach unverkürztem kommunikativen Ausdruck
von Menschen« (Koppe 2004: 145 f.). Wenn Bedürfnisse in der ästhetischen Darstel-
lung als erfüllte Bedürfnisse vergegenwärtigt werden, verwendet man das Prädikat
schön, werden sie im Modus ihrer Frustration vergegenwärtigt, Prädikate wie hässlich,
schrecklich, grässlich oder auch erhaben – je nach dem Grad der Frustration und der
Hoffnung, die dem Subjekt bleibt.
* Vortrag bei den Darmstädter Tagen der Fotografie am 26. April 2014.
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 87
G. Schweppenhäuser, Design, Philosophie und Medien, Würzburger Beiträge zur
Designforschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-22225-3_6
88 Photographie und ästhetische Reflexion
1 Drei von ihnen – Kontemplation, Korrespondenz und Imagination – gehen auf die
Naturästhetik zurück (siehe Seel 1991 a), doch auch sie lassen sich ohne Weiteres auf
Photographie und ästhetische Reflexion 89
alle anderen Bereiche der Ästhetik übertragen. Zu den Modellen Kritik und Differenz
siehe Schweppenhäuser 2007: 27–33.
90 Photographie und ästhetische Reflexion
Die Richtung der Ästhetik, die diesen Bereich am besten erschlossen hat, ist die
Semiotik. Semiotische Ästhetik unterscheidet den Zeichencharakter der ästheti-
schen Mitteilung von anderen Mitteilungsarten. In der ästhetischen Funktion ist
das Zeichen nicht dem Gegenstand untergeordnet, für das es steht. Die Form ist
selbstreferenziell und das Material der Mitteilung kann als solches wahrgenommen
werden. Roman Jakobson hat das die »poetische Funktion« des Zeichens genannt
(siehe Friedrich 1999: 87 ff.). Hier geht es nicht um das ›Was‹, sondern um das ›Wie‹.
Sprache wird ›Lautmaterial‹: Ton, Klang und Sprachform. Bilder werden ›Bildmaterial‹:
Farbe und Bildform. Der Eigenwert des Mediums tritt ins Bewusstsein, die Zeichen
werden gleichsam ›spürbar‹. Aus dieser Perspektive sind Kunstwerke »Zeichen«,
»deren Bedeutung es ist, zu zeigen, wie sie zeigen, was sie zeigen« (Seel 1991 b: 61).
(4) Das Differenz-Modell beschreibt ästhetische Prozesse als Annäherungen an das
›Andere‹ und ›Unverfügbare‹, das sich der Repräsentation entzieht und nur in ästhe-
tischen Chiffren erfahrbar wird. In diesem Modell ist Ästhetik wieder in erster Linie
Kunsttheorie. In der Systemtheorie wird mit der Kategorie der Differenz operiert,
um zu beschreiben, was Kunst leistet. Die fiktionale und bildliche Wirklichkeit der
Kunst unterscheidet sich von der realen. Kunst ist ›Realitätsverdoppelung‹, meinte
Luhmann. Sie schafft eine zweite Realität, die zwar fiktional ist, aber Strukturähn-
lichkeit mit der nichtfiktionalen Realität hat. Ihre Operationen folgen einer eigenen
Sinnrationalität. Der Sinn von Kunst ist es, eine Differenz zwischen Kunstsystem
und allem Übrigen zu schaffen, und zwar mit ästhetischen Mitteln, also Farben,
Noten, Worten usw. Luhmann hat betont, dass die neue Realität, die »imaginäre
Welt der Kunst« »eine Position« ermöglicht, »von der aus etwas anderes als Realität
bestimmt werden kann. Ohne solche Differenzmarkierungen wäre die Welt einfach
das, was sie ist, und so, wie sie ist.« (Luhmann 1995: 229)
(5) Wer schließlich mit dem Kritik-Modell in der Ästhetik arbeitet, knüpft an ihr
kognitives und ihr pragmatisches Potenzial an. In der Philosophie heißt ›etwas
kritisieren‹, seine spezifische Leistung und Funktionsweise zu bestimmen. Neh-
men wir beispielsweise eine medienphilosophische ›Kritik des Fernsehens‹. Das ist
keine Auseinandersetzung mit mangelhafter Programmqualität oder mit Folgen
des Fernsehkonsums, die nicht wünschenswert sind. Nein, es handelt sich um die
Bestimmung der besonderen Leistung, also der Funktions- und Wirkungsweise
dieses Mediums, durch die es sich von anderen Medien, zum Beispiel dem Radio,
unterscheidet: Was kann man nur im Medium Fernsehen realisieren, was nicht
oder nicht so gut usw. Im Kritik-Modell wird jene Dimension des Ästhetischen
akzentuiert, die die Wirklichkeit nicht verdoppelt, sondern verändert: Was sind
die gesellschaftlichen Bedingungen der Möglichkeit ästhetischer Erfahrung? Welche
Hinweise gibt eine ästhetische Ordnung, um eine andere gesellschaftliche Ordnung
zu antizipieren? Wie wird ästhetische Erfahrung verhindert oder manipuliert? –
Photographie und ästhetische Reflexion 91
Auch hier geht es um die besondere Beschaffenheit ästhetischer Erfahrung, die sie
von anderen Formen der Erfahrung unterscheidet. Ästhetische Erfahrung stiftet
Erkenntnis und ermöglicht Handlungen, weil sie kognitive, affektive, sensorische
und imaginäre Prozesse im Menschen verbindet – und zwar als freie Verbindung,
ohne Hierarchie, die Sinne und Phantasie dem Verstand unterwirft.
Und nun zur Ästhetik der Fotografie: Ich möchte zeigen, wie die Varianten der
ästhetischen Einstellung im Alltag unserer Bilderwelt in einem konkreten Fall ausse-
hen. Meine Beispiele nehme ich nicht aus der inszenierten, auf ästhetische Wirkung
zielenden Fotografie. Denn gerade an Beispielen, die man nicht der ›schönen Kunst‹
zuordnen würde, lässt sich gut zeigen, was die ästhetische Einstellung ausmacht.
Daher habe ich ein Pressefoto ausgewählt, das preisgekrönte Bild »Signal« von John
Stanmeyer aus dem Jahr 2013.2
(1) In der kontemplativen Einstellung widmet man sich der Erscheinung, ohne sie zu
deuten. Man nimmt die Szenerie als reines Phänomen der Anschauung wahr. Hier
sind acht Menschen zu sehen, eine nicht eindeutig zu identifizierende Silhouette,
Meer, Himmel und sechs Leuchtkörper. Der Bildraum erschließt sich über elementare
Parameter der Gestaltwahrnehmung – also Vordergrund und Hintergrund bzw. Figur
und Grund – sowie durch die Staffelung der Personen in zunehmender Entfernung
von der Kameraposition. Die Personen bilden im Ganzen eine Gruppe; einige schei-
nen kleine Untergruppen zu bilden, andere eher für sich zu stehen. Räumlichkeit
und Atmosphäre des Bildes kommen natürlich auch durch die reduzierte Farbigkeit
zustande: Blautöne, Schwarz und Weiß. Fünf Leuchtkörper sind direkt zu sehen,
einer indirekt, weil er das Gesicht einer Person erhellt. Einer der Leuchtkörper ist ein
Himmelskörper, bei den anderen handelt es sich um technische Artefakte. Auffällig
ist die ungewöhnliche Position, die gerichtete Haltung über Kopfhöhe. – Die Personen
stehen wie Statuen. Ihre gestaffelte Anordnung verleiht dem Bild die Spannung einer
eingefrorenen rhythmischen Bewegung. Zwanglos ließe sich die Bildkomposition
als Dreiecksform beschreiben; die Schenkel des Dreiecks werden vom Saum des
Lichtscheins gebildet. Die helle Scheibe des Mondes mit einigen konzentrischen
Kreisen wirkt wie der Mittelpunkt einer spiraligen Anziehung, zu der die Personen
hinzustreben scheinen ... Das sind nur einige von vielen möglichen Konnotationen
des Bildes, die sich auf der kontemplativen Einstellungsebene erschließen.
2 »African migrants on the shore of Djibouti City at night raise their phones in an attempt
to catch an inexpensive signal from neighboring Somalia – a tenuous link to relatives
abroad. Djibouti is a common stop-off point for migrants in transit from such coun-
tries as Somalia, Ethiopia and Eritrea, seeking a better life in Europe and the Middle
East.« (https://www.worldpressphoto.org/collection/photo/2014/contemporary-issues/
john-stanmeyer [letzter Abruf: 13.8.2018]).
92 Photographie und ästhetische Reflexion
(2) Wenn die ästhetische Einstellung die der Korrespondenz ist, gibt es handlungsre-
levante Lebensbezüge – obwohl das Bildgeschehen so eigentümlich und fremdartig
erscheint. Aufgrund meiner Lebenserfahrung weiß ich, dass die Personen Mobil-
telefone in der Hand halten. Ich weiß ferner, dass das Foto nachts aufgenommen
wurde – und nicht, wie es früher beim Film hieß, in der »amerikanischen Nacht«,
also bei Tage mit entsprechenden Kamerafiltern. (Wäre der Himmelskörper die
Sonne, sähe die Reflexion der Strahlen auf der Wasseroberfläche anders aus.) Wenn
ich die exponierte Figur in der Bildmitte betrachte, sagt mir das Allgemeinwissen,
dass es sich vermutlich um einen Menschen handelt, der afrikanische Wurzeln hat.
Ich verarbeite die Darstellung eines Vorgangs in der realen Welt als Erfahrung, die
bei der Orientierung hilft. Ich versetze mich in die Lage der Menschen. Wenn ich
die vitale Daseinserfahrung habe, dass der Empfang beim Mobiltelefon Probleme
bereiten kann, verstehe ich, dass sie die Geräte nicht nach oben halten, um selfies
zu schießen. Und ich weiß aus der textlichen Rahmung des Bildes, dass es sich um
Flüchtlinge handelt, die Kontakt zu ihren Angehörigen suchen; vielleicht auch zu
den Helfern, ohne die sie verloren wären. Ich kann mir vorstellen, dass die hoch
ästhetische, vielleicht sogar romantische Atmosphäre des Bildes von den Abgebildeten
ganz anders erlebt wird, nämlich als angstvolle Spannung, vermischt mit schwacher
Hoffnung auf ein besseres Morgen.
(3) Im Imaginations-Modell der ästhetischen Einstellung werden Objekte der
Anschauung als Kunstobjekte wahrgenommen. Das Bild von acht Personen mit
Telefonen bei Mondschein am Meer ist dann nicht in erster Linie Sachinformation,
sondern Bild. Die Dreieckskomposition verweist auf die Tradition der christlichen
Ikonografie. Das Wasser wird zum Verweis auf die Tradition der Marinemalerei.
Die Farbigkeit erlaubt Bezüge zur Malerei der frühen und späten Moderne, von
der Romantik über die monochrome Malerei bis hin zur Land Art. (Bekannte Bei-
spiele wären das Bild »Seestück bei Mondschein auf dem Meer« von Caspar David
Friedrich aus den Jahren 1827/28 im Museum der Bildenden Künste, Leipzig, und
Robert Smithsons »Spiral Jetty« von 1970.) Die Anordnung der Personen evoziert
Erinnerungen an Kult- und Ritualformen. – Diese Einstellung ist reflexiv; sie wendet
sich zurück auf die besonderen Bedingungen der Wahrnehmung, in diesem Fall
sind es kulturell überlieferte.
(4) Gleichwohl ist klar, dass es sich bei diesem Bild nicht um Kunst handelt, die
durch Realitätsverdoppelung eine zweite, fiktionale Realität erzeugt. Hier geht es
nicht um die Produktion der Differenz zwischen dem System, innerhalb dessen das
Bild operiert, und allem Übrigen. Im Gegenteil: Ein Pressefoto ist, der Intention
nach, ja ein Dokument.
Der ›Klassiker‹ der semiotischen Analyse der Strukturen von Medienbildern ist ein
Text von Roland Barthes (1961): »Die Fotografie als Botschaft«. Auch wenn es dort um
Photographie und ästhetische Reflexion 93
Pressefotos aus einer vergangenen Ära geht, die durch das digitale Bild abgelöst wurde,
ist es lohnenswert, sich noch einmal mit Barthes (1961: 12) »strukturale[r] Analyse
der fotografischen Botschaft« zu beschäftigen. Ihm zufolge erscheint Fotografie wie
eine »Botschaft ohne code« (ebd.: 15), die lediglich denotiert; daher schreibt man ihr
»besondere Glaubwürdigkeit« (ebd.: 17) zu. Tatsächlich funktionieren Fotografien
aber gerade deshalb, weil sie »eine denotiert-konnotierte Doppelstruktur« (ebd.: 18)
besitzen. Jedes Foto denotiert manifeste, offizielle Bedeutungen und konnotiert latente
Bedeutungen. Die Letzteren folgen kulturellen Kodierungen, sie sind also nicht einfach
den individuellen Assoziationen überlassen. So entstehen visuelle »Mythologien«.
»[A]lles vollzieht sich, als ob das Bild auf natürliche Weise den Begriff hervorriefe,
als ob das Bedeutende das Bedeutete stiftete«, schrieb Barthes (1957: 113). Er wollte
die »Naturalisierung des Kulturellen« (Barthes 1961: 21) entmythologisieren, indem
er zeigte, dass Bedeutungen immer von Menschen gemacht und daher veränderbar
sind. Im Falle von Bildern hieß das, ihre textartige Struktur zu entziffern.
Die Denotationen der ikonischen Botschaft sind die Personen, Dinge und visu-
ellen Merkmale des Raumes; also alles, was das Bild zu sehen gibt. Mit den Worten
von Barthes (1961: 12): Die Denotation erfolgt über »die Linien, Oberflächen und
Schattierungen«, und, das müssen wir hinzufügen, über die Farben – also über die
Faktoren, durch die ein Foto visuelle Analogien mit dem fotografierten Signifikat
erzeugt. Die Konnotationen der ikonischen Nachricht hängen hier vor allem am
stummen Ausdruck der Personen und an der Atmosphäre des Bildes. Sie gehen in
die Richtung, die ich zuvor aus der Perspektive des Korrespondenz-Modells und
des Imaginations-Modells beschrieben hatte. Das kulturelle Bildgedächtnis stellt
Konnotationen bereit: Rituale, abenteuerliche Reisen, Licht in der Nacht. Die vitale
Daseinserfahrung und das Alltagswissen bereiten den Boden für andere Konnotati-
onen: Ausgrenzung, Kampf ums Überleben in einer globalisierten kapitalistischen
Ökonomie, Chancen und Grenzen von Kommunikationstechnologien und social
media.
(5) Von hier aus ist es nicht mehr weit bis zum Kritik-Modell der ästhetischen
Einstellung, wo jene Dimension des Ästhetischen betont wird, die darauf ausgeht,
die Wirklichkeit zu verändern. Die gesellschaftlichen Bedingungen der Möglichkeit
ästhetischer Erfahrung sind in diesem Fall die warenförmigen Gesetze der Produk-
tion und Vermarktung, die in den Massenmedien herrschen. Ästhetische Erfahrung
wird hier immer auch manipuliert, um Aufmerksamkeit als Anreiz für Kaufent-
scheidungen zu instrumentalisieren. Oder um sie zur Ressource bei der Herstellung
von Einverständnis mit dem bestehenden Zustand von Welt und Gesellschaft zu
nutzen. In diesem Zusammenhang geht es um die Spannung zwischen Vermarktung
und Aufforderung zum Eingreifen, die viele Pressefotos prägt. Ein Dokument des
sozialen Geschehens kann ästhetisch verklären, aber auch Erkenntnis stiften und
94 Photographie und ästhetische Reflexion
Literatur
* Vortrag auf der Tagung Was war Design? des Instituts für Geschichte und Theorie der
Gestaltung an der Universität der Künste in Berlin am 9. Dezember 2017 und im »De-
signlabor« des Master-Studiengangs Informationsdesign der Fakultät Gestaltung der
Hochschule für angewandte Wissenschaften in Würzburg am 17. Januar 2017.
1 Für die konzise Zusammenfassung des Neurath-Aspekts in den letzten beiden Sätzen
danke ich Thomas Friedrich.
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 95
G. Schweppenhäuser, Design, Philosophie und Medien, Würzburger Beiträge zur
Designforschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-22225-3_7
96 Kommunikationsdesign und visuelle Dialektik der Aufklärung
Die Wahrnehmung von Formen gehört akzidentell stets zum Modus des Gebrauchs
von gestalteten Objekten, aber mitunter ist sie selbst substanzielle Gebrauchsweise.
Letzteres gilt für den Bereich des Designs, der »Kommunikationsdesign« genannt
wird (und in dem es nicht nur um die Wahrnehmung von Objekten, sondern
auch um die von Prozessen geht). Kommunikationsdesign entstand bekanntlich
im Zeitalter industrieller Massenproduktion als Produktwerbung. In den Gesell-
schaften der fordistischen Periode (tendenzielle Vollbeschäftigung, Massenkonsum
und kulturindustriell organisierte Freizeitgestaltung) kam es zur Blüte und half
bei der »Programmierung des Publikums« und der »Kolonisierung des visuellen
Unbewussten« (Fredric Jameson). Zugleich war Kommunikationsdesign aber nicht
nur visuelles Marketing und Propaganda. Die Gestaltung visueller Kommunikation
ist stets auch visuelle Aufklärung gewesen. Das zeigen semiotische Kulturtheori-
en, wenn sie auf den historischen und soziokulturellen Charakter von Semiosen
reflektieren, um den naturalistischen oder (im Sinne von Roland Barthes) den
»mythologischen« Schein zu destruieren, dass es eine natürliche oder metaphysische
Motiviertheit der Zeichen gibt.
Allgemein kann die soziale Praxis der Kultur als ein kollektiver Prozess der
Semiotisierung von Segmenten der Wirklichkeit (Posner 1992: 37) beschrieben
werden. Kommunikationsdesign ist für den öffentlichen Prozess der Semiotisierung
unerlässlich (und das gilt auch für die Epoche, als das Design noch keine arbeitsteilig
ausgeübte Tätigkeit mit definiertem Berufsbild war). Lebensumgebungen werden
durch Arbeit und Interaktion verändert und – partiell, regional, aber kontinu-
ierlich – in kommunizierbare Zeichenzusammenhänge transformiert. In diesem
Sinne hat Ernst Cassirer Kultur als Produktion von Bedeutungsgeflechten mittels
Zeichengebrauch bezeichnet. Husserl und Heidegger bezeichneten Kultur als »das
Thema des interaktiv deutenden und handelnden Menschen« (Orth 1997: 54). »Die
Wirklichkeit, wenn sie denn erscheint, erscheint dem Menschen als ›seine‹, ihm
nähere oder fernere ›Welt‹. Der Inbegriff der Phänomene gerät damit zum Begriff
der Kultur.« (Ebd.)
Kultur ist die Wirklichkeit, die sich Menschen durch Deutung aneignen. Die
Bedeutungsgeflechte, deren Zusammenhang »Kultur« genannt wird, entstehen durch
Semiotisierung der Wirklichkeit mittels wandlungsfähiger Kodierungen. Daher sind
Kommunikationsdesignerinnen und Kommunikationsdesigner »Kulturschaffen-
de«. Aber nicht alle Kulturschaffenden sind Kommunikationsdesignerinnen und
Kommunikationsdesigner. Was ist deren spezifische Tätigkeit? Was unterscheidet
sie von allen anderen, die ebenfalls Kultur produzieren, indem sie Segmente der
Kommunikationsdesign und visuelle Dialektik der Aufklärung 97
2 Bedeutungsdifferenzen, die sich beim verbalen und visuellen Übersetzen nicht transpo-
nieren lassen (zumal auf der konnotativen Ebene), sind nicht notwendigerweise Verluste.
Sie können zum Differenzierungsgewinn beitragen: Wenn ihre Unübersetzbarkeit ins
Bewusstsein tritt, kann man sie verbal oder visuell umschreiben und begreifen. Voka-
bular und Syntax erweitern sich permanent.
Kommunikationsdesign und visuelle Dialektik der Aufklärung 99
3 Man kann es auch, im Sinne von Hegel, umgekehrt formulieren. Hegel vertrat die An-
sicht, dass die philosophische Rekonstruktion der Wirklichkeit im Begriff eigentlich
den Namen Konkretion verdient, weil sie eine Vielzahl von Einzeltatsachen und Einzel-
beobachtungen zusammenzieht, also kon-grediert, während der gerade, unmittelbare
Blick auf die bunte Vielfalt der Wirklichkeit, der an ihrer Oberflächenerscheinung haften
bleibt, von den zugrundeliegenden Strukturen abstrahiert und das Wesen, von dem die
Erscheinungen ein Bild geben, nicht begreift. In diesem Sinne wäre also die sinnliche
Anschauung abstrakt und die denkende Erfahrung einer textlich-begriffliche Struktur
konkret.
4 »Abstrakt« im nicht-hegelschen Sinne.
100 Kommunikationsdesign und visuelle Dialektik der Aufklärung
Für Horkheimer und Adorno ist das die Dialektik der Aufklärung: Die Einsicht,
dass die Ordnung der Welt nicht von Natur aus besteht, sondern von Menschen
gemacht ist, führt nicht in die Freiheit. Frei wäre eine menschliche Gesellschaft,
die das Subjekt ihres geschichtlichen Handelns ist. Doch an die Stelle der (rational
nicht mehr haltbaren) Vorstellung einer natürlichen Ordnung ist nicht das Ziel
getreten, eine vernünftige, bewusst und selbst gemachte Ordnung herzustellen.
Statt gemeinsamer Bemühung um eine vernünftige Sozialordnung aus Freiheit in
solidarischer Praxis regiert ein »subjektlose[s] Allgemeine[s]« (Mensching 1992:
11) – das moderne Produktions- und Konkurrenzverhältnis. Die Frage ist, ob man
ihm mit statistischen Erkenntnismethoden beikommen kann.
Schauen wir uns an, wie der Vater der kritischen Infografik das Projekt wis-
senschaftsmethodologisch begründet hat. Otto Neuraths »Wiener Methode der
Bildstatistik« stellt soziale Daten und Tendenzen mit vereinfachten, typisierten
Zeichen dar. Neurath wollte »mit seinen Konzepten der visuellen Kommunikation«
Informationen mit einer global kommunizierbaren visuellen Sprache »so schnell
und einfach wie möglich […] vermitteln.« (Hartle 2018: 138) Neurath gehörte
zum Wiener Kreis; im Geiste des logischen Positivismus drang er auf »Entschla-
ckung und Universalisierung durch Vereinheitlichung« (ebd.: 140) der Aussagen.
»Der gewöhnliche Bürger«, schrieb er, »sollte in der Lage sein, uneingeschränkt
Informationen über alle Gegenstände zu erhalten, die ihn interessieren, wie er
geographisches Wissen von Karten und Atlanten erhalten kann« (Neurath, zit.
nach Hartmann und Bauer 2006: 28).
Statistiken eignen sich bestens, um logisch sauber visualisiert zu werden.
Piktogramme sind dafür ideal; sie sind aufs Wesentliche reduziert und von allem
gereinigt, was von der Botschaft ablenken könnte. Aber Statistiken sind gera-
de aufgrund ihrer Transparenz und Eindeutigkeit nicht gegen Ideologie gefeit.
In der kritischen geografischen Forschung ist in den letzten Jahren untersucht
worden, wie Statistiken zu falschem Bewusstsein beitragen können. Als Fazit
wurde festgehalten: »Jede Statistik ist anfällig für Ideologie, weil sie isolierende
Abstraktionen benötigt und notwendigerweise de-kontextualisiert.« (Bothe 2014:
51) Ihre Erscheinungsform kann den Eindruck hervorrufen, dass die Relationen,
die zwischen den präsentierten Sachverhalten hergestellt werden, alternativlos sind
(ebd.: 52). Statistische Fakten erscheinen geschichtslos; auch, wenn sie inhaltlich
das Gegenteil besagen. Wir haben es mit dem Phänomen der Verdinglichung zu
Kommunikationsdesign und visuelle Dialektik der Aufklärung 101
tun. Fakten, »Räume« und »Territorien« werden gezeigt, aber »deren soziale Be-
dingtheit« wird per se nicht sichtbar. »[D]er ideologische Charakter von Statistik
kann […] in der Darstellung und in der Form selbst liegen, wenn deren Charakter
als soziales Produkt unsichtbar wird.« (Ebd.)5
Das ist natürlich auch in der Designtheorie untersucht worden. Thomas Fried-
rich (2015: 11) schreibt in seinem Aufsatz »Kritik der Informationsgrafiken« dazu
Folgendes: »Daten systematisch zu ordnen, um […] aus ihnen […] Informationen,
im besten Fall sogar Wissen zu machen, ist voraussetzungsvoll. Es gibt […] unter-
schiedliche Weisen solcher […] Ordnung – durchgesetzt hat sich die statistische […],
welche die Lebenswelt in eine Zahlenwelt transformiert. Die erlebte Alltagswelt ist
aber voll von Widersprüchen, sie ist antagonistisch aufgebaut; die physikalische, die
soziale und die subjektiv-psychologische Welt sind in der Lebenswelt […] miteinander
verwoben. Sie, bzw. Teile von ihr, statistisch darstellbar zu machen, erfordert eine
spezifische Zurichtung. Die Darstellung der Welt in Zahlen suggeriert […] Objek-
tivität. Ihre […] Zurichtung der Lebenswelt, die ohne Gewalt in unterschiedlichen
Formen und Abstufungen gar nicht zu denken ist, wird dabei häufig verschleiert,
ebenso dahinter stehende Interessen der Auftraggeber von Statistiken.« Friedrich
zeigt das anhand der Arbeitslosigkeits-Statistiken in Deutschland. Die sehen jedes
Jahr schöner aus, weil die Berechnungsweise verändert wird, mit der man das
Datenmaterial informationell aufbereitet. Das wird aber nicht mitkommuniziert.
