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Würzburger Beiträge zur Designforschung

Gerhard Schweppenhäuser

Design, Philosophie
und Medien
Perspektiven einer kritischen
Entwurfs- und Gestaltungstheorie
Würzburger Beiträge zur
­Designforschung

Reihe herausgegeben von


G. Schweppenhäuser, Würzburg, Deutschland
C. Bauer, Saarbrücken, Deutschland
Die Würzburger Beiträge zur Designforschung stellen ausgewählte Forschungs-
arbeiten im Kontext des Masterstudiengangs »Informationsdesign« der Fakultät
Gestaltung vor. Schwerpunkt ist »visuelle Bildung« in verschiedenen Bereichen
der Vermittlung von Informationen: Aufklärung, Instruktion und Orientierung
in einer multimedialen Lebens- und Arbeitswelt. Designforschung heißt dabei
sowohl Forschung über Design als auch Forschung mit und durch Design. Die
Bücher der Reihe sind Sammelbände mit bis zu drei ausgewählten Beiträgen von
AbsolventInnen sowie einem Gastbeitrag, aber auch Textsammlungen einzelner
Autorinnen und Autoren oder monografische Studien.

Gestalterisch-wissenschaftlicher Beirat: Prof. Dr. Thomas Friedrich (Hochschule


Mannheim), Prof. Carl Frech, Prof. Gertrud Nolte und Prof. Erich Schöls (Hoch-
schule für angewandte Wissenschaften Würzburg-Schweinfurt)

Weitere Bände in der Reihe http://www.springer.com/series/15981


Gerhard Schweppenhäuser

Design, Philosophie und


Medien
Perspektiven einer kritischen
­Entwurfs- und Gestaltungstheorie
Gerhard Schweppenhäuser
Hochschule für angewandte
Wissenschaften Würzburg-Schweinfurt
Würzburg, Deutschland

ISSN 2523-8787 ISSN 2523-8795  (electronic)


Würzburger Beiträge zur Designforschung
ISBN 978-3-658-22224-6 ISBN 978-3-658-22225-3  (eBook)
https://doi.org/10.1007/978-3-658-22225-3

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National­


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Vorbemerkung

Die Philosophie hat sich in den letzten Jahren für neue Themenbereiche geöffnet.
Insbesondere Medien und Design sind Gegenstände philosophischer Reflexion ge-
worden. Dabei formieren sich methodologische, Disziplinen übergreifende Diskurse
– speziell dort, wo sich ›angewandte Philosophie‹ im Dialog mit Gestalterinnen
und Gestaltern sowie mit Künstlerinnen und Künstlern befindet. Während es einen
Diskurs über Medienphilosophie seit gut 15 Jahren gibt (siehe Margreiter 2016 und
2018; Schweppenhäuser 2018), hat die Debatte über philosophische Grundlagen
und Horizonte des Designs eigentlich gerade erst begonnen (siehe Dissel 2016,
Schweppenhäuser 2016, Arnold 2016, Schweppenhäuser und Bauer 2017 sowie Feige
2018)1. Anfang 2015 fand an der Fachhochschule für Kunst, Design und Musik in
Freiburg die Tagung Philosophical Perspectives On Design statt. Im Februar 2018
gab es auf der Tagung der Deutschen Gesellschaft für Ästhetik an der Hochschule
für Gestaltung in Offenbach ein Panel zum Thema Das ist Designästhetik. Im Juni
2018 veranstalteten die Universität Koblenz-Landau und die Hochschule Furt-
wangen in Kooperation mit der Deutschen Gesellschaft für Ästhetik die Tagung
Designästhetik – Theorie und soziale Praxis. Weitere Konferenzen und Publikatio-
nen werden folgen; auf diesem Gebiet ist in den kommenden Jahren eine intensive
Diskussion zu erwarten. Die Studien des vorliegenden Bandes setzen hier ein. Dabei
fokussieren sie die methodologische Perspektive der kritischen Theorie im Kontext
von Design- und Medienphilosophie. Die Aufsätze behandeln vornehmlich Fragen
des Zusammenhangs von Kommunikationsdesign mit ethischen, ästhetischen und
sozialphilosophischen Theoremen. Sie sind zum einen aus Vorträgen auf Fachta-
gungen und im Rahmen von Vortragsreihen, zum andern aus breit angelegten
monografischen Untersuchungen hervorgegangen. Alle dokumentieren einige

1 Eine in jeder Hinsicht bemerkenswerte Ausnahme ist das Buch von Andreas Dorschel
(2002).
V
VI Vorbemerkung

Schwerpunkte der Grundlagenforschung an der Fakultät Gestaltung der Hochschule


für angewandte Wissenschaften in Würzburg. – Wichtige Anregungen habe ich
meinen Kollegen Oliver Ruf von der Hochschule Furtwangen und Daniel Martin
Feige von der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Stuttgart zu verdanken;
für die Korrektur und das Lektorat der Texte in dieser Zusammenstellung danke
ich Dr. Frank Hermenau, Kassel.

Literatur
Arnold, Florian (2016): Philosophie für Designer, Stuttgart: av edition.

Dissel, Julia-Constance, Hrsg. (2016): Design & Philosophie. Schnittstellen und Wahlver-
wandtschaften, Bielefeld: transcript.

Dorschel, Andreas (2002): Gestaltung. Zur Ästhetik des Brauchbaren, Heidelberg: Winter. 

Feige, Daniel Martin (2018): Design. Eine philosophische Analyse, Berlin: Suhrkamp.
Margreiter, Reinhard (2016): Medienphilosophie. Eine Einführung, Würzburg: Königshausen
& Neumann.
Margreiter, Reinhard (2018): Media Turn. Perspektiven einer interdiskursiven Medienphilo-
sophie, Würzburg: Königshausen & Neumann.
Schweppenhäuser, Gerhard (2016): Designtheorie, Wiesbaden: Springer VS (Reihe Essentials).
Schweppenhäuser, Gerhard, Hrsg. (2018): Handbuch der Medienphilosophie, Darmstadt:
Wissenschaftliche Buchgesellschaft.
Schweppenhäuser, Gerhard und Christian Bauer (2017): Ethik im Kommunikationsdesign.
Verständigung, Verantwortung und Orientierung als Kriterien visueller Gestaltung,
Würzburg: Königshausen & Neumann.
Inhalt

I Design und Philosophie

Design und Ästhetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3

Philosophie und kritische Theorie des Designs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21

Designtheorie zwischen Aufklärungskritik und Gegenaufklärung . . . . . . . . . . 39

Nominalismus und Realismus in der Ästhetik des Designs . . . . . . . . . . . . . . . . 57

II Philosophische Aspekte des Kommunikationsdesigns

Ästhetische Erfahrung, Design und Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71

Photographie und ästhetische Reflexion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87

Kommunikationsdesign und visuelle Dialektik der Aufklärung . . . . . . . . . . . . 95

Zur Dialektik des visuellen Nominalismus. Kommunikationsdesign


und »alter Realismus« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111

VII
VIII Inhalt

III Kommunikationsdesign und Ethik

Moralphilosophie im Kommunikationsdesign . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133

Die visuelle Sprache der Moral. Überlegungen zu einer Ethik des


Kommunikationsdesigns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151

IV Medienphilosophie und Ethik

Erschließung und Virtualisierung der Welt. Methodologische und


ethische Aspekte der Medienphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183

Zur Kritik der Medienethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201


I
Design und Philosophie
Design und Ästhetik*1
Design und Ästhetik
Design und Ästhetik

Design ist eine »formgebende Tätigkeit« (Marx 1856–58: 222), die Materie, Praktiken
und Kommunikationen, vermittelt durch Entwerfen, brauchbar macht. Dadurch
ist Design in zweifacher Hinsicht auf Ästhetik bezogen, denn die Wahrnehmung
von Formen gehört akzidentell stets zum Modus des Gebrauchs, aber sie kann
mitunter auch selbst substantielle Gebrauchsweise sein.

Geschichte des Ästhetik-Begriffs

In der Philosophie war »Ästhetik« zunächst die Theorie sinnlicher Wahrnehmung.


Bis ins Mittelalter wurden Theorien des Schönen in Kunst und Natur noch nicht
unter den Begriff der Ästhetik gefasst. Bei Aristoteles heißt Aisthesis (αἴσθησις)
Wahrnehmung, auch Empfindung und Gefühl. In der Neuzeit war Ästhetik – noch
bevor dieser Terminus geprägt wurde – die Lehre von den Erkenntnissen, die wir
auf Grundlage sinnlicher Wahrnehmungen haben. Sensualistische Philosophen
wie Locke, Condillac und Helvétius fragten, in kritischer Stellung gegen den
Rationalismus von Descartes, Leibniz und Spinoza: Wie erkennen wir etwas auf
Grundlage der Sinnesdaten, ohne von vornherein Begriffe, Urteile und Schlüsse
zu verwenden? An der Schwelle zur Moderne wurde Ästhetik 1750 von Alexander
Gottlieb Baumgarten als Theorie sinnlicher Erkenntnis begründet. Er legte dar,
dass Erkenntnis nicht nur durch logische Verknüpfung von Begriffen gewonnen
wird; es gibt auch außerbegriffliche Synthesisleistungen, die adäquate Bestandteile

* Erstveröffentlichung im Handbuch Designwissenschaft. Theorie – Praxis – Geschichte,


hrsg. v. Thomas Hensel u. Oliver Ruf, Stuttgart: Metzler, 2018. Die vorliegende Fassung
wurde überarbeitet und ergänzt.
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 3
G. Schweppenhäuser, Design, Philosophie und Medien, Würzburger Beiträge zur
Designforschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-22225-3_1
4 Design und Ästhetik

des ganzen menschlichen Erkenntnisinstrumentariums sind. Baumgartens Über-


windung der Antithese »Sensualismus vs. Rationalismus« ist allerdings erst viel
später gewürdigt worden. Vom Ende des 18. bis Mitte des 20. Jahrhunderts trat der
Aspekt der Integration von Sinnlichkeit und Verstand zurück. Im 19. Jahrhundert
war nicht mehr Philosophie, sondern Naturwissenschaft für die Frage zuständig,
wie Sinneswahrnehmung funktioniert (Physik und Biologie, später auch Psychologie
als Naturwissenschaft vom Menschen). Nun verstand man unter philosophischer
Ästhetik Theorien des Schönen in Kunst und Natur, die fragen, wie wir schöne Ob-
jekte wahrnehmen, genauer gesagt: geistig wahrnehmen, also erleben und deuten.
Seit Ende des 20. Jahrhunderts werden auch theoretische Mischformen aus beiden
Bereichen ausgearbeitet (bisweilen unter dem Namen »Aisthetik«). Heute verstehen
die meisten Philosophen unter Ästhetik sowohl Reflexionen, die sich auf Kunst
beziehen, als auch die Weisen, in denen wir uns in ästhetischer Einstellung die
Wirklichkeit erschließen (Welsch 1993: 150). Damit wird auch einem Hinweis von
Sigmund Freud Rechnung getragen. Freud (1919: 229) fand es zweckmäßig, wenn
»man die Ästhetik nicht auf die Lehre vom Schönen einengt, sondern sie als Lehre
von den Qualitäten unseres Fühlens beschreibt«. In diesem Sinne ist Ästhetik die
philosophische Reflexion der Grundlagen und -formen des Erlebens und Urteilens
in Bezug auf die natürliche und gestaltete Umgebung des Menschen.

Systematische Darstellung 1:
Typen und Perspektiven ästhetischer Einstellung

Wird der Bereich des Naturschönen (und des Naturhässlichen) ausgeklammert,


dann kann Ästhetik als Theorie der autonomen und angewandten Künste verstan-
den werden. Philosophische Theorien versuchen, Anschauungen und Begriffe von
Objekten in gedanklichen Prozessen zusammenzubringen, um die Erscheinung
der Objekte zu beschreiben und ihre wesentlichen Merkmale zu erfassen. Theorien
werden generell entweder im Kontext experimenteller Wissenschaft entwickelt, die
nach Gesetzen sucht und Methoden anwendet, welche um quantitativ ausgerichtete
empirische Beobachtungen und Experimente zentriert sind. Oder Theorien werden
im Kontext interpretierender Wissenschaft entwickelt, die nach Bedeutungen sucht
und auf Verstehen von Sinn abzielt; dann ist ihre Methode die Interpretation. Das
ist Clifford Geertz’ (1983) Version der auf Wilhelm Dilthey zurückgehenden Unter-
scheidung zwischen erklärenden Naturwissenschaften, die Kausalitäten aufdecken,
und verstehenden Geisteswissenschaften, die Bedeutungen bzw. Sinn erschließen.
Beide Typen gibt es auch auf dem Gebiet der Theorie des Ästhetischen. Weiterhin
Design und Ästhetik 5

gibt es Theorien, die zeigen, dass sich Begriffe im Ganzen erst durch die dialektische
Rekonstruktion ihrer Bewegung durch Widersprüche hindurch entfalten. Spätes-
tens von dort aus erweist sich, dass die eingangs vorgenommene Ausklammerung
nicht aufrecht zu erhalten ist: Der Bereich der Natur ist nicht nur einer, der – als
»äußere Natur« – ästhetische Objekte und Räume für ästhetische Erfahrungen bzw.
Erlebnisse bereitstellt; er ist auch – als »innere Natur« – sozusagen der mediale Ort
des Ästhetischen selbst, nämlich Ort der Verbindung von Sinneswahrnehmungen,
Empfindungen und Gefühlen, welche ebenso zur Wesensbestimmung des Menschen
gehören wie seine Verstandesleistung.
Wie diese Verbindung in der philosophischen Ästhetik, in der das methodologi-
sche Paradigma der Interpretation bzw. Sinndeutung herrscht, jeweils beschrieben
wird, kann man sich an vier Typen der ästhetischen Einstellung vergegenwärtigen:

• Betrachtung,
• Erkenntnis,
• Erlebnis,
• Erfahrung.