Auch Neuraths emanzipatorische ISOTYPE ›transformiert die Lebenswelt in
eine Zahlenwelt‹. Die Leseweise des statistischen Materials ist auch dort von der Art
und Weise geprägt, in der wir gelernt haben, konventionelle Statistiken zu lesen.6
Sie präsentieren Ausschnitte aus dem »komplizierten Netz« der »Oberfläche«, wie
es in dem Manifest des Wiener Kreises heißt, das Neurath mitverfasste. Das kann
zur ikonischen Verdinglichung werden.
5 »Wenn sich diese Statistiken dann noch auf Räume bzw. Territorien beziehen, wird
auch deren soziale Bedingtheit unsichtbar. Zu den Gefahren der Verdinglichung von
Statistiken kommt […] die des Raumfetischismus, der die ›physische Lage im Raum‹
[…] ohne Berücksichtigung [von] dessen Gewordenheit als Erklärung ansieht: ›Diese
doppelte Reifizierung ist dann auch doppelt anfällig für Ideologieproduktion‹.« (Bothe
2014: 52)
6 Erich Schöls hat mich darauf aufmerksam gemacht, dass Neurath angesichts des pro-
pagandistischen Einsatzes der Wiener Methode im Kooperationsinstitut ISOSTAT
in Moskau durch die russische Regierung Vorbehalte gegen die Ideologisierung des
Einsatzes von Statistiken anmeldete und seine Aktivitäten dort beendete.
102 Kommunikationsdesign und visuelle Dialektik der Aufklärung
sollen nicht nur die Ware beim Transport schützen, sondern, mittels Design, den
»Inszenierungswert« (Gernot Böhme) des Produkts für die Käufer visuell realisieren.
Unter den Bedingungen der warenproduzierenden Konkurrenzökonomie muss es
auch immer mehr Informationen geben; ob und wozu jemand sie braucht, ist zwar
nicht völlig egal, aber doch zweitrangig.
dass Wissenschaft die Voraussetzung für Kritik ist, denn »alle Wissenschaft wäre
überflüssig, wenn die Erscheinungsform und das Wesen der Dinge unmittelbar
zusammenfielen« (Marx 1894: 825). Seine kritische Theorie der Gesellschaft auf
wissenschaftlicher Basis geht von der Distinktion zwischen Wesen und Erscheinung
aus, die dem Kategorienarsenal der Metaphysik entstammt. »Daher ist der Marxsche
Materialismus immanent genötigt, die Realität des Abstrakten zu unterstellen.«
(Mensching 1987: 69) Dass der Begriff der Form aristotelische und thomistische
Wurzeln hat, ist offenkundig, aber das disqualifiziert ihn nicht als metaphysische
Erblast, auch nicht im Bereich des Designs. Von hier aus kann man nämlich wieder
an das Prinzip Infografik anknüpfen und Neuraths visuelle Sprache nutzen, um
Ideologien zu durchleuchten. Und zwar in Verbindung mit Diskursen.7
7 Das wurde in der Würzburger Master-Thesis von Benedikt Martini (2017) mit Erfolg
versucht. Ihr Thema sind populäre ökonomische Narrative. Durch eine Verbindung von
Infografiken und theoretischen Exkursen wird über die Mythen aufgeklärt, die diesen
Narrativen zugrunde liegen. Martinis Arbeit positioniert sich gleichzeitig im öffentlichen
Raum, im virtuellen Raum und in Buchform. Dabei wird die »soziale Bedingtheit« der
Fakten und der fake news sichtbar gemacht. Die Verbindung mit Diskursen, in denen
die innere Form ökonomischer Vergesellschaftung thematisiert wird, unterläuft den
möglichen »ideologischen Charakter« von Statistiken und den Positivismus des »un-
mittelbar Gegebenen«.
108 Kommunikationsdesign und visuelle Dialektik der Aufklärung
Abbildungen
Fundierte öffentliche Meinungsbildung ist seit der Finanzkrise von 2008 Benedikt Martini
Benedikt Martini befasst sich mit der Rolle des Kommunikationsdesigns zwi-
Manipulation oder
schen Manipulation und Information. Eine fundierte öffentliche Meinungsbil-
dung über das bestehende Wirtschaftssystem scheint unmöglich, weil Inhalte
oft verkürzt und häufig ohne größeren Kontext dargestellt werden.
Information?
Wie ließe sich demgegenüber ein visuelles Angebot zur Wissensvermittlung
über das bestehende Wirtschaftssystem schaffen, sodass offene und kom- Politisches Kommunikationsdesign
plexe Diskurse ermöglicht werden? in der »Postdemokratie«
VSA:
Zentrale Impulse enthält sein Ansatz aus der in den 1920er Jahren maßgeb-
lich von Otto Neurath (mit Unterstützung des Grafikers Gerd Arntz) entwi-
ckelten Wiener Methode der Bildstatistik. Mit Plakat- und Servietten-Grafiken
sowie Bierdeckel-Texten bereitet der Autor ökonomische Sachverhalte auf und
macht so ein fortschrittliches Konzept der Arbeiter- und Volksbildung für die
Anforderungen medialer Diskurse im 21. Jahrhundert nutzbar.
VSA:
ISBN 978-3-89965-757-9
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Kritische Geographien anhand der Positionen von Popper, Marx, Derrida und Foucault,
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Zur Dialektik des visuellen Nominalismus
Kommunikationsdesign und »alter Realismus«*1
Zur Dialektik des visuellen Nominalismus
* Für Anregungen danke ich Hyun Kang Kim; für eine kritische Lektüre früherer Fas-
sungen und für weiterführende Literaturhinweise Christoph Naumann-Zimmer. – Dem
Text liegen Vorträge auf der Tagung Realism in Design an der Hochschule Düsseldorf
am 20. Mai 2017, in Sven Kramers Seminar Realismuskonzepte in Literatur und Film
an der Universität Lüneburg am 1. Juni 2017, und beim Symposion Perspektiven der
Fotografie zugrunde, das Marcus Kaiser an der Fakultät Gestaltung der Hochschule für
angewandte Wissenschaften in Würzburg am 9. November 2017 geleitet hat. Der Text
enthält Auszüge aus dem Manuskript meines Buchs Revisionen des Realismus. Zwischen
Sozialporträt und Profilbild, das 2018 im Metzler Verlag erscheint.
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 111
G. Schweppenhäuser, Design, Philosophie und Medien, Würzburger Beiträge zur
Designforschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-22225-3_8
112 Zur Dialektik des visuellen Nominalismus
Auch nach Benjamin haben sich so gut wie alle, die über Sanders Porträtfotografie
schrieben, auf Döblin bezogen. Aber, und darum geht es mir: Immer und aus-
schließlich nur auf einen von zwei Aspekten, unter denen Döblin Sander rezipiert
hat. Demnach sah Döblin Sanders Bedeutung darin, die Fotografie zum Medium
wissenschaftlicher Erkenntnis gemacht zu haben; nicht zu einem Medium natur-
wissenschaftlicher, sondern zu einem Medium sozialwissenschaftlicher Erkenntnis.
Das haben alle Autorinnen und Autoren, von Benjamin über Susan Sontag bis zur
Gegenwart, zu Recht betont. Döblin (1929: 13) schrieb über Antlitz der Zeit: »Man
hat vor sich eine Art Kulturgeschichte, besser Soziologie, der letzten dreißig Jahre.
Wie man Soziologie schreibt, ohne zu schreiben, sondern indem man Bilder gibt,
Bilder von Gesichtern und nicht etwa von Trachten, das schafft der Blick dieses
Photographen, sein Geist, seine Beobachtung, sein Wissen und nicht zuletzt sein
enormes photographisches Können.« Und dann prägte Döblin, der ja ursprünglich
Mediziner war, ein sprachliches Bild, das lange fortwirkte: »Wie es eine vergleichende
Anatomie gibt, aus der man erst zu einer Auffassung der Natur und der Geschichte
der Organe kommt, so hat dieser Photograph vergleichende Photographie getrieben
und hat damit einen wissenschaftlichen Standpunkt oberhalb der Detailphotographie
Zur Dialektik des visuellen Nominalismus 113
gewonnen. Es steht uns frei, allerhand aus seinen Bildern herauszulesen, die Bilder
sind im ganzen ein blendendes Material für die Kultur-, Klassen- und Wirtschafts-
geschichte der letzten dreißig Jahre.« (Ebd.: 13 f.; Hervorh.: G.S.)
Benjamin hat das bestätigt; aber nicht aus historischem Interesse, sondern aus
politischem. Für ihn lag Sanders Verdienst darin, dass er den physiognomischen Blick
wissenschaftlich rehabilitiert. »Sanders Werk ist viel mehr als ein Bildbuch«, schrieb
er: Es ist »ein Übungsatlas« (Benjamin 1931: 381) für das Training des politischen
Blicks, den man brauche, um in der Klassengesellschaft am Vorabend des Natio-
nalsozialismus zu überleben. Sanders Fotoarbeiten würden im »physiognomischen,
politischen, wissenschaftlichen Interesse« die »menschlichen Zusammenhänge«
(Benjamin 1931: 383) erforschen.
Die späteren Autorinnen und Autoren haben sich auf dieser Linie bewegt – auch
dann, wenn sie nicht wie Benjamin aus der Perspektive einer Politisierung der Ästhetik
argumentierten. Mit Döblin wurde das Innovative und Vorbildliche von Sanders
Arbeit in der Verwissenschaftlichung der Fotografie gesehen. Je nach Standpunkt
galten die Resultate wissenschaftlicher Fotografie als wertfreie Erkenntnisse oder
als Elemente einer wissenschaftlich abgesicherten politischen Praxis. (Letzteres
war, nebenbei gesagt, die Intention von Sander, der sich der Sozialdemokratie nahe
fühlte. Er verstand sich als politischer Fotograf, auch wenn er damit nicht Agitation
und Propaganda meinte.)
Aber wie gesagt: In dieser Rezeptionslinie von Benjamin bis zur Gegenwart ist
etwas übersehen worden. Döblins Label »wissenschaftliche Fotografie« war nämlich
nur die eine Hälfte seiner Lesart. Die andere bezog sich nicht auf die Natur- und
Sozialwissenschaft, sondern auf die Philosophie. Denn Döblin zufolge kehrt in
Sanders Fotografie der Universalienstreit der spätmittelalterlichen Philosophie
zurück. Mit Blick auf seinen Zeitgenossen Sigmund Freud, den Döblin in diesem
Zusammenhang freilich nicht bemüht hat, kann man sagen: Der Universalienstreit
kehrte als Wiederkehr des Verdrängten zurück. Döblin meinte, in Sanders Fotos
käme der ›metaphysische Gegensatz des Allgemeinen und des Individuellen‹ (Hegel)
ästhetisch zur ›Erscheinung‹.
Kann man heute noch so argumentieren? Ich würde sagen: Ja. Um einen Gedan-
ken aus Bertrand Russels Theorie der Bedeutung zu variieren: »Ohne die Annahme
der Existenz von realen Abstrakta kommen wir nicht aus« (Schick 1993: 614). Doch
dafür müssen wir in diesem Fall die besondere, individuelle Erscheinungsform
der porträtierten Personen in Beziehung zu einem negativen Allgemeinen setzen.
Ansätze zur Visualisierung des sozial Allgemeinen im je Besonderen verweisen
auf ein unabgegoltenes Potenzial des »alten« Realismus, also des Begriffsrealismus.
Dies ist aber nicht ontologisch, sondern sozialphilosophisch zu rekonstruieren.
114 Zur Dialektik des visuellen Nominalismus
Bevor ich nun der visuellen Wiederkehr des philosophischen Problems ›daseien-
der Begriffe‹ weiter nachgehe, möchte ich aber klären, ob und inwiefern meine
Fragestellung überhaupt designrelevant ist. August Sander war schließlich, im
landläufigen Sinne des Wortes, kein Designer. Manche Betrachter würden seine
Arbeiten eher als fotografische Kunstwerke bezeichnen; so auch sein Nachfahre
Julian, der findet, dass es höchste Zeit wäre, den Urgroßvater endlich »als Künstler
und in der Kunstgeschichte« zu würdigen »und nicht nur in der engen Nische der
Fotografie«1. Ich antworte darauf mit einem werkgeschichtlichen Hinweis. Sander
verstand sich zu Beginn seiner Laufbahn tatsächlich als künstlerischer Fotograf,
aber seine berühmten Arbeiten sind erst entstanden, nachdem er sich von der Auf-
fassung abgewandt hat, dass Fotografie »Kunst« im bürgerlichen Sinne ist. Das hat
Ulrich Keller schon 1980 klargestellt; in seinem Standardwerk, einem instruktiven
Beitrag zur posthumen Erstveröffentlichung des Zyklus Menschen des 20. Jahrhun-
derts, schreibt er: »spätestens 1922 hatte [Sand]er mit allen kunstphotographischen
Döblin hat 1929 in seiner Einleitung zur Publikation der Auswahl von Sanders
Porträtfotografien also für eine Revision des philosophiegeschichtlichen Prozes-
ses plädiert, in dem die Universalienrealisten unterlegen sind. Döblin ist nicht
in philosophiehistorische Detail gegangen; aber er hat Sanders dokumentarische
Fotografie in die Nachfolge einer Debatte gestellt, die Hegel (1833/1836: 572) in der
Geschichte der Philosophie folgendermaßen zusammengefasst hatte: »Der Realis-
mus der Scholastiker behauptet, daß das Allgemeine ein Selbständiges, Fürsich-
seiendes, Existierendes sei […]. Wogegen die […] Nominalisten […] behaupteten,
das Universale sei nur Vorstellung, subjektive Verallgemeinerung, Produkt des
denkenden Geistes; wenn man Gattungen usf. formiere, so seien dies nur Namen,
[…] Vorstellungen für uns, die wir machen, – nur das Individuelle sei das Reale.«
Döblin wollte mit seiner Lesart zeigen, dass nicht nur das Individuelle real ist,
sondern auch etwas, für das Hegel die Synonyme Allgemeines und Universales
verwendete. Dahinter steht grundsätzlich zunächst einmal die Frage, wie Wirklich-
2 Im Sinne des produktiven Missverständnisses, auf das Bernhard Bürdek (mit Bezug auf
Herbert Read) hingewiesen hat: Unter »applied art« verstand man im Sprachgebrauch
des britischen Kunsthandwerks Verzierungen, die auf Gegenstände appliziert, also
›aufgetragen‹ oder ›angebracht‹ wurden (Bürdek 2012: 65). Mit der Zeit verschob sich
die Bedeutung des Aufbringens von Ornamenten, die im Kontext der Moderne zumeist
abwertend konnotiert war. Sie wurde allmählich als (überwiegend positiv konnotierte)
Manifestation der lebens- und gesellschaftspraktischen Wirkmächtigkeit künstlerischer
Gestaltung verstanden. Also als Manifestation einer Gestaltung, die sich, diesseits eines
umkämpften Bereichs radikaler Autonomie, im Hier und Jetzt nützlich macht – so, wie
heutzutage eine Applikation auf dem Datenspeicher des Mobiltelefons.
116 Zur Dialektik des visuellen Nominalismus
schienen durch eine absteigende Linie verbunden: junge Vertreter der »Bohème«,
ein »Schankkellner«, eine »Putzfrau«, ein »Abgebauter Seemann« und schließlich,
das letzte Bild der Sammlung: »Arbeitslos«.
Einige Bilder sind ins kulturelle Gedächtnis eingegangen: der »Konditor«, die
»Revolutionäre« um Erich Mühsam, der stolz wirkende »Handlanger« oder die drei
»Jungbauern« auf dem Weg zum Tanzvergnügen. Der Arbeitslose aus dem Jahre
1928 steht in einer ikonischen Reihe mit den berühmten sozialdokumentarischen
Aufnahmen, die zur gleichen Zeit, der Zeit der wirtschaftlichen Depression in den
USA, für die Farm Security Administration gemacht wurden.
Weniger präsent ist heute Sanders Gesamtkonzept. Sein ehrgeiziges Projekt
ging weit über die Auswahl hinaus, die in Antlitz der Zeit veröffentlicht wurde. Im
vollen Umfang konnte es nie realisiert werden. Sander (1929, zit. nach Keller 1994:
9) wollte einen visuellen Aufriss der »bestehenden Gesellschaftsordnung« geben
– wissenschaftlich, aber auch sozialkritisch. Er verstand sich als teilnehmender
Beobachter. Sein sozialanthropologisches Spurensicherungsprojekt war eine Ex-
pedition ins Innere der eigenen Kultur. Ulrich Keller hat beschrieben, wie Sander
sich nach dem Ersten Weltkrieg von der eigenen sozialen Klasse distanzierte. Die
»Qualität des ›Exakten‹, die seine Bilder nun annehmen«, war demnach ein »Signal
des Übergangs von der kunstphotographischen Verklärung des Bürgertums zu
dessen […] sachliche[r] Inventarisierung.« (Keller 1994: 25) Dabei konnte Sander an
ältere Arbeiten anknüpfen. Einige waren in seiner ersten Karriere als konventioneller
Porträtfotograf mit künstlerischen Ambitionen entstanden. Andere hatte er in freier
Tätigkeit gemacht, geleitet von kontemplativer Neugier auf seine nähere Umgebung.
Nun plante Sander also »einen photographischen Querschnitt durch alle Berufe,
Klassen und Lebensbereiche des Weimarer Deutschland«, berichtet Keller (1994:
25). »Grundstock und Grundmuster dieses Projekts waren in den Westerwälder
Bauernportraits bereits vorhanden. Der […] Versuch, die Einzelperson als Teil
eines sozialen Mikrokosmos zu verstehen, ihre Prägung durch gruppenspezifische
Formen des Familienlebens, der der Arbeit und des Vergnügens darzustellen, wird
jetzt […] zum klaren Konzept ausgearbeitet und auf die verschiedenen Gesellschafts-
partner angewendet, auf Arbeiter und Handwerker, das kleine, mittlere und große
Bürgertum sowie auf Randgruppen wie Zirkusleute und Landstreicher.« (Ebd.)
Sander legte für seine Struktur der »bestehenden Gesellschaftsordnung« drei
Prinzipien zugrunde: die zyklische Bewegung des geschichtlichen Verlaufs, die
soziale Gliederung nach Berufsständen und die Aufteilung des Lebens in öffentli-
ches und privates (siehe Keller 1994: 47 f.). Diese Prinzipien spiegelten sich in der
Anordnung der Bildgruppen wider. Sanders weltanschauliche Vorstellung von
historischen Kreisläufen aus Aufstieg, Niedergang und Verfall war in den 1920er
Jahren keine Seltenheit. Sie prägte die Ordnung der Bilder in Antlitz der Zeit. Da
118 Zur Dialektik des visuellen Nominalismus
3 Dieser Bezeichnung liegt eine falsche Nietzsche-Lesart zugrunde: Die »letzten Menschen«
sind in dessen seinerzeit viel gelesenem Zarathustra-Buch keineswegs sozial Deklas-
sierte; sie sind keine Absteiger, sondern vielmehr die Repräsentanten eines saturierten
bürgerlichen juste milieu, das nicht weiß, dass es am Abgrund steht. Friedrich Nietzsches
Zarathustra-Figur will die träge und demokratisch verweichlichte Gesellschaft der
»letzten Menschen« wachrütteln, damit sie sich auf die nahende Ankunft des »Über-
menschen« vorbereitet. Das zielt nicht auf gesellschaftlich Marginalisierte, Behinderte
und Menschen, die ohne Hilfe nicht überleben können, sondern ganz im Gegenteil auf
die gute Gesellschaft des mainstream. Dort sind zwischenmenschliche Konflikte durch
psychotechnische Therapie scheinbar behoben, die Lebensnot ist durch Beruhigungs-
mittel – bis hin zur Sterbehilfe und erleichterten Arbeitsbedingungen – gelindert, und
soziale Antagonismen sind durch Gleichverteilung und Demokratie beschwichtigt,
wenn auch nicht beseitigt.
Zur Dialektik des visuellen Nominalismus 119
4 https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/b/be/Paul_Hindemith_1923.jpg
(letzter Abruf: 7.8.2018)
120 Zur Dialektik des visuellen Nominalismus
Aufgrund der Distanz, die Sander zu den Menschen einnahm, wird deren Frei-
heit, Haltung und Ausdruck selbst zu bestimmen, nicht beschnitten. Bei Sander
ging die Distanz allerdings mit Einfühlungsvermögen einher. Das merkt man
noch dem Kontrast an, der zwischen Porträts im eigenen Soziotop (im Hause oder
draußen) und Porträts von Verfolgten besteht, denen ihr eigener Raum genommen
wurde. Auch ein Vergleich des berühmten Porträts des Arbeitslosen in Antlitz der
Zeit in der Form, wie es ins Buch aufgenommen wurde (Nr. 60), mit dem nicht
ausgeschnittenen Bild, das die Umgebung, die große Stadt, zeigt5 macht Sanders
Einfühlungsvermögen spürbar.
In Döblins Lesart wird das Allgemeine sichtbar, dem die Einzelnen ihr Dasein
und ihr So-Sein verdanken, das gesellschaftlich Allgemeine also, von dem sie auf
Gedeih und Verderb abhängen. Die menschliche Haltung ist beinah die gleiche,
aber der soziale Raum macht den Unterschied ums Ganze. – Döblin hat in seiner
klugen Einleitung für Antlitz der Zeit, wie gesagt, auf ein Problem aus der Philo-
sophiegeschichte zurückgegriffen, das damals wie heute als längst erledigt galt.
Der sogenannte Universalienstreit war eine Debatte im ausgehenden Mittelalter.
Noch einmal: Die Frage war, ob den Allgemeinbegriffen Realität zugesprochen
werden kann, mit denen Aristoteles die Welt ordnete, indem er die Dinge in der
Welt, logisch folgerichtig, in Gattungen, Arten und Individuen einteilte, oder ob
Realität lediglich von besonderen Einzeldingen ausgesagt werden dürfe. Die Uni-
versalisten argumentierten so: Den Allgemeinbegriffen, aufgrund derer die Dinge
in der Welt in Gattungen, Arten und Individuen eingeteilt werden, muss etwas in
der Realität selbst entsprechen. Geordnete Erkenntnis ist nur möglich, wenn sie
sich an der objektiven Ordnung der Wirklichkeit ausrichtet. Die Nominalisten
argumentierten hingegen so: Allgemeinbegriffe sind reine Verstandesgebilde. Sie
besitzen keinerlei Fundament in der Realität; sie sind nichts weiter als Rubriken
und Registraturmappen. Begriffe sind Sammelordner, in denen wir Wahrnehmun-
gen und Beobachtungen nach Gutdünken ordnen. Sie sind nicht Ausdruck und
6 Die bedeutendsten Vertreter des Nominalismus waren Wilhelm von Ockham, Johannes
Roscelin und Peter Abaelard. – In einem bis heute renommierten philosophiehistorischen
Kompendium, das 1927 in der 11., bearbeiteten Auflage erschienen war, lesen wir, dass
es im Universalienstreit um die Frage ging, ob genus und species (Gattung und Art),
die Zentralbegriffe der aristotelischen Kategorienlehre, »substantielle Existenz haben
oder bloß in unseren Gedanken« sind – genauer gesagt, um die Frage, »ob sie, falls sie
substantiell existieren, Körper oder unkörperliche Wesen seien, und ob sie von den
sinnlich wahrnehmbaren Objekten gesondert oder nur in und an diesen existieren. […]
Mit dieser Fragestellung wurde nun jene andere […] in Zusammenhang gebracht, ob
die Kategorien res oder voces sein. Daraus ergibt sich dann die Hauptverschiedenheit
der Auffassung, indem die einen die Universalien für res, die anderen für voces hielten,
der Gegensatz also des Realismus und Nominalismus.« (Ueberweg 1956: 205.)
122 Zur Dialektik des visuellen Nominalismus
›Anhänger des Realismus‹ sind. »Sie halten die großen Universalien für wirksam und
real« (ebd.). In der Geschichte der Philosophie, schrieb Döblin (1929: 7), waren die
»Nominalisten […] der Meinung, daß nur die Einzeldinge wirklich real und existent
sind«. So ähnlich würden die meisten Porträtfotografen die Welt sehen: Sie würden
sich den besonderen Einzelnen hingeben und darüber das Allgemeine vergessen.
Sander – so das Ergebnis von Döblins Beobachtung zweiter Ordnung – gehört
zu den Porträtfotografen des Universalienrealismus. Seine Fotografien sind nicht
Ȋhnliche Bilder, bei denen man bestimmt und leicht den Herrn X oder die Frau
Y erkennt«. Nein: Wie oben bereits zitiert wurde, erkenne man, aufgrund von
Sanders universalienrealistischem Parameter, hier »eine Art Kulturgeschichte,
besser Soziologie, der letzten dreißig Jahre« (Döblin 1929: 7). Sander fotografierte
Menschen aus allen gesellschaftlichen Schichten. Sie erscheinen lebendig und
ausdrucksvoll, aber Leben und Ausdruck sind durch ihre soziale Rolle vermittelt.
Das je Individuelle und Besondere tritt in den Hintergrund. Das geht über Beklei-
dung und professionellen Habitus hinaus. Bis in die Physiognomie hinein sind
die Menschen Repräsentanten ihres Standes, ihrer Schicht oder ihrer Klasse: »der
Herr Wachtmeister«, »der Pianist« und so weiter. Das Besondere ist immer schon
durchs soziale Allgemeine geformt und damit relativiert. Dieses Allgemeine ist
meta-subjektiv, eine strukturelle, begriffliche Entität, die nicht unmittelbar als sol-
che in Erscheinung treten und sensuell wahrnehmbar werden kann. Indem Sander
also intuitiv den Erkenntnisstandpunkt des philosophischen Realismus einnimmt,
meinte Döblin (1929: 14), habe er die »vergleichende Photographie« begründet und
»einen wissenschaftlichen Standpunkt oberhalb der Detailphotographie gewon-
nen«. In diesem Licht erscheint das Erbe der scholastischen Philosophie nicht als
metaphysischer Zopf, den ein wahrhaft modernes Denken abschneiden müsse,
sondern im Gegenteil als Basis einer zeitgemäßen wissenschaftlichen Betrachtung
der – wie man es von heute aus sagen könnte – systemisch (fremd-) bestimmten
sozialen Lebenswelt.
Bis zum Ausgang des Mittelalters wurde die Realität nach dem Modell einer
göttlichen Weltordnung beschrieben. Sie ruhte auf hierarchischen Prinzipien, die
feudale Herrschaftsordnung galt als ihre weltliche Gestalt. Man hielt es für beweis-
bar, dass die Ordnung der Dinge in der Natur und der menschlichen Gemeinschaft
auf Prinzipien beruht, die durch menschliche Vernunft erkennbar sind. Sie allein
verleihen der Realität Bestand, weil sie aus der göttlichen Vernunft entspringen.
Ihre Erkenntnis sei möglich, weil die subjektive Menschenvernunft sie, gemäß den
Regeln der Logik, rekonstruieren kann. Im Universalienstreit argumentierten die
nominalistischen Kritiker gegen die Annahme, dass die begriffliche Ordnung der
Dinge auch ihre seinsmäßige Ordnung ist. »Die Universalien sind nur im subjek-
tiven Denken allgemein« (Mensching 1995: 51). Das Allgemeine sei lediglich eine
gedankliche Konstruktion. Es habe kein objektives fundamentum in re und werde
den Bestimmungen der Einzeldinge, die sich beobachten lassen, nur additiv beige-
fügt. Denn egal ob es um Bezeichnungen für konkrete Gegenstände, Lebewesen und
Artefakte gehe oder um Bezeichnungen für abstrakte Gegenstände: »Das Benennen
von Dingen sei lediglich ein bestimmter, eingespielter Gebrauch von Namen, den
man so, aber auch anders festsetzen kann, weil sie in der Natur keine Entsprechung
haben.« (Türcke 2008: 190) Daher komme eben auch den Universalien kein Sein
zu; dies könne man lediglich empirischen Einzeldingen zusprechen. Im Univer-
salienrealismus würden Worte, die in Wirklichkeit substanzlose Begriffe sind, so
betrachtet, als wären sie von höherer, eigentlicher Seinsbeschaffenheit. Doch erst
umgekehrt werde ein Schuh daraus: Einzeldinge würden aufgrund von Ähnlich-
keiten, die sie miteinander aufweisen, zu Gattungen und Arten zusammengefasst.
Der Verstand konstruiere dann, in einer letzten Abstraktion, das »rein Allgemeine«
(Mensching 1995: 51), das als solches nicht existiere.
Die nominalistische Aufwertung der Einzeldinge bereitete die soziale Eman-
zipation der Individuen vor. De facto haben die Nominalisten das Modell einer
universalen Weltordnung zerstört und der feudalen Herrschaftsordnung den
Boden unter den Füßen weggezogen – auch wenn das gar nicht ihre Absicht war.
Sie haben die neuzeitliche Vorstellung vorbereitet, dass wissenschaftlich-techni-
sche Naturbeherrschung die Grundlage freier individueller Selbstbestimmung im
gesellschaftlichen Zusammenhang ist. Die Position des Begriffsrealismus gilt seit
dem Triumph der via moderna in den Wissenschaften als erledigt. Nominalismus
ist auch das Bewusstsein der Semiotisierung von Segmenten der Wirklichkeit im
kulturellen Prozess.
Aber warum ist das ein Problem? Was hatte Döblin an dem Ansatz zu beanstan-
den, den er die »nominalistische« Porträtfotografie nennt? Sozialphilosophische
Kritiker des Nominalismus gehen davon aus, dass die Menschen als Individuen
(also, in philosophischer Terminologie: als ›Besondere‹) immer vom ›Allgemeinen‹,
124 Zur Dialektik des visuellen Nominalismus
d. h. von sozialen Bewegungsgesetzen, bestimmt sind, und zwar weit mehr, als es
den Anschein hat. Der Nominalismus hat sozusagen das Kind mit dem Bade aus-
geschüttet: Er zeigte, dass die Menschen die Ordnung der Welt selbst herstellen,
untergrub dabei aber die Erkenntnis, dass diese Ordnung zwar selbstgemacht,
aber zugleich auch fremdbestimmt ist. Die allgemeinen Bewegungsgesetze, denen
wir uns als Individuen nach wie vor unterwerfen müssen, produzieren wir zwar
selbst, aber, mit den Worten von Marx: Wir tun es »nicht aus freien Stücken, nicht
unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen
und überlieferten Umständen.« (Marx 1852: 115) Mit Herbert Marcuse kann man
hinzufügen, dass »die Ökonomie als die fundierende Schicht« in der bürgerlichen
Gesellschaft »derart zum ›Wesentlichen‹ geworden ist, daß alle anderen Schichten
[der gesellschaftlichen Wirklichkeit] zu ihrer ›Erscheinungsform‹ geworden sind«
(Marcuse 1936: 69).
Noch einmal: Nominalistisches Denken nimmt Selbstbestimmung vorweg,
die sich begrifflich von der statischen Ordnung einer unveränderlichen Natur
befreit, und diese Freiheit in der industriellen Produktionsweise auch praktisch
herstellt. »Die Autonomie der Menschen gegenüber der Naturordnung, welche der
Nominalismus theoretisch antizipiert, galt es danach produktiv herzustellen, die
Welt jenem Selbstbewußtsein gemäß einzurichten«, schreibt Günther Mensching:
»Darin erschließt sich die Perspektive eines Fortschritts, der die Produktivkräfte
gesellschaftlich entfesselt« (Mensching 1984: 43). Dieser Fortschritt bedeutet aber
einen Bruch im menschlichen Selbstverständnis. »Die Einsicht, daß die Individuen
in produktiver Tätigkeit selbst die Begriffe hervorbringen und sie zu Urteilen und
Schlüssen verknüpfen, erscheint […] in einem neuen Licht«, schreibt Christoph
Türcke, »wenn ihr der Boden entzogen wird, auf dem sie bei Thomas von Aquin
noch stand: die Gewißheit, daß die Strukturen des Denkens bei aller Selbststän-
digkeit letztlich doch in denen des Seins ihr sicheres Fundament haben. Geht diese
Gewißheit verloren, weil die Gesellschaft, auf die sie sich gründet, zerfällt, so werden
die Menschen in einer zuvor nicht gekannten Weise auf sich zurückgeworfen.«
(Türcke 1983: 22; siehe Türcke 2016: 36–42) Natur wird zum bloßen Substrat von
Naturbeherrschung. Sie wird als an sich selbst bestimmungslos vorgestellt und zur
Projektionsfläche industrieller Eingriffe degradiert (Haag 1983: 54–67). Realität
scheint kein objektives Fundament mehr zu haben, auf dem sie, außerhalb des
Dafürhaltens der Subjekte, stehen könnte. Der Nominalismus macht den Weg frei
für die Anerkennung des Individuell-Besonderen; aber er leugnet, dass es immer
noch durch Allgemeines vermittelt ist, und liefert es so dessen Herrschaft aus. Für
Thomas Hobbes zum Beispiel, der den Nominalismus in politische Philosophie
umsetzte, gab es keine wesensmäßigen Bestimmungen der Individuen mehr, durch
deren Erkenntnis sich Gesetze und Herrschaft vor der kritisch prüfenden Vernunft
Zur Dialektik des visuellen Nominalismus 125
zu legitimieren hätten. Stattdessen verfügt der Staat autoritär über alle Einzelnen
(Haag 2005: 7 ff.).
Die Menschen des zwanzigsten Jahrhunderts, so kann man Döblins Ansatz
vor diesem Hintergrund resümieren, sind (noch) gar nicht die unverwechselbaren
Individuen, die sie sein sollten, gemäß ihrem Anspruch auf menschliche Würde.
Sie sind bis ins Innerste geprägt vom Äußerlichen, dem gesellschaftlichen Allge-
meinen – »soziale Charaktermasken« im Sinne von Marx.
ven Praxis.« Die Wahrnehmung visueller Zeichen ist eine Art Lektüre, sie findet
unter Bedingungen der unbewussten Dekodierung von Zeichentexturen statt.
Kants Synthesis der Apperzeption, die alle Subjekte immer schon übergreift, wird
im semiotischen Strukturalismus der Cultural-Studies-Schule auf der Ebene der
Zeichen-Entschlüsselung mit der Marx’schen Analyse des Arbeitsprozesses unter
Bedingungen der kapitalistischen Akkumulation zusammengebracht. Die Produk-
tion visueller Botschaften ist demnach ins gesamtgesellschaftliche Produktionsver-
hältnis eingelassen, und ihre Rezeption ebenso. Durch Analyse der Signifikation
soll der Text lesbar werden, der sich zwischen die Wirklichkeit und die Subjekte
schiebt, aber es geht nicht darum, Welt und Wirklichkeit in den Text aufzulösen.
Der kulturtheoretische Sozialkonstruktivismus der Cultural Studies geht nicht
so weit wie der später in Mode gekommene radikale Konstruktivismus. Dieser
unterläuft die Grundlagen intersubjektiver Verständigung über Gesellschaft und
Natur, wenn er die Möglichkeit der Annahme einer außersubjektiven Wirklichkeit
grundsätzlich für widersinnig erklärt. Cultural Studies wollen durch Reflexion der
Überkreuzungen von Diskurspraktiken und Ideologien über die Differenz zwischen
der Welt und dem kodierten Text aufklären.
Solche semiotische Aufklärung, die soziale Mechanismen der Produktion von
Bedeutung analysiert, ist nominalistische Ideologiekritik. Aber genau dort trifft sie
sich mit Döblins Kritik des visuellen Nominalismus. Denn das soziale Allgemeine
einer durch Klassen und Herrschaft bestimmten Gesellschaft hat nicht aufgehört
zu existieren, es entzieht sich nur der Erkennbarkeit.
Die provokante Implikation der Döblin-These ist jedoch im Fotodiskurs, wie ich
nun schon mehrfach gesagt habe, nicht bemerkt worden. Dort wurde überhaupt
nicht auf das Verhältnis von Universalienrealismus und -nominalismus eingegan-
gen; aber es ging, wenn man so will, um Folgeprobleme, die mit dem Dilemma von
positivistischer Sozialstatistik und essentialistischer Typenlehre zu tun haben.
Konkret wurden entweder Versuche aus dem 19. Jahrhundert diskutiert, vermeint-
liche »Verbrechertypen« mithilfe fotografischer Visualisierung anthropometrisch
zu erfassen, oder aber die Frage, wie die Verbreitung digitaler Fototechnik dabei
hilft, die essentialistische Illusion zu zerstören, dass Fotos auf magische Weise
die Präsenz eines Objekts repräsentieren würden, welches real existiert oder real
existiert hat. Ersteres ist das Thema der Abhandlung »Der Körper und das Archiv«
von Allan Sekula aus dem Jahre 1986; Letzteres war Thema in einem Aufsatz von
Wolfgang Ullrich von 1997.
Sekula, der Konzeptkünstler und Fotograf, der seinen Ansatz der Dokumen-
tarfotografie als »critical realism« bezeichnet hat, setzt sich in seiner Abhandlung
kritisch mit dem Problem auseinander, das ein im 19. Jahrhundert dominierender
empiristisch-nominalistischer Ansatz hat, der »Verbrechertypen« (Sekula 2003: 309)
Zur Dialektik des visuellen Nominalismus 127
7 So eine Sicht auf das Phänomen scheint sich ja durchaus anzubieten – z. B. im Anschluss
an Überlegungen von Marshall McLuhan (1964: 57 ff.), der die Faszination der Anwender
technischer Geräte als Symptom ihrer Selbstverliebtheit gedeutet hat. In der Tat ist diese
Deutung heute ein populäres Motiv jener Kulturkritik, die sich vom Populären abgren-
zen möchte. Allerdings gilt es zu beachten, dass McLuhan nicht psychologisch ansetzte,
sondern technik-deterministisch. Damit das Sinn ergibt, bestritt McLuhan, dass Narziss
im Mythos autoerotisch auf sich selbst fixiert gewesen sei. »Der Jüngling Narziß faßte sein
eigenes Spiegelbild im Wasser als eine andere Person auf. Diese Ausweitung seiner selbst
im Spiegel betäubte seine Sinne, bis er zum Servomechanismus seines eigenen erweiterten
und wiederholten Abbilds wurde. […] worauf es bei dieser Sage ankommt, das ist der
Umstand, daß Menschen sofort von jeder Ausweitung ihrer selbst in einem andern Stoff
als dem menschlichen fasziniert sind.« (McLuhan 1964: 57) »Jede Erfindung oder neue
Technik ist eine Ausweitung oder Selbstamputation unseres natürlichen Körpers […]
Als Erweiterung und Beschleunigung des Sinneslebens beeinflußt jedes Medium sofort
die gesamte Sinnesorganisation« (McLuhan 1964: 61). Für McLuhan ist es daher nichts
Anstößiges, wenn Menschen auf ihre Kommunikationsinstrumente fixiert sind, denn
er meint: »die dauernde Aufnahme unserer eigenen Technik in den Alltag versetzt uns
in die narzißtische Rolle unterschwelligen Bewußtseins oder der Betäubung in bezug
auf diese Abbilder von uns selbst. Indem wir fortlaufend neue Techniken übernehmen,
machen wir uns zu ihren Servomechanismen. Deswegen müssen wir, um sie überhaupt
verwenden zu können, diesen Objekten, diesen Ausweitungen unserer selbst, wie Göttern
kleinerer Religionen dienen.« (McLuhan 1964: 63)
128 Zur Dialektik des visuellen Nominalismus
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III
Kommunikationsdesign und Ethik
Moralphilosophie
im Kommunikationsdesign*1
Moralphilosophie im Kommunikationsdesign
Moralphilosophie im Kommunikationsdesign
* Ursprünglich ein Vortrag auf der Tagung Ethik und Moral in Kommunikation und
Gestaltung an der Fakultät Gestaltung der Hochschule für angewandte Wissenschaf-
ten in Würzburg am 25. Oktober 2012. Erstveröffentlichung in: Ethik und Moral in
Kommunikation und Gestaltung, hrsg. v. Christian Bauer, Gertrud Nolte u. Gerhard
Schweppenhäuser, Würzburg: Königshausen & Neumann, 2015, S. 39–55. Die vorliegende
Fassung wurde gekürzt und überarbeitet. Eine frühere, längere Fassung erschien unter
dem Titel »Wertgefühle, Wertunterscheidungen und moralische Wertbezeichnungen:
Moralphilosophie im Kommunikationsdesign« in: Zwischen den Kulturen. In Gedenken
an Heinz Paetzold, hrsg. v. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik u. Helmut Schneider, Kassel:
Kassel University Press 2012 (Kasseler Philosophische Schriften – Neue Folge, Bd. 5),
S. 154–173. – Teile des Textes wurden in das Buch Ethik im Kommunikationsdesign.
Verständigung, Verantwortung und Orientierung als Kriterien visueller Gestaltung
aufgenommen, das ich gemeinsam mit Christian Bauer verfasst habe (Würzburg: Kö-
nigshausen & Neumann, 2017).
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 133
G. Schweppenhäuser, Design, Philosophie und Medien, Würzburger Beiträge zur
Designforschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-22225-3_9
134 Moralphilosophie im Kommunikationsdesign
Ist ein »Moralist« dasselbe wie ein »Ethiker«? »Moral« nennt man die individuellen
Überzeugungen von Menschen und auch die Sitten in einer Gemeinschaft, »Ethik«
ist hingegen, um es mit Erlinger (2012) zu sagen, »Nachdenken über Moral«. Oder,
um es mit Niklas Luhmann (1989) zu sagen: Ethik ist die »Reflexionstheorie der
Moral«. Allerdings nicht, wie Luhmann meinte, im Sinne einer Theorie, die ihren
Gegenstand bloß wie ein Spiegel reflektiert, rein deskriptiv verfährt und keine nor-
mativ-kritische, begründete Stellung zu ihrem Gegenstand einnehmen kann. Ethik
fragt vielmehr reflexiv nach den Prinzipien und Geltungsansprüchen, die unseren
moralischen Überzeugungen zugrunde liegen. Ein Moralist will die bestehenden
Sitten durch Kritik, Praxis, Entwurf und Vorbild beeinflussen, während ein Ethiker
ein Moralphilosoph ist, der Begründungen von Moralprinzipien betrachtet, sie inter-
pretiert und ihre Qualität untersucht. Beides ist in unserem Zusammenhang wichtig.
Wie gesagt: Gestalter und Wissenschaftler aus dem Bereich der visuellen Kom-
munikation haben sich mit Beiträgen zum Thema »Design und Ethik« bislang
zurückgehalten. Aicher war eine der wenigen Ausnahmen. Eine weitere Ausnahme
ist das Buch Form:Ethik. Ein Brevier für Gestalter von Hajo Eickloff und Jan Teu-
nen. Die Autoren postulieren Werte, die für alle akzeptabel sind: für Entwerfer,
Hersteller, Konsumenten und Werber. Aber ihr Buch strotzt vor Unverbindlichkeit;
die postulierten Werte heißen Naturbewahrung, Nachhaltigkeit, gesellschaftlicher
Nutzen, Schönheit und Kreativität. Wer würde dem widersprechen? Die Autoren
schreiben: »Für Gestalter kann es wichtig sein, sich eine Sensibilität für den unsicht-
baren Bauplan des Universums zu bewahren, weil er dadurch eine Verantwortung
für seine Mitmenschen, seine Umwelt und gegenüber zukünftigen Generationen
gewinnt.« (Eickloff und Teunen 2006: 111) Wie Verantwortung als ethischer Wert
begründet wird, geht daraus aber nicht hervor. – Ich werde weiter unten ein phi-
losophisches Begründungsmodell der Verantwortung ansprechen.
Eine profunde Auseinandersetzung mit visueller Kommunikation anhand von
moralphilosophischen Kategorien müsste dort ansetzen, wo es weh tut – also bei den
normativen Konflikten, in die Gestalter geraten können. Stellen wir uns vor, es geht
um Gebrauchsanleitungen für eine Herz-Lungen-Maschine oder für Landminen. Oder
es geht darum, ob man Werbung für Fair-Trade-Produkte aus der Landwirtschaft
macht, oder für Kleidung, die von ausgebeuteten Kindern genäht wurde. Dann gibt
es wohl einen Konsens, was moralisch »in Ordnung« ist und was nicht. Aber zum
Beispiel bei der AIDS-Aufklärung hört der Konsens schon auf. Wenn die Religion ins
Spiel kommt, lässt sich die Ächtung von Kondomen moralisch begründen, nämlich
mit der Ehrfurcht vor Gottes Einrichtung der Natur. Man kann dann ja durchaus
der Meinung sein, dass Empfängnisverhütung mit der Verantwortung »für den
Moralphilosophie im Kommunikationsdesign 135
unsichtbaren Bauplan des Universums« nicht vereinbar ist. Wenn man eine Kam-
pagne für Kondomverwendung macht, muss man also begründen können, wieso es
moralisch falsch ist, keine Kondome zu verwenden. Wenn man sich dafür auf eine
Wertediskussion einlässt, könnte sie auf die Frage hinauslaufen: Was ist der höhere
Wert? ›Fortpflanzung mit hohem Risiko oder Schutz der Gesundheit?‹ Man könnte
auch zwischen zwei Geboten abwägen: entweder ›Du sollst die Fortpflanzung nicht
behindern‹ oder ›Du sollst dich und andere vor Schaden bewahren‹.
Will man die Diskussion aber nicht auf der Ebene von Wertpräferenzen füh-
ren, so kann man auf formalem Wege versuchen zu zeigen, dass das Verbot in
sich nicht stimmig ist. Etwa folgendermaßen: Wenn ›das Leben‹ als solches der
höchste Wert ist, gilt das ja auch für das Leben jedes einzelnen, der sich also vor
einer HIV-Infektion schützen sollte. Eine ähnliche Argumentation könnte man
auch vorbringen, wenn es um Aufklärung über Möglichkeiten und Risiken von
Schwangerschaftsabbrüchen geht. Denn auch hier kann man das Leben als allge-
meinen Wert verstehen, der den einzelnen Menschen vorgeordnet ist – oder man
kann die Auffassung vertreten, dass Leben immer nur als konkretes Leben von
einzelnen Menschen moralisch relevant ist.
Oft ist die Lage aber uneindeutig, oder aber es ist nicht mehr nur die Moralphilo-
sophie zuständig, weil man sich auf dem Reflexionsgebiet der politischen Philosophie
befindet. Unter einem anderen Aspekt betrachtet, kann man hier aber auch den
Übergang von der allgemeinen Ethik zur angewandten Ethik ansetzen (siehe dazu
Thurnherr 2000 und Nida-Rümelin 2005). Als »allgemeine Ethik« bezeichnet man
im Fachdiskurs der Philosophie die Reflexion und Begründung von Moralprinzipien;
deren Gegenpol ist gewissermaßen die moralische Kasuistik. Also die Betrachtung
und Diskussion konkreter Einzelfälle. Die »angewandte Ethik« ist zwischen der
Prinzipienbegründung und der Einzelfallanalyse angesiedelt: Es handelt sich hier
um die Bemühung, Übergänge zwischen dem allgemeinen Bereich und dem der
Einzelfälle zu entwickeln, also anwendbare Regeln zur Orientierung zu formulie-
ren, die näher am empirischen Geschehen dran sind als Allgemeinprinzipien, aber
gleichwohl noch einen gewissen Grad von Allgemeinheit besitzen.
Moralisches Handeln wird nicht nur rational, aus ethischen Werten oder Moral-
prinzipien, abgeleitet. Es entsteht immer auch impulsiv, angesichts von konkreten
Herausforderungen des moralischen Gefühls. Wenn wir aber nur gefühlsethisch
argumentieren und alles auf den moralischen Impuls setzen würden, hätten wir
keine Instanz für normative Kritik. Die ist aber nötig – besonders, wenn moralische
Impulse ausbleiben. Dann geht es nicht ohne Rationalität (Adorno 1966: 226 ff.).
Wenn es im Zusammenhang moralischer Konflikte und ihrer ethischen Reflexi-
on auf die Begründungen, also auf Argumente, ankommt, führt die Beschwörung
136 Moralphilosophie im Kommunikationsdesign
und 4. Werbung. Den Punkt Public Relations werde ich hier allerdings nicht be-
handeln, damit der Rahmen des Beitrags nicht gesprengt wird.
Zunächst zum ersten Sektor. Der Pionier auf dem Gebiet sozialer Aufklärung, Bildung
und Information durch visuelle Kommunikation war Otto Neurath, auf den sich heute
u. a. Ruedi Baur beruft. Neurath wollte Experten-Informationen aus Wissenschaft
und Politik allgemeinverständlich gestalten, damit arbeitende Menschen sie nutzen
können, um ihre Lebenslage zu verbessern. Die Verantwortung des Gestalters war
für Neurath an eine sozialethische Haltung gebunden. Die Lebensverhältnisse kön-
nen mithilfe von Forschung und Wissenschaft verbessert werden, wenn wir unsere
sozialen Beziehungen vernünftig gestalten, das heißt: planen. Das war bei Neurath
übrigens keine Volkspädagogik der »guten Form«. Deren Vertreter glaubten – ganz
im guten Geist von Ulm – sicher zu wissen, was die »gute Form« ist und wie sich
»gute Menschen« verhalten sollen. Kommunikationsdesign als Aufklärung ist aber
etwas anderes, nämlich Hilfe zum selbstständigen Wahrnehmen und Denken.