1. Betrachtung ist Kontemplation, Anschauung – ohne Handlungsziele und Ab-


sichten. Die großen Lehrer der ästhetischen Kontemplation waren Platon, Kant
und Heidegger. Wer etwas kontemplativ wahrnimmt, sieht vom Nutzen und
den Bedeutungen für das eigene Leben ab und widmet sich der Erscheinung:
versenkt sich z. B. in den Anblick einer Landschaft, studiert ihre Erscheinung
in Einzelheiten, verfolgt Linien und Farbenspiel. Die ästhetische Anschauung
ist hier »das schlichte, sinnliche Vernehmen von etwas« (Heidegger 1927: 33).
Man deutet die Landschaft nicht, sondern nimmt sie als reines Phänomen, das
sich zeigt (Seel 1991: 38 ff.). Sofern das Wahrgenommene als »schön« empfunden
wird, wird es laut Kant (1790: A 7) zum Gegenstand eines »reinen uninteressierten
Wohlgefallen[s]«. Damit meint Kant natürlich nicht, dass der Gegenstand den
Betrachterinnen und Betrachtern gleichgültig wäre. Weil »Interesse« ursprünglich
Gewinn, Nutzen und Vorteil bedeutete, ist das Wohlgefallen am ästhetischen
Objekt in gewisser Hinsicht gleichsam uneigennützig. Ein Stillleben mit Obst
weckt als Objekt ästhetischer Anschauung nicht Appetit, sondern Achtsamkeit
für das Zusammenspiel farbiger Formen und die Konstruktion eines Bildraums
durch Bildgegenstände. Eine Zitronenpresse kann auch gefallen, wenn man
nicht die Absicht hat, sie zu benutzen; sie wird dann ästhetisches Objekt. Dazu
muss sie nicht, wie weiland Duchamps Urinal, aus dem Alltagskontext in einen
institutionellen Rahmen der »Kunstwelt« (Danto 1964, Dickie 1974) transferiert
6 Design und Ästhetik

werden. Die kontemplative ästhetische Einstellung vermittelt die Erfahrung,


dass etwas gefällt, wie und wo es ist.
2. Um Erkenntnis ist die semiotische Ästhetik (Jakobson, Eco) insofern zentriert, als
sie den Zeichencharakter der ästhetischen Mitteilung von anderen Mitteilungs-
arten unterscheidet. Ihr kognitivistischer Erklärungsansatz geht davon aus, dass
ästhetische Objekte in der Rezeption »gelesen« werden – wie im mittelalterlichen
Denken die Natur als Buch Gottes – und somit, vermittelt durch ihren Textstatus,
in ihrer ästhetischen Funktion erkannt bzw. dekodiert werden. In der ästheti-
schen Dekodierung sind die Zeichen nicht den Gegenständen untergeordnet,
für die sie stehen. Die Form ist selbstreferenziell; das Material der Mitteilung
kann als solches wahrgenommen werden. Roman Jakobson (1960) hat das die
»poetische Funktion« des Zeichens genannt. Hier geht es nicht um das Was,
sondern um das Wie: Sprache wird Lautmaterial (Ton, Klang und Sprachform),
Bilder werden Bildmaterial (Farbe und Bildform). Wenn beispielsweise Hans
Hillmann für ein Segelregatta-Plakat drei blaue Rechtecke aus Papier auf einem
weißen Blatt anordnet und dabei ein spitzes weißes Dreieck vor blauem Hinter-
grund erscheint, tritt der Eigenwert des Mediums ins Bewusstsein; die Zeichen
werden gleichsam spürbar. Zugleich ist aber aus semiotischer Perspektive davon
auszugehen, dass auch die nicht primär ästhetische Funktionalität gestalteter
Artefakte bereits konstitutiv voraussetzt, dass ihre Benutzer deren funktions-
spezifisch kodierte Formgestaltung wahrnehmen und dekodieren können. Sie
erkennen beispielsweise, dass es sich bei einem Artefakt um ein Messer handelt,
weil es die entsprechende Form erhalten hat, selbst dann, wenn es sich z. B. um
ein Spielzeugmesser handelt, das für den typischen Gebrauch nicht tauglich wäre
(Posner 1992: 21 ff.) – Der hermeneutische, ebenfalls erkenntnisorientierte Ansatz
betont, dass in der Rezeption Sinngehalt und Verweisungsbezüge erschlossen
werden, in die das ästhetische Objekt gestellt ist (Gadamer 1958). Ästhetische
Erfahrung ist demnach nicht nur Ausdruck und Erlebnis, sondern stets auch
eine Weise des Verstehens, wodurch Ästhetik ausdrücklich aus der Entgegen-
setzung zur Wissenschaft herausgeholt werden soll, welche die Möglichkeit der
Erkenntnis von Wahrheit unzulässigerweise monopolisiere (Menke 1991: 104 ff.;
Grondin 2012: 340 f.).
3. Der phänomenologisch-wahrnehmungstheoretische Erklärungsansatz legt den
Schwerpunkt auf das Erleben. Hier ist ästhetische Rezeption sinnlich-leiblicher
Mitvollzug eines Geschehens (und zugleich beurteilender Nachvollzug des
wahrnehmenden, vorstellenden und emotionalen Erlebnisses). Die phänome-
nologische Ästhetik untersucht die Wirkungen, die Dinge, Orte oder andere
Menschen auf wahrnehmende Subjekte haben (Husserl 1904/05, Merleau-Ponty
1948, Böhme 1995). Erlebt werden Bezüge zwischen Selbst und Anderen, Ver-
Design und Ästhetik 7

bindungen von Subjekt und Objekt in der Gegenwart des ästhetischen Objekts.
Der Zwischenbereich, welcher Subjekt und Objekt umschließt, wird mit dem
Begriff der »Atmosphäre« gekennzeichnet (siehe unten, S. 15).
4. Erfahrung spielt im handlungsbezogenen Erklärungsansatz der pragmatisti-
schen Ästhetik die Hauptrolle. Ästhetische Erfahrung ist dort die vielgestaltige
Weise praktischer Weltaneignung: wechselseitige Veränderung von Subjekt und
Objekt, die nicht auf den Bereich der Kunst beschränkt bleibt, sondern diverse
Ebenen sozialer Interaktion betrifft. Schönheit oder formale Schlüssigkeit von
Objekten wird demnach nicht ohne Bezug zu ihrem Gebrauch empfunden. Die
Angemessenheit von Artefakten an Verwendungszwecke wird zum Kriterium
ästhetischen Gelingens, aber nicht im Sinne des designtheoretischen Funktio-
nalismus, sondern in einem erweiterten Sinn von »Verwendung«. John Dewey
(1934: 42) hat ästhetische Erfahrung als Praxis bezeichnet, die künstlerische und
außerkünstlerische Bereiche umfasst und nicht nur bei der Kunstrezeption im
Spiel ist, sondern auch beim Design der alltäglichen Umgebung: Das Untersu-
chungsfeld der Ästhetik ist für ihn »das Bewußtsein der Sinne«. George Herbert
Mead bezeichnet ästhetische Erfahrung als besondere Form der Erschließung von
Bedeutung. In der Industriegesellschaft würden die Menschen von der Erfahrung
der Zwecke abgetrennt, die sie in ihrem technisch-instrumentellen Handeln
eigentlich verfolgen. Im Glück der Betrachtung erfahren sie Lebensbereiche
und Objekte, die nicht im Mittel-Charakter für fremde Zwecke aufgehen. Die
Befriedigung, die solche Betrachtung gewährt, ist für Mead (1926: 345 ff.) ein
Anzeichen, dass es im Bereich der Ästhetik nicht um praxisferne Zweckfreiheit
geht, sondern darum, zwischen handlungsentlasteter ästhetischer Betrachtung
und lebensweltlichem Handeln Sinnzusammenhänge herzustellen.

Den vier Typen der ästhetischen Einstellung entsprechen grundsätzlich vier Per-
spektiven in Bezug auf ästhetische Erfahrungen bzw. Erlebnisse: die Beobachter-,
die Teilnehmer-, die Benutzer- und die Herstellerperspektive.
Die Herstellerperspektive wird in traditionellen Produktionsästhetiken und
Lehrbüchern, aber auch im zeitgenössischen Kreativitätsdiskurs zum Thema. In
der Teilnehmerperspektive hat die ästhetische Erfahrung handlungsrelevante Le-
bensbezüge. Ästhetische Objekte werden dann nicht losgelöst von Interessen und
Bedürfnissen betrachtet. Sie intensivieren das eigene Erleben oder drücken es herab;
sie haben Bedeutung, weil sie mit den eigenen Aktivitäten, Plänen, Hoffnungen
und Ängsten verbunden sind. Wenn es um Design geht, sind die Teilnehmer die
Benutzer. Stühle oder mobile Endgeräte zur Internetkommunikation z. B. werden als
ästhetische Objekte hauptsächlich im Modus ihrer Verwendung wahrgenommen.
Ein Stuhl lässt die Benutzer ihren Körper als einen durch die Form des Sitzobjekts
8 Design und Ästhetik

nach- und mitgeformten Körper empfinden; nicht nur für die aktuelle Dauer der
Nutzung, auch im Hinblick auf das Körpergefühl bei Dauerverwendung. Wurde der
Stuhl z. B. von Arne Jacobsen entworfen, ist das entsprechende Nutzungsempfinden
mit hoher Wahrscheinlich positiv. Kommt die Beobachterperspektive hinzu, kann
in diesem Fall eine handlungs- bzw. nutzungsentlastete Sichtweise den Stuhl als
Objekt der angewandten Kunst in die bewusste Wahrnehmung treten lassen. Selbst-
verständlich gibt es auch Mischungen von Hersteller- und Teilnehmerperspektive,
z. B. bei musikalischen und theatralen Aufführungen, sowie Mischungen von Her-
steller- und Beobachterperspektive, etwa bei der Reflexion auf eigene Produkte. Eco
(1962: 43) hat den Aspekt betont, dass Menschen durch eigenständige Aneignung
von Produkten des modernen Industriedesigns in die Lage versetzt werden, ihre
Lebensformen im ästhetischen Sinne, also »nach dem eigenen Geschmack und den
eigenen Bedürfnissen herzustellen und anzuordnen«.

Systematische Darstellung 2: Typen der Kunstästhetik

Grundsätzlich kann man drei Typen der Kunstästhetik unterscheiden, die ihren
Schwerpunkt jeweils auf Darstellung (Mimesis), Ausdruck (Expression) oder Form
legen. Darstellungsästhetiken beschreiben, wie Kunstwerke Objektives im jeweils
eigenen Medium so wiedergeben, dass es für die Betrachter in transformierter Gestalt
gegenwärtig ist. Ausdrucksästhetiken beschreiben, wie Kunstwerke Subjektives so
formen, dass es als Expression nachvollziehbar und erfahrbar wird, der Empfin-
dungen und inneres Geschehen der Betrachter korrespondiert. Formästhetiken
beschreiben, wie Kunstwerke ihre eigene Formgestalt als solche in den Vordergrund
stellen. Die Frage ist, ob bzw. inwiefern sich diese Trias auch auf den Bereich der
angewandten Künste übertragen lässt. Hier zeigt sich, dass dies jeweils nur für
Teilaspekte sinnvoll ist, die allerdings nicht unwichtig sind. Wenn Designobjekte
auch eine Zeichendimension haben, spielt die Darstellung insofern eine Rolle, als die
Funktion des Objekts repräsentiert werden muss, damit es benutzt werden kann. Als
Beispiel für diese Hinsicht der Darstellungsästhetik kann man den postmodernen
Entwurf eines Fahrkartenautomaten von der Gruppe »Kunstflug« aus dem Jahre
1987 nehmen. Der Automat ist in seiner Funktionalität durch Mikroelektronik
gleichsam körperlos geworden und wird für die Benutzer nur dadurch erkennbar,
dass seine kommunikative Formensprache auf die herkömmliche Gestalt eines
Fahrkartenschalterhäuschens anspielt, in der ein Verkäufer sitzt (Selle 1994: 360).
Ein Beispiel für designerische Ausdrucksästhetik ist der, ebenfalls postmoderne,
Stuhl »Louis Ghost« von Philipp Stark. Hier ist das (imaginierte) Gefühl Gestalt
Design und Ästhetik 9

geworden, das mit dem herrschaftlichen Platznehmen auf einem prunkvollen


Sitzmöbel verbunden wird und nun, in demokratischer Gesinnung, für alle Be-
nutzer zugänglich werden soll. Zugleich stellt der Stuhl auch eine Mischform aus
Ausdrucks- und Darstellungsästhetik dar, denn die mimetische Formsprache des
Entwurfs konnotiert fürstliches Repräsentationsdesign und wird vermittels des
durchsichtigen Baustoffs relativiert. Formalistische Ästhetiken sind insbesondere
zuständig für die Kunstpraktiken der Avantgarde im 20. Jahrhundert, in denen
die Form nicht mehr primär Vermittlerin von Inhalten ist, sondern als solche
wahrgenommen werden soll. Ein Beispiel für postavantgardistischen Formalismus
im Design sind Poster von Stefan Sagmeister, der auf Fotografien von Gesichtern
oder Körpern handschriftliche Mitteilungen anordnet, auf deren Inhalt es weitaus
weniger ankommt als auf den Wiedererkennungseffekt, der die Arbeit als Ganze
dem Markenzeichen »Sagmeister« unterordnet. Einen vierten Typus, der aus diesem
Ansatz hervorging, könnte man als Wirkungsästhetik bezeichnen. Ein Beispiel auf
dem Grafikdesign der klassischen Moderne ist Jan Tschicholds »neue Typografie«,
die aus Daten Informationen machen möchte, um autonomes kommunikatives
Handeln zu ermöglichen. Dazu müsse alles »Unwichtige« wie Serifen, Ornamente
und Personalstil weggelassen, die Gestaltung auf elementare Strukturen reduziert
und der Ausdruck so knapp wie möglich gehalten werden.

Historische Darstellung 1: Glanz und Elend der Schönheit

Anhand des philosophischen Begriffs der Schönheit lässt sich nachvollziehen,


wie sich ein klassisches Konzept in der Designästhetik des 20. Jahrhunderts unter
veränderten Bedingungen bewährt hat. In der Alltagssprache versteht man unter
Schönheit das, was lebendige Wesen, natürliche Objekte und Artefakte für Be-
trachter anziehend und bewundernswert macht. Als Gründe kommen Liebreiz,
Freundlichkeit, aber auch Nützlichkeit infrage. In der Philosophie wird unter
Schönheit zunächst weniger das Wahrnehmbare selbst als vielmehr seine (ideelle)
Grundlage verstanden. Das »Wesen« des Erscheinenden ist demnach nur begriff-
lich rekonstruierbar. Als solche ist Schönheit nicht durch Wahrnehmung allein
zu erschließen; Erkenntnisvermögen und Vernunft sind in Tätigkeit zu setzen.
Schönheit ist dann ein Merkmal der Form von etwas, die Form selbst aber ein In-
neres, Strukturelles, die nicht gesehen, gehört oder gespürt werden kann, sondern
begriffen und verstanden werden muss.
Diese Bestimmung findet sich zuerst in voller Ausprägung bei Platon. Sie ist aus
der Entgegensetzung gewonnen, in die das Schöne als vollendet Geformtes zum
10 Design und Ästhetik

Formlosen gestellt wird. Das Formlose ist Chaos (griechisch für »regellose Masse«);
regelhafte Ordnung heißt im auf griechisch Kosmos, was auch »Schmuck« bedeu-
tet (daher »Kosmetik«). Das Formlos-Chaotische, Regellose ist das Hässliche, die
Form des Schönen ist »durch Ordnung, Maß und Proportion bestimmt« (Franke
2004, 329). Wo etwas zum Betrachten oder Anhören gestaltet ist, kommt es auf
Formen und Verhältnisse an. Gelungene (Kunst-)Werke und vollendete Geschöpfe
der Natur zeichnen sich dadurch aus, dass die innere Ordnung ihrer Form von
außen erkennbar ist. Schönheit muss zwar mit den Sinnen wahrnehmbar sein,
aber sie bleibt, dieser Auffassung zufolge, eine primär innere Eigenschaft: allge-
meine Struktur und Form, die den zahllosen verschiedenen Erscheinungsweisen
von Schönheit als ihr Wesen zugrunde liegt. Die Form macht ein Artefakt zum
gelungenen Objekt, ein Lebewesen zur anmutigen Gestalt und eine Landschaft
zum beeindruckenden Raum.
Bei Hume und Kant wird Schönheit nicht mehr als Eigenschaft der Objekte
verstanden, sondern als Werturteil des Subjekts. Sie ist demnach keine Eigenschaft
schöner Dinge, sondern ein Prädikat, das Objekten zugesprochen wird, die erfreu-
lich, anziehend, anmutig usw. wirken. Kants Theorie des Schönen richtet den Fokus
auf die Form des Urteils über Objekte, die im Subjekt Wohlgefallen erregen, ohne
dass es diese besitzen oder sich ihrer bemächtigen möchte. Die Empfindung stellt
sich demnach ein, weil der betrachtete Gegenstand in sich zweckmäßig erscheint,
obwohl dies beim Betrachter nicht mit der Vorstellung eines entsprechenden äußeren
Zwecks verbunden ist (also nicht mit der Vorstellung eines Verwendungszwecks
oder eines zu erreichenden Zielzustands, zu dem hin sich das Objekt entwickele).
Jedes ästhetische Urteil zielt implizit auf allseitige Zustimmung, strenggenommen:
Allgemeingültigkeit. Daran hält auch Kant bei aller Subjektivierung des Schön-
heitsbegriffs fest. Er nimmt an, dass es einen ästhetischen Gemeinsinn gibt, den
sensus communis aestheticus, einen common sense der ästhetischen Empfindung.
Streit über Geschmacksfragen ist also möglich und sinnvoll.
Hegel stellt hingegen die Eigenschaften der Objekte in den Brennpunkt. In diesem
Sinne können wir fragen: Warum wird einem Objekt das Prädikat »X ist schön«
zugesprochen und einem anderen nicht? Weil Schönheit die wahrnehmbare Folge
davon ist, dass sich die innere Freiheit eines Objekts der Betrachtung in der äußeren
Wirklichkeit ausdrückt, wäre Hegels Antwort. Auch für Hegel (1853–38: 155 f.) ist
die »Betrachtung des Schönen liberaler Art«: Betrachter wollen es nicht besitzen
und benutzen; sie lassen es, unabhängig von den eigenen Absichten, gewähren.
Ästhetische Urteilskraft und Geschmack sind demnach wohl subjektiv, aber sie
beziehen sich auf etwas, das dem Subjekt nicht gänzlich unterworfen ist. Sie sind
nicht unabhängig davon, die Eigenschaften des »schön« genannten Objekts sind
nicht beliebiger Art. Je harmonischer etwas im Verhältnis von Details und Ganzem
Design und Ästhetik 11

gestaltet ist, als desto schöner wird es empfunden. Den Grund sieht Hegel darin,
dass die wesentliche Form umso freier zur Erscheinung kommt, je artikulierter sich
die Form von etwas präsentiert. Desto größer ist dann die Wahrscheinlichkeit, dass
die Betrachter das Urteil aussprechen: »Dies ist schön.« Voraussetzung ist freilich,
wie schon Thomas von Aquin betonte, dass das Objekt unversehrt bzw. vollendet
ist, die Teile zu einem Ganzen zusammenstimmen und sein Erscheinungsbild klar
hervortritt (Franke 2004: 330).
Nietzsche lehnt die Verbindung der Ästhetik und Ethik in Hegels Konzept der
Schönheit als verwirklichter Freiheit ab. Die Einheit des Subjekts konstituiert sich
für ihn nicht primär über Intellekt und Vernunft, sondern über leibhafte Erfahrung,
wodurch sein Konzept von Ästhetik wieder markant auf das antike Verständnis
des Begriffs zurückgeführt wird. Nietzsche plädiert für ein Philosophieren »am
Leitfaden des Leibes« (Nietzsche 1885: 565; siehe Joisten 1993: 105 ff.). Deshalb
hält er auch Kants Theorie des Ästhetischen für falsch, denn ästhetische Objekte
würden genau dann begehrt, wenn sie sich als dem Lebensgefühl zuträglich, d. h.
als nützlich, erweisen.
In den ästhetischen Diskursen des 20. Jahrhunderts dominiert eine Tendenz
zur Diskreditierung der »schönen« Künste, die aus der Perspektive von Theorien
des Ästhetischen, welche an Wahrheit und Engagement orientiert sind, als ideo-
logische Verklärung des Scheiterns des Projekts humaner Zivilisation erscheinen.
Traditionelle ästhetische Werte wandern für eine Weile in den Bereich der durch
angewandte Künste ästhetisierten Lebenswelt aus, und somit auch ins Design.
Ende des 20. Jahrhunderts hat die postmoderne Ästhetik darauf reagiert. Sie
proklamiert die unendliche Kontextualisierung der Lebenswelt durch Zeichen, deren
Bedeutungen immerzu neu interpretiert werden können und auf nichts Bleibendes
mehr bezogen sind. Ihre Merkmale sind »Seinsunsicherheit und Zeichenfreiheit«
(Weibel 1991: 208). Die populäre Variante postmoderner Ästhetik erklärt die Funk-
tionsorientierung der Moderne für veraltet und affimiert dekorativ-konsumistische,
stilvermischende Formensprachen der Massenkultur, die auf sämtliche Bereiche der
Produkt- und Kommunikationsgestaltung übertragen werden – nach der Devise:
»Learning from Las Vegas«. Schönheit ist hier von der Aufgabe entlastet, sinnliche
Erscheinung von Wahrheit zu sein. Die andere Variante postmoderner Ästhetik
geht davon aus, dass das Versprechen der Moderne, soziokulturelle Fortschritte
im Bewusstsein der Freiheit zu verwirklichen, im Verlauf der Destruktions- und
Katastrophengeschichte des 20. Jahrhunderts gebrochen wurde. Es sei jedoch
normativ nicht überholt, sondern befinde sich im »Widerstreit« (Lyotard 1987) mit
sich selbst. Zentrale Kategorie der Ästhetik ist nach dieser Auffassung nicht mehr
das Schöne, sondern das Erhabene – als Synonym für das nicht Darstellbare. Im
Anschluss an Lyotard – der seine Ästhetik an Werken des abstrakten Expressio-
12 Design und Ästhetik

nismus und der Konzeptkunst entwickelte – hat Wolfgang Welsch für das Design
des 21. Jahrhunderts die Orientierung an Pluralität und multidimensionalen
Identitäten gefordert. Es gehe einerseits um »eine neuartige Gestaltung« der Benut-
zeroberflächen entkörperlichter mikroelektronischer Apparate »durch projektive
Besetzung mit Metaphern, Visionen und Fiktionen«, damit auf ihnen »fiktionale,
emotionale, sensuelle und ikonische Werte« zur Erscheinung kommen könnten
(Welsch 1993: 216). Und andererseits gehe es um ein Design im erweiterten Sinne,
das den soziokulturellen Rahmen für alternative Formen von Wirtschaft, Politik
und des Umgangs mit der Natur entwirft (ebd.: 218).
Der Überschwang, der viele Proklamationen postmoderner Ästhetik kenn-
zeichnet, ist längst abgeflaut. Dennoch wurde das Bewusstsein für zwei wichtige
Aspekte geschärft: Designobjekte können als Gegenstände ästhetischer Erfahrung
beschrieben werden, die sich analog zu künstlerischen Objekten und ihrem Trä-
germaterial verhalten. Und Designprozesse können als Medien »aisthetischer«
Kommunikationspraktiken beschrieben werden, die stets auch im Horizont ge-
sellschaftlicher Emanzipation zu denken ist.

Historische Darstellung 2: Ästhetik und Design

Klassisch-ästhetische Ansätze mit direktem Bezug auf Design wurden bereits


von Edmund Burke und Immanuel Kant formuliert. Die empiristische Theorie
von Burke (1757) führt den Impuls des Schönheitsempfindens auf den Fortpflan-
zungs- und den Geselligkeitstrieb zurück. Während das Große – welches ebenso
wie das Schreckliche das Gefühl des Erhabenen auslöst – bewundert werde, werde
das Kleine geliebt. Bei ausnahmsweise auftretenden großen schönen Objekten
komme der glamour-Faktor dazu. Reine und helle Farben wirkten schön, düstere
und trübe lösten konträre Wirkung aus. Die Eigenschaft der Glätte bewirke wohl-
wollende Empfindungen – Burke nennt Pflanzen, Abhänge in Gärten, Wasserläufe
in der Landschaft, Vogelgefieder und Pelz im Tierreich, glatte Menschenhaut oder
polierte Oberflächen häuslichen Zierrats. Ein weiteres Kriterium schöner Körper
sei die allmähliche Änderung, die in Williams Hogarths sanft geschwungener
Schönheits-Linie Ausdruck finde (die Wellenlinie ist für Hogarth die Linie der
Schönheit, während die Schlangenlinie die Linie des Reizes ist). Haltungen und
Bewegungen würden als schön empfunden, wenn sie leicht wirken, die Bestandteile
einander ergänzen und sich nicht im Wege sind.
In der empirismuskritischen, aber keineswegs empiriefernen Ästhetik von
Kant gibt es nicht nur das interesselose Wohlgefallen an Produkten der freien
Design und Ästhetik 13

»schönen Künste«, sondern auch das Interesse am Schönen, das den angewandten,
»angenehmen Künsten« zugehört. Designobjekte können demnach als Medium
der Mitteilung von Gefühlen dienen (Böhme 1999: 29–34). Auch im Bereich der
Lebenswelt sei die Schönheit der gestalteten nützlichen und erfreulichen Dinge
frei, insofern sie nicht über rationale Begriffe zu erfassen ist. Frei aber auch im
praktisch-handlungsbezogenen Sinne: In einer Umgebung, die durch gestaltete
Objekte geprägt ist, entstehen Spielräume der Phantasie; das Lebensgefühl wird
stimuliert und die Kommunikation über die Gefühle der Betrachter in der Gegen-
wart schöner Objekte wird angeregt. Kants Schüler Schiller (1801) hat dies in seinen
Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen als »Vorschein des Reichs der
Freiheit« (Böhme 1999: 26) interpretiert.
Seit dem 20. Jahrhundert sind folgende Theorien der Ästhetik designrelevant:

• Funktionsästhetik,
• Emanzipationsästhetik,
• Warenästhetik,
• Atmosphären-Ästhetik,
• Informationsästhetik sowie
• neuronale und evolutionsbiologische Ästhetik.

Der funktionsästhetischen Lehre von Walter Gropius zufolge wird der optimal ge-
fertigte Gebrauchsgegenstand auch die schönste Gestalt haben. Erfahrene Benutzer
und Betrachter empfinden etwas, das mehr der Zierde dient als seiner Zweckbe-
stimmung, nicht als schön. Gestaltete Gegenstände sollen durch ihre Anwendung
im täglichen Gebrauch bestimmt sein; alles, was darüber hinausgeht, insbesondere
das Dekorative, ist überflüssig. Gropius ist der Klassizist in der Gestaltungspraxis
der Moderne. Er fragt wie Platon nach der Wesensbestimmung der Objekte durch
Funktionsrelationen; dies führt ihn »zu dem Ergebnis, daß durch die entschlos-
sene Berücksichtigung aller modernen Herstellungsmethoden, Konstruktionen
und Materialien Formen entstehen, die, von der Überlieferung abweichend, oft
ungewohnt und überraschend wirken.« (Gropius 1926: 168) Seit Ende der 1960er
Jahre wurden drei Argumente der Kritik am Funktionalismus vorgetragen. Der
Funktionalismus reglementiere und reduziere die Bedürfnisse der Menschen.
Zu diesem kulturtheoretischen Argument kommt ein ästhetisches: Der Funkti-
onalismus sei nicht das Ende der »Stile« und nicht die selbsternannte universale,
wissenschaftlich-ästhetische Antwort auf alle Gestaltungsfragen, sondern selbst ein
Stil unter anderen, legitimen. Nicht zuletzt gibt es ein philosophisches Argument:
Die These des Funktionalismus, dass etwas, das wahr und gut ist, per se auch schön
ist, stimme nicht.
14 Design und Ästhetik

In den Emanzipationsästhetiken von Walter Benjamin und Theodor W. Adorno


hängen ästhetische Autonomie und die soziale Autonomie des Subjekts zusammen.
Benjamin begrüßt den Feldzug, den die Avantgarde des 20. Jahrhunderts gegen die
angewandte Ästhetik der Gründerzeit führt, welche den Schein der Einmaligkeit
und erlesenen Entrücktheit von Kunst- und Gestaltungerlebnissen verklärt hatte.
Benjamin nennt jenen Schein die »Aura«. Diese werde in Filmkunst, Design und
Architektur zertrümmert und durch fortgeschrittene, massentaugliche Produk-
tionstechniken ersetzt. Dass Designprodukte und Häuser der Moderne wenige
Jahrzehnte später als »Designklassiker« hoch bezahlt und kultisch verehrt werden,
wäre in Benjamins Augen die Folge des Scheiterns der gesellschaftlichen Emanzipa-
tionsbewegung, deren Teil sie ursprünglich waren (Friedrich 2007: 169). In seiner
Medienästhetik versucht Benjamin (1939) zu beschreiben, wie ein »Massenpub-
likum« aus zerstreuten Betrachtern kommunikativ und medial handlungsfähig
werden und damit die Voraussetzung für seine soziale Autonomie schaffen kann.
Nach Adorno sind sowohl der Emanzipationsprozess der Kunstwerke als auch der
Emanzipationsprozess des bürgerlichen Subjekts vom inneren Widerspruch sozialen
Fortschritts im Rahmen kapitalistischer Produktionsverhältnisse durchzogen. Das
Freiheitsversprechen, das in der Programmatik der bürgerlichen Gesellschaft für
alle gelten soll, wird nur für Einige verwirklicht, die von der privaten Aneignung des
gemeinsam produzierten Mehrwerts leben. Die Befreiung der Kunst aus den Fesseln
von Ritual- und Repräsentationszwecken sowie von Wahrnehmungskonventionen
zielt auf gestaltendes Eingreifen der Künste ins gesellschaftliche Leben. Er scheitert
aber, weil Kunstwerke und Kunstpraxis in der kapitalistisch-kulturindustriellen
Gesellschaft Funktionen der Ersatzreligion oder dekorative und wertsteigernde
Aufgaben übernehmen. Wird die Frage, »wie das Ganze einer Gesellschaft, als
einer in sich widerspruchsvollen Einheit, im Kunstwerk erscheint« (Adorno 1957:
51), auf Architektur und Design erweitert, leitet das über zur Rekonstruktion
der Dialektik des Funktionalismus. Ästhetischer Fortschritt wird im Funktio-
nalismus als Erscheinung des gesellschaftlichen aufgefasst; doch die Statik der
sozialen Eigentums- und Produktionsverhältnisse (bei gleichzeitiger Dynamik
der technisch-wirtschaftlichen Produktivkräfte) hemmt die fortschrittliche Ent-
wicklung. Die Reduktion auf Funktionen wird zur Reduktion auf wirtschaftliche
Verwertung. Der funktionalistische Kult des Nützlichen kranke daran, dass die
Menschen, denen die Dinge nutzen sollen, nicht jene freien, selbstbestimmten
Subjekte eines vernünftigen sozialen Ganzen sind, in dem sie und die Dinge nicht
mehr auf ihre ökonomischen Funktionen reduziert wären (Adorno 1965, Paetzold
1974, Schweppenhäuser 2012).
Die Warenästhetik von Wolfgang Fritz Haug ist auf die Unterscheidung zwischen
dem Gebrauchswert einer Ware und dem Gebrauchswertversprechen aufgebaut. Das
Design und Ästhetik 15