Kant lehrte, dass Vernunft nur praktisch werden kann, wenn sich Menschen aus
Freiheit selbst bestimmen; Freiheit ist nur denkbar, wenn die Grundlage unseres
Handelns widerspruchsfrei verallgemeinert werden kann. Diese Argumentation
ist formal, hat aber inhaltliche Folgen. Nach Kant (1788: A 54) sollte jeder, wenn
es moralisch darauf ankommt, so handeln, dass der Grundsatz der Handlung
»jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könnte«.
Dann würde er »die Menschheit« in sich und in allen anderen »niemals bloß als
Mittel«, sondern »jederzeit zugleich als Zweck« (Kant 1785: BA 66 f.; siehe Kant
1788: A 155) auffassen. Wenn die Menschheit nicht nur als Idee, sondern auch in
Wirklichkeit »Zweck an sich selbst« wäre, müssten die besonderen Interessen und
das allgemeine Interesse nicht mehr auseinanderfallen. Das ist aber bis heute nicht
der Fall. Der wirtschaftsliberalistische Interessenbegriff bleibt auf das Eigeninteresse
konkurrierender Wirtschaftssubjekte beschränkt. Das utilitaristische Nutzenkalkül
des Gemeinwohls ist längst vom wohlfahrtsstaatlichen Planungsgedanken abge-
koppelt. Das spricht, nebenbei gesagt, gegen die utilitaristische Begründung aus
den Manifesten von Garland und den Adbusters.
Aufklärung richtet sich an den erkennenden Verstand und die reflektierende
Vernunft. Sie kann sich aber auch an das Gefühl richten. Als Beispiel sei auf Jan
Bannings Fotoreportagen über Langzeitwirkungen von Kriegen hingewiesen: Sie
zeigen Menschen mit Geburtsfehlern, die entstanden sind, weil das Pflanzengift
138 Moralphilosophie im Kommunikationsdesign
in die Nahrungskette gelangt ist, mit dem die US-Army den vietnamesischen
Urwald verseuchte, um freie Sicht für ihre Bombardements zu bekommen. Oder
sie zeigen Frauen, die während des Zweiten Weltkriegs in Asien zur Prostitution
gezwungen wurden.1 Banning erinnert daran, wie Opfer imperialistischer Gewalt
heute leben. Dergestalt können Fotoreportagen moralische Impulse geben. Zu die-
ser Erinnerungsarbeit gehört, dass Banning Interviews mit den Menschen führt,
die er porträtiert, und das Wissen aus dieser intensiven Kommunikation in die
Präsentation seiner Arbeiten in Büchern oder Vorträgen einbringt.
Noch einmal zur Erinnerung: Wenn man nicht exklusiv auf die kantische
Urteilskraft oder auf Schopenhauers moralisches Gefühl setzen will, sondern –
wie Adorno – davon ausgeht, dass in moralischen Impulsen die rationale und
die emotionale Moralbegründung verbunden sind, dann leitet man moralisches
Handeln nicht aus ethischen Werten oder rationalen Moralprinzipien ab, sondern
man nimmt an, dass der moral sense mehr ist als die verpflichtende Vernunft; aber
man verlässt sich nicht auf den moral sense. Daher versucht die moralische Im-
pulstheorie, eine Verbindung zwischen vor-rationaler moralischer Intuition und
begrifflicher Reflexion zu verankern (Adorno 1966: 358 f.).
Nun eine kurze Zusammenfassung des Bisherigen: Der Bereich Information,
Bildung und Aufklärung kann »von innen her« ethisch programmiert und reflektiert
werden. Hier werden Vernunftgründe für selbstbestimmtes Handeln angeboten,
oft universalistische Moralprinzipien zugrunde gelegt und manchmal moralische
Impulse gegeben.
Soziale Kampagnen
Soziale Kampagnen sind häufig »angewandte Ethik« in visueller Form – wie z. B.
Mobilisierung für das soziale Miteinander oder gegen rituelle Genitalverstümmelun-
gen, Warnungen vor Raserei oder Hinweise für effektives Händewaschen in Zeiten
von Pandemiegefahr. Hier geht es um Verhaltensänderung im Sinne moralischer
Grundsätze. Der Standpunkt der Moral ist unparteiisch, aber nicht neutral. Dieser
Bereich ist also »von innen her« moralisch motiviert.
Die Motive lassen sich auf drei normative Begründungstypen zurückführen:
Hilfe zur Selbstbestimmung, Mitleid oder Gemeinwohl. Raserei, Suff und mangeln-
de Hygiene können volkswirtschaftliche Probleme im Sinne der utilitaristischen
1 http://www.janbanning.com/gallery/agent-orange-children-of-the-white-mist/
(13.8.2012); http://www.janbanning.com/gallery/comfort-women/ (13.8.2018).
Moralphilosophie im Kommunikationsdesign 139
Werbung
Werbung – oder, wie ich lieber sage: Reklame – hat die Aufgabe, Aufmerksamkeit zu
erregen, Konsumeinstellungen zu festigen oder umzulenken und Kaufhandlungen
zu motivieren. Reklame vermittelt Informationen und löst Empfindungen aus. Sie
beeinflusst das Fühlen, Denken und Handeln im Sinne kommerzieller Zwecke.
Sie spricht nicht nur Bedürfnisse an, sie weckt vor allem Begehrnisse. Bedürfnisse
dienen der Erhaltung des Lebens, Begehrnisse dienen »der Inszenierung, der
Ausstaffierung und Steigerung des Lebens« (Böhme 2001: 70). Im Gegensatz zu
Bedürfnissen können Begehrnisse nicht befriedigt werden; sie werden »durch ihre
Befriedigung nicht gestillt […], sondern vielmehr gesteigert.« (Ebd.: 71). Moralische
Fragen stellen sich im Kommunikationsdesign, wenn es um die Mittel, um die
Zwecke und um den Kontext geht. Wir müssen also erstens fragen, ob die Mittel
der Werbung ethisch legitim sind.
140 Moralphilosophie im Kommunikationsdesign
Wenn Werbung suggestiv und manipulierend arbeitet, ist sie nicht von innen
heraus an moralische Prinzipien gebunden – oft ist ein »unmoralisches Angebot«
auffälliger und vermeintlich wirkungsvoller als jedes andere. Edward Bernays (1929:
52 f.), der Begründer der Public Relations, hatte mit Bezug auf Freuds Theorie der
verdrängten Triebwünsche bemerkt: »Eine Ware wird nicht wegen ihres spezifi-
schen Werts oder wegen ihres Nutzens begehrt, sondern weil sie als Symbol für
etwas anderes steht; für eine Sehnsucht, die der Konsument sich aus Scham nicht
eingesteht. […] Menschen sind oft von Beweggründen getrieben, die sie vor sich
selbst verbergen.« Wer sich psychologische Tricks zunutze macht, behandelt die
Menschen seiner Zielgruppe nicht wie Subjekte, sondern eben wie (militärische)
Ziele. Er erkennt deren Anspruch auf Selbstbestimmung nicht an. Das verstößt ge-
gen das Instrumentalisierungsverbot, welches, Kant zufolge, aus unseren Begriffen
der Person und der Menschenwürde folgt. Menschen sollten durch Suggestion und
Manipulation auch nicht zu ›guten Zwecken‹ geführt werden, sondern nur durch
vernünftiges Informieren und Überzeugen. Andernfalls behandelte man sie nicht
»immer auch als Zweck an sich selbst«, sondern nur noch als Mittel.
Zweitens ist zu fragen, ob die Zwecke der Werbung ethisch legitim sind. Sinn
und Zweck von Werbung ist die Beeinflussung der Konsumenten im Interesse der
Auftraggeber. Diese Interessen sind nicht verallgemeinerbar, sondern – per defi-
nitionem – an partikulare Standpunkte gebunden. Das universalistische Postulat
der freien Selbstbestimmung jeder Person ist mit dem Zweck von Werbung daher
häufig nicht vereinbar. – Auf den Bereich »Kontext« werde ich noch eingehen.
Halten wir fest: Weil Werbung bzw. Reklame per se nicht auf Moralnormen
und -prinzipien verpflichtet ist, muss sie von außen ethisch »überwacht« werden.
Nun könnte man aber mit Nietzsche das Konzept des Gewissens als Zentrum
der rationalen Pflichtmoral problematisieren. Das heißt, man könnte den Maßstab
anzweifeln, der bei dieser Kritik der Werbung zugrunde gelegt wird. Moral, lautet
Nietzsches Argument, ist nicht an sich gut, sondern immer nur gut für etwas. Sie
ist kein Zweck an sich selbst, sondern Mittel für etwas, das außerhalb von ihr liegt.
Denn Moral sei notwendig, damit Menschen überleben können, also etwas Natur-
haftes, das nur im Hinblick auf das Leben zu erklären ist. »Leben« ist für Nietzsche
zweierlei: biologischer Naturzusammenhang und geschichtliche Entfaltung von
Kultur und Zivilisation. Das Leben sei »jenseits von gut und böse«, es gebe keine
»moralischen Phänomene« im Leben, »sondern nur eine moralische Ausdeutung von
Phänomenen« (Nietzsche 1886: 92). Moral ist für Nietzsche eine Erscheinungsform
des Willens zum Leben, und damit meint er: des Willens zur Macht.
Angenommen, man würde so weit gehen, Werbung in diesem Sinne als allge-
meines Lebensphänomen zu verstehen. Dann könnte man argumentieren, dass
die suggestive Instrumentalisierung anderer Menschen nicht unberechtigt ist.
Moralphilosophie im Kommunikationsdesign 141
Das Bedürfnis nach Erhaltung und Steigerung des eigenen Daseins, der »Wille zur
Macht«, wäre dann das Zentrum aller Lebensregungen – vom Körpergeschehen
bis zu den feinsten kulturellen Gestaltungen. Und eine seiner machtvollen sozio-
kulturellen Manifestationen wäre die suggestive (Ver-)Formung unseres Begehrens
durch die modernen Mittel der Werbung. Wer so argumentieren würde, wäre
ein moralphilosophischer Nihilist und erläge einer Täuschung, denn er deutete
Erscheinungen, die auf die entwickelte Marktwirtschaft zurückzuführen sind, wie
Naturphänomene. (Das tun heute allerdings viele, vor allem im Dunstkreis der
populären Hirnforschung, aber dadurch wird es nicht richtiger.)
Wenn man diesen Denkfehler vermeiden will, dann kann man sagen: Werbung
als Information, die den Produkt- und Preisvergleich ermöglicht, ist ethisch kor-
rekt, Werbung als manipulative Rhetorik nicht. Die Frage ist nur: Wo verläuft die
Grenze? Das wäre jeweils an Fallbeispielen zu untersuchen.
Werbung will heute allerdings immer seltener zum Kauf überreden. Sie versucht
auch »nur noch selten, […] Kunden […] die Vorteile eines Produkts zu erklären«,
wie Thomas Steinfeld (2009) zutreffend festgestellt hat. Stattdessen »illustriert« sie
»die Ware, verzichtet auf Text und Argument, schafft für jedes Ding eine eigene
Wirklichkeit, in die der Kunde eintreten muss wie in einen Traum.« (Ebd.) So wird
sie zum Schrittmacher der Ästhetisierung des Alltagslebens und der Inszenierung
von allerlei verschiedenen Lebensformen. Wenn die Diagnose zutrifft, dass Werbung
heute Inszenierung ist, die das Leben ausstaffiert und steigert, dann könnte man
fragen, ob es eine ästhetische Rechtfertigung für Formen der Werbung gibt, die
ethisch nicht legitimierbar sind. Nietzsche (1872: 47) sagte: »nur als aesthetisches
Phänomen ist das Dasein und die Welt ewig gerechtfertigt«. Könnten wir dann,
frei nach Nietzsche, sagen: »Als ästhetisches Phänomen ist Werbung moralisch
gerechtfertigt«? Für Nietzsche kann es keine moralische Rechtfertigung des Da-
seins geben, weil Moral nichts anderes ist als die Delegitimierung des Daseins, die
ins Werk gesetzt wird, indem man schlechtes Gewissen und Schuldgefühl ins-
talliert. Wenn es überhaupt einen Wert des Daseins gibt, dann kann er nicht mit
moralischen Kategorien beschrieben werden; eine Rechtfertigung des Daseins ist
nur in der Ästhetik zu finden. Der Wert des Daseins bestand für Nietzsche in der
ästhetischen Erfahrung, d. h. in der Wahrnehmung des Daseins als Ereignis. Die
Ästhetisierung der Lebenswelt, die populäre Kultur des 20. Jahrhunderts im Zeichen
des Konsumismus der Massenproduktion, ist also ohne Nietzsches vitalistische
Theorie ästhetischer Erfahrung gar nicht zu begreifen.
Man kann nun folgende Grenzwerte benennen: Auf der einen Seite stimuliert
Werbung kreative Kräfte im visuellen und narrativen Bereich. Auf der anderen
Seite korrumpiert sie unsere Urteilskraft – auch in moralischer Hinsicht.
142 Moralphilosophie im Kommunikationsdesign
Darüber hinaus gibt es ein Phänomen, das Roland Posner (1998) treffend als
»semiotische Umweltverschmutzung« bezeichnet hat: Wahrnehmung und Kom-
munikationsfähigkeit werden nicht nur durch Gestank und Lärm eingeschränkt,
sondern auch durch das »Rauschen«, mit dem die Werbebotschaften alle Kanäle
erfüllen. Wer in der Werbung arbeitet, kann auf die »Ökologie der Zeichen« (Pos-
ner) achten und versuchen, nachhaltig mit symbolischen Ressourcen umzugehen.
In den 1990er-Jahren, als »Nachhaltigkeit« noch kein Schlagwort war, bezogen sich
Produktdesigner gern auf die Verantwortungsethik von Hans Jonas. Design sollte
ökologisch, generationen- und sozialverträglich sein. Wie hatte Jonas sein »Prinzip
Verantwortung« begründet? Er hatte »eine neue Art von Demut« (Jonas 1984: 55)
gefordert, und zwar »wegen der exzessiven Größe unserer Macht«. Zwiespältige
Errungenschaften wie Atomkraft oder Gentechnologie hätten irreversible Folgen.
Daher sollten wir in unserem nachreligiösen Zeitalter von Wissenschaft und Technik
»die Kategorie des Heiligen« (ebd.: 57) wiederherstellen. Wir sollten von Neuem
»Ehrfurcht und Schaudern« (ebd.: 392) lernen. So könnten wir uns »vor den Irrwegen
unserer Macht schützen« und »das Gedeihen des Menschen in unverkümmerter
Menschlichkeit« (ebd.: 393) fördern. Jonas hat eine komplexe Begründung seines
Moralprinzips geliefert. Eickloff und Teunen hingegen verkünden in ihrem Brevier
für Gestalter nur noch eine banal-pantheistische Weltanschauung aus zweiter Hand.
Aber dennoch ist das »Prinzip Verantwortung« von Jonas bis heute strittig. »Das
Heilige« ist in sich höchst zwiespältig. »Ehrfurcht und Schaudern« kann es nur
auslösen, wenn es nicht begriffen wird. Das Heilige ist mit Gewalt verbunden und
mit Angstgefühlen besetzt – jedenfalls dann, wenn es authentisch so empfunden
und nicht bloß künstlich heraufbeschworen wird. Das ist keine gute Basis für freies,
vernunftbestimmtes Handeln.
Plausibler als eine Reanimation des »Heiligen« scheint ein neuer Ansatz zu sein,
der »Transformationsdesign« genannt wird. Das ist ein Vorschlag, wie man heute im
Produktdesign das Ruder herumreißen könnte. Von allem weniger, Beschränkung
in der Produktion und im Konsum, das ›Verhältnis von Rohstoff und Erzeugnis‹
(Welzer 2012 a: 11) neu denken – das sind die Maximen des »Transformationsde-
signs«. Man könnte es auf die Formel bringen: Flohmarkt statt Supermarkt. Dieser
Ansatz wird von dem Sozialpsychologen Harald Welzer vertreten, der das innovative
Fach an der Universität Flensburg lehrt. Er möchte »konkrete Wege für veränderte
Mobilitätsformen, Wirtschaftsformen, Ernährung, Konsum und so weiter […] un-
Moralphilosophie im Kommunikationsdesign 143
tersuchen« (Welzer 2012 b). Produktdesign soll nicht mehr die »Formensprache der
Konsumwirtschaft« (Welzer 2012 a: 10) sein. Die Aufgabe des Produktdesigns sieht
Welzer (2012 a: 11) darin, nicht mehr »unablässig zusätzliche Dinge in die Welt zu
bringen, die man nicht braucht, sondern die, die man nicht braucht, aus der Welt
zu schaffen«. Und damit ist man eigentlich schon vom Produktdesign zum Kom-
munikationsdesign übergegangen. Denn Welzer schlägt vor, dass Designer »nicht
eine coole Flasche für ein Mineralwasser aus Fidschi […] entwerfen, sondern den
Hinweis auf den nächsten Wasserhahn« (ebd.). – »Transformationsdesign« nimmt
den Nachhaltigkeitsdiskurs auf, möchte aber seine Form, seinen Gestus ändern.
Dazu hat Welzer eine Stiftung namens »Futurzwei« gegründet. »Die Aufgabe der
Stiftung ist es«, sagt er, »eine andere Form der Kommunikation über Nachhaltig-
keitsthemen zu etablieren. Also wir machen keine Kommunikation mehr, in der wir
sagen: ›Es darf jetzt nicht mehr als so und so viel CO2 in die Luft geblasen werden‹,
›Es ist fünf vor zwölf – die Katastrophe steht vor der Tür‹. Die Stiftung kümmert
sich vielmehr um die Kommunikation von bereits funktionierenden nachhaltigen
Formen des Wirtschaftens und Lebens. Sie stellt Menschen vor, die heute schon die
Dinge fundamental anders machen« (Welzer 2012 b).
Kommen wir nun noch einmal zurück auf die ethischen Grenzwerte der Werbung.
Wer in der Werbung arbeitet, kann versuchen, sich so weit es geht an Moralprinzipien
zu halten bzw. nirgendwo mitzumachen, wo dagegen verstoßen wird. Natürlich
gibt es keine ethischen Probleme, wenn Verlage auf ihre Buchproduktion aufmerk-
sam machen und dabei Autorenfotos und Zitate aus Kaufempfehlungen aus dem
Feuilleton verwenden. Auch andere Formen der Buchwerbung verstoßen kaum
gegen das Instrumentalisierungsverbot von Personen (selbst wenn sie in absurde
Geheimniskrämerei ausartet, wie es seinerzeit der Fall war, als das Erscheinen des
ersten ›Post-Potter‹-Buchs der Harry-Potter-Autorin im Vorfeld vermarktet wur-
de). Es gibt auch keine Ethikprobleme, wenn Baumärkte ihre Geräteschuppen in
digital bearbeiteten Bildern mit blauem Himmel und grünen Rasen präsentieren.
Werbung und Ethik können auch zusammengehen, zum Beispiel bei Produkten,
deren ethische Bilanz besser ist als andere: Fair-Trade-Produkte, ›ökologisch
korrekte‹ Produkte etc. Niemand würde bestreiten, dass es moralisch besser ist,
für Produkte zu werben, bei denen keine Kinder ausgebeutet werden, Arbeiter
halbwegs angemessen bezahlt und natürliche Ressourcen nicht geschädigt werden.
144 Moralphilosophie im Kommunikationsdesign
Die Grenze dürfte dort liegen, wo derartiges Werben das Gewissen beruhigen soll
oder Teil eines kollektiven Buß-Rituals wird.
Nun gibt es nicht nur Pflichten gegen andere, sondern auch Pflichten gegen uns
selbst. Und daraus entstehen immer wieder Pflichtenkollisionen. Angenommen, ein
Kommunikationsdesigner lehnt es ab, für eine Bank zu werben, die möchte, dass
die Kunden Geld in Aktienfonds anlegen, deren Kursgewinne bei der Wette auf
steigende Preise für Agrarprodukte ursächlich mit Hunger und Elend zusammen-
hängen. Das Beispiel ist nicht erdacht, sondern dokumentiert. »Eine umstrittene
Werbeaktion der Deutschen Bank für einen Fonds ruft Globalisierungsgegner auf
den Plan«, berichtete vor zehn Jahren die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ
2008). In der Tat – das Geldhaus hatte mit den Sätzen geworben: »Freuen Sie sich
über steigende Preise? Alle Welt spricht über Rohstoffe – mit dem Agriculture Euro
Fond haben Sie die Möglichkeit, an der Wertentwicklung von sieben der wichtigsten
Agrarrohstoffe zu partizipieren. Investition in etwas Greifbares.«
Abb. 1
Bildquelle: http://myhead.soup.io/post/2801478/Deutsche-Bank-wirbt-mit-der-Hungerkri-
seFreuen-Sie [letzter Abruf: 24.3.2018]
ATTAC (2008) wurde ein paar Wochen später deutlicher: »Während die Hungerkrise
verzweifelte Menschen in Haiti, Bangladesh, Westafrika und anderswo auf die Straße
treibt und auch in Deutschland viele Eltern ihre Kinder nicht mehr ausreichend
Moralphilosophie im Kommunikationsdesign 145
ernähren können, wirbt die Deutsche Bank für die Spekulation mit Getreide – auf
Brötchentüten bei Frankfurter Bäckern. […] Attac, die kritischen Aktionäre und
Urgewald protestieren anlässlich der Hauptversammlung der Deutschen Bank
vor der Festhalle der Messe Frankfurt gegen die skrupellose Geschäftspolitik des
Unternehmens. Wir fordern […] sofort die Werbung und die Ausweitung der
Spekulation mit Lebensmitteln zu stoppen.«
Auch ein parodistisches Umfunktionieren mit den Mitteln des Kommunika
tionsdesigns wäre eine Option, die sich in die Tradition politischer Aufklärung
von Heartfield und Brecht stellen würde.2
Abb. 2
Bildquelle: http://blog.pantoffelpunk.de/wp-content/uploads/2008/05/hunger4.jpg [letzter
Abruf: 12.7.2015]
2 Bertolt Brecht hat das Verfahren des Umfunktionierens visueller Botschaften durch
Neuvertextung und Veränderung des Dekodierungszusammenhangs in seinem Buch
Kriegsfibel von 1955 paradigmatisch mit propagandistisch-kulturindustriellem Bildmate-
rial demonstriert. »Brechts Kriegsfibel, da sie auf das Erlernen eines ›Neuen Sehens‹ von
Fotos hin angelegt ist, belässt […] das Objekt dieser Befragung, die Fotos, weitgehend
unverändert, muss es aber von seinem ursprünglichen (Publikations-)Zusammenhang
[…] trennen und neu kontextualisieren.« (Seibert 2009: 67)
146 Moralphilosophie im Kommunikationsdesign
Wenn er dann seinen Job verliert oder seine Agentur schließen muss, hat er zwar
der Pflicht gemäß gehandelt, niemandem zu helfen, der die Not von anderen aus-
beutet. Aber er kann nicht mehr für sich und seine Familie sorgen. Welche Pflicht
hat den Vorrang? Wägen wir ab: Der Gestalter konnte ja vorher wissen, dass seine
Entscheidung für die Werbebranche seine moralische Integrität eines Tages auf die
Probe stellen würde. Es scheint zumutbar, wenn man erwartet, dass er seine Familie
nun durch andere Arbeit ernährt. Aber wer rigoros moralische Sauberkeit fordert,
überfordert den Einzelnen. Und er übersieht, wie wichtig es ist, dass Menschen mit
intaktem Gewissen nicht von vornherein einen Bogen um die werbetreibende Wirt-
schaft machen. Man sollte zumindest versuchen, auch da moralisch verantwortlich
zu handeln, wo es im Allgemeinen unverantwortlich zugeht. Es ist ja schließlich
nicht ausgeschlossen, dass ethisch nachdenkliche Gestalter ihre Kunden mit guten
Gründen davon überzeugen, dass es besser ist, moralisch zu handeln.
Wie kann man der »Ethik-Ferne« der Werbung abhelfen? Gebote und Verbote
»von außen« gibt es ja. Aber verbindliche Werte und Normen müssen »von innen«
entwickelt werden, also durch Selbstreflexion der Werbedesigner. Wir haben ge-
sehen, dass es dazu Ansätze gibt wie z. B. die First-Things-First-Manifeste. »Von
innen«: das heißt durch Reflexion auf die kommunikativen Zwecke. Die Grenze
solcher Reflexion besteht darin, dass Werbung strategische Kommunikation ist und
keine verständigungsorientierte Kommunikation. Strategisches Handeln orientiert
sich am Erfolg, kommunikatives Handeln an Verständigung und am Konsens. Ich
schlage daher vor, die ethische Reflexion des Kommunikationsdesigns am Begriff
der Kommunikation festzumachen.