Design, die Verpackung und die darum herum inszenierte Produktwerbung der
Ware geben dieses Versprechen, damit ihr Tauschwert im Kauf realisiert werden
kann. Der ästhetische Schein des Waren-Designs hat eine phantasmagorische
Funktion: Es produziert eine Wunsch-Welt der Gebrauchsphantasien, die aber für
den Produktionszweck keine Rolle spielen. Dieser besteht weder im Hochkapitalis-
mus der industriellen Massenproduktion noch im Spätkapitalismus der Oligopole
darin, Bedürfnisse der Käufer zu befriedigen. Waren müssen keinen wirklichen
Gebrauchsnutzen für die Käufer haben – sie müssen ausschließlich den in ihnen
abstrakt aufgehäuften Mehrwert realisieren, indem sie verkauft werden. An die
Stelle des Gebrauchswerts tritt das Bild des Gebrauchswerts, es »löst sich […] ab
vom Warenleib, dessen Aufmachung sich in der Verpackung steigert und von der
Werbung überregional verbreitet wird« (Haug 2009: 41).
Gernot Böhme unterscheidet in seiner Atmosphären-Ästhetik zwischen sinnlichen
und sozialen Eindruckscharakteren. Sich-Zeigen-Können und -Wollen gehören
demnach zur leiblichen Gegenwart als Teil eines Geflechts kommunikativer Äuße-
rungen. Kommunikation besteht nicht nur aus Mitteilung von Zeichen, die gedeutet
und verstanden werden, sondern auch aus Ausdrucks- und Eindrucksqualitäten:
Das Befinden, die Emotionalität, des einen kommt zum Ausdruck und bewirkt
einen Eindruck, der sich auf das Befinden des anderen auswirkt. Wenn Menschen
etwas oder sich selbst inszenieren, dient es der Steigerung des Lebens durch beson-
dere Erlebnisqualitäten. Inszenierungen von Kleidung, Haartracht, Wohnungen,
Haus und Garten oder öffentlichen Orten schaffen Atmosphären, in denen andere
einen Eindruck davon bekommen, wie jemand innerhalb einer Ausstrahlung zur
Erscheinung kommt und sich darstellt. Menschen spüren Atmosphären, wenn
sie in sie eintreten; sie sind Wirkungen auf Subjekte, die durch Eigenschaften von
Objekten ausgelöst werden. Design ist für Böhme »ästhetische Arbeit«, die darin
besteht, »Dingen, Umgebungen oder auch dem Menschen selbst solche Eigenschaften
zu geben, die von ihm etwas ausgehen lassen«, also: »Atmosphären zu machen«
(Böhme 1995: 35). In unserem Zusammenhang kann man auch Körper-Design als
»ästhetische Arbeit« bezeichnen.
Max Benses Informationsästhetik orientiert sich an den Naturwissenschaften und
deren beobachtender, klassifizierend-messender Herangehensweise. Sie versteht sich
als »materiale« und »objektive« Ästhetik und sieht ab von ästhetischen Empfindungen
der Produzenten und Rezipienten sowie von deren Interpretationen. Bense (1969:
7) fokussiert die ästhetischen Eigenschaften oder »Zustände« der Objekte, »die an
Naturgegenständen, künstlerischen Objekten, Kunstwerken oder Design beob-
achtbar sind«. Sie gelte es objektiv zu beschreiben. Um vom Objektivismus wieder
in die Dimension zeichenbasierter Information und Kommunikation zu gelangen,
unterscheidet Bense zwischen Zeichen und Signalen. Signale gehen demnach von
16 Design und Ästhetik

den Objekten aus und werden, als Bewusstseinstatsachen perzipierender Subjekte,


zu Zeichen. »›Signale‹ sind physische Substrate der Weltobjekte, ›Zeichen‹ jedoch
phänomenale Substrate des Bewußtseins.« (Ebd.: 10) Nach dieser Operation spannt
Bense ein semiotisches Netz aus triadischen Kategorien von Peirce und Morris
über die ›Objektwelt‹. Zeichenrelationen beschreiben das Verhältnis der Zeichen
zu dem, was sie bezeichnen und der Form, in der sie es tun sowie zu dem, der es
mit ihnen tut: Zeichenfunktionen bestimmen die Verwendung der Relationen in
Anwendung, Kodierung und Kommunikation; Zeichenoperationen sind Verkettung,
Selbstbezug und daraus gebildete Zeichen höherer Ordnung und deren Struktur.
Bense übersetzt traditionelle ästhetische Kategorien in informationstheoretische,
damit seine statistische Ästhetik Konzepte ästhetischer Eigenschaften formali-
sieren, quantifizieren und messen kann. Ziel ist, vorhersagen zu können, wann
sich Ordnungen und Formen bilden, die als ästhetische Eigenschaften bezeichnet
werden können. Die Pointe der Informationsästhetik besteht in ihrem Anspruch,
als generative Ästhetik bei der »Herstellung exakt kalkulierter ästhetischer Objekte
(Design, Computerlyrik)« (Henckmann 2004: 335) zu assistieren. Das Konzept einer
Programmierung des Schönen (Bense 1960) wird beispielsweise in den computer-
generierten ästhetischen Objekten von Georg Nees (2014) umgesetzt; aber auch in
der Techno-Musik und im Sound-Design der Gegenwart lassen sich Spuren dieses
Programms entdecken.
Neuronale und evolutionsbiologische Ästhetiken sind besonders dann von In-
teresse, wenn es um die Frage nach kulturübergreifenden Invarianten des Schön-
heitsempfindens geht. Neurowissenschaftlichen Wahrnehmungs-Untersuchungen
zufolge ist das ästhetische Vergnügen, welches durchs Erkennen von selbstähnlichen
Strukturen oder Mustern wie Symmetrie und Goldener Schnitt ausgelöst wird,
deshalb besonders intensiv, weil dabei nicht nur im jeweils aktiven Cortexareal
Abgrenzungs- und Identifikationsvorgänge absolviert werden, sondern auch andere
Areale anklingen (Welsch 2009: 107). Der evolutionäre Ansatz wiederum beschäf-
tigt sich mit der Frage nach der Attraktivität von Lebewesen, Landschaften und
Artefakten. Hier wird die Attraktivität der Faktoren des kognitiven Vergnügens
beim Erkennen komplexer Muster und der Freude angesichts von weiträumigen
Landschaften mit Wasservorkommen und schützender Vegetation aus der naturge-
schichtlichen Zuträglichkeit für Entwicklung der Menschheit abgeleitet (ebd.). Die
Attraktivität gewisser Proportionen des Körperbaus wird auf deren Korrelation mit
der Förderlichkeit zur sexuellen Reproduktion zurückgeführt (Welsch 2009: 94 f.).
Es scheint mitunter, als sei die kulturalistische Phase auch in der Ästhetik des
Designs ans Ende gekommen und als würde sie durch einen neuen Naturalismus
Design und Ästhetik 17

abgelöst.12Ob dies den falschen Schein verfestigt, dass die sozialen Relationen und
Konditionen, unter denen Menschen gestaltete Objekte produzieren, rezipieren
und anwenden, im Prinzip so unveränderlich sind wie Naturverhältnisse und
anthropologische Konstanten – oder ob es im Gegenteil dazu beiträgt, die Na-
turbasis gestalterischer Arbeit klarer zu begreifen, auf deren Grundlage Design
als »ästhetische Form praktischer Welterschließung« (Feige 2018: 9) in historisch
immer wieder neuen Gestalten stattfindet, wird sich zeigen. Um es mit Marie Luise
Kaschnitz zu sagen: Es steht noch dahin.

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Philosophie und kritische Theorie
des Designs*1
Philosophie und kritische Theorie des Designs

Philosophie und kritische Theorie des Designs

Der erste Teil dieses Textes enthält eine kurze Beschreibung der Gegenstände und
Methoden kritischer Theorie. Im zweiten Teil werden die Umrisse einer kritischen
Theorie des Designs mithilfe eines ideengeschichtlichen Exkurses skizziert. Im
dritten Teil wird – in Auseinandersetzung mit einem kürzlich vorgelegten Beitrag
zu einer politischen Designphilosophie – zu zeigen versucht, was kritische Design­
theorie als Ideologiekritik leisten kann.

Was ist kritische Theorie?

Kritische Theorie ist die philosophische und gesellschaftstheoretische Reflexion


der sozialen Emanzipationsbewegungen in der Moderne: Reflexion ihrer Errun-
genschaften, ihrer Hemmnisse und ihres Scheiterns. Weil sie nicht kontemplativ,
sondern praxisreflexiv ist, kann sie ihre Gegenstände beschreiben, konstruieren
und zugleich kritisieren. Kritische Theorie ist daher deskriptiv und normativ
sowie in dem Sinne dialektisch, dass sie die Bewegungen der Gegen­sätze in sich
rekonstruiert, durch die ihre Gegenstände gekennzeich­net sind. Insofern ist
kritische Theorie eine philosophische Theorie im Sinne von Hegel und Marx. Sie
erkennt in den Begriffen, Urteilen und Schlüssen philosophischer Reflexion den

* Der Text ist aus einem Vortrag hervorgegangen, den ich am 7. Juni 2017 im Rahmen der
Vortragsreihe Architektur & Ideologie. Die Herrschaft der Ware und der urbane Raum
an der Technischen Universität Darmstadt gehalten habe. Er erscheint auch in: Philoso-
phie des Designs, hrsg. v. Daniel Martin Feige, Florian Arnold u. Markus Rautzenberg,
Bielefeld: Transcript (Schriftenreihe des Weißenhof-Instituts zur Architektur- und
Designtheorie), 2018.
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 21
G. Schweppenhäuser, Design, Philosophie und Medien, Würzburger Beiträge zur
Designforschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-22225-3_2
22 Philosophie und kritische Theorie des Designs

»komprimierteste[n] Ausdruck der historischen Bewegung« der Epoche, auf die


sich diese Reflexion jeweils be­zieht, und sie fragt nach der »immanenten Vernunft
und Unvernunft« (Mensching 1992: 13) der historischen Bewegungen. Das heißt,
kritische Theorie fragt nach der Wirklichkeit und Möglichkeit ihrer Gegenstände,
also nach ihrem So-Sein und ihrem vernünftig begründbaren Sollen. Daher bewahrt
sie sich, als philosophische Theorie, eine relative Autonomie gegenüber der Praxis;
diese wird als negative, in sich ambivalente und antagonistische Totalität gedacht,
welche reale Herrschaft über Natur und Menschen ebenso umfasst wie mögliche
und punktuell reale Freiheit von Naturzwang und sozialer Herrschaft.
Die philosophische Autonomie kritischer Theorie ist relativ, weil sie als Reflexi-
onsform praktischer Eman­zipations­bewegungen in diese involviert ist. Sie reflektiert
Manifestationen materieller und geistiger Arbeit als soziokulturelle Praxisformen.
Sie geht davon aus, wie der Soziologe Heinz Maus (1963: 312) schrieb, »daß die
Menschen die Produzenten ihrer historischen Lebensformen sind, die klassen-
mäßige Form der gesellschaftlichen Arbeit indessen allen ihren Reaktionsweisen,
d. h. ihrer Kultur, bislang den Stempel aufdrückt«. Kultur ist ein Bestandteil des
Produktionszusammenhangs der bürgerlichen Gesellschaft. Dieser Zusammenhang
lässt sich durch vier philosophische Kategorien kennzeichnen: Vernunft, Freiheit,
Arbeit und Eigentum. Sie sind seit dem 18. Jahrhundert systematisch im arbeits-
teiligen Kontext von Metaphysik und Erkenntnistheorie, Ethik und politischer
Philosophie reflektiert worden. Bis heute, schrieb Herbert Marcuse (1937: 234), sind
sie vor allem »als ökonomische und politische Fragen relevant«. Daran hat sich 80
Jahre später, wie mir scheint, kaum etwas geändert. Marcuse hat die Begriffsfel-
der folgendermaßen abgesteckt: Es geht um die »Beziehungen der Menschen im
Produktionspro­zeß«, um »die Verwendung des Produkts der gesellschaftlichen
Arbeit« und nicht zuletzt um »die aktive Teilnahme der Menschen an der ökono-
mischen und politischen Verwaltung des Ganzen« (ebd.). Diese Felder gilt es im
Sinne einer post-hegelschen Theorie des objektiven Geistes, die sozialphilosophisch
neu ausbuchstabiert wird, auf ihren unabgegoltenen Gehalt hin zu untersuchen. Die
»reale Möglichkeit« (ebd.), dass die gestaltende Partizipation am wirtschaftlichen
und politischen Ganzen, von der Marcuse seinerzeit sprach, wirklich stattfindet,
dass das gesellschaftliche Arbeitsprodukt allen zukommt und soziale Beziehungen
im Zusammenhang der materiellen und geistigen Produktion als selbstbestimmte,
freiheitliche Kommunikationsverhältnisse gestaltet werden können – diese »reale
Möglichkeit« ist seither, im Hinblick auf ihre technisch-materiellen Voraussetzun-
gen, eher größer geworden. Zugleich ist sie aber, im Hinblick auf die Formen ihrer
Verwirklichung, immer unwahrscheinlicher geworden.
Zunächst ging kritische Theorie von einem objektiven gesellschaftlichen »Interesse
an Emanzipation« (Honneth 1994: 47) aus, das sich »in der sozialen Alltagskultur«
Philosophie und kritische Theorie des Designs 23

und »Alltagswirklichkeit« (ebd.: 46) ausmachen lässt. Später wurde das Konzept der
Emanzipation durch das der Kommunikation erweitert; damit sollte der Einsicht
Rechnung getragen werden, dass nicht nur die Arbeit Grundlage des sozialen Fort-
schritts im Bewusstsein der Freiheit ist, sondern auch intersubjektive Verständigung.
Aus dieser Sicht wird das humane Potenzial »zur kommunikativen Verständigung«
(ebd.: 49) durch selbstgemachte gesellschaftliche Fremdbestimmtheit gefährdet,
die »eine Kritik der gesellschaftlichen Kommunikationsverhältnisse« (ebd.: 59)
erforderlich macht. Die kritische Theorie ist nicht als normativistische Theorie
konzipiert, die Versprechen einklagt, die in der Aufstiegsphase der bürgerlichen Ge-
sellschaft gegeben und später, in der Phase ihrer Konsolidierung, gebrochen wurden,
sondern, wie gesagt, als dialektische Theorie, die in der kritischen Rekonstruktion
der Bewegung der Begriffe durch ihre Widersprüche hindurch die Gegensätze und
Antagonismen rekonstruiert, deren begriffene Darstellung ihre philosophische
Reflexion zu sein beanspruchte (und mitunter noch immer beansprucht, sofern sie
sich nicht, im Sinne des linguistic turn, von der Analyse von Sachfragen abgewendet
und gänzlich der Analyse von Sprachfragen verschrieben hat).
Kritische Theorie analysiert ihre Untersuchungsgegenstände, indem sie Konflikte
beschreibt, die ihnen zugrunde liegen. Dabei unterscheidet sie zwischen Wirklichkeit
und Möglichkeit des Gegenstandes. Sie stellt die zu beobachtenden Phänomene
und die zu (re-)konstruierenden Gesetzmäßigkeiten dar, denen gemäß sich die
Phänomene »verhalten«. Und sie konstruiert die Potenziale, die in Phänomenen
und Gesetzmäßigkeiten enthalten sind, sich aber nicht entwickeln können, weil sie
durch den zugrundeliegenden Konflikt gehemmt oder blockiert werden. Phänomene
der Wirklichkeit sind aus den Metamorphosen der Begriffe herzuleiten, in denen
sich Veränderungen der Stellung des Gedankens zur Objektivität manifestieren
– also aus der dialektischen Rekonstruktion der Bewegung der Phänomene. Die
dialektische Bewegung der Begriffe ist die Darstellung der widersprüchlichen
Entfaltung der Sachen. »Dialektik«, sagte Adorno in einer Frankfurter Vorlesung,
ist »eine Methode des Denkens, aber auch mehr, nämlich eine bestimmte Struktur
der Sache« (Adorno 1958: 9).

Welche Gegenstände hat eine kritische Theorie des Designs?

Das Design von Produkten und Kommunikationszusammenhängen ist ein Pro-


duktions- und Rezeptionszusammenhang, der zur industrie­kapitalisti­schen Re-
produktionspraxis gehört. Die Gestaltung sozio­kultureller Arbeits- und Verstän-
digungsverhältnisse hat ideologische und emanzipatorische Dimensionen. Die
24 Philosophie und kritische Theorie des Designs

philosophische Methode der kritischen Theorie ist, wie gesagt, die dialektische
Darstellung innerer, gegensätzlicher Bestimmungen im jeweiligen Gegenstand.
Im Sinne einer vorläufigen, unsystematischen Aufzählung von Phänomenen der
Wahrnehmung und der Gebrauchserfahrung im Alltag können die Gegensätze, die
das Produktdesign und das Kommunikationsdesign kennzeichnen, mit folgenden
Begriffspaaren beschrieben werden: Bedürfnis und Begehren; Information (bzw.
Aufklärung) und Reklame (bzw. Public Relations); verständigungsorientierte und
strategische Kommunikation; enger und weiter Designbegriff (Formgebung als
äußerliche Zutat oder als soziale Gestaltung).
Wenn eine kritische Theorie des Designs nicht beim bloßen »Einerseits-ande-
rerseits« oder »Sowohl-als-auch« stehen bleiben (siehe unten, S. 28–35), sondern der
Bewegung der Gegensätze in sich nachgehen will, dann sollte sie zeigen können, dass
sich ein »Basiskonflikt« beschreiben lässt, der Designphänomenen (und Designdis-
kursen) der Gegenwart als Einheit von einander widersprechenden Bestimmungen
innewohnt. Analoge und digitale Artefakte und Kommunikationsformate sind dazu
vor dem Hintergrund der Frage zu betrachten, wie sich in ihnen das (gedanklich und
normativ) Allgemeine einer autonom gestalteten Lebenswirklichkeit in der privaten
und in der öffentlichen Sphäre (deren Trennung dabei überwunden würde) zum
partikularen Motiv der privaten Aneignung unter Bedingungen gesellschaftlicher
Herrschaftsausübung verhält, in dem es zum Ausdruck und zur Wirkung kommt.
Die thesenhafte Antwort lautet, dass das Partikulare die Realisierung eines vernünf-
tigen Allgemeinen konflikthaft blockiert und zugleich seine Entwicklung durch
produktive Ergänzung ermöglicht. Sie lautet daher auch, dass die Emanzipation
des Besonderen (in Gestalt des partikularen Profitinteresses) die Formulierung
eines (nicht abstrakt, sondern konkret gesellschaftlich) Allgemeinen überhaupt
erst möglich macht, dessen Verwirklichung es dann jedoch, im geschichtlichen
Verlauf, tendenziell erstickt. Die Dialektik des Universalen und Partikularen ist
als soziale Dominanz des Partikularen stillgestellt, wobei das Partikulare um seine
Singularität gebracht wird, weil es in der Warenform zum abstrakt-allgemeinen,
einheitsstiftenden Prinzip der gesellschaftlichen Reproduktion erhoben wird.
Der grundsätzliche Konflikt besteht also in dem Verhältnis von Produktiv-
kraftentwicklung und Produktionsverhältnis, das Designformen und -formate
hervorbringt und ihre Entfaltung (d. h. ihre Nutzung im Hinblick auf Produktion
und Rezeption) zugleich befördert und hemmt. Wie kommt dieser Konflikt zum
Ausdruck? Design wird in der bürgerlichen Gesellschaft in Gestalt partikularer
Ästhetisierung realisiert. Zugleich enthält es aber ein telos, welches darüber hin-
ausreicht: die bedürfnis- und verständigungsorientierte Gestaltung der alltäglichen
Lebensverhältnisse. Die bestehende, durch gesellschaftliche Arbeitsteilung sich
herstellende Form von Design enthält insofern einen normativen, emanzipatorischen
Philosophie und kritische Theorie des Designs 25

Überhang über die gesellschaftliche Form, in der sie sich herstellt. Durch Design
wird eine humane Gestaltung der Lebens- und Arbeitswelt überhaupt erst ermög-
licht. Zugleich steht selbstbestimmter Nutzung und sozialem Design (autonomer
Produktion) jedoch eine fremdbestimmte Überformung bzw. eine Prä­formation
der Formgestaltung gegenüber. Letztere geht indes nicht zwingend aus der Be-
schaffenheit von Materialität und Struktur oder aus Medien und Formen hervor.
Sie entsteht vielmehr durch die spezifischen Gesetzmäßigkeiten ihrer Verwertung:
Soziales, öffentliches Potenzial wird blockiert durch private Aneignung des durch
Design produzierten Mehrwerts.
Mit anderen Worten: Design kann Ausdruck und Werkzeug von Freiheit und
kultureller Selbstbestimmung sein, es ist zunächst einmal aber Instrument der
Profiterzeugung in der Warenökonomie und der Kontrolle im Dienst politischer
Herrschaft. Das öffentliche (menschheitlich-uinversale) Potenzial wäre freilich nicht
ohne die private Verwertungsstruktur zu haben. Oder, vorsichtiger formuliert: Das
Potenzial manifestiert sich vorerst überhaupt nur in der falschen, aber wirklichen
Gestalt. Denn ohne die den Produktionsverhältnissen immanente Profitausrich-
tung wäre Design als Bestandteil der Produktivkräfte nicht entwickelt worden.
Und ohne entsprechende politische Herrschaftsmaßnahmen, Gesetzgebung und
Zwangsgewalt hätte sich die ökonomische Gesetzmäßigkeit nicht entfalten können,
die nun wie ein Sach- oder Naturzwang erscheint. In vereinfachter marxscher Ter-
minologie kann man daher von einem Konflikt zwischen dem Gebrauchswert und
dem Tauschwert des Designs sprechen. Design hat dekorative, phantasmagorische
und eskapistische Momente, aber auch konstruktiv-emanzipa­torische. Der reale
Partikularismus ist die Grundlage des ideologisch-phantasierten Universalismus
einer sittlich und ästhetisch gestalteten Welt, eines gelingenden Lebens für alle.
Zugleich ist diese Phantasie jedoch auch entstellter Vorschein eines noch nicht
existierenden realen Universalismus.
Dass das Potenzial autonomen sozialen Designs auf Realisierung wartet, die
durch die Grundlagen blockiert wird, denen es sich verdankt, kann nicht ohne
historische Reflexion begriffen werden. Kunst und industrielle Produktion traten im
19. Jahrhundert mit der Entfaltung der Industrialisierung auseinander. Die Arbeit
wurde zentrale gesellschaftliche Vermittlungsinstanz, aber nicht als selbstbestimmte
kreative Arbeit, sondern als Lohnarbeit. Kreative Arbeit wurde dem Bereich der
autonomen Künste zugeordnet. Dort wurden nicht per se als Waren gedachte
Artefakte produziert. Ästhetisch betrachtet, ist ihr Warencharakter akzidentell,
aber für den freien Künstler als Markt­subjekt ist er unverzichtbar. Lohnarbeit
hingegen gehört in den Bereich der Herstellung und Ver­marktung von Waren. In
der Moderne befreite sich die Nützlichkeit gleichsam aus ihrer untergeordneten
Funktion gegenüber der Schönheit. Der »ästhetische Überschuß, der die Produktion
26 Philosophie und kritische Theorie des Designs

des Handwerks beseelte« (Wellmer 1985: 115), erschien unter den Bedingungen
industrieller Produktion unzeitgemäß. Er wurde als volkswirtschaftlich schädli-
cher Überfluss diffamiert, am wort- und wirkmächtigsten bekanntlich bei Adolf
Loos. Die Freiheit der Künste war eine späte, fragile Errungenschaft und zudem
nur von kurzer Dauer.
An den weltanschaulichen Kunstdebatten gegen Ende des 19. Jahrhunderts lässt
sich zeigen, dass im überlieferten Streit um »freie« und »angewandte Kunst« wahre
und ideologische Momente in­einander verschlungen sind. Ästhetische Erfahrung
befreite sich in dieser Phase von fremdbestimmten Einschränkungen. So rechnete es
der Kunstwissenschaftler Konrad Fiedler (1881: 115) dem Naturalismus in Literatur
und Malerei hoch an, dass er »die Emanzipation der Kunst aus der Bevormundung
durch eine fremde Autorität« bewirkt habe. Kunst »will nicht mehr Mittel sein
für fremde Zwecke, sie will von jedem Zwang befreit sein« (ebd.: 116) – nur noch
das Leben und die Welt darstellen, wie sie sind. Die Auffassung des l’art pour l’art
radikalisierte diese Haltung, obwohl sie sich gegen Naturalismus und Realismus
richtete. Nun ging es nicht mehr um eine welthaltige, »getreue Darstellung«
(ebd.: 108). Die »Ansicht […], daß die Kunst einen ganz bestimmten Teil der dem
menschlichen Geschlecht gestellten Aufgaben zu lösen habe« (ebd.: 114), wurde
ihrerseits als »Bevormundung« (ebd.: 115) empfunden. Werke wurden denkbar und
gestaltbar, die nur ihrem eigenen Formgesetz verpflichtet sind; Werke, die sich der
Unterordnung unter Kriterien verweigern, die außerhalb der Logik ihrer Form und
deren Rezeption liegen. Zugleich war diese Emanzipation der ästhetischen Erfah-
rung aber auch eine Absage an die objektive Verpflichtung auf humane Zwecke,
der alle Produkte unterliegen, also auch künstlerische. In der Ablösung von dieser
Verpflichtung trieb Kunst, die bei sich selbst bleibt, die ideologische Unwahrheit der
alten Trennung von körperlicher und geistiger Arbeit auf die Spitze. Jene Trennung
ist die Signatur gesellschaftlicher Herrschaft. Sie wäre als solche nicht zu affirmieren,
sondern selbst noch einmal der Kritik zu unterziehen – nicht durch Verzicht auf
ästhetische Produktion, sondern durch Reflexion auf diesen Widerspruch, die im
Fortgang der Arbeit am Formgesetz selbst durchsichtig zu vollziehen wäre. Wenn
und solange dies unterbleibt, setzt sich autonome Kunst ins Unrecht gegenüber der
angewandten Kunst. Ihre Freiheit wäre eben nicht die Setzung als Selbstzweck, die
verabsolutierte Arbeitsteilung, die den Vorzeichen gesellschaftlicher Herrschaft
verhaftet bleibt. Freiheit der Kunst müsste sich immer auch durch ihre Bindungen
an humane Zwecken manifestieren. Die soziale Aufgabe der Künstler tritt nur zu
Tage, wenn ihre Arbeit in den Dienst herrschaftlicher und kommerzieller Zwecke
genommen wird. Insofern hat es ein Moment der Ideologie, wenn die »angewandten«
Künste aus dem Schatten der »freien« treten und gleichberechtigt werden wollen.
Andererseits ist Zweckgebundenheit der Kunst zunächst einmal Heteronomie.
Philosophie und kritische Theorie des Designs 27