Ich plädiere dafür, dass wir nicht die ›Werte‹ als Bezugsrahmen nehmen, weil die
sich permanent wandeln, sondern deren Form, die konstant bleibt. Statt ›gut oder
schlecht‹ sollten wir als Unterscheidungscode ›richtig oder falsch‹ bzw. ›gerecht
oder ungerecht‹ ansetzen. Der Bezugsrahmen muss aus normativen Moralprin-
zipien bestehen.
Die Ethik der Kommunikation, die Karl-Otto Apel und Jürgen Habermas als
»Diskursethik« formuliert haben, zeigt, welche Verständigungsmöglichkeiten in
der verbalen Kommunikation stecken. Sie zeigt außerdem die Differenz zwischen
dem Faktischen und dem Möglichen. Diskursethik beruht auf dem Gedanken,
dass in die Struktur des Sprechens immer schon eine normative Zielvorstellung
eingebaut ist. Es ist die Idee konsensueller Verständigung. Diskursethik geht davon
Moralphilosophie im Kommunikationsdesign 147
aus, dass »in der realen Kommunikationsgemeinschaft zugleich deren ideale Gestalt
angebahnt« (Paetzold 1990: 12) wird. Der Grundsatz lautet: Geltung dürfen nur
solche Normen beanspruchen, denen alle Beteiligten vernünftigerweise zustimmen
könnten. Sämtliche Folgen und Nebenfolgen müssen von allen Betroffenen ohne
Zwang akzeptiert werden können. Deswegen muss auch jeder, der irgendwie beteiligt
ist, das Recht und die Möglichkeit haben, am Diskurs teilzunehmen.
Man kann diesen Gedanken auf das Kommunikationsdesign übertragen. Nicht
nur in sprachlicher Kommunikation, sondern auch in visueller Kommunikation
steckt das Ziel gleichberechtigter Verständigung und freier Konsensfindung aller
Beteiligten. Wer Zeichen in den öffentlichen Raum setzt, muss die Adressaten wie
vernünftige Menschen behandeln, ihre Menschenwürde achten und bereit sein,
über die Grundlagen des gemeinsamen Handelns nachzudenken.
In visuellen Diskursvorgaben müssen die gerechtfertigten Bedürfnisse aller
Teilnehmer angemessen berücksichtigt werden. Auch im Werbegeschäft können
nur die Normen Geltung beanspruchen, denen alle Beteiligten, also auch die Kon-
sumierenden, vernünftigerweise zustimmen könnten. Jeder muss die Möglichkeit
haben, am Diskurs über die normativen Grundlagen des Kommunikationsdesigns
teilzunehmen.
Damit eine Gestaltungsnorm gelten darf, so kann man Habermas’ (1991: 12)
diskursethisch begründetes Kriterium abwandeln, »müssen Ergebnisse und Neben-
folgen, die sich voraussichtlich aus [ihrer] allgemeinen Befolgung für die Befriedigung
der Interessen eines jeden ergeben, von allen zwanglos akzeptiert werden können«.
Um Verständigung zu gewährleisten, soll nie nur strategisch gehandelt werden.
Andere Subjekte sind immer auch als gleichberechtigte Kommunikationspartner
zu achten. Der kategorische Imperativ lautet dann: Gestalte so, dass deine Gestal-
tungsmaximen in einem Diskurs bestehen könnten, zu dem alle zugelassen sind,
die möglicherweise davon betroffen wären.
Verbale und visuelle Kommunikation im Alltag haben das Potenzial gleich-
berechtigter Verständigung. Aber ihre Rahmenbedingungen werden aufgrund
der »Kolonialisierung der Lebenswelt durch die Imperative eines ungesteuerten
ökonomischen Wachstums« verzerrt, um es mit den Worten von Habermas zu
sagen. Habermas ist kein Idealist; er glaubt keineswegs, dass die Diskursethik alle
sozialen Hindernisse durch die Kraft der Vernunft aus dem Weg räumen kann. Stra-
tegische Ziele blockieren kommunikative Ziele, partikulare Interessen dominieren
und blockieren das vernünftige Allgemeininteresse. Soziale Machtstrukturen und
Profitorientierung behindern die Sprache und die intersubjektiven Beziehungen;
sie hemmen Erziehung, demokratische Öffentlichkeit und visuelle Kultur in ihrer
Entfaltung. So wird verhindert, dass die Idee herrschaftsentlasteter Symbolisierun-
148 Moralphilosophie im Kommunikationsdesign
gen verwirklicht wird. Dagegen ist Widerstand zu leisten – auch mit den Mitteln
des Kommunikationsdesigns.
Die kommunikativen Zwecke, die mit visuellen Medien realisiert werden, müssen
sich durch die Prinzipien ›Selbstbestimmung in Freiheit‹ und ›gleichberechtigte
Verständigung‹ rechtfertigen lassen. Andere dürfen nicht zum Zuge kommen.
Gestalterinnen und Gestalter, die ethisch reflektieren, werden entdecken, dass sie
verpflichtet sind, kognitive und emotionale Fähigkeiten zu fördern, die wir brau-
chen, um verständigungsorientiert und solidarisch zu handeln und in reflexiven
Diskursen gemeinsam darüber nachzudenken.
Über die Fragen, ob es einen Ethik-Kodex des Kommunikationsdesigns geben
kann, wie er aussehen sollte und ob die Kommunikationsethik sein bester Rahmen
wäre, herrscht alles andere als Konsens. Ohne konsensuelle Verständigung wird
Konsens aber nicht als regulative Idee der täglichen Praxis anerkannt werden. Zur
Durchsetzung können keine Ethik-Kommission des Bundestags und keine Zen-
surbehörde verhelfen, das kann nur die kritische Selbstreflexion der Akteure im
Kommunikationsdesign. Wie das im Einzelnen umgesetzt werden soll, kann ich
nicht sagen; es kam mir zunächst einmal darauf an, eine Begründung vorzuschlagen.
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Die visuelle Sprache der Moral
Überlegungen zu einer Ethik des
Kommunikationsdesigns*1
Die visuelle Sprache der Moral
Gibt es ein »ethos« der Kommunikationsdesigner? Das Wort »Ethos« steht in der
griechischen Philosophie für Herkommen und Gewohnheit, für Sitte und Brauch
in Gemeinschaften, aber auch für den Charakter, also für Überleg ung, Einsicht und
Urteilsfähigkeit. Früher sagte man: für den Charakter eines tugendhaften Menschen.
Heute wird man das Wort »Tugend« eher vermeiden und, in der Terminologie
moderner Psychologie, von einer Verhaltensdisposition sprechen, also von einer
stabilen Charaktereigenschaft. Der Sachgehalt des Begriffs ist deshalb jedoch nicht
überholt. Heraklit lehrte: »ἦθος ἀνθρώπῳ δαίμων« (Kranz 1959: 80). Sein Begriff
ēthos wird klassischerweise mit »Wesen«, »Eigenart« oder »Individualität« übersetzt:
»Das Wesen eines Menschen ist sein Schicksal«, oder »Die Eigenart eines Menschen
ist sein Schicksal«. – Textnah (und mythisch-schlicht konnotiert) heißt es bei Kranz
(1959: 81): »Seine Eigenart dem Menschen der Dämon«. Capelle (1968: 156) übersetzt
korrekt, doch etwas ungelenk: »Dem Menschen ist sein Wesen sein Schicksal.«
Die Rede vom Schicksal scheint für heutige Überlegungen zur Ethik wenig geeignet;
aber Heraklits Intention ist nachvollziehbar, denn ob wir auch nur in die Nähe dessen
gelangen, was man ein »gelingendes Leben« nennt, hängt nicht nur davon ab, was man
früher »Glücksgüter« nannte – also Einkommen, Erfolg, Gesundheit und dergleichen
* Der Text ist aus einem Vortrag auf der Tagung Philosophical Perspectives On Design an
der Fachhochschule für Kunst, Design und Musik in Freiburg am 16. Januar 2015 her-
vorgegangen. Er entstand im Kontext des Forschungsprojekts »Kommunikationsdesign
und Ethik – Ethik des Kommunikationsdesigns«, das von der Fritz-Thyssen-Stiftung
gefördert wurde. Erstveröffentlichung in: Design & Philosophie. Schnittstellen und Wahl-
verwandtschaften, hrsg. v. Julia-Constance Dissel, Bielefeld: transcript, 2016, S. 31–58.
Die vorliegende Fassung wurde geringfügig überarbeitet.
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 151
G. Schweppenhäuser, Design, Philosophie und Medien, Würzburger Beiträge zur
Designforschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-22225-3_10
152 Die visuelle Sprache der Moral
1 »Durch den Charakter geschieht dies, wenn die Rede so dargeboten wird, daß sie den
Redner glaubwürdig erscheinen läßt. Den Anständigen glauben wir nämlich eher und
schneller, grundsätzlich in allem, ganz besonders aber, wo es eine Gewißheit nicht
gibt, sondern Zweifel bestehen bleiben. Doch auch das muß sich aus der Rede ergeben
und nicht aus einer vorgefaßten Meinung über die Person des Redners. Nicht trifft zu,
wie manche der Fachtheoretiker behaupten, daß in der Redekunst auch die Integrität
des Redners zur Überzeugungsfähigkeit nichts beitrage, sondern fast die bedeutendste
Überzeugungskraft hat sozusagen der Charakter. Mittels der Zuhörer überzeugt man,
wenn die durch die Rede zu Emotionen gelockt werden. Denn ganz unterschiedlich
treffen wir Entscheidungen, je nachdem, ob wir traurig oder fröhlich sind, ob wir
lieben oder hassen. […] Durch die Rede endlich überzeugt man, wenn man Wahres
oder Wahrscheinliches aus jeweils glaubwürdigen Argumenten darstellt.« (Aristoteles:
Rhetorik, Übers. Krapinger 1999: 12 [Hervorhebung: G.S.].)
Die visuelle Sprache der Moral 153
Sie hilft dabei, den ethischen Aspekt visueller Kommunikation zu klären.2 Beim
logos-Appell konzentriert sich die visuelle Sprache auf den Gegenstand. Die Be-
trachter sollen durch rationale Argumente überzeugt werden: Im »logos-Kontext«
geht es insbesondere um typografische und andere grafische Mittel, mit denen man
Informationen gliedert und hierarchisiert, damit sie verständlich und nachvollziehbar
werden (Ehses 2008: 112 f.). Der logos-Appell wird häufig mit Zeichen artikuliert, die
auf kognitiven Wegen wirken und sachlich konnotieren – also Diagramme, Listen
und Bilder mit hohem Informationsgehalt. Dieser Appell übernimmt normalerweise
in »[a]kademischen Schriften, Gebrauchsanweisungen und [L]eitsystemen« (ebd.:
113) die Führungsrolle. Zur rational-kognitiven Ansprache kommt die Arbeit »mit
den Gefühlen des Publikums« (ebd.): Der pathos-Appell wirkt über Farben und
Formen sowie über Bilder, die affektive Reaktionen hervorrufen. Emotionen werden
mithilfe von visuellen Symbolen »in materieller, technologischer oder künstleri
scher Form« (ebd.) und durch visuell inszenierte ›rhetorische Figuren‹ stimuliert.
Reklame für Verbrauchsgüter und Versicherungen verwenden mit Vorliebe die
Mittel des »pathosbestimmten Designs« (ebd.). Und beim ethos-Appell hört man
sozusagen »die Stimme des Designers« (ebd.: 114). Hier, schreibt Ehses, setzt man
»auf Glaubwürdigkeit, Mitgefühl und Verlässlichkeit, um ein Publikum zu über
zeugen.« (Ebd.: 113) Hier zählen das gehaltvolle, klare Konzept und die markante
Ästhetik. Und zwar, um die Persönlichkeit des Designers zu artikulieren: Man setzt
»kraftvolle Zeichen« ein, »die auf Integrität […], Vorlieben und Empfindlichkeiten
[…] hinweisen.« »Poster und Medienkampagnen« zu sozialen, politischen oder
gesundheitlichen Themen »sind oft ethosbestimmt« (ebd.).
Ein Aspekt wäre freilich hinzuzufügen: Der Horizont des ethos-Appells ist
insofern etwas weiter zu fassen, als hier nicht ausschließlich nur die Haltung des
Designers ihren Ausdruck finden und Wirkung entfalten kann, sondern ebenso
auch die des Auftraggebers.3 Man kann dann auch »die Stimme des Absenders«
hören. Die muss freilich nicht immer vernehmlich hervortreten, und wenn sie es
tut, muss die Stimme des Designers nicht notwendigerweise in derselben Tonlage
erklingen. Die wirkungsvollsten Mitteilungen dürften in der Regel diejenigen sein,
in der beide Stimmen harmonieren. Mitunter mögen aber auch diejenigen besonders
2 Ein verwandter Bereich ist das Arbeitsfeld der »Visual Literacy«; dort widmet man sich
seit den 1970er Jahren der Untersuchung »visueller Bildung« aufseiten der Rezipienten,
d. h. der Ausbildung kritisch-analytischer, aber auch gestalterischer Bildkompetenz.
Dies ist auch eine Reaktion auf die Macht und Allgegenwart suggestiver Botschaften
in der visuellen Kommunikation (für den Hinweis danke ich Anke Haarmann). Siehe
auch die Debatten zum sogenannten »pictorial turn« (etwa bei Holert 2005).
3 Für den Hinweis darauf danke ich Volker Friedrich, dessen in diesem Punkt abweichende
Ethos-Lesart mir einleuchtet.
154 Die visuelle Sprache der Moral
Abb. 1 Medizinisch
Bildquelle: http://de.wikipedia.org/wiki/Weibliche_Genitalverst%C3%BCmmelung [letzter
Abruf: 24.3.2018]
156 Die visuelle Sprache der Moral
Zunächst eine Darstellung, die aussieht wie aus dem medizinischen Lehrbuch. Sie
demonstriert Varianten der Genitalverstümmelung. Die anatomische Präsentation
kann als Anleitung zur Durchführung der Eingriffe dienen, sie kann aber auch als
Dokumentation der physischen Beschädigung gelesen werden.
Abb. 2 Statistisch
Bildquelle: http://salfordwomensaid.org/female-genital-mutilation/ [letzter Abruf: 24.3.2018]
freilich bekannt ist, dass die Prozedur in der Regel nicht von Männern, sondern
von kundigen Frauen ausgeführt wird.
Abb. 3 Gesellschaftlich
Bildquelle: https://www.gov.uk/government/news/new-campaign-calls-on-mothers-and-ca-
rers-to-end-female-genital-mutilation [letzter Abruf: 14.8.2018]
Hinweis: Es könnte das Kind der Mutter sein, die endlich Schluss macht mit der
schrecklichen Tradition. Oder steht ihm die Traumatisierung noch bevor? Eindeutig
ist die Aufforderung, die an die Betrachterinnen ergeht. Im Kleingedruckten wird
das Brauchtum ohne Wenn und Aber, wenn auch in sachlichem Ton, als Kindesmiss
handlung bezeichnet. Der Hinweis, dass es gegen königlich britische Gesetze verstößt,
verstärkt den verbalen logos-Appell. Der feine Riss, der durch die Worte »Genital
Mutilation« verläuft, indiziert auf sehr zurückhaltende Weise das gestalterische
ethos: eine seriöse Ästhetik, die »Glaubwürdigkeit« und »Mitgefühl« signalisiert.
Abb. 4 Künstlerisch
Bildquelle: http://gomezramos.blogspot.com/2012/02/stop-la-ablacion.html [letzter Abruf:
14.8.2018]
Die visuelle Sprache der Moral 159
Abb. 5 Künstlerisch
Bildquelle: http://rvpnreligiones.blogspot.com/2016/01/dia-internacional-de-tolerancia-cero.
html [letzter Abruf: 14.8.2018]
Abb. 6 Künstlerisch
Bildquelle: http://singenerodedudas.com/blog/mutilacion-genital-femenina-la-mas-cruen-
ta-violacion-de-derechos-humanos/ [letzter Abruf: 14.8.2018]
Abb. 7 Künstlerisch
Bildquelle: http://singenerodedudas.com/blog/mutilacion-genital-femenina-la-mas-cruen-
ta-violacion-de-derechos-humanos/ [letzter Abruf: 14.8.2018]
Die visuelle Sprache der Moral 161
Auch in den nächsten beiden Beispielen wird das ikonische Zeichen »Rasierklinge«
als pars pro toto eingesetzt, allerdings ist der ethos-Appell jetzt stärker zu vernehmen:
Der Hinweis auf einen Dokumentarfilm kombiniert es mit Fotografie, Typografie und
Text; das Plakat der »Stop«-Kampagne verbindet es mit dem grafisch verfremdeten
biologischen Zeichen für Weiblichkeit, das bekanntlich von der Frauenbewegung als
kämpferisches Symbol umkodiert worden ist. Im Film-Hinweis spielen realistisch
reproduzierte Kinderaugen noch eine gewisse Rolle; beim Stop-Plakat dominiert
das ästhetisch weitgehend autonome Spiel von Formen und Farben. Dabei wird das
symbolische Zeichen für den Feminismus als – freilich stark stilisiertes – ikonisches
Zeichen eines Frauenkörpers lesbar, der verletzt wird.
Abb. 8 Sprecherisch
Bildquelle: https://www.rochdaleonline.co.uk/news-features/2/news-headlines/107954/
zero-tolerance-for-fgm [letzter Abruf: 14.8.2018]
Im diesem Beispiel kommt ein Text in der ersten Person Singular dazu: Das »Ich«
kann Benutzer, aber auch Gestalter des Posters sein.
162 Die visuelle Sprache der Moral
Abb. 9 Reißerisch
Bildquelle: http://www.frankfurt.de/sixcms/detail.php?id=2884&_ffmpar%5B_id_in-
halt%5D=7725514 [letzter Abruf: 24.3.2018]
In diesem Beispiel steht der ethos-Appell, die Stimme der Gestalter, im Vorder-
grund. Der Text ist markant formuliert: Hier werden keine Nachrichten vorgelesen,
sondern ein Missstand angeprangert. »300 Mädchen jede Stunde« – anschaulicher
geht es kaum. Keine Umschreibung, keine Bemühung um Rücksicht auf schwache
Gemüter oder politisch korrekte Kritiker; es heißt forciert konkret: Den Mädchen
»werden mit einer Glasscherbe die Genitalien abgeschnitten«. Der Gedanke daran
sei »unerträglich«. Und mit der zupackenden Kürze werblicher Sprache geht es im
nächsten Satz elliptisch weiter: »Genau wie die Schmerzen, die sie ein Leben lang
begleiten.« Hier wird auf dem pathos-Register gespielt, doch die dominierende Ton-
lage entstammt dem ethos-Appell – dem kompromisslosen Engagement gegen das
Böse und der gestalterischen Kreativität. Der Ton ist das Gegenstück zur eingangs
betrachteten Info-Grafik: Empörung und Zorn statt betonter Sachlichkeit. Die
Pressemeldung zur Kampagne zeigt, wie dies aufgenommen wurde: »Das Plakat
zeigt eine junge Frau mit dunkler Haut, schwarzen Haaren. Obwohl unbekleidet
und schutzlos wirkend, blickt sie entschlossen in die Augen des Betrachters. Das
Die visuelle Sprache der Moral 163
Plakat ist eingerissen. Ein Stück Schulter fehlt der Frau. Erst beim zweiten Blick wird
deutlich, dass der angebliche Riss im Plakat Absicht ist. [...] Das Plakat ist Teil der
heute zum Frauentag startenden Kampagne ›Gewalt gegen Frauen ist Alltag‹ von
Terres des Femmes. Ziel der Kampagne ist es, Aufmerksamkeit für ein Thema zu
schaffen, das in Vergessenheit zu geraten droht. [...] Die Gelder für die Kampagne
kommen deswegen nicht von Terres des Femmes. Die Werbeagentur Heymann
Schnell zahlt die Rechnung. Gut für den Geldbeutel von Terre des Femmes und
gut fürs Image der Agentur.« (taz 2007) Das augentäuschende Detail, der Riss im
Bild als Sinnbild für die Zerstörung physischer Identität – darauf muss man erst
einmal kommen; wer das gesehen und verstanden hat, wird es nicht so schnell
wieder vergessen. Das lässt sich die Werbeagentur etwas kosten; es ist ja für den
guten Zweck und für das eigene Image.
Abb. 10 Sarkastisch
Bildquelle: http://16days.thepixelproject.net/16-organisations-charities-and-grass-
roots-groups-working-to-stop-fgm/ [letzter Abruf: 24.3.2018]
164 Die visuelle Sprache der Moral
Das letzte Beispiel geht noch einen Schritt weiter: Der ethos-Appell erlaubt sich
ein kontrolliert-zynisches Rollenspiel. »Jetzt noch die Klitoris herausschneiden,
und sie ist perfekt«, sagt eine fiktive Person, die gleichsam als Verkörperung eines
menschenverachtenden Frauenbildes auftritt. Hier wird das rhetorische Stilmittel
des Sarkasmus im Text eingesetzt und in die visuelle Sprache übersetzt. Wir sehen
ein hellhäutiges model, das gewiss nicht den afrikanisch-asiatischen Kulturraum
konnotiert. Wird das demnächst auch bei uns eingeführt? So könnte eine nahe lie-
gende Assoziation lauten. Im kleingedruckten Text wird erläutert, was rückständige
Menschen »in vielen Teilen der Welt« denken, und ihre Tat wird als »grausames
Verbrechen« gebrandmarkt. Keine Frage: die Gestalter stehen voll hinter der Bot-
schaft, die sie in die zivilisierte Welt hinausschicken.
Nach der Beispielanalyse nun eine methodische Betrachtung. Forschung über Ethik
und Kommunikationsdesign hat mehrere Aspekte: zunächst die Untersuchung
der Praxis im Hinblick auf Kriterien aus der Moralphilosophie, also die beschrei
bende – oder auch kritisch-prüfende – Untersuchung gestalterischer Probleme
und Entscheidungen aus ethischer Perspektive. Dazu kommt die Rekonstruk
tion der moralischen Positionen, die dem Kommunikationsdesign inhärent sind.
Oder sagen wir besser: die Übersetzung impliziter moralischer Haltungen, die im
Entwurf mehr oder weniger artikuliert zum Ausdruck kommen, in die explizite
Sprache der Moraltheorie. Letzteres ist sozusagen die ethische Reflexionst heorie
der Moral des Gestaltens.
Nach Niklas Luhmann (1989) ist »Ethik« die »Reflexionstheorie der Moral«. Bei
dieser Definition wird allerdings unterstellt, dass Ethik sinnvollerweise ausschließlich
deskriptive Ethik sein kann. Sie könne das Handeln der Menschen gleichsam nur wie
ein Spiegel »reflektieren«, also bloß (in Begriffen) abbilden. Luhmanns Definition
ist falsch, weil sie die Möglichkeit normativer Moralphilosophie leugnet. Wenn
man Reflexion hingegen nicht nur im physikalischen Sinne versteht, sondern mit
einem philosophischen Konzept der Reflexion arbeitet, lässt sich »Reflexionstheorie
der Moral« durchaus als Synonym für eine Moralphilosophie verwenden, die das
Handeln nicht nur widerspiegelt. Philosophisch über Moral zu »reflektieren« heißt,
über Handlungen und deren Grundlagen ›nachzudenken‹ (Kluge 1999: 674) und
sie ›prüfend‹ zu ›betrachten‹ (Duden 2018). Daher kann eine philosophische »Re-
flexionstheorie der Moral« mit guten Gründen normativ-kritisch Stellung nehmen.
Die visuelle Sprache der Moral 165
Das Problem besteht dann – aus entwurfsmethodischer Sicht – darin, dass der
ethos-Appell der Gestalter, ihr Engagement für die Werte der okzidentalen Rationalität,
aus der vermeintlichen Harmonie mit dem logos- und dem pathos-Appell herausf ällt.
Freiheit und Selbstbestimmung sind offenbar zwiespältige Werte. Für die Mo-
ralphilosophie der Aufklärung ist die Überlegung zentral, dass Individuelles und
Allgemeines nicht auseinanderfallen dürfen. Aber wie lassen sich diese Pole der
Moral vermitteln? Im Geiste Kants wird man folgendermaßen argumentieren: Alle
Menschen möchten glücklich sein; aber was sie darunter verstehen, ist individuell
höchst verschieden. Moral muss also die Bedingungen dafür schaffen, dass alle
ihre Vorstellungen vom gelingenden Leben verwirklichen können. Man muss
nicht allen vorschreiben, wie gelingendes Leben aussieht, aber freie und gerechte
Lebensbedingungen für alle schaffen. Wenn die Menschheit in jedem einzelnen
nicht nur mental, sondern auch real »Zweck an sich selbst« wäre, dann müssten
die besonderen Einzelinteressen und das allgemeine Interesse nicht mehr ausei-
nanderfallen; dann müsste es keinen Widerspruch zwischen den Ritualen einer
Gemeinschaft und dem individuellen Bedürfnis nach Selbstbestimmung geben.
Junge, unmündige Menschen müssten nicht mit Hilfe althergebrachter Bräuche
für fragwürdige Gemeinschaftswerte instrumentalisiert werden.