Doch dadurch stehen Kunstproduktion und ästhetische Erfahrung modellhaft


für einen Zustand ein, in dem die Menschen, als gesellschaftliche Subjekte, nicht
mehr heteronom wären.1
Design als Inbegriff »angewandter Kunst« ist, wenn man so will, ein Vor-Schein
ästhetischer Wahrheit in falscher Gestalt. Auch auf dem digitalen Feld. Dort scheint
die früh- und hochkapitalistische Trennung der Arbeitenden von den Arbeitsmitteln
der Vergangenheit anzugehören, wenn menschliche Arbeit in ständig wachsendem
Ausmaß über Computer in Wert gesetzt wird. Traditionelle Industrieproduktion
wird an die Peripherie abgedrängt (sofern es denn noch sinnvoll ist, China als
peripher zu apostrophieren). Aber weil tendenziell alle Menschen der Logik der
Digitalisierung unterworfen werden, sind die ökonomische Verfügung über ihre
Arbeitsleistungen und die herrschaftliche Kontrolle ihrer physischen und psychi-
schen Aktivitäten auf dem neusten Stand der Technik gesichert. Aus der Perspektive
kritischer Theorie ist das die universal gewordene technische Rationalität. Sie hat
sich als post-hierachische und post-bürokratische Form der Organisation einer
Gesellschaft etabliert, die zwar keine Industriegesellschaft im klassischen Sinne
Max Webers mehr ist, sich aber in ihren Arbeits- und Freizeitformen mehr denn
je der »kapitalistischen Rationalität« (Marcuse 1964: 82) verpflichtet sieht, die sich
in jener Epoche durchgesetzt hat. Diese Rationalität ist Weber zufolge formal, ma-
thematisierend und quantifizierend. Die Gestalten der »Ökonomie und Technik«
(ebd.: 81), die aus ihr hervorgehen, sind grundsätzlich von der »Reduktion von
Qualität auf Quantität« (ebd.: 82) geprägt. Darauf basiert die spezifisch moderne
Form der »Herrschaft über alle (auf Quantitäten und Tauschwerte reduzierten)
Besonderheiten« (ebd.). Fünfzig Jahre nach dieser Diagnose Marcuses, im Zeitalter
der mikroelektronischen Revolution und der zivilen Nutzung der für militärische
Zwecke entwickelten Informations-, Kommunikations- und Ortungstechnologien,
ist die Technik, als mikroelektronisch-digitale, nicht mehr Mittel der Lebensver-
besserung, sondern Zweck sämtlicher Lebensvollzüge. Nicht nur auf der Ebene der
wirtschaftlich-politischen Propaganda und der biometrischen Kontrolle, auch in
der individuellen und kollektiven Selbstwahrnehmung und -darstellung erscheint

1 In der Gegenwartskunst ist die Problematik der Kunstautonomie bekanntlich immer


wieder gesehen worden. Ein prominentes und wirkmächtiges Beispiel: Okwui Enwezor
proklamierte für die documenta 11, es gehe darum, »die Bedingungen zu untersuchen,
unter denen aktuelle Kunst in ihren vielfältigen Ausdrucksformen entsteht. Wir möchten
eine Sicht von Kunst entwickeln, die offen ist, authentisch und zeitgemäß, gleichzeitig
aber auch sehr analytisch bei der Auseinandersetzung mit den historischen Systemen, in
denen sie stattfindet. Wir wollen eine Kunst, die der verbreiteten Ansicht entgegentritt,
alle Kunst sei sich selbst genug und besitze eine eigene Sprache, die anderen Disziplinen
keinen Zugang ermögliche.« (Zitiert nach Mertin 2002)
28 Philosophie und kritische Theorie des Designs

die digitale Infrastruktur, entwickelt für den Bedarf des militärisch-industriellen


Komplexes, wie eine Entelechie des Handelns, des Produzierens und des Verbrau-
chens.2 Die universale Verbreitung mikroelektronischer Produktions- und Kom-
munikationsmittel in Gestalt digitaler Endgeräte, die alle, die sie verwenden, als
potenzielle Gestalterinnen und Gestalter erscheinen lassen, schafft einen Zustand
gesellschaftlicher Heteronomie, indem sie Kommunikation durch und durch in
Warenform bringt.

Kritische Theorie und heideggerische Design-Ideologie

Der Weg zu einer dialektischen Theorie des Designs führt über die Frage nach
Wahrheit und Ideologie des Konzepts von Design. In dem Buch Weltentwerfen des
Architekten Friedrich von Borries, der in Hamburg Designtheorie lehrt, gibt es dazu
vielversprechende Ansätze. Methodisch geht Borries allerdings nicht dialektisch
vor, sondern dichotomisch. Er formuliert eine Reihe ambivalenter Merkmalsbe-
stimmungen, um die Zwiespältigkeit des Designs in Geschichte und Gegenwart zu
bestimmen. Dabei verwendet er einen weiten Designbegriff, der nicht nur Produkte
und Oberflächen umfasst und nicht nur äußere Erscheinungsformen, sondern vor
allem auch innere, strukturelle Formen: »Design gestaltet die Form, in der eine
Gesellschaft ihr Zusammenleben organisiert.« (Borries 2016: 30)
Mit Recht bezeichnet Borries die Tätigkeit von Designern als »Entwerfen« (ebd.:
11). Von diesem Begriff ausgehend, knüpft er an ein existenzialontologisches Wort-
spiel aus Heideggers Sein und Zeit an, wo es heißt, der Mensch werde ins Dasein
geworfen und müsse sich durch einen Ent-Wurf wieder aus dieser Ge-Worfenheit
herausarbeiten. Borries versieht Heideggers Motiv mit einem Gegensinn: Alles, was
entworfen und gestaltet ist, sei sowohl ent-werfend (im Sinne von befreiend), als
auch unter-werfend. Entwerfen ist demnach nicht nur Entwurf als komplementäres
Gegenstück zur heideggerschen »Geworfenheit«, sondern auch »das Gegenteil von
Unterwerfen« (ebd.: 9).

2 »Die Technik zieht […] in ihrer heute vorherrschenden Form […] alle soziale und poli-
tische Fantasie an sich […], sie droht jede andere Möglichkeit des besseren sozialen und
politischen Lebens in technische Utopie zu verwandeln. Fortschritt wird tendenziell
synonym mit einer Welt der besser funktionierenden Flachbildschirme, Handys, Com-
puter und Funknetze als moderne Warenfetische. Das Mittel Technik mutiert damit
selbst zum Subjekt und die Menschen und ihre Körper werden zu deren Anhängseln:
ihre Käufer, ihre Datengeber, ihre Ausbeutungsobjekte […]. Diese Relation bildet die
Kehrseite der neuen Möglichkeiten der Benutzung digitaler Geräte.« (Bock 2016: 23)
Philosophie und kritische Theorie des Designs 29

Dies begründet Borries zunächst mit einem Gedanken, den er von Hannah
Arendt übernimmt. Die Konditionen des menschlichen Zusammenlebens sind
einerseits gegeben und werden als solche vorgefunden, andererseits unterliegen sie
aber auch ständiger Umgestaltung. »Der Mensch lebt unter Bedingungen, die die
Menschheit selbst geschaffen hat« (ebd.: 16), resümiert Borries und bringt diese Un-
terscheidung zwischen Individuum und Gattung in Verbindung mit den Konzepten
der Entfremdung und Verdinglichung sowie dem Theorem vom Fetischcharakter
der Ware bei Marx. Der Schein, dass nicht die gesellschaftlichen Beziehungen
der Menschen, sondern natürliche Eigenschaften der Waren die wirtschaftliche
Reproduktion und deren politische Regulierung bestimmen, werde durch Kul-
turindustrie perfektioniert. Andererseits könne jener Schein aber durch Design
entzaubert werden. Denn Design könne sichtbar, »anschaulich, greifbar« machen,
»welche gesellschaftlichen, ökonomischen, politischen, kulturellen Bedingungen
der Gestaltung der Dinge zugrunde liegen. Design kann […] als Ausdruck von Nor-
men, aber auch von Ängsten und Hoffnungen verstanden werden: Es verdinglicht
die Bedingungen«, die nun »selbst zum Gegenstand von Design« (ebd.: 18) werden
können. Die Tätigkeit von Designern versteht Borries daher als »grundlegenden,
emanzipatorischen Akt« (ebd.: 11). Denn »Design schafft Freiheit« (ebd.: 9). Den
politischen Aspekt des Entwurfs leitet Borries von Vilém Flusser her, der die Welt
nicht als Gegebenheit, sondern als Ergebnis menschlichen Entwurfs konzipiert
habe. Dass dieser Zug nicht so recht zu Arendts Konzept passt, bei der die Welt
immer auch Gegebenheit ist, stört den philosophierenden Architekten nicht weiter.
Design ist ihm zufolge Bedingung der Möglichkeit von »Handlungen, die zuvor
nicht möglich oder nicht denkbar waren«; dadurch begrenze Design »aber auch
den Möglichkeitsraum, weil es neue Bedingungen schafft. Alles, was gestaltet wird,
entwirft und unterwirft.« (Ebd.) Designen ist also in sich zwiespältig und damit
mehr als nur eine arbeitsteilige oder bloß ästhetische Tätigkeit. »Diese dem Design
inhärente Dichotomie ist nicht nur eine gestalterische, sondern eine politische.
Sie bedingt Freiheit und Unfreiheit, Macht und Ohnmacht, Unterdrückung und
Widerstand.« (Ebd.: 10)
In der Tat: Viele Designprodukte können ihre Benutzerinnen und Benutzer
sowohl einschränken als auch entschränken. Stühle können entlasten und eine
freie Körperwahrnehmung unterstützen, aber auch zu Haltungen nötigen, die
physisch unzuträglich und repräsentativ falsch sind, etwa hierarchisch erhöhend
oder erniedrigend. Digitale Kommunikationstechnologien können freiheitliche
Selbstverständigung und politische Willensbildung ermöglichen; sie setzen ihre
Nutzerinnen und Nutzer aber auch dem Sperrfeuer der Werbepropaganda aus,
lassen sie ins Überwachungsnetz der Staatsgewalt gehen und formatieren nicht
nur ihre mitteilende Kommunikation, sondern auch ihre Selbstexpression und
30 Philosophie und kritische Theorie des Designs

Selbstwahrnehmung. Ohne Design auf relativ hohem Standard geht in technolo-


gisch hochgerüsteten spätkapitalistischen Gesellschaften nichts und Borries weiß
das selbstverständlich. Daher will er, wie der Untertitel seiner Schrift verheißt, eine
politische Designtheorie vorlegen. »Design ist politisch«, schreibt er, »weil Design in
die Beschaffenheit der Welt eingreift.« (Ebd.: 31) Das allgegenwärtige Design sei die
Gestalt, in der »sich unsere Unmündigkeit [materialisiert]: In der Art, wie wir uns
kleiden, wie wir wohnen, mit welchen Dingen wir uns umgeben etc., lassen wir uns
von der Ästhetik der kapitalistischen Kulturindustrie affizieren und geben uns ihren
leeren Versprechungen hin.« (Ebd.: 14, Fußnote) Solch »freiwilliger Unterwerfung«
habe sich ein »sich als politisch verstehendes, entwerfendes Design« (ebd.) entge-
genzustellen. Dann werde Design »subversiv, gefährlich, aufrührerisch« (ebd.: 14 f.).
Borries zufolge ist Entwerfen also ein in sich ambivalenter, sowohl herrschaftlicher
als auch freiheitlicher Vorgang. Entwerfen als Unterwerfen sei daher von »Entwerfen,
verstanden als das Gegenteil von Unterwerfen«, zu unterscheiden – und Letzteres
sei nichts anderes als »die praktische Umsetzung von Aufklärung« (ebd.: 15) im
Sinne von Kant. Designer könnten beim Ausgang aus selbstverschuldeter Unmün-
digkeit helfen, indem sie das Nachdenken darüber unterstützen, dass »wir uns an
vielen Stellen aus Bequemlichkeit den ökonomischen und kulturellen Bedingungen
des globalen Kapitalismus sowie den damit verbundenen Formen von Unfreiheit
[unterwerfen]« (ebd.: 14, Fußnote). Was zeichnet demgegenüber Design aus, das
nicht entwirft, sondern unterwirft? »Unterwerfendes Design bestätigt bestehende
Herrschafts- und Machtverhältnisse, indem es diese funktional und ästhetisch ma-
nifestiert« (ebd.: 21). Und wie tut es das? Indem es »Objekte, Räume und Kontexte«
herstellt, »die die Handlungsmöglichkeiten ihrer Benutzer nicht – oder nur in einem
vorgegebenen Rahmen – erweitern.« (Ebd.) Stattdessen inszeniert es Angebote oder
Imperative zur Identifikation und »sichert […] die bestehende Ordnung« (ebd.).
Denn »Unterwerfung« geschehe in den westlichen Gesellschaften »nicht primär
durch Zwang, sondern freiwillig« (ebd.: 22). Hier grenzt sich Borries von Foucault
und Deleuze ab: »Disziplinierung und Kontrolle« (ebd.: 21 f.) hätten zwar nicht
aufgehört zu bestehen, seien aber komplett internalisiert und würden hinter einen
neuen Attraktor zurücktreten, nämlich hinter die »Konsumkultur« (ebd.: 23), von
der die Suggestion ausgehe, die bestehende Ordnung sei eine optimale »Grundlage
der eigenen Entfaltungsmöglichkeit« (ebd.: 22 f., Fußnote). Borries nennet diese
Form der fremdbestimmten Sozialisierung die »Suggestionsgesellschaft« (ebd.:
22.). Sie stimuliere die Menschen zur »Autosuggestion von Unabhängigkeit« und
zur »Selbsttäuschung« über ihre Chancen zur »Selbstverwirklichung« (ebd.: 23).
Der freiwilligen Entmächtigung stünden aber auch designerische Tendenzen
zur Ermächtigung gegenüber: entwerfendes Design, das eine »bessere Gesellschaft
[…] erschaffen« will, »in der die Beziehungen der Menschen untereinander und
Philosophie und kritische Theorie des Designs 31

zu ihrer Umwelt neu organisiert sind« (ebd.: 25). Was zeichnet Design aus, das
auf diese Weise entwirft? Es versuche, »seinen Benutzern und Rezipienten echte
Handlungsspielräume für ihr Leben zurückzugeben. Es stattet sie mit den Techno-
logien, Werkzeugen, Instrumenten und Symbolen eines selbstbestimmten Lebens
aus.« (Ebd.) Design als Form politischer Praxis ist demzufolge ein unerlässlicher
Bestandteil der Auseinandersetzung mit den natürlichen Lebensgrundlagen. »Der
Mensch führt einen Kampf gegen die Natur. […] Naturgewalten, Begegnungen mit
wilden Tieren etc.« würden »den Menschen immer wieder an seine existenzielle
Unterworfenheit« (ebd.: 58) erinnern.3 Design, so Borries, sei überlebensnotwendig,
weil jede Art von Arbeit und Technik aktiv oder passiv mit Gestaltung zusammen-
hängt. Design, das von der Angst ums Überleben bestimmt ist, könne seinerseits
lebensbedrohliche Folgen annehmen. Borries stützt sich auf Gehlen, Anders und
Sloterdijk und betont, dass schützende Institutionen sich gegen diejenigen kehren
können, zu deren Schutz sie gedacht sind; dass »die Entwürfe« »des Menschen«
»seine eigenen Fähigkeiten« »überfordern«; und dass Design in der Moderne eine
Macht simuliert, welche die Menschen in Wahrheit nicht haben, weil ihr individu-
elles und kollektives Überleben bedroht bleibe. Daher verfestige sich das zeitweilig
angelegte, angstgetriebene »Überlebensdesign« zum dauerhaften »Sicherheitsde-
sign«, es werde zum Selbstzweck und »stellt den permanenten Ausnahmezustand
her.« (Ebd.: 51) »Angst ist das Herrschaftsinstrument der Gegenwart.« (Ebd.) »Eine
Steigerung erfährt die Angst des Menschen vor der Natur in der Angst vor der
zweiten Natur.« (Ebd.: 59) Entsprechend würden Gesellschaft und eigenes Selbst
tendenziell heteronom, also unterwerfend, gestaltet. Dagegen biete entwerfendes
Design befreiende Kräfte auf. Design sei im sozioökonomischen Alltag verwurzelt,
könne aber kraft »spekulativer Wunschproduktion und künstlerischer Imaginati-
onskraft« (ebd.:137) auch darüber hinaus gelangen und »neue Möglichkeiten von
Welt« (ebd.) entwerfen.
Borries’ Designphilosophie, soviel dürfte deutlich geworden sein, will heterogene
gedankliche Motive verbinden. Phänomenologie und Neoaristotelismus werden
schwungvoll mit einer neomarxistischen Kantlektüre verquickt. Heideggers existen-
zialontologischer Kalauer über das Entwerfen aus der Geworfenheit soll mit Arendts
Begriff der Bedingtheit und Flussers Projekttheorie des Subjekts gewissermaßen
politisiert werden und dadurch als kantianische Grundlage einer sozialen Gestal-