Der ethos-appell könnte auf diesem Terrain zugunsten des logos-Appells zurück
treten, weil die sozialethischen Intentionen der Gestalter wirkungsvoller zum
Ausdruck kommen, wenn vernünftige Argumente für einen politischen Diskurs
über ethische Werte und zivilisatorische Standards vermittelt werden.
Man könnte hier aber auch schlicht Mitleid empfinden und deshalb aktiv werden.
Dann wäre der logos-Appell die Grundlage eines pathos-Appells, also sozusagen
der primäre Inhalt der Sprache der Dinge, oder besser gesagt: der stumme Aus
druckscharakter einer Sachlage, die Gestalter und Betrachter vernehmen und durch
die sie gestimmt werden.
Das Moralprinzip des Mitleids und der Solidarität wurde von Arthur Schopen
hauer (1840: 177) formuliert. Es lautet: »Verletze niemanden, sondern hilf allen,
soviel du kannst.« Schopenhauer setzt nicht primär auf die vernünft ige Urteilskraft,
sondern auf das moralische Gefühl. Er argumentiert gegen Kant, dass Mitleid das
einzig rational erkennbare, wenngleich selbst nicht rationale Moralprinzip ist.
Es ist »die alleinige Quelle uneigennütziger Handlungen«, »die wahre Basis der
Moralität« (ebd.: 285). Freilich wollen nicht alle Menschen bemitleidet werden.
Die visuelle Sprache der Moral 169
Von hier aus zeichnet sich vielleicht eine Lösung des Dilemmas bei der Haltung
zur Kampagne gegen Genitalverstümmelung ab. Man sollte Menschenw ürde und
Menschenrechte nicht von außen als überlegene moralische Werte verkünden (die
sich von selbst verstehen und die anderen moralischen Werten überlegen sind). Man
sollte dort ansetzen, wo die Betroffenen selbst artikulieren, dass Leidfreiheit und
Selbstbestimmung auch für sie zu einem gelingenden Leben gehören. Selbst dann,
wenn sie dafür nicht den Begriff »Menschenw ürde« benutzen, nicht der Ansicht
sind, dass es unveräußerliche Menschenrechte gibt und individuelle Selbstbestim
mung für sie nicht der oberste Wert ist.
In diesem Fall heißt das: Man sollte nicht leugnen, dass Genitalverstümmelung
eine soziale Norm ist; man sollte also mit den Menschen sprechen, die daran betei-
ligt sind. Man sollte fragen, ob wirklich alle, die von dieser Norm betroffen sind,
allen Folgen und allen Nebenfolgen zustimmen können. Die Kampagne »Tostan«
in Afrika geht so vor5 – bislang noch mit relativ wenig Kommunikationsdesign,
aber das kann sich ja ändern. Beim Twitter-Auftritt der Kampagne wird bereits
etwas mehr gestaltet.
5 https://www.tostan.org (letzter Abruf: 14.8.2018). – Ich danke Janne Mende dafür, dass
sie mich auf die Arbeit dieser Organisation aufmerksam gemacht hat.
6 Für diesen Hinweis danke ich Kai Buchholz.
172 Die visuelle Sprache der Moral
Empfindlichkeiten« ab, und es kann durchaus als Indikator für ihre »Glaubwür-
digkeit« und »Integrität« gelten – insbesondere im Hinblick auf ihre Bereitschaft,
darüber zu reflektieren und überzeugende Gründe angeben zu können.
Im letzten Teil dieses Aufsatzes möchte ich dennoch weiterhin auf dem Gebiet
der Analyse von ethos-Appellen mit ethischer Thematik verweilen und ein weiteres
Beispiel für eine visuelle Sprache der Moral diskutieren, das deren Möglichkeiten
und Risiken aufschlussreich repräsentiert.
»Verantwortung« ist in den letzten Jahren zu einem der zentralen Begriffe im
Diskurs über moralische Fragen geworden. Mit den Worten von Hans-Ernst Schiller
(2011: 160): »Verantwortung heißt […] Antwort zu geben auf die Anklage, dass man
etwas getan hat, was religiösen und moralischen Geboten oder staatlichen Gesetzen
widerspricht.« Es kann sich auch um etwas handeln, was man nicht getan hat oder
tut, also um eine Unterlassung. Mitunter wird das Konzept »Verantwortung« zur
Psychologisierung sozialer Phänomene verwendet. Der Appell an die indiv iduelle
Verantwortung kann ein schlechtes Gewissen installieren. Und auf dem Weg, der
vom Sozialstaat mit öffentlicher Gesundheitsfürsorge zu Verhältnissen geführt
hat, in denen sich jeder allein darum kümmern muss, wo er bleibt und was im
Konkurrenzkampf aus ihm wird, ist »Eigenverantwortung« sogar zu einem neo
liberalen Kampfbegriff geworden. Schiller (2011: 183–187) spricht in diesem Zu-
sammenhang von »Selbstverantwortung als Zuschreibung und Überforderung«.
Aber auch wenn die Verantwortung des Individuums nicht vom Gemeinwohl
abgekoppelt werden soll, sondern wenn im Gegenteil betont wird, dass jeder
Einzelne sich für die Allgemeinheit einsetzen soll, kann die Beschwörung von
Verantwortung problematische Züge annehmen. An der Kampagne »BIS DU
WAS DAGEGEN TUST« von Amnesty International lässt sich die Ambivalenz
moralischer Kommunikation studieren.
Die visuelle Sprache der Moral 173
174 Die visuelle Sprache der Moral
In einem gelb unterlegten Fenster der Homepage baut sich, Satz für Satz, der fol-
gende Text auf:
»2 Elektroden
Die eine am Finger befestigt
Die andere am Genital
Amnesty International«
7 Und schon gar nicht auf pseudo-staatsphilosophische Diskurse über die Rechtferti-
gung der Folter, die nach dem 11. September 2001 wieder Fahrt aufnahmen; siehe dazu
Gremliza 2015 sowie zur Folter-Thematik in der Literatur Kramer 2004.
176 Die visuelle Sprache der Moral
Gegenüber. Hier geht es nicht darum, Mitgefühl zu erzeugen; hier soll das Bewusstsein
einer Mitschuld geweckt werden. Absolution kann nur erhoffen, wer, gemäß der
rigorosen Aufforderung, aktiv wird. Ein Mensch, lautet die Ank lage, wird solange
gefoltert, bis ich etwas dagegen tue. Aber was kann ich denn dagegen tun? Habe ich
die Möglichkeit zur Intervention? Ich kann doch allenfalls etwas sehr Indirektes,
Mittelbares tun. Das heißt, ich kann per Mausklick eine Petition unterzeichnen.
Dass die Folter daraufh in endet, ist unwahrscheinlich. Aber ich kann mir immerhin
sagen, dass ich mich vor den Kampagnenmachern gerechtfertigt habe, die mich für
meine ignorante Tatenlosigkeit zur Rechenschaft gezogen haben.
Hier scheint die Metapher der »Moralkeule« ausnahmsweise einmal angebracht,
mit der Martin Walser um die Jahrtausendwende in der Debatte über das Ho-
locaust-Mahnmal in Berlin entgleist war. Aber vielleicht ist eine Keule in diesem
Fall ja das geeignete Instrument? Jede Minute, die verstreicht, ohne dass jemand
die Folterknechte der Herrschenden in aller Welt hindert, Menschen leiden zu
lassen, um ihnen Geständnisse abzupressen oder sie sonstwie zu erniedrigen, ist
verlorene Zeit. Ich fürchte nur, dass mit der »Moralkeule« der moralische »Impuls«
eher gehemmt oder gar blockiert wird, der sich regen sollte, »wenn gemeldet wird,
irgendwo sei gefoltert worden«, wie es Adorno (1966: 181) formuliert hat.8 Kommt der
moralische Impuls noch ausreichend zum Tragen, wenn ich mich in der Sicherheit
wiege, dass ich das Richtige tue, indem ich eine Petition unterzeichne? Ich kann
noch einen Schritt weiter gehen und Geld spenden. Beides ist selbstverständlich
besser, als wenn gar nichts geschieht. Aber möglicherweise sehen wir hier die
Kehrseite der Überforderung des Betrachters: nämlich die Überschätzung seiner
Interventionsmöglichkeiten.
8 Zwei Jahre vor dem Erscheinen von Adornos Negativer Dialektik hatte Max Frisch eine
Romanfigur die Erfahrung artikulieren lassen, aus Medienberichten zu vernehmen, dass
in Algerien gefoltert wird, was eigentlich zutiefst erschüttern müsste, aber unweigerlich
zum Hintergrundrauschen der eigenen Befindlichkeitswahrnehmungen wird. »Jetzt ar-
beiten sie schon eine Stunde an dem Wagen […]: Die Achse ist gestaucht, die Radscheibe
verbogen, auch das Kugellager muß wahrscheinlich ersetzt werden. Ich verstehe nicht
viel davon. Der Gedanke, hier übernachten zu müssen, schreckt mich; dabei ist es ein
ordentlicher Landgasthof. Noch immer habe ich den Mantel nicht ausgezogen, sitze und
versuche eine Zeitung zu lesen (man könnte auch mit der Eisenbahn fahren, um nicht
hier zu übernachten […]), meine Pfeife saugend, während in Algier (lese ich) gefoltert
wird – / Das ist, was stattfindet. / Wenn ich es wieder lese, was in Algier geschieht oder
anderswo, und wenn ich es mir einige Augenblicke lang vorstellen kann, gibt es nichts
anderes, und die Vorstellung ist kaum auszuhalten. Und ich bin bereit zu jeder Tat. Aber
ich sitze hier, eine veraltete Zeitung lesend, und halte es aus. Tatlos … Ich warte auf die
Ersatzteile für den Wagen« (Frisch 1964: 32 f.).
Die visuelle Sprache der Moral 177
Ich möchte niemandem etwas unterstellen, aber aus der Psychologie der Moral
weiß man, dass Rigorismus und Zerknirschung in Größenwahn umschlagen können.
Kein Kampf gegen die Folter ohne symbolische Praxis – doch es sollte nicht bei
Scheinaktivität bleiben, die das Gewissen beruhigt. Es kommt noch etwas hinzu,
nämlich die Gefahr der Abwehrhaltung bei den Adressaten. Dieser Effekt ist aus
der empirischen Psychologie bekannt: Wer beim Publikum Einstellungs- oder
Verhaltensänderung bewirken möchte, tut gut daran, direkte Schuldzuweisungen
zu unterlassen. Sie können dazu motivieren, dass die Angesprochenen die Opfer
schlechtmachen, um ihr eigenes Tun oder Unterlassen zu rechtfertigen (Cooney
2011: 41 f.). Nehmen wir an, die Botschaft würde lauten: »Du bist schuld an der
Massentierhaltung; denn du bist geizig und willst keine angemessenen Fleischpreise
bezahlen«. Das kann zu einer inneren Flucht nach vorn führen, zu Gedanken wie
diesen: »Ein paar Schweine und Hühner mehr im Stall – das wird wohl nicht so
schlimm sein. Die bekommen doch reichlich zu fressen, und sie werden ja sowieso
nur für den Markt gezüchtet.« Die Vorstellung, dass der Gedanke an Folteropfer
statt Mitgefühl Abwehrreaktionen wecken könnte (nach der Devise: »Die werden
schon ihren Teil dazu beigetragen haben, dass es überhaupt so weit gekommen
ist«) – diese Vorstellung wäre schmerzhaft.
Daher ist es aus meiner Sicht auch bei der Anti-Folter-Werbung ratsam, den
logos-Appell zu verstärken und den Ball beim ethos-Appell etwas flacher zu hal-
ten. Im Übrigen ist zu bedenken, dass uns der Kampf gegen die Folter nötigt, das
Gebiet der Ethik zu verlassen und das der Politik zu betreten. Man könnte bei-
spielsweise zum Nachdenken darüber anregen, wie man die hiesigen politischen
Entscheidungsträger dazu bringen könnte, aus einem Militärbündnis auszutreten,
dessen führender Staat Foltergefängnisse betreibt und sich dabei von anderen
Mitgliedsstaaten unterstützen lässt. Das wäre eine politische Strategie, für die ich
mich vor Ort einsetzen könnte.
Ich schließe mich Helmut Fleischer (1995: 44) an, der betonte: »das sittliche Sein
der Menschen« bestehe in einer Verbindung, in der »das je spezifische Können […]
mit dem Wollen und dem Sollen« zusammenfindet und »in ein […] qualifiziertes
Wirken« einmündet. Alles zusammen bilde erst »die Wirklichkeit des Ethos«. Der
Normativ ismus der kantianischen Moralphilosophie, die aristotelische Ethos-
Ethik und Schopenhauers Gefühlsethik: Diese Positionen markieren Punkte auf
einer ethischen Landkarte. Wir sollten sie, wie Adorno es vorgemacht hat, in einer
permanenten Suchbewegung durchlaufen. Es sind nicht die Gebiete verfeindeter
Stämme. Ihre jeweiligen Fachvertreter gebärden sich zwar häufig, als sei dies der
Fall – aber darum müssen sich Kommunikationsdesignerinnen und Kommuni-
kationsdesigner glücklicherweise nicht kümmern.
178 Die visuelle Sprache der Moral
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Die visuelle Sprache der Moral 179
Günther Anders (1986: 441) bemerkte im Jahre 1980: »Ob der Ausdruck ›Medialität‹
[…] den Anspruch erheben darf, eine philosophische Kategorie zu sein, das bleibe
dahingestellt.« Ich belasse es vorerst bei dieser Andeutung; am Ende werde ich darauf
zurückkommen. Der vorliegende Beitrag gibt zuerst einen knappen Überblick zum
Stand der Diskussion über Medienphilosophie als eigenständiges akademisches
Fach. Danach werden inhaltliche Überlegungen zur Medienphilosophie vorgestellt
und zum Schluss wird ein Ausblick auf medienethische Fragen skizziert.
* Der Text ist aus meinem Eröffnungsvortrag bei der Tagung Mit Kindern über Medien ins
Philosophieren kommen an der Universität Würzburg am 23. Juni 2017 hervorgegangen.
Er erscheint auch in: Mit Kindern über Medien und über Menschen und (andere) Tiere
ins Philosophieren kommen. Beiträge zum Philosophieren mit Kindern, hrsg. von Susanna
May-Krämer, Kerstin Michalik u. Andreas Nießeler, Münster, LIT, 2018.
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 183
G. Schweppenhäuser, Design, Philosophie und Medien, Würzburger Beiträge zur
Designforschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-22225-3_11
184 Erschließung und Virtualisierung der Welt
ben, erklärt, verstanden oder rekonstruiert.1 Der andere Ansatz möchte mit der
Wahl jenes Phänomenbereichs ein neues philosophisches Paradigma begründen.
»Medienphilosophie« ist dann die Philosophie der Medien – und nicht bloß das
Philosophieren über einen Gegenstand namens »Medien«. Für die Berechtigung
dieses Anspruchs wird ins Feld geführt, dass Philosophieren über »Medien« vom
Gegenstand niemals unberührt bleiben kann. Denn seine Reflexion kann ja nicht
anders geschehen als vermittelt durch ein Medium (oder mehrere).2
Es ist wahrlich nicht überraschend: Was man vernünftigerweise unter Medienphi-
losophie versteht, hängt offenbar davon ab, welches Konzept von Philosophie man
vertritt; außerdem hängt es davon ab, was für ein Konzept von Medien man hat.3
was ›Wirklichkeit‹ heißt«. Und warum spielen Medien dabei so eine wichtige Rolle?
Weil sie uns »Unterscheidungsmöglichkeiten […] eröffnen« (ebd.: 15). Was heißt
das? Das werde ich in den folgenden Abschnitten erläutern. Ich möchte versuchen,
die Konstellation aus Medien-, Sprach-, Kultur- und Sozialphilosophie mit Blick
auf drei Fragen zu perspektivieren: Inwiefern schaffen Medien Wirklichkeit und
inwiefern vernichten sie sie? Was könnte Medienkompetenz im philosophischen
Sinn heißen? Wie stellt sich die Beziehung der Konzepte Freiheit und Selbstbestim-
mung in medienethischer Hinsicht dar?
Kultur, hatte ich angedeutet, ist die soziale Praxis der Semiotisierung von Wirklich-
keit, vermittelt durch Medien; eine Praxis, die erfahrbare Lebensumgebungen in
kommunizierbare Zeichenzusammenhänge transformiert. Der philosophische Blick
auf die Medien zeigt: Medien sind immer beteiligt, wenn erfahrbare Lebensumge-
bung Wirklichkeit wird, die uns gegeben ist. Damit wir uns intentional, also mit
Handlungs-, Erkenntnis- oder Verständnisabsichten, auf Ausschnitte der Realität
beziehen und sie dadurch zu unserer Wirklichkeit machen können, brauchen wir
Medien. In Kant’scher Terminologie ausgedrückt, sind Medien die Bedingungen
der Möglichkeit von Welterschließung.
Mit Kant muss der nächste Schritt eine Kritik der Medien sein. Damit ist selbst-
redend nicht gemeint, die Medien schlechtzumachen, sondern zu beschreiben, was
Medien leisten können und was nicht – und natürlich auch zu beschreiben, wie sie
leisten, was sie leisten.
Diese Reflexion ist nicht zuletzt wichtig, um nicht in die Falle eines zirkulären
Medien-Apriorismus zu gehen. Dann würde man nämlich bei der Behauptung
landen, dass Medien die Welt in Gänze konstituieren, könnte aber nicht angeben,
wodurch denn die Medien selbst konstituiert sind. Dieter Mersch (2018: 28) hat
diese Falle so beschrieben: »Wenn ›alles‹, was ist, allein in Medien gegeben ist,
bleibt die Frage, wie Medien selbst gegeben sind oder sich als solche zu erkennen
geben, sodass wir es mit einer petitio principii zu tun bekommen, die […] negiert,
was sie behauptet.«
Grundsätzlich lässt sich hierzu zweierlei sagen. Zum einen erschließen wir durch
Medien eine Welt, die eben nicht von vornherein gegeben ist, sondern erst zur Ge-
gebenheit gemacht werden muss. Dabei prägen die Erschließungsmedien der Welt
diese auf eine Weise mit, hinter die wir zu keinem Zeitpunkt zurückgehen können.
Die Erschließung der Formen erfolgt zu den Konditionen des Mediums, in dem sie
Erschließung und Virtualisierung der Welt 189
erscheinen; so, wie die Form eines Fußabdrucks am Strand im Medium des feuchten
Sandes. Zum andern ist diese Welt als Gegebenheit unsere Wirklichkeit. Aber weil
sie durch Medien vermittelt wird, ist sie immer auch eine mögliche Wirklichkeit,
eine virtuelle Realität. Sie könnte auch anders sein, wenn die Medien anders (oder
wenn es andere Medien) wären, durch die wir uns die Welt geben. Damit kommt ein
Moment von Kontingenz in die mediale Wirklichkeit. Wir können dahinter nicht
zurückgehen. Das kann Euphorie auslösen (›Alles ist möglich‹) oder Depression
(›Wenn alles auch ganz anders sein könnte, ist nichts gewiss‹).
Werfen wir an dieser Stelle einen kurzen Seitenblick auf die Soziologie, wo vor
ein paar Jahren der »Möglichkeitssinn« wiederentdeckt worden ist. Der Ausdruck
stammt von Robert Musil, dem Autor des Mannes ohne Eigenschaften. Zur Literatur
der klassischen Moderne gehört das ambivalente Erleben von ermutigend-offener
Unfestgelegtheit und entmutigend-vager Unbestimmtheit. Und genau das gehört zur
Erlebniswelt von heutigen Heranwachsenden. Wie ist die Welt, die ich mir aneigne?
Wie könnte sie sein, wenn ich ›in ihr mitspiele‹? Wie wird sie ›mir mitspielen‹? Welche
Artikulationen, welche Handlungsweisen passen zu mir? Welche sind für andere
anstößig oder für mich nicht akzeptabel? Imaginäres Probehandeln ist der Moti-
vationskern, wenn junge Menschen narrative Fernsehserien (z. B. »Mädchen-WG«)
oder scripted-reality-Formate und Casting Shows anschauen und wenn sie in die
Bild- und Textwelten von Instagram und Twitter eintauchen. Probehandeln – das
ist freilich ein zu rationalistisches Konzept. Eher würde ich sagen, es sind der élan
vital, halb- oder unbewusste Wünsche und Phantasmagorien, die junge Menschen
viel Zeit mit verschiedenen Medien verbringen lassen, oder auch die Suche nach
erotischen und beruflichen Identitätsmöglichkeiten.
Um es mit Henri Bergson (1948: 124) zu formulieren: Das Leben ist die »fort-
gesetzte Schöpfung von unvorhersehbar Neuem«. Leben ist als soziokulturelles
Konstrukt auf mediale Darstellungen verwiesen. Dort sehen wir »die Welt, die
vor unseren Augen abrollt« (ebd.). Junge Menschen spüren ihr lebendiges Werden
besonders stark; »in der beweglichen Welt der Phänomene« – so nennt Berg-
son das Sein im Ganzen – sehen sie »die Wirklichkeit, die vor unseren Augen
schöpferisch entsteht« (ebd.). Solche Betrachtung kann Befriedigung und Glück
gewähren. Ich füge hinzu: Auch die mediale Vermittlung der Wirklichkeit kann
das. Die Verzauberung, die entstehen kann, wenn wir, wie Bergson schreibt, die
»unaufhörlich wieder entstehende Neuheit« und die »bewegliche Originalität
der Dinge« (ebd.) entdecken, lässt sich auf Betrachtungen und Erfahrungen in
der virtuellen Wirklichkeit übertragen. Das gehört zum Kerngehalt ästhetischer
Erfahrung. Bergson meint, »an dem großen Werk der Schöpfung, das […] sich
vor unseren Augen abspielt, fühlen wir uns als Mitwirkende, als Schöpfer unserer
selbst.« (Ebd.) Wenn wir darauf reflektierten, erweiterten wir unsere Freiheit:
190 Erschließung und Virtualisierung der Welt
»Unsere Fähigkeit zu handeln wird intensiver dadurch, daß sie zum Bewußtsein
ihrer selbst kommt.« (Ebd.) Dies gilt selbstverständlich umso mehr, wenn wir, wie
es sich für Medienphilosophierende geziemt, ›das große Werk der Schöpfung‹ als
Ergebnis medialer Kreativität erkennen. Das Nachdenken über »die Beziehungen
des Möglichen zum Wirklichen«, schreibt Bergson, ist zwar ein »Gedankenspiel«,
aber ein eminent wichtiges: »Es kann eine Vorbereitung zum richtigen Leben sein.«
(Ebd., Hervorhebung: G.S.)
Was ist das »richtige Leben«? Und was wäre das »falsche«? Ist es außerhalb des
Rahmens der Lebensphilosophie überhaupt noch sinnvoll, solche Fragen zu stellen?
Um dem nachzugehen, werde ich später auf das Medienkonzept der kritischen
Theorie eingehen, also auf ein philosophisches Paradigma, innerhalb dessen die
– sozialphilosophischen, nicht vitalistischen – Aporien des »richtigen Lebens«
bekanntlich höchst relevant sind. Zuvor möchte ich nun aber den zweiten, ziemlich
eng gefassten Medienbegriff einführen, den ich ja schon angekündigt hatte.
In den Medienwissenschaften wird gern mit formalistischen Medienbegriffen
gearbeitet. Ein typisches Beispiel dafür ist derjenige von Werner Faulstich (2002: 26),
der Elemente aus der Informationstheorie und der Systemtheorie verbindet: »Ein
Medium ist ein institutionalisiertes System um einen organisierten Kommunikati-
onskanal von spezifischem Leistungsvermögen mit gesellschaftlicher Dominanz.«
Institution, Organisation, soziale Herrschaft – eine kritische Medienphilosophie
muss diese Aspekte im Blick haben. Die Welt, hatte ich gesagt, ist nicht als solche
gegeben; sie wird durch Mediengebrauch zur Gegebenheit für uns. Und Medien
formen, was sie vermitteln, auf irgendeine Weise mit. Beim identifikatorischen
Gebrauch von Massenmedienformaten, der für Heranwachsende offenbar unum-
gänglich ist, verhält es sich im Prinzip nicht anders als im Beispiel des Fußabdrucks
am Strand. Die Form der Objekte (z. B. die Performance und die Beziehungen
der Medienfiguren) erhält ihre jeweilige Gestalt aufgrund von Eigenschaften, die
dem Medium angehören (z. B. Stileigentümlichkeiten von Medienformaten, die
mit Attraktivität, Selbstinszenierung, narzisstischen Spiegelungsangebote oder
cliffhangern arbeiten).
Ein Medium vermittelt, indem es zwischen zwei Gegenständen, die von ihm
unterschieden sind, eine Verbindung herstellt. Es ist (trivialerweise) durch den
Bezug auf (mindestens) zwei andere Einheiten gekennzeichnet, die durch das
Medium verbunden werden. Im Strand-Beispiel sind das der Beobachter und das
Erschließung und Virtualisierung der Welt 191
Lebewesen, das die Fußspur hinterlassen hat. Wenn von Videospielen die Rede
ist, sind es gamer und Produzenten. Außerdem ist ein Medium durch den Inhalt
gekennzeichnet, den es transportiert: also durch die Form, in der die Spur erscheint
oder durch die Themen und die plots und settings sowie durch Regeln der Spiele.