3 An dieser und an anderen Stellen verfällt Borries in einen Jargon der Eigentlichkeit,
der an jenen erinnert, den Adorno bei der Heidegger-Schule der jungen Bundesrepub-
lik Deutschland beobachtete. Der Jargon nehme, nur scheinbar radikal, »das gesamte
menschliche Dasein« (Bollnow in Adorno 1964: 435) ins Visier; dabei produziere er
Wort- und Denkhülsen, die die soziale und historische Vermitteltheit des Daseins
verdecken.
32 Philosophie und kritische Theorie des Designs

tungstheorie funktionieren, die Design mit Adorno als verdinglichte gesellschaftliche


Arbeitsform versteht und gesellschaftliche Entfremdung durch Kulturindustrie in
einer emanzipatorischen Wendung über sich selbst hinausführen möchte.
Es kann bestimmt nicht schaden, wenn praktizierende Gestalterinnen und
Gestalter, auch schon während ihres Studiums, auf so eine bunte Weise mit frag-
mentierten philosophischen Motiven bekannt gemacht werden. Aber kann das als
Theorieprojekt gut gehen? Arendt und Flusser kann man in diesem Zusammenhang
vielleicht vernachlässigen, aber man kommt nicht umhin, sich den Kontext genauer
anzusehen, in dem Heidegger seine entsprechenden Gedanken entfaltet hat. Borries
hat das offenbar nicht sehr gründlich getan, und das bringt ihn in Schwierigkeiten.
Denn seine Dichotomie aus Ent-Werfen und Unter-Werfen lässt sich von Heidegger
nicht herleiten, weil dort das Welt-Entwerfen immer schon Selbst-Unterwerfung
ist (nämlich Unterwerfung des Daseienden unter das Sein).
Heidegger, dem es bekanntlich nicht um Design, sondern um Dasein ging,
sprach von der »Weltoffenheit des Daseins« (Heidegger 1927: 137) und bestimmte
diese antagonistisch. Der daseiende Mensch stelle sich in seiner »Stimmung« (ebd.:
134) (seiner jeweiligen Gestimmtheit) der »Betroffenheit« durch die »Widerstän-
digkeit« und der »Bedrohlichkeit des Zuhandenen« (ebd.). Indem der Mensch
seiner so gearteten »Befindlichkeit« (ebd.) innewerde, öffne er sich dem Dasein und
erschließe sich die Welt, derer er bedarf. »In der Befindlichkeit liegt existenzial eine
erschließende Angewiesenheit auf Welt, aus der her Angehendes begegnen kann.«
(Ebd.: 137 f.) Wenn der Mensch sich für die Welt öffne, erschließe sich aber nicht
nur die Welt dem Menschen, sondern das Dasein (also der einzelne Mensch) er-
schließe sich selbst. »Was wir ontologisch mit dem Titel Befindlichkeit anzeigen«,
schreibt Heidegger, »ist ontisch das Bekannteste und Alltäglichste: die Stimmung,
das Gestimmtsein.« (Ebd.: 134)4
Für Heidegger ist Dasein ›In-der-Welt-Sein‹ (Heidegger 1929: 39, Fußnote). Doch
was ist für ihn die Welt? Nicht das Sein selbst, sondern vielmehr ein Produkt des
einzelnen, daseienden Menschen. Welt ist die Totalität dessen, worin der finale Da-
seinsgrund besteht, heißt es in Heideggers Aufsatz »Vom Wesen des Grundes« aus
dem Jahre 1929, in dem das Motiv des Weltentwerfens eingeführt wird. Heidegger
entwickelt diesen Gedanken in Auseinandersetzung mit Platon, Aristoteles und
Kant. Verknappt – und dadurch hoffentlich verständlich – wiedergegeben: Indem

4 »In der Stimmung wird das In-der-Welt-Sein, das das Dasein ›zu sein‹ hat […], hinsicht-
lich seines Vor- und Aufgegebenseins erschlossen; im Entwurf ›wirft‹ sich das Dasein
in das vorgegebene Zu-Sein als sein Worumwillen und versteht es als ›Möglichsein‹. In
der Befindlichkeit wird gleichsam die Notwendigkeit dieses Möglichseins erschlossen,
im Entwurf wird es als Möglichsein erschlossen.« (Tugendhat 1970: 305.)
Philosophie und kritische Theorie des Designs 33

ich mir als existierender Mensch vor Augen führe, worin der letzte Grund meines
Daseins besteht, gebe ich mir ein Ziel und dem Sein etwas vor. Ich überschreite das
Dasein; indem ich ein Weltbild entwerfe, mache ich mir sozusagen ein vorläufiges
Bild vom Sein. Das tue ich aber nur, damit das Sein selbst sich mir offenbart und
mir zu verstehen gibt, was es wirklich ist. Bei Heidegger (1929: 39) klingt das so:
»Der Entwurf von Welt […] ist […] auch immer Überwurf der entworfenen Welt
über das Seiende. Der vorgängige Überwurf ermöglicht erst, daß Seiendes als
solches sich offenbart. Dieses Geschehen des entwerfenden Überwurfs, worin
sich das Sein des Daseins zeitigt, ist das In-der-Welt-Sein.« Das Sein gibt sich eine
zeitliche Form, indem es sich gleichsam als Dasein inkorporiert; es nimmt nicht
nur zeitlich, sondern auch räumlich Gestalt an. Ich wiederum gehe als Seiender
in die Welt, in meine Welt, ein – nur um sie und mich selbst zu überschreiten und
dadurch seiender zu werden. Erst dann gewinne ich die »Möglichkeit der Wahr-
heit des Verstehens von Sein«, und solches Verstehen ist für Heidegger (1929: 40)
nichts anderes »als enthüllendes Entwerfen von Sein«. »Und so ist der Mensch,
als existierende Transzendenz überschwingend in Möglichkeiten, ein Wesen der
Ferne«, verkündet Heidegger (1929: 54) am Schluss seiner Überlegungen. »Nur
durch ursprüngliche Fernen, die er sich in seiner Transzendenz zu allem Seienden
bildet, kommt in ihm die wahre Nähe zu den Dingen ins Steigen. Und nur das
Hörenkönnen in die Ferne zeitigt dem Dasein als Selbst das Erwachen der Antwort
des Mitdaseins, im Mitsein mit dem es die Ichheit darangeben kann, um sich als
eigentliches Selbst zu gewinnen.« (Ebd.)
Transzendenz ist hier ein Bereich, aus dem sich das Sein höchstselbst meldet. Es
erteilt mir, dem bloß Seienden (sofern ich denn imstande bin, dies zu vernehmen),
den Bescheid, meine »Ichheit« dranzugeben. Ich befreie mich im Entwurf lediglich
von meiner überheblichen Haltung gegenüber dem Sein. Solches Entwerfen zielt
per se nicht auf Selbstermächtigung, Befreiung oder gar Emanzipation, sondern
auf Demut. Unterwerfung ist das Ziel des heideggerschen Entwurfs und zugleich
sein letzter Grund.
Aus der Perspektive der kritischen Theorie lautet die Quintessenz der Hei-
degger-Lektüre: Die Existenzialontologie supponiert konkreter, je besonderer
Subjektivität eine vermeintlich übergreifende Allgemeinheit des Ontologischen.
Heideggers Trick, heißt es in Karl Heinz Haags Frankfurter Habilitationsschrift,
ist die »Ersetzung des philosophierenden Subjekts durch das Wort ›Dasein‹« (Haag
1960: 80). Im einzelnen Dasein inkorporiere sich gleichsam das allgemeine Sein
und damit werde das »›Sein‹ zum ›Wesen des Menschen‹« (ebd.) gemacht. Wenn
dann vom »Denken des Seins« (Heidegger 1949: 7) die Rede ist, soll das sowohl ein
Denken des allgemeinen, überzeitlichen Seins selbst sein, als auch das Nachdenken
des Menschen. Dieser wiederum ist für Heidegger als einzelner Mensch – nicht
34 Philosophie und kritische Theorie des Designs

etwa geschichtlich, sondern vielmehr »geschicklich« (ebd.) – eine Besonderung des


allgemeinen Seins und als solche denkt er über das Sein im Allgemeinen nach. »Was
allerdings unter einem solchen, von der Sphäre des Ontischen angeblich völlig un-
abhängigen ›Sein‹ zu verstehen ist, muß unausgemacht bleiben. Seine Bestimmung
würde es in die Dialektik von Subjekt und Objekt hineinziehen, von der es gerade
ausgenommen sein soll.« (Haag 1960: 81)
Was das Sein an sich selbst ist, wird von Heidegger niemals bestimmt. Es gilt
ihm als das Ontologische, welches etwas grundsätzlich anderes sein soll als das
Ontische (das bloß Seiende). Zur Bestimmung des Seins finden sich bei Heidegger
nur tautologische Aussagen. Sie sollen verbergen, dass »das Sein« nichts anderes
ist als das Ergebnis einer abstrakten Reflexion des denkenden Subjekts auf seine
Objekte, also auf konkret Seiendes. Ein konkret Seiendes (das Subjekt) reflektiert auf
anderes konkret Seiendes (die Objekte), abstrahiert jedoch von der beiderseitigen
Konkretion. Die inhaltslose Formel, die dabei herauskommt, wird ausgegeben als
»ein ontologisch Erstes, auf das Subjekt und Objekt zu reduzieren wären« (ebd.: 82).
Aber das Sein ist »in Wahrheit selber Produkt, nämlich das letzte Überbleibsel der
philosophierenden Abstraktion« (ebd.: 83). Es hat keine »Realität«, es ist lediglich
»eine Abstraktion des Bewußtseins von seinem Inhalt, des Subjekts vom Objekt«
(ebd.). Dadurch wird bei Heidegger »der Anschein erzeugt«, schreibt Haag (1960:
83), »als gewinne hier der Mensch, das ›Dasein‹, eine Beziehung zu einem von ihm
unabhängigen ›Sein‹.« Was bei Heidegger als reine Unmittelbarkeit erscheint, ist
also tatsächlich »ein durch und durch Vermitteltes« (ebd.). Er verabsolutiert diese
Vermittlungsbestimmung als ontologische Differenz und gibt sie als reine Iden-
tität aus. »Identität und Nichtidentität« sind bei Heidegger vermeintlich »radikal
getrennt«; ein »Werden« oder eine »Dialektik« von »Subjekt und Objekt« (ebd.)
gibt es angeblich nicht.
Mein Fazit: Heideggers (1929: 47) Konzept des »Weltentwurfs« taugt nicht als
Grundlage einer politisch-emanzipatorischen Designtheorie. Denn es mündet
darin, dass die »Endlichkeit der Freiheit des Daseins« (ebd.) bewiesen werden soll.
Darin besteht nämlich für Heidegger das ›Gründen der Freiheit‹ (vgl. ebd.), und
das ist etwas substanziell anderes als der ›grundlegende, emanzipatorische Akt‹,
für den sich Borries (2016: 11) begeistert. Wenn er das mit Adornos Theorie der
kulturindustriellen Unterwerfung der Menschen zusammenbringen will, bewegt
er sich auf ganz dünnem Eis. Der Imperativ der Kulturindustrie lautet Adorno
(1963: 343) zufolge: »du sollst dich fügen, ohne Angabe worein; fügen in das, was
ohnehin ist, und in das, was, als Reflex auf dessen Macht und Allgegenwart, alle
ohnehin denken.« Aus kulturindustriellen Produkten und Formaten spreche die
latente Drohung, dass ausgegrenzt werde, wer nicht mitmacht und sich anpasst.
»Das Einverständnis, das sie [die Kulturindustrie] propagiert, verstärkt blinde,
Philosophie und kritische Theorie des Designs 35

unerhellte Autorität.« (Ebd.: 344) Vier Jahre vor dem großen »Erwachen«, der
Machtübergabe an die Nationalsozialisten, schwärmte Heidegger (1929: 54), dass
der bloß daseiende Mensch »im Mitsein« seine »Ichheit darangeben« solle, »um sich
als eigentliches Selbst zu gewinnen«. Aus Adornos (1963: 344) Perspektive gehört
solches Philosophieren zur Frühgeschichte jener kulturindustriellen »Beförderung
und Ausbeutung der Ich-Schwäche, zu der die gegenwärtige Gesellschaft, mit
ihrer Zusammenballung von Macht, ihre ohnmächtigen Angehörigen ohnehin
verurteilt«. Heideggers komplementäre Anordnung von Geworfenheit und Ent-
wurf erweist sich als autoritative Verklammerung, aus der sich Menschen, die als
»Dasein« zu Exemplaren des »Seins« depotenziert sind, schlechthin nicht befreien
können. Im Ent-Wurf können sie sich allenfalls ihres Ichs entledigen; dass sie sich
zu selbstbestimmten Subjekten machen, ist in der existenzialontologischen Lehre
nicht vorgesehen. Heideggers Konzept des Weltentwerfens, das er nicht erst als
praktizierender Nationalsozialist, sondern bereits kurz nach Sein und Zeit publi-
ziert hat, steht den emanzipatorischen politischen Intentionen der Borries’schen
Philosophie des Entwerfens diametral entgegen.