Und nicht zuletzt ist es durch seine materiale Beschaffenheit gekennzeichnet; im
Beispiel durch die Wassermenge, die der Sand aufnehmen kann, beim Computerspiel
durch Spielmechaniken und die Ästhetik des Erscheinungsbildes (siehe Feige 2017).
Nun möchte ich aber noch einmal die Betrachtungsebene wechseln. Medien
sind konstitutiv für den Sinn bzw. die Bedeutung für die Benutzer, der bzw. die,
vermittelt über die Medienverwendung, produziert wird. Man kann sagen, dass
Medien Sinn »übertragen«, aber auch, dass sie ihn »zugleich mitbedingen und prä-
gen« (Krämer 2003: 85). Eine philosophische Medientheorie sollte daher »nach der
konstitutiven Rolle der Medien für das, was sie vermitteln« (ebd.: 80), fragen. Sybille
Krämer stellt vor diesem Hintergrund zwei überlieferte Auffassungen gegenüber.
Nach der »geisteswissenschaftlichen« Auffassung sind Medien immer etwas Se-
kundäres: Hier sind sie die »materiellen Realisierungsbedingungen symbolischer
Formen« (ebd.). Es gibt dann »ein Außerhalb von Medien«. Medien erzeugen dann
nicht, sondern übertragen. Nach der »kulturalistischen« Auffassung hingegen sind
Medien stets etwas Primäres: Sie übertragen nicht, sondern erzeugen. Es gibt dann
»kein Außerhalb von Medien«; in dieser Sicht sind Medien die »zeitgenössische
Fortbildung eines Sprach-, Zeichen- oder Technikapriori« (ebd.).
In dieser Frage nehme ich eine Vermittlungsposition ein – auch, um den zirkulä-
ren Medienapriorismus zu vermeiden, auf den Dieter Mersch hingewiesen hat. Ich
würde nicht sagen, dass man die geisteswissenschaftliche und die kulturalistische
Auffassung nicht verbinden kann. Übertragen durch Erzeugen – das widerspricht
sich nicht. Übertragenes wird im Übertragungsvorgang produktiv verändert. Die
Spur, die ich im geformten Sand sehen kann, transformiere ich in eine Vorstellung
von einem Lebewesen; diese Vorstellung, kann man auch sagen, ist erzeugt worden.
Damit greife ich den anderen Punkt wieder auf, von dem ich vorhin ausge-
gangen bin: Als Welt, die uns gegeben ist, ist die Wirklichkeit immer auch virtual
reality, also auch Möglichkeit. Die Tendenz zur Indifferenz von Virtualität und
Aktualität sehe ich aber nicht, wie Lorenz Engell, als Indikator dafür, dass Medien
selbst zu denken anfangen. Medien sind als Vermittler Bedingung der Möglichkeit
von Erlebnissen und Erkenntnissen, sowohl im erkenntnistheoretischen als auch
im handlungsbezogenen Sinn. Die Welt (also die Realität für uns) ist vermittelt
und ebenso die Wirklichkeit (also die Gesamtheit alles dessen, was als Gegebenes
überhaupt wahrnehmbar und erfahrbar ist oder Gegenstand der Reflexion werden
kann). Dieser Zusammenhang ist in den Kontext unserer kommunikativen und
technologischen Lebenswelt eingelassen. Hier kommt die Medienkritik ins Spiel.
192 Erschließung und Virtualisierung der Welt
Kritik ist nach Kant, wie gesagt, die Unterscheidung der Leistungen und Unzu-
ständigkeiten von etwas, durch die sich dessen Möglichkeitsbedingungen rekonst-
ruieren lassen. Nach Hegel und Marx ist Kritik weiterhin die denkende Bestimmung
der inneren Widersprüche in den Sachen, die im Denken reflektiert werden, und
die Rekonstruktion der Widersprüche in der Bewegung der Begriffe. Begriffe sind
das Medium, in dem wir denken.
Was heißt das für die Medienphilosophie? »Die ganze Welt wird durch das Filter
der Kulturindustrie geleitet«, schrieben Horkheimer und Adorno (1947: 151). Die
Autoren der Dialektik der Aufklärung haben das ironisch als späte Verifikation von
Kants Konzepts des »transzendentalen Schemas« (Kant 1787/1972: B 177) dargestellt.
Der »Schematismus« ist in der Kritik der reinen Vernunft ein kognitiver Mechanis-
mus. Er vermittelt die Allgemeinheit eines Begriffsinhalts mit der je besonderen,
anschaulichen Gestalt, in der sein abstrakter Inhalt zur Erscheinung kommt. Das
Schema ist ein »Produkt der Einbildungskraft« (ebd.: B 179). Es synthetisiert die
Vielfalt der Wahrnehmungen zur Einheit des Begriffs. Dem Schematismus fällt nach
Kant die vorgängige Aufgabe zu, »einem Begriff sein Bild zu verschaffen« (ebd.: B
179 f.). Der Beitrag der Einbildungskraft zur Erkenntnis besteht darin, zwischen
Konzept und Bild zu vermitteln – das heißt: zwischen logischer Abstraktion und
konkreter Anschaulichkeit. – Die Aufgabe, »die sinnliche Mannigfaltigkeit vorweg
auf die fundamentalen Begriffe zu beziehen«, schrieben Horkheimer und Adorno
(1947: 149), »wird dem Subjekt von der Kulturindustrie abgenommen«. In den
kognitiven Akten der Individuen und in den Erscheinungen gesellschaftlich-ge-
schichtlicher Bewegung findet demnach eine funktionale, warenförmige Synthesis
statt. Sie ist abstrakt medial, aber zugleich höchst real. Die Einheit der Gesellschaft,
so der Befund der kritischen Theorie von Marx, wird durch die ökonomische
Wertform vermittelt. Sie stellt Äquivalenz her, indem Nichtidentisches unter abs-
trakte Identität subsumiert wird. Mit »nichtidentisch« sind hier ganz allgemein die
konkreten Gebrauchswerte gemeint, die Menschen produzieren und performen,
um in arbeitsteiligen Gesellschaften, vermittelt durch den Tausch von Waren,
Bedürfnisse zu befriedigen. Besonderes Augenmerk liegt dabei auf der menschli-
chen Arbeitskraft, die als Ware verkauft und gekauft wird. Hier wie dort wird die
qualitative Vielfalt dessen, was mit und durch die Waren realisiert werden kann,
unter die abstrakte, weil quantifizierende, Identität des Tauschwerts subsumiert.
Und dabei kommt der Arbeitskraft eine besondere Eigenschaft zu. Während ihrer
Anwendung (im industriellen Produktionsprozess: an der Maschinerie, auf dem
Dienstleistungssektor: direkt am Kunden oder an den Objekten, die ihm gehören)
fügt sie den produzierten Gütern und Dienstleistungen mehr Wert hinzu, als der
Käufer der Ware Arbeitskraft ihrem Verkäufer laut Arbeitsvertrag bezahlen muss,
damit dieser sich ausruhen und seine Arbeitskraft für den kommenden Tag rege-
Erschließung und Virtualisierung der Welt 193
nerieren kann. Jener Mehrwert kann und soll sich sodann im Verkauf als Profit
realisieren lassen. – Nicht die Herstellung konkreter Gebrauchswerte hält den
wirtschaftlichen Motor der Moderne in Gang, sondern die Verwertung von Kapital
durch die Produktion von Tauschwert, der mehr Kapital erzeugt.
Die vermeintlich reine Unmittelbarkeit der Anschauung ist nicht erst, wie Kant
gezeigt hat, durch die Reflexion des Verstandes vermittelt, sondern auch, wie wir
seit Marx wissen, immer schon durch die Form der sozialen Synthesis. Wenn wir
in naher Zukunft Pay-TV-Abonnements abschließen müssen, um Fußballspiele der
Champions League ansehen zu können, mag uns das schmerzlich bewusst werden.
Wenn wir aber in Scripted-Reality-Formate eintauchen, in die Selbstinszenie-
rungswelt von Instagram und Facebook oder in die Welt der drolligen Püppchen
des Animal-Crossing-Spiels, über das Kinder in die monetär dominierte Tausch-
gesellschaft einsozialisiert werden, dann nehmen wir diesen Vermittlungsschritt
in der Regel nicht als solchen wahr.
Medien machen Sinn- und Bedeutungszusammenhänge wahrnehmbar, haben
dabei aber die Besonderheit, gleichsam zurückzutreten und tendenziell unwahr-
nehmbar zu werden. Für Philosophen sind sie auch deshalb so interessant, weil
sich in jedem Mediengebrauch beobachten lässt, dass das Gebrauchte einerseits
Bedingung der Möglichkeit ist, etwas anderes wahrzunehmen, und andererseits
als solche nicht mitwahrgenommen wird. »Medien kommt die Eigenart zu, dann,
wenn sie etwas zur Erscheinung bringen, für die Nutzerwahrnehmung zu ver-
schwinden.« (Krämer 2018: 35)
neueren Soziologie meist als Mediatisierung bezeichnet wird. Gemeint ist damit,
dass ›mediatisierte‹ oder ›medialisierte‹ Menschen nicht mehr zielbewusst und
verantwortungsvoll handeln, sondern dort, wo sie hingestellt werden, konformis-
tisch mitmachen. Das wäre kaum möglich, würden sie nicht durch eine Reihe von
Vermittlungsschritten auf Distanz von den Konsequenzen ihres Tuns gehalten.
Wir alle sind heute medialisiert, meinte Anders. Wir entscheiden nicht selbst über
unsere Handlungsziele, deshalb können wir die Folgen nicht abschätzen und werden
»apokalypse-blind« (Anders 1985: 286). Dies gelte nicht bloß für diejenigen, die in
untergeordneter Funktion am industriellen Massenmord an den europäischen
Juden mitgewirkt hätten oder an Herstellung und Abwurf von Atombomben.
Nein, wir alle können mehr herstellen, als wir uns vorzustellen vermögen. Und wir
glauben, dass alles, was machbar ist, auch gemacht werden soll; jedenfalls solange,
wie wir von den Konsequenzen distanziert bleiben. Dabei spielten die Medien im
engeren Sinne eine zentrale Rolle, und zugleich eine paradoxe, denn sie distanzieren
durch Annäherung. Sie beliefern uns mit einer fertigen Welt in Bildern. In dieser
medialisierten Welt würden wir irgendwie mitmachen, aber nicht im eigentlichen
Sinne des Wortes handeln.
Günther Anders beobachtete, dass uns die Welt in einem medialen Transfor-
mationsprozess konsumgerecht angepasst wird. Als Ware werde sie zum ›Genuss-
mittel‹ und in ein ›Schlaraffenland‹ umgestaltet. Dabei verliere sie Authentizität,
Unabsehbarkeit und Widerständigkeit. Denn die Welt als ›Medium der Distanzen‹
löse sich in ihren Raum- und Zeitkategorien auf (Anders 1985: 335 ff.). Am Ende
trete die Welt selbst als Ideologie auf, was ausdrückliche Ideologien obsolet mache.
»In einer technisch und medial zugerichteten Welt ist das Dasein a priori ein (vor-)
geprägtes«; es hat seine, vom frühen Heidegger beschriebene »Fähigkeit verloren
[…], als ›weltoffenes‹ Subjekt einer unabsehbaren und widerständigen Welt zu
begegnen. Welt (als Ware) und Subjekt (als Konsument) sind einander kongruent
gemacht.« (Ellensohn/Putz 2018: 67) Die »mediale Situation« ist nach Anders eine
Situation, in der sich die Beziehung zwischen Mensch und Welt zu Lasten der
Menschen verändert. »Die Welt ist wahr- und vernehmbar, die Subjekte nicht; das
Subjekt nimmt teil an der Welt, ohne selbst Teil der Welt zu sein.« (Ebd.: 68) Durch
die visuellen und textuellen Medien, meinte Anders, kommt ›die Welt zum Men-
schen‹, anstatt dass er zu ihr kommt. Die ergebnisoffene Erfahrung, die Menschen
mit der Welt machen können, sei durch massenmediale Formatierung erheblich
eingeschränkt. Selbstbestimmung und »Widerstand«, auch mit dem Risiko »des
Scheiterns« (ebd.), würden tendenziell verschwinden.
Man muss sich dem Pessimismus von Günther Anders nicht zur Gänze anschlie-
ßen. Das Element seiner Medialisierungstheorie, an das anzuknüpfen mir indessen
höchst plausibel erscheint, ist nicht primär technik- und kulturkritischer Art; es
196 Erschließung und Virtualisierung der Welt
ist der Gedanke, dass Medien das Weltverhältnis in eine Warenform bringen. Die
wiederum ist nicht so sehr unter den Aspekten Kommerzialisierung und Güterkon-
sum via Medien von Belang, sondern vielmehr insofern, als unsere Kommunikation
durch Medialisierung in Warenform gebracht wird. Dieser Gedanke verbindet die
Medienphilosophie von Günther Anders mit der Kommodifizierungskritik seines
(von ihm nicht geliebten) Fachkollegen Adorno.
Dass Kommunikation Warenform annimmt, bedeutet, dass ihr Tauschwert Pri-
orität bekommt. Zum Beispiel, wenn Heranwachsende ihre Welt erschließen, indem
sie YouTube-Videos anschauen und über soziale Netzwerke und Messengerdienste
Kontakt halten. In den Videos packen You-Tuberinnen ihre Warensendungen aus,
aber dabei kommt es nicht auf die konkreten Waren an, sondern auf »clicks« und
»likes« der Betrachtenden; das ist die Währung, in der die Vorbildlichkeit der
Akteure bewertet wird. Und in den Netzwerken zählt am Ende, wie gefragt und
wie verfügbar eine Person ist. Hier steht jedoch nicht der Gebrauchswert des so
gewonnenen Prestiges im Vordergrund. Das Prestige wird nicht genossen, es wird
also nicht konsumiert (im Sinne von ›verbraucht‹), sondern reinvestiert, um die
eigene kommunikative Präsenz zu vermehren. Die Telekommunikationswirtschaft
ist daran interessiert, dass mehr kommuniziert wird, dass sich das Engagement
bei der Kommunikation verstärkt und die Kunden länger an ihren mobilen End-
geräten verweilen.41
Auch von einer eher medienoptimistischen Position aus sollte man Günther
Anders’ Diagnosen also im Blick haben: als Tendenzbeschreibungen, nicht als Pro-
tokolle vollendeter Tatsachen. Dann kann man seine Diagnosen für medienethische
Therapien fruchtbar machen, um »Pathologien« des Mediengebrauchs anzugehen
(im Sinne einer Lehre von dem Leiden, das er generieren kann).
Nicht nur, wenn es um Suchtphänomene und Cyber-Mobbing geht, haben Erzie-
hungsberechtigte (und Bildungsphilosophen) legitimes Interesse an Gefahrenabwehr
und -prävention sowie am Schutz der Persönlichkeit in der öffentlichen Sphäre und
im privaten Bereich. Aus Sicht der Medienethik gilt es dann beispielsweise, eine
visuelle Kompetenz zu schulen, die sich der »Macht der Bilder« entziehen kann. Man
sollte die »Selbstverständlichkeit des Sehens« problematisieren können. Hier, hebt
Bohlken (2018: 279) hervor, »geht es einerseits angesichts der heute zur Verfügung
stehenden Möglichkeiten der Bildbearbeitung um die Authentizität von Bildern,
um die offene Grenze zwischen Qualitätsverbesserung und Manipulation«, und
»andererseits um die Rechte am eigenen Bild bzw. um den Schutz der Privatsphäre
abgebildeter Personen.«
4 Dafür wird derzeit Software entwickelt, die Emotionen erkennen kann, indem Text-
merkmale und Gesichtsausdrücke ausgewertet werden (vgl. Moorstedt 2017).
Erschließung und Virtualisierung der Welt 197
Meiner Ansicht nach sind Medienethiker gut beraten, wenn sie sich am agen-
cy-Konzept aus den Cultural Studies orientieren. »Agency« ist im kulturwissen-
schaftlichen Rahmen gar nicht so leicht zu übersetzen. ›Ermächtigung‹ liest man
mitunter, aber dieses Wort konnotiert im deutschen Sprach- und Geschichtsraum
nicht gut. ›Human agency‹ bedeutet ›menschliche Einwirkung‹ oder ›menschliches
Handeln‹. Als philosophischer Terminus steht agency für ›Handlungsmacht‹ oder
›Handlungsfähigkeit‹. Kulturtheoretische deutschsprachige Äquivalente sind ›Eigen-
ständigkeit‹, kulturelle und politische ›Handlungsfähigkeit‹ oder, so unschön und
bildungsbürokratisch es auch klingt: ›Handlungskompetenz‹. Im Konzept agency
treffen sich Medienethik, Cultural Studies und kritische Pädagogik (vgl. Winter
2008: 114). Wenn es um Mediengebrauch geht, heißt agency, dass Mediennutzung
reflektiertes Handeln im eigenen Interesse sein sollte. Unter Handeln versteht man
in der Philosophie erstens, eine Intention zu verwirklichen, der ein Willensmotiv
zugrunde liegt; und zweitens ist Handeln zweckgerichtetes Tun, gemeinsam mit
anderen – also Praxis im Sinne von Aristoteles. Freies Handeln im Sinne von Kant
ist die selbstbestimmte Umsetzung vernunftbestimmter Willensakte.51Damit wären
wir noch einmal beim philosophischen Begriff der Autonomie angekommen. Mit
Autonomie kann und sollte in der Medienphilosophie vernünftigerweise nicht
gemeint sein, dass denkende Fernseher, Filmkameras oder vernetzte Computer
philosophieren. Autonomie sollte vielmehr bedeuten, dass Mediennutzerinnen
und -nutzer sich aus Fremdbestimmtheit befreien und zu Mitbestimmung und
Solidarität fähig werden.
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Erschließung und Virtualisierung der Welt 199
Die Verwendung des Begriffs ist mehrdeutig – häufig ist von »Medienethik« die
Rede, wenn es um die »Moral« der Massenmedien geht: Was gilt dort als üblich,
sittlich geboten und erwünscht oder als illegitim, verachtenswert und empörend?
Diese Verwendungsweise entspricht der Rede von der Wirtschaftsethik, verstanden
als Arbeitsmoral oder als Werte und Handlungsnormen, die man in der ökono-
mischen Welt für rechtschaffen und erstrebenswert hält. Zugleich bezeichnet der
Begriff »Medienethik« aber auch die wissenschaftliche Untersuchung der Moral,
die dem Betrieb der Massenmedien inhärent ist. Die äquivoke Verwendung von
»Medienethik« entspricht der Unterscheidung zwischen »Moral« und »Ethik«.
»Moral« ist ein Sammelbegriff für die Überzeugungen der Einzelnen, was gut oder
gerechtfertigt ist, sowie für die Sitten in einer Gemeinschaft. »Unsere moralischen
Orientierungen […] erwachsen aus Meinungen, Erzählungen, Bewertungen, Gefüh-
len, die wir von der Kultur, in der wir leben, übernommen haben.« (Schmid Noerr
2006 a: 27) Man kann sie als ›gelebte Moral‹ bezeichnen, die in früheren Epochen
aus mythischen Erzählungen hergeleitet wurde, während sie in der Moderne ih-
ren Stoff aus den massenmedialen Alltagsmythen der populären Kultur beziehen
(ebd.). Das Pendant zur »Moral« ist in diesem Modell der Terminus »Ethik«, der
gleichbedeutend mit »Moralphilosophie« ist.
Philosophische Ethik fragt, wie Moralprinzipien begründet werden, ob die Be-
gründungen stichhaltig sind und welche moralischen Überzeugungen gerechtfertigt
werden können. Geht es um »Medienethik« im Sinne der Berufs- und Standesethi-
ken, wie zum Beispiel im Ethik-Kodex des Deutschen Presserates,13sollte man daher
* Ursprünglich ein Vortrag in der Reihe Ethik – Wozu und wie weiter? an der Technischen
Universität Darmstadt, 13. November 2013. Erstveröffentlichung in: Zeitschrift für kri-
tische Theorie, Heft 38-39, 2014, S. 10–38. Die vorliegende Fassung wurde überarbeitet.
1 http://www.presserat.de/pressekodex/pressekodex/ (letzter Abruf: 16.8.2018).
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 201
G. Schweppenhäuser, Design, Philosophie und Medien, Würzburger Beiträge zur
Designforschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-22225-3_12
202 Zur Kritik der Medienethik
Mir geht es nicht um die Darstellung aller Positionen, die gegenwärtig in der
Medienethik vertreten werden, sondern um den Versuch, ihre Grundlagen zu
skizzieren. Dafür werde ich mich hauptsächlich auf Rüdiger Funiok beziehen;
seine Schriften, die hohe Anerkennung unter Fachleuten genießen und auch in der
Medienöffentlichkeit wahrgenommen werden, können als konsensfähiger Extrakt
aus der medienethischen Debatte der letzten zwei Jahrzehnte gelten.
Maßstab ist für Funiok (2011: 91) »das Gelingen medienvermittelter demokra-
tischer Kommunikation«, durch die Öffentlichkeit entsteht: eine Sphäre für die
Selbstvergewisserung mündiger Menschen über ihre Lebensformen und -inhalte. »In
den modernen Massendemokratien«, resümiert Funiok (ebd.) die Sozialgeschichte
der Medien, »ist der Willensbildungsprozess auf die Vermittlung von (repräsen-
tativen) Meinungskundgaben in Zeitungen, später auch im Radio und Fernsehen
angewiesen. Die Herstellung von Öffentlichkeit für Themen von allgemeinem
Interesse und die kommunikative Legitimierung von politischer Autorität stellen
seither eine grundlegende Funktion der Medien dar.« Medien haben demnach den
»gesellschaftliche[n] Auftrag […] demokratische Meinungsbildung zu ermöglichen
und zu fördern« (ebd.: 90), damit die gegenwärtige »Mediengesellschaft« eine »de-
mokratische Wissensgesellschaft bleiben oder werden« (ebd.) könne. Adressaten
der Medienethik sind Personen und Institutionen, die Medien produzieren und
verbreiten. Postuliert wird ein Bewusstsein der Verpflichtung zum verantwortli-
Zur Kritik der Medienethik 203
chen Handeln, das Funiok (2002: 42) (mit Bernhard Debatin) eine »innere Steu-
erungsressource« nennt. Wenn diese, oder, in traditioneller Terminologie: wenn
das Pflichtbewusstsein fehlt, ist das Rechtssystem mit seinen Verboten zuständig.
Aber nicht allein das Konzept der Pflicht schaffe Handlungslegitimation, sondern
vor allem das der Verantwortung (Funiok 2011: 78). Grundlage der Bewertung ist
in der Medienethik also nicht mehr die individualethische Frage, ob ›aus Pflicht‹
gehandelt worden sei, sondern die sozialethische, ob sich jemand für sein Handeln
im Hinblick auf legitime Ansprüche anderer verantworten könne. Jeder Medien-
akteur solle »über die Güte seines Handelns verantwortlich entscheiden« (Schicha/
Brosda 2010: 10), heißt es im Handbuch Medienethik.
Das Konzept »Verantwortung« stammt bekanntlich aus dem Rechtssystem, es
hängt mit dem Haftbarmachen eines Täters zusammen. »Verantwortung heißt […]
Antwort zu geben auf die Anklage, dass man etwas getan hat, was religiösen und
moralischen Geboten oder staatlichen Gesetzen widerspricht.« (Schiller 2011: 160)
Im Laufe der letzten zwei Jahrhunderte ist Verantwortung allmählich zu einem
»Schlüsselbegriff des modernen Lebens geworden« (ebd.), wie Hans-Ernst Schiller
resümiert. In der Ethik, die das Konzept seit geraumer Zeit adoptiert hat, versteht
man unter Verantwortung eine »sozialethische Verpflichtung« Funiok 2002: 43),
die mit Max Weber (1919) wie folgt definiert wird: Jeder Akteur muss für die vor-
aussehbaren Folgen des eigenen Handelns aufkommen können.
In der philosophischen Ethik wird die Frage nach der Verantwortung heute
facettenreich formuliert (siehe Bayertz 1995). Christoph Hubig (1993: 71 f. [mit
leicht veränderter Interpunktion zitiert]) unterscheidet fünf Aspekte: »Ich über-
nehme Verantwortung für etwas (Handlungsfolgen, Handlungen, Personen,
Güter), in meiner Eigenschaft/Funktion als (als bestimmtes Handlungssubjekt),
vor jemandem (Instanz der Verantwortung: Personen, Natur, Gott, Gesellschaft,
Staat), unter bestimmten Kriterien (Werten, Prinzipien, Maßstäben), im Blick auf
(Schaden/Nutzen), Pflichterfüllung, Haftung etc.)«. Schiller nennt sechs Aspekte.
Er beschreibt Verantwortung als »eine zumindest vierstellige Relation. Ein Subjekt,
›jemand‹ (1) ist verantwortlich für sein Tun und Lassen (2) vor einer Instanz (3) nach
einer Norm (einem praktischen Gesetz, einer Vorschrift) (4)« (Schiller 2011: 162).
Hinzu kämen noch der Faktor »Zeit« und die Frage nach den aktuell »Betroffenen«;
denn es ist relevant, ob die Verantwortlichkeit für eine Handlung vorher oder nach
ihrer Ausführung geltend gemacht wird, und es ist ebenso relevant, ob die von der
Handlung Betroffenen mit der Instanz identisch sind, vor der sich das handelnde
Subjekt verantworten muss, oder ob sie nicht mit dieser Instanz identisch sind. Die
beiden Modelle ergänzen einander. Während Hubig jeden Aspekt noch einmal im
Detail auffächert, fügt Schiller den Zeitfaktor und die mögliche Differenz zwischen
Betroffenen und Verantwortungsinstanz hinzu.
204 Zur Kritik der Medienethik
In der Medienethik empfiehlt Funiok (2002: 44), die Frage entsprechend dem
neueren philosophischen Verantwortungsdiskurs zu differenzieren: Wer trägt
Verantwortung? Was muss verantwortet werden? Was sind die Folgen, wofür trägt
der Handelnde Verantwortung? Wer sind die Betroffenen, wem gegenüber trägt er
Verantwortung? Wovor muss er sich verantworten, oder: Welche Instanzen sind
zuständig? Das Gewissen, die Öffentlichkeit? Weswegen muss sich der Handelnde
verantworten, was sind jeweils die Kriterien, Normen und Werte?
Bei aller Diversität ihrer Positionen im Einzelnen steht für die Vertreter der
Medienethik eines außer Frage: Der oberste Wert, aus dem heraus der Verantwor-
tungsbegriff seinen spezifischen Sinn erhält, ist die demokratische Öffentlichkeit.
Sie ist der Wert schlechthin, die letzte Instanz normativer Orientierung und Kri-
tik. Das halte ich für problematisch. Doch bevor ich ausführe, inwiefern, soll das
Konzept der Verantwortung noch etwas genauer betrachtet werden.
In den Massenmedien, sagen die meisten Medienethiker, ist es nicht immer
leicht, einzelne Akteure mit Verantwortung zu benennen. Herstellung, Verteilung
und Nutzung sind arbeitsteilig und unübersichtlich. Wenn man zunächst bei der
Herstellung und Distribution bleibt, stelle sich die Frage, wem ein Medien-Angebot
letztlich zuzurechnen ist. Den Journalisten, die Nachrichten und Berichte verfassen?
Den Drehbuchautoren und Regisseuren im Bereich der Unterhaltung? Oder den
Mitarbeitern einer Werbe- oder PR-Agentur? Und gibt es nicht auch die »struk-
turellen Akteure« im Mediensystem, also Sender, Verlage, Firmen und Konzerne?
Um all dies zu berücksichtigen, unterscheiden Medienethiker analytisch zwischen
individueller und korporativer Verantwortung; und sie legen Wert darauf, auch das
Problem der »geteilten Verantwortung« zu beachten (Funiok 2002: 45 f.).
Massenmediale Akteure
Das kann man sich anhand von drei Beispielen klarmachen. Ein Fernsehsender
verlangt von Mitarbeitern reißerische Berichterstattung, um die Zuschauerquote
zu heben, und dies hat zur Folge, dass ein Journalist unseriös mit den Informa-
tionsquellen umgeht und die Zuschauer manipuliert. Dies ist insofern ethisch
problematisch, als er damit gegen die Verpflichtung verstößt, bei der demokra-
tischen Urteilsbildung zu helfen. Oder nehmen wir an, der Fernsehsender will
sensationelle, moralisch bedenkliche Unterhaltung bringen; sein ökonomisches
Ziel ist die Erhaltung von Marktmacht, Unternehmensgewinn und Arbeitsplät-
zen, und das Mittel dazu ist Aufmerksamkeit. Wenn daraufhin ein Bild von der
Welt produziert wird, das gegen das verbreitete moralische Empfinden verstößt,
Zur Kritik der Medienethik 205
2 http://www.presserat.de/pressekodex/pressekodex/ (16.8.2018).
3 Die vielfach als unbefriedigend betrachtete, dichotomische Beschreibung von Indivi-
dual- und Sozialethik könnte durch Christoph Hubigs Modell einer »Umwegethik« als
Vermittlungsinstanz erweitert werden (Hubig 1993: 110). Dieses im Kontext der Techni-
kethik entwickelte Modell »appelliert daran, daß Individuen nicht ihre Verantwortung
206 Zur Kritik der Medienethik
abschieben, sondern auf dem Umweg über Institutionen wahrnehmen und ihr dadurch
zu Geltung verhelfen – über das bloße ›sich verantwortlich fühlen‹ hinaus« (Hubig 1991:
108). Der Appell ergeht an entsprechende Institutionen, die in der Lage sein müssten,
aufzuklären, den betroffenen Individuen bei Bedarf »wirtschaftliche und finanzielle
Entlastung« zu bieten und »Unternehmer, Forscher und Konsumenten« zu ermutigen,
sich nicht vermeintlichen Sach- und Marktzwängen zu unterwerfen (ebd.). Letztlich geht
es darum, »Empfehlungen zur ›ethischen Optimierung‹ der Handlungsbedingungen zu
erarbeiten« (Bausch 2000: 235), die dem einzelnen Akteur z. B. dabei helfen, bei einem
ethischen Konflikt die moralischen Kriterien, die er mit guten Gründen für richtig hält,
mit den Erfordernissen der Firma oder sonstigen Einrichtungen zu vermitteln, die jenen
Kriterien im Wege stehen. Hubig erläutert dies am Beispiel eines Doktoranden, der
feststellt, dass die Kläranlage des Betriebs, in dem er angestellt ist, defekt ist: Wenn er es
meldet, droht ihm seitens der Firma Publikationsverbot. Wenn er es deshalb nicht meldet,
droht Umweltschaden zu entstehen. Sofern der Doktorand Mitglied eines Berufbandes
wäre und dieser Verband einen entsprechenden Ethikkodex hätte, könnte er sich in
dieser Lage anonym an den Verband wenden (siehe Conrady 2001). Die »umwegethi-
sche« Institution ist in diesem Modell sozusagen das handlungsermöglichende Medium
oder besser gesagt: die Vermittlungsinstanz, die es dem Individuum möglich macht,
handlungsfähig zu bleiben, ohne (seine) moralische(n) Standards aufgeben zu müssen.
Zur Kritik der Medienethik 207
treten auf, als würden sie nur beschreiben, aber faktisch konstituieren sie soziale
und kulturelle Praktiken. Denn Ideologien legen Auffassungen davon nahe, was
die Welt ist und wie in ihr gehandelt werden kann (Jaeggi 2009: 281). Kritische
Theorie erklärt diesen falschen Schein aus seiner Verbindung mit dem falschen
gesellschaftlichen Sein.5
Statthalterin der Freiheit ist im medienethischen Konstrukt der demokratische
Staat – und zwar nicht nur sein Spielbein, die plurale Meinungsbildung, sondern
auch sein Standbein, die Zwangsgewalt. Wenn »die kommunikative Legitimierung
von politischer Autorität« als wichtigste Aufgabe der Medien angesehen wird und
deren sozialmoralische Normierung als wichtigste Aufgabe der Medienethik, dann
ist Öffentlichkeit der Prüfstein für ihre kritische Reichweite.
Funiok (2011: 93) hebt ausdrücklich hervor, dass diese Vorstellung von Öffentlich-
keit ein »Leitbild« sei, ein »normatives Konzept«, und er betont: »Die Medienethik
kann […] auf diesen normativen Öffentlichkeitsbegriff nicht verzichten.« Unschwer
sind hier Ähnlichkeiten mit der anthropologischen Theorie der Öffentlichkeit von
Hannah Arendt (2006: 33–97) und der diskurstheoretischen von Jürgen Habermas
zu erkennen. Nach Arendt sind wir als Privatexistenzen zunächst fremdbestimmte
Natur- und Arbeits-Wesen; erst durch die gemeinsame Praxis des Redens und
Handelns in einem republikanischen, öffentlichen Raum werden wir zu freien
Menschen. Nach Habermas (1990) wird der literarische bourgeois in den öffent-
lichen Räumen, welche die parlamentarischen Demokratien sicherstellen, durch
aufgeklärte Meinungsbildung zum politischen citoyen, im Idealfall zum Mitglied
einer weltweiten Zivilgesellschaft. Solche Vorstellungen unterzieht die dialektische
Theorie der bürgerlichen Öffentlichkeit einer – immanent ansetzenden – Ideolo-
giekritik, was ich nun in einem kurzen historischen Rückblick skizzieren möchte,
der Dieter Prokop (2001: 170–237) folgt.
5 Nach Marx steht der Ideologiebegriff bekanntlich für Gestalten eines ›notwendig fal-
schen Bewusstseins‹ oder auch eines ›richtigen Bewusstseins von falschen Zuständen‹
– jedoch in legitimatorischer Absicht (siehe Lenk 1984: 26 ff.). Eine Ideologie versucht,
Widersprüche zu glätten, die darauf zurückzuführen sind, dass in der Sache, die sie
legitimieren soll, Gegensätze stecken, welche sich durch Theorie allein nicht auflösen
lassen. Ideologiekritik ist demgemäß der Versuch, aufzuzeigen, dass eine Theorie vor-
gibt, ihre Gegenstände zu beschreiben, in Wahrheit aber implizit normativ ist, weil sie
bestimmte Welt- und Handlungsorientierungen suggeriert.
210 Zur Kritik der Medienethik
die Mitarbeiter der Nachrichtenagenturen am Hafen von New York auf einlaufende
Schiffe gewartet, um Nachrichten einzukaufen. Nachdem Telegrafenkabel durch
den Atlantischen Ozean verlegt worden waren, war das nicht mehr nötig. Rota-
tionspresse und Zeilendruckmaschine steigerten den Erfolg der kommerziellen
Massenpresse weiter. Wichtige bürgerliche Ziele waren nun erreicht; der Handel
dehnte sich nahezu schrankenlos aus. Der Diskurs über Menschenrechte wurde
vom Diskurs über zeitgemäße Außenpolitik als Motor des Exports und Imports
verdrängt.
Habermas hat den Übergang zur Massenpresse als Refeudalisierung des öf-
fentlichen Raumes interpretiert. Ihm zufolge sind der »Waren- und der Nachrich-
tenverkehr« die wesentlichen »Elemente des frühkapitalistischen Verkehrszusam-
menhangs« (Habermas 1990: 73) gewesen, in dem es noch keine öffentliche Sphäre
im bürgerlichen Sinne gab; in der postmerkantilistischen Phase des Kapitalismus
habe diese Sphäre dann zunächst Autonomie erlangt und später wieder eingebüßt.
Im Spätkapitalismus sei das Publikum kein »kulturräsonierendes« mehr, sondern
nur noch ein »kulturkonsumierendes« (ebd.: 248). »Wenn die Gesetze des Marktes,
die die Sphäre des Warenverkehrs und der gesellschaftlichen Arbeit beherrschen,
auch in die den Privatleuten als Publikum vorbehaltene Sphäre eindringen, wandelt
sich Räsonnement tendenziell in Konsum, und der Zusammenhang öffentlicher
Kommunikation zerfällt in die wie immer gleichförmig geprägten Akte verein-
zelter Kommunikation.« (ebd.: 249). Doch diese Beschreibung trifft es nicht ganz.
Falsch ist daran die Vorstellung, dass die Gesetze des Marktes in die Sphäre des
Publikums »eindringen« würden. Sie gehörten vielmehr von Anfang an dazu: als
gleichursprüngliche Gegenkraft zur autonomen Kommunikation über Inhalte und
Sachfragen. Raisonnement und Konsum sind nicht Stufen des Verfalls, sondern
eine widersprüchliche Einheit von Identität und Differenz im Begriff bürgerlicher
Öffentlichkeit.
Deren innerer Widerspruch bestand darin, dass sich – mit den Worten von
Arnold Künzli (1988: 25) – »ein partikulares Interesse – das des aufstrebenden
Bürgertums – mit dem Nimbus der Universalität umgab.« Weiter heißt es bei
Künzli: »Das Entrébillet zu dieser ursprünglichen liberalen ›Oeffentlichkeit‹ war
das private Eigentum, und damit wurde Oeffentlichkeit zu einem Klassenbegriff des
Bürgertums«, denn: »Was öffentliche Meinung genannt wurde, war die interessierte
Meinung dieses Bürgertums, die sich als universelle gerierte und als Gemeinwohl
deklarierte.« (Ebd.)
Die Verwandlung von Informationen in reine Waren – die technisch reproduzier-
bar und telekommunikativ sind – setzte sich tendenziell gegen den Regulationswillen
der Politik durch. Bismarck versuchte in Deutschland, politische Pressezensur
durchzusetzen, hatte damit aber auf lange Sicht keinen Erfolg. Er erließ 1863 »die
212 Zur Kritik der Medienethik
6 In Berlin zum Beispiel entstanden nach 1870 die drei großen Zeitungsverlage von Rudolf
Mosse, Leopold Ullstein und August Scherl.
Zur Kritik der Medienethik 213
Aussagen. »Es kommt zur Revision der eigenen Beiträge, zum Fallenlassen falscher
Behauptungen und zum Ausscheiden unhaltbarer Argumente.« (Ebd.: 94)
Gleichberechtigter, sach- und inhaltsorientierter Diskurs, Mündigkeit und Frei-
heit: Das sind die Werte, die sich in dem medienethischen Postulat manifestieren,
nach dem sich Individuen und Instanzen im Prozess der Produktion und Rezeption
von Massenmedien einer »korporative[n] Selbstverpflichtung« unterwerfen sollen
– in der sie der puren Marktlogik politische Normativität entgegensetzen sollen,
um ihrer demokratischen Verantwortung gerecht zu werden.
Die Argumentationsstruktur der Medienethik ist also insofern zirkulär, als die
Kategorie der Verantwortung auf den Wert der demokratischen Freiheit zurück-
geführt wird und demokratische Freiheit nicht nur als Idealgrund, sondern auch
als Realgrund der Verantwortung beschrieben wird.
Heikler als die logische Unstimmigkeit ist die moralische: Mit dem Rekurs auf
Verantwortung lässt sich so gut wie jedes Handeln irgendwie rechtfertigen, wenn
man nicht präzise auf die Handlungszwecke eingeht und die Mittel bewertet,
die dazu eingesetzt werden. »Verantwortung übernehmen« kann in der Politik
heißen, dass jemand Wirtschaftsminister wird und den Waffenexport fördert;
es kann aber auch heißen, dass ein Minister zurücktritt, weil unter seiner Ägide
Waffenhandel gefördert wurde.7 Im oben angeführten Beispiel wurde manipulativer
Journalismus mit der sozialen Verantwortung der Besitzer der Produktionsmittel
für Arbeitsplätze gerechtfertigt, die man ohne hinreichend hohe Zuschauerzahlen
und entsprechende Aufträge der Werbewirtschaft gefährden würde. »Die Presse
verzichtet auf eine unangemessen sensationelle Darstellung von Gewalt, Brutalität
und Leid«8, proklamiert der Ethikkodex des Presserats. Doch was hat man sich
unter einer »angemessen sensationelle[n] Darstellung« vorzustellen?
Im Übrigen enthält nicht nur der Begriff der Öffentlichkeit eine innere Ambiva-
lenz, sondern auch der ihm zugehörige Begriff der Mündigkeit. Darauf hat Adorno
(1970: 133) hingewiesen: Einerseits sei Mündigkeit die Bedingung dafür, dass
eine Gesellschaft sich in Freiheit selbst bestimmen könne, ohne dass das Resultat
mehrheitsdemokratischer politischer Entscheidungen am Ende die »Unvernunft«
sei. Andererseits sei es in den bestehenden, naturwüchsigen Gesellschaften dem
blinden Zufall und der Ungerechtigkeit unterworfen, ob Menschen zur Mündig-
7 »Früher hieß ›die Verantwortung übernehmen‹ seinen Rücktritt von einem politischen
Amt erklären, in dem etwas schief gegangen war. Heute heißt ›Verantwortung über-
nehmen‹ aktiv in die Politik einsteigen, und ist man erst einmal drin, dann nimmt
man seine Verantwortung wahr, indem man im Amt bleibt und daselbst alle Mögliche
verantwortet: Waffenlieferungen in Krisengebiete, krumme Wege der Parteienfinan-
zierung oder Ganovenstreiche bei der Terrorismusbekämpfung.« (Türcke 1989: 86).
8 http://www.presserat.de/pressekodex/pressekodex/ (16.8.2018).
Zur Kritik der Medienethik 215
keit fähig werden, das heißt, ob und wie sie sprechen, denken und urteilen lernen.
Daher gelte es zu begreifen, »daß schon die Voraussetzung der Mündigkeit, von der
eine freie Gesellschaft abhängt, von der Unfreiheit der Gesellschaft determiniert
ist« (ebd.: 142).
Instrumentalisierungsverbot
Ich denke, die ethische Reflexion der Medienpraxis würde Kontur gewinnen, wenn
stattdessen das Verbot, Menschen zu instrumentalisieren, zum Begründungsargu-
ment wird. Denn das ist letztlich der normative Kern des Diskursmodells, auf das
sich die Medienethik in der hier diskutierten Gestalt bezieht.
Nach Kant sollte jeder, wenn es moralisch darauf ankommt, so handeln, dass
die Maxime, also der Handlungsgrundsatz, »jederzeit zugleich als Prinzip einer
allgemeinen Gesetzgebung gelten könnte« (Kant 1788: A 54). Dann würde er »die
Menschheit« in sich selbst und allen anderen »niemals bloß als Mittel«, sondern
»jederzeit zugleich als Zweck« (Kant 1785: BA 66 f.; siehe Kant 1788: 155 f.) auffassen.
Kant antizipiert ein vernunftbestimmtes Allgemeines; erst als Teil davon wären wir
imstande, moralisch zu handeln. Kein vernünftiger Mensch kann leugnen, dass der
Endzweck moralischen Handelns die allgemeine Humanität ist. Nach Adorno (1957,
zit. nach Schweppenhäuser 2016: 111) liegt die Pointe von Kants Moralphilosophie
darin, dass sie »eine Gesellschaft« kritisiert, »in der alles zum Mittel wird und in
der nichts mehr Zweck ist.« Wenn die Menschheit nicht nur als Idee, sondern auch
in Wirklichkeit »Zweck an sich selbst« wäre, müssten die besonderen Interessen
und das allgemeine nicht mehr auseinanderfallen. Das ist aber bis heute nicht der
Fall. Der wirtschaftsliberalistische Interessenbegriff 9 bleibt auf das Eigeninteresse
konkurrierender Wirtschaftssubjekte beschränkt.
Verantwortungsethik soll den Interessenantagonismus in Schach halten, bleibt
aber gleichsam zahnlos, weil Verantwortung funktional in eine Vielzahl geschäft-
licher Rücksichten und Verbindlichkeiten aufgelöst wird. Als Unterscheidungscode
sollte daher statt »verantwortlich oder verantwortungslos« ein anderer angesetzt
werden, nämlich: »richtig oder falsch« bzw. »gerecht oder ungerecht«.
9 Noch Mitte des 19. Jahrhunderts wurde der Begriff des Interesses oder der Interessen
ganz selbstverständlich als Synonym für Zinsen verwendet. (So zum Beispiel in Gustav
Freytags Erfolgsroman Soll und Haben, dessen Apologie des deutschen Bürgertums nicht
nur auf der Folie einer Kritik des Adels erfolgt, sondern untrennbar aus antisemitischen
und nationalistisch-antipolnischen Denkmustern hervorgeht.)
216 Zur Kritik der Medienethik
10 Damit eine mediale Handlungsnorm gelten darf, »müssen« – mit den Worten von
Habermas (1991: 12) – die »Ergebnisse und Nebenfolgen, die sich voraussichtlich aus
[ihrer] allgemeinen Befolgung für die Befriedigung der Interessen eines jeden ergeben,
von allen zwanglos akzeptiert werden können. – Gegen diese Übertragung von Motiven
aus der Diskursethik in den medienethischen Diskurs könnten zwei Argumente ins Feld
geführt werden: zum einen Habermas’ Ableitung des normativen Geltungsanspruchs aus
sprach- und transzendentalpragmatischen Prämissen und zum anderen seine Neufassung
des Modells einer deliberativen Öffentlichkeit als staatlicher Integrations- und Legimit-
ationsinstanz aus den 1990er Jahren (siehe dazu Hütig 2003 sowie Schultz 2003). Mein
Versuch, diskursethische Motive in eine kritische Reflexion affirmativer Medienethik
einzubeziehen, scheint mir dennoch gerechtfertigt, weil er an die Spurenelemente der
kritischen Theorie anschließt, die das Ethikkonzept von Habermas jenseits akademischer
Selbstbeschäftigung mit philosophischen Ethikdebatten weiterhin interessant machen.
Zur Kritik der Medienethik 217
11 Dennoch, betont Schmid Noerr, hat »die diskursethische Maxime, nach der nur solche
konkreten Normen Geltung beanspruchen dürfen, die die Zustimmung aller Betroffenen
finden können, ihre notwendige Funktion, insofern in der Moderne alle moralischen
Erfahrungen sich der vernünftigen Argumentation und Kritik aussetzen können müssen.
Die Erfahrungen gelingenden Lebens müssen sich, um ethisch verbindlich zu sein, auch
kommunikativ bewähren.« (Schmid Noerr 2006 b)
Zur Kritik der Medienethik 219
Gutes wie Böses in sich aufzunehmen« (Türcke 1998: 90)12. Solange die öffentliche
Sphäre der Medien die ideologischen Geschäfte der ökonomischen Privat-Sphäre
betreibt, heißt »demokratische Verantwortung wahrnehmen« nicht viel mehr als:
demokratische Herrschaft legitimieren, indem man die Zustimmung seitens der
Unterworfenen sicherstellt, die kein Konzept von Widerstand entwickeln können,
weil Kritik auf »Meinung« reduziert bleibt (siehe Held 1999, § 10). Wie weit die
Medienerziehung in Familie und Schule weiterhelfen kann, die Rüdiger Funiok
(2011: 242) fordert, um das Publikum durch »demokratische[] Medienpolitik« an
seine »Mitverantwortung für die Qualitätssicherung der Medienkommunikation«
zu erinnern und »die Beteiligung des Publikums […] zu verbessern«, steht dahin.
Im Zuge der ökonomistischen Beschreibung sämtlicher Lebensbereiche kann
Verantwortung sogar zur Geißel werden. Als Instrument der Psychologisierung
sozialer Phänomene und Strukturprobleme hilft der Verweis auf die Verantwort-
lichkeit des Individuums dabei, ein auf Dauer gestelltes schlechtes Gewissen, sei es
individuell oder kulturell, zu installieren. Auf dem harten Weg, der von Sozialstaat
und öffentlicher Gesundheitsfürsorge zu Verhältnissen führt, in denen sich jeder
allein darum kümmern muss, wo er bleibt und was im schutzlosen Konkurrenzkampf
um den Lebensunterhalt aus ihm wird, ist »Eigenverantwortung« ein zentraler
ideologischer Kampfbegriff geworden (Schiller 2011: 183–187).
Gleichwohl kann eine kritische Theorie der Medien von der Medienethik lernen:
vor allem, dass sie nicht ohne Handlungstheorie auskommt. Denn eine kritische
Medientheorie sollte auch eine Kritik der systemtheoretischen Beschreibung sein,
derzufolge die Steuerungsmechanismen des Systems der Massenmedien allein für
die Prozesse der Produktion, Distribution und Rezeption von Medien zuständig
sind und normativ-ethische Ansätze als überflüssig gelten. Kritische Medientheorie
hat zu rekonstruieren, wie das selbst- oder fremdbestimmte Handeln der sozialen
12 Demokratie ist »weit davon entfernt […], status pacis, Friedensstaat zu sein«. Sie stellt
»in den verschiedenen Phasen ihres Bestehens verschiedene Phasen des Kampfes von
Mächten, Parteien, Interessen miteinander und gegeneinander dar […]: des Kampfes
um den Erweis der Souveränität, der freien Willkür, der Durchsetzung der Ansprü-
che« (Schweppenhäuser 2013: 183). Zwischen der Idee und der konflikthaften Realität
der Demokratie besteht ein Widerspruch: Aus »dem Postulat der Gleichbehandlung
und Gleichberechtigung aller« folgt normativ »die gesellschaftliche Einrichtung der
Demokratie und Republik, der gesellschaftliche Zustand der Menschen, in dem sie als
Vernünftige, Freihandelnde, selbstregierte Wesen auch tatsächlich existieren. Wo immer
also Menschen existieren, deren Selbstbestimmung, freies Vernunfthandeln, blockiert
wird, dort ist nicht Demokratie und Republik, und wenn es hundertmal so heißt. Selbst-
bestimmung oder Selbstregieren – damit ist der Zentralpunkt von Herrschaft, Macht,
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220 Zur Kritik der Medienethik
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(https://derstandard.at/1348284192381/Slavoj-Zizek-Das-Internet-als-Kampfplatz [letzter
Abruf: 18.8.2018]).