Designphilosophie und die »utopische Funktion«


des »transzendierenden Ornaments«

Ein Denker, der in Borries’ umfangreicher Galerie philosophischer Gewährsleute


nicht vorkommt, wäre vielleicht hilfreich gewesen, um das missliche Sowohl-
als-auch seines sozialen Designbegriffs zuzuspitzen – mit Blick auf den inneren
Widerspruch, der in der professionellen Tätigkeit des Entwerfens steckt. Mit Ernst
Bloch kann man nämlich recht präzise zwischen ideologischen und utopischen
Momenten des Designs unterscheiden. Bloch hat in der Philosophie des deutschen
Idealismus (zu dem er nicht nur Hegel und Fichte zählt, sondern auch Kant) einen
subjektiven Faktor am Werk gesehen, der auf den historischen Materialismus und
auf eine ihm adäquate Praxis deute. In Blochs Terminologie ist das der »Wunsch-
und Willenszug […] im Überschreiten, in den Überholungen« (Bloch 1954: 167).
Im deutschen Idealismus werde – wenn auch in abstrakter Gestalt – das imaginäre
Transzendieren auf philosophische Begriffe gebracht, in denen »das Subjekt die
Freiheit eines widersprechenden Gegenzugs gegen das schlecht Vorhandene sich
vorbehält« (ebd.: 168). Die Praxistheorie von Marx knüpfe daran kritisch an. Dort
sei der subjektive Faktor »mit dem objektiven Faktor der gesellschaftlichen Tendenz,
des Real-Mögli­chen vermittelt« (ebd.). Die »utopische Funktion« (ebd.: 161) habe sich
in revolutionärer Tätigkeit konkretisiert. In der Philosophie des deutschen Idea-
36 Philosophie und kritische Theorie des Designs

lismus hingegen sei der subjektive Faktor auf halben Wege steckengeblieben. Sein
gedankliches Überschreiten sei, verglichen mit der revolutionären Herausarbeitung
des gesellschaftlich Neuen, »täuschende, bestenfalls verfrühte Harmonisierung«
(ebd.: 169). Gleichwohl seien die gedanklichen »Vervollkommnungs- und Bedeu-
tungsfiguren« (ebd.), die aus derartiger Ideologie hervorgehen, von hoher Relevanz
für ein antizipierendes Bewusstsein.
An diesem Punkt könnte eine kritische Theorie des Designs an Bloch anknüpfen
(ohne sich die Aporien seiner leninistischen Theorie der Revolution einzuhandeln).
In Momenten der ideologischen Intention von Philosophie und Kunst, meinte
Bloch, sei eine zwar »uneigentliche«, aber keineswegs gänzlich unauthentische
»Antizipation des Besseren« (ebd.) aufbewahrt. Daher sei die »intendierte Verschö-
nerung des Vorhandenen […] immerhin keine des Schlecht-Vorhandenen, und sie
will von letzterem nicht bewußt, also betrügerisch ablenken« (ebd.). »Die Frage ist
nun«, schrieb Bloch, »ob und inwieweit sich der vorwegnehmende Gegenzug mit
einem bloß verschönernden berührt.« (Ebd.) Dies gilt über die Philosophie hinaus
zum einen für die Architektur, die Bloch im Prinzip Hoffnung betrachtet, und zum
andern für das Design, nämlich im Sinne des Gestaltungsdiskurses in Blochs Geist
der Utopie. Dieser Gestaltungsdiskurs spürt der eigentümlichen Bewegung nach,
in der angewandte Kunst, in einer Art »Vorspiel« und »Korrektiv«, die Grenze »zur
transzendierenden Form« und zum »mehrdimensionalen, transzendierenden Or-
nament« (Bloch 1923: 29; siehe Bloch 1954: 819–872) erkundet und sich anschickt,
sie zu überschreiten.

Literatur

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Philosophie und kritische Theorie des Designs 37

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Wellmer, Albrecht (1985): »Kunst und industrielle Produktion. Zur Dialektik von Moderne
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nach Adorno, Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 115–134.
Designtheorie zwischen Aufklärungskritik
und Gegenaufklärung*1
Designtheorie zwischen Aufklärungskritik und Gegenaufklärung

Designtheorie zwischen Aufklärungskritik und Gegenaufklärung

In der Diskussion über eine wissenschaftliche Fundierung der Praxis von Ge-
stalterinnen und Gestaltern wird seit Langem zwischen einem engen und einem
erweiterten Begriff von Design unterschieden. Claudia Mareis (2014: 41) spricht
zutreffend von einer »Entgrenzung des Designbegriffs«. Bruno Latour hat sich
vor einigen Jahren – mit einer Hommage an Peter Sloterdijk, der seinerzeit der
Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe als Rektor vorstand – in diese Debatte
eingebracht. Latour arbeitet mit einem sehr weiten Designbegriff, der jegliche
gestalterische Aktivität umfasst – nicht bloß die Gestaltung »alltäglicher Objekte«
des Gebrauchs, sondern überhaupt gestaltende Eingriffe in »Städte, Landschaften,
Nationen, Kulturen, Körper, Gene und […] die Natur selbst« (Latour 2009: 357).
Dieser Designbegriff, meint der Technik- und Wissenschaftssoziologe, sei ein »wirk-
samer Ersatz für die Begriffe des Machens, Bauens und Konstruierens« (ebd.: 367).
Der homo faber habe als Hersteller, Bauherr und Konstrukteur zur Überheblichkeit
tendiert; postmoderne Designer seien in dieser Hinsicht viel bescheidener. Latour

* Ursprünglich ein Vortrag bei der Tagung Der aufrechte Gang im windschiefen Kapi-
talismus: Sozialkritik und Ethik in der marxistischen Tradition des Kollegs Friedrich
Nietzsche in Weimar am 10. Januar 2016. Für Anregungen, Hinweise und Kritik danke
ich Christian Bauer, Wolfgang Fritz Haug, Peter Jehle und Ilse Schütte-Kronauer. Der
Text erschien unter dem Titel »Ideologie und Utopie des Designs. Latours Designthe-
orie zwischen Aufklärungskritik und Gegenaufklärung« in: Der aufrechte Gang im
windschiefen Kapitalismus. Modelle kritischen Denkens, hrsg. v. Rüdiger Dannemann,
Henry Pickford u. Hans-Ernst Schiller, Wiesbaden: VS, 2018, S. 255–272. Der Obertitel
des Aufsatzes war als Hommage an das gleichnamige, wegweisende Buch von Gert Selle
aus dem Jahr 1973 gedacht. Eine frühere Fassung publizierte Das Argument. Zeitschrift
für Philosophie und Sozialwissenschaften, Heft 315 (1/2016), S. 68–81. – Teile des Textes
wurden in das Buch Ethik im Kommunikationsdesign. Verständigung, Verantwortung und
Orientierung als Kriterien visueller Gestaltung aufgenommen, das ich gemeinsam mit
Christian Bauer verfasst habe (Würzburg: Königshausen & Neumann, 2017, S. 205–227).
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 39
G. Schweppenhäuser, Design, Philosophie und Medien, Würzburger Beiträge zur
Designforschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-22225-3_3
40 Designtheorie zwischen Aufklärungskritik und Gegenaufklärung

beschreibt die Differenz zum modernistischen Designverständnis im Stil der Rede


von männlichen und weiblichen Tugenden. Die Moderne habe ihre Legitimation
aus den Narrativen »Emanzipation, Loslösung, Modernisierung, Entwicklung und
Beherrschung« geschöpft (ebd.: 357). Die postmodernen Narrative »Bindung, Zu-
wendung, Verwicklung, Abhängigkeit und Fürsorge« (ebd.: 357) würden hingegen
auch das Verständnis von Gestaltung verändern. Latour meint, dass dem Design
eine eigene Makro-Ethik innewohnt: Für das Weiterleben der Menschheit sei es
wichtig, von »Design zu sprechen und nicht von Konstruktion, Schöpfung oder
Herstellung« (ebd.: 369). Design sei »einer der Begriffe«, »die das Wort ›Revolution‹
ersetzt haben« (ebd.: 358).
Was ist damit gemeint? Was soll aus der vollmundigen Gegenüberstellung von
Design und Revolution für das Verständnis und die Praxis von Gestaltung folgen?
Um dem nachzugehen, werde ich Latours Postmodernismus mit einer kritischen
Designtheorie konfrontieren. Zunächst diskutiere ich Latours Lesart von Ethik und
Humanismus (1). Dann werfe ich einen Blick auf seine Darstellung der Sloter­dijk-
Kritik von Habermas (2) und rekapituliere Aspekte aufklärerischer Rationalität
(3). Am Schluss skizziere ich das Programm eines »stellvertretenden Designs« mit
sozialem Antizipationspotenzial (4).

Latours Lesart von Ethik und Humanismus

Bekanntlich bezeichnen postmoderne Denkerinnen und Denker die Epoche der


industriell-kapitalistischen, wissenschaftlich-technisch gestützten Produktionsweise
nicht selten als die Moderne; diese wiederum identifizieren sie mit der okziden-
talen Denkbewegung der Aufklärung. Aus postmoderner Sicht herrschte, dieser
Erzählung zufolge, in der Tradition der Aufklärung die Überzeugung, dass Dinge
grundsätzlich substanziell veränderbar und Handlungsspielräume für Menschen
unendlich erweiterbar sind. Das Programm sei die menschliche Emanzipation
gewesen: Befreiung von natürlichen und sozialen Zwängen durch Beherrschung der
Dinge. Aus Latours Sicht liegt dem die irrige Annahme zugrunde, dass Gegenstände
von Erkenntnis und praktischer Bearbeitung Tatsachen sind. Stattdessen sei nach
dem Ende des Projekts der Moderne klar geworden, dass Fakten nichts schlecht-
hin Gegebenes sind. Das Bemühen um Dominanz über die dem Subjekt faktisch
gegenüberstehenden Objekte habe in die Irre geführt. Befreiung und Entfesselung
würden daher durch andere »Werte« ersetzt: Bindung, Vorsicht, Behutsamkeit im
Umgang mit den Dingen.
Designtheorie zwischen Aufklärungskritik und Gegenaufklärung 41

Insofern habe Design ethische Implikationen, meint Latour (2009: 357): Es


mache Objekte zu Dingen, und Dinge seien »uns angehende Sachen«. Dies impli-
ziere eine Wertorientierung, nämlich Behutsamkeit. Sie gehe aus den veränderten
Konzepten von Objekten und Handlungen hervor. Statt der Fiktion »neutraler
Tatsachen« anzuhängen, seien wir bemüht, »uns angehende Sachen« (ebd.: 360) zu
erkennen. Durch die »Transformation von Objekten in Zeichen« werde zudem eine
neue »Aufmerksamkeit für Bedeutung«, für die »Interpretation« und »Exegese« der
Dinge und für die »Sprache der Zeichen« (ebd.) möglich. Durch Hermeneutisierung
und Semiotisierung der Objektwelt könne man erkennen, dass Objekte keineswegs
starre Gegebenheiten sind, sondern Projekte. Und insbesondere »Artefakte werden
begreiflich als komplexe Versammlungen widersprüchlicher Sachverhalte« (ebd.).
Für diese antisubstantialistische Sicht hätte man sich auf David Humes (mo-
derne) Unterscheidung zwischen den relations of ideas und den matters of fact
berufen können, also auf den Unterschied zwischen »Vorstellungsbeziehungen und
Tatsachenverhältnissen« (Horkheimer 1987: 434). Doch anders als bei Hume geht
es bei Latour nicht um die skeptische Reduktion der Frage »nach der Gültigkeit
der Naturwissenschaften« (ebd.: 436) auf das Subjekt. Denn Latour will nicht nur
die Objekt-Kategorie überwinden, er möchte auch die Konzeption des Subjekts
als Fiktion enttarnen. Dafür sollen methodologische bzw. epistemologische und
ontologische Überlegungen eine Verbindung eingehen. Der Fetischcharakter der
Tatsachen in den empirischen Wissenschaften wird hinterfragt. Dieser sei hervor-
gegangen aus einer vermeintlich bloß »erfundenen Differenzierung von Akteuren
und Objekten« (Packard 2015: 367). Latours neuartige Beschreibung der natürlichen
und sozialen Welt mit dem Modell hybrider Netzwerke, bestehend aus Akteuren
unterschiedlichster Provenienz, richtet sich sowohl gegen den Tatsachenfetischis-
mus wie gegen die – Latour zufolge fälschlicherweise statuierte – Unterscheidung
zwischen Moderne und Prämoderne. Diese doppelte Entwindung soll es erlauben,
»Menschen, Dinge und Tiere zunächst ohne Unterwerfung unter Hierarchisie-
rungen von Mensch- und Geistbegriffen zu denken« (ebd.). Dabei wird von der
Akteur-Netzwerk-Theorie aber sogleich wieder eine neuerliche Mystifikation er-
zeugt. Die universalisierende Rede von allerlei »Aktanten« wird zum begrifflichen
Schema, hinter dem die »hochtechnologische Verdinglichung« (Haug 2015: 333)
verschwindet; also die Warenform, die Menschen, Tiere, natürliche Ressourcen
und Artefakte zu Momenten im Verwertungsprozess von Kapital macht.
Latour verbindet Differenzkult und Entdifferenzierung über sein Anknüpfen
an Heidegger (Loheit 2015: 340 ff.). Neoontologisch rekurriert er mit Heidegger
auf das Althochdeutsche: Die Dinge werden als »Versammlungen« bezeichnet
(Latour 2009: 371) und die Objekte als »Zusammenkünfte«, denn sie seien keine
Tatsachen, sondern etwas, das ›uns angeht‹; etwas, um das »wir uns kümmern
42 Designtheorie zwischen Aufklärungskritik und Gegenaufklärung

müssen« (ebd.: 360). Weil Dinge nicht darauf reduziert werden dürften, dass sie
Produkte menschlicher Arbeit sind, habe man sich (generell, aber insbesondere
als Designerin und Designer) vom Konzept der Neuschöpfung und der absoluten
Anfänge und Ursprünge zu verabschieden. Gegen die Hybris der säkularisierten
Vorstellung einer creatio ex nihilo – die übrigens schon Adorno (1965), unter ganz
anderen Voraussetzungen, bekämpft hat – macht Latour geltend, dass Design
transitorisch ist: Es sei »immer etwas Abhelfendes«, nämlich eine »nachfolgende
Aufgabe« im besten Sinne, die darin besteht, etwas, das »stets […] bereits […] da«
ist, »lebendiger, kommerzieller, verwendbarer, benutzerfreundlicher, annehmbarer,
nachhaltiger und so weiter zu machen« (Latour 2009: 361).
Damit soll die inhärente Ethik des Designs zu Tage treten: Wenn es keine Tat-
sachen gibt, sondern nur Dinge und Kombinationen von Dingen und Lebewesen,
gelte die moderne Dichotomie von Tatsachenfeststellungen und Werturteilen nicht
mehr. Vielmehr werde klar, dass Design per se eine normative Dimension hat. Wenn
alles designt ist, sei die Frage unabweisbar, ob etwas »gut oder schlecht designt
worden ist« (ebd.: 362). Dann werde klar, dass es keine normfreie Faktizität gibt.
Alles, was uns umgibt, ist stets auch von uns mitproduziert und daher bewertbar
und bewertungsbedürftig.
Latours Unbehagen am Dogma der Dichotomie von Sein und Sollen, die sich seit
Hume und Max Weber eingebürgert hat, ist nachvollziehbar. Aber um seine De-
sign-Ethik einschätzen und bewerten zu können, muss man klären, was er überhaupt
unter »Moderne« versteht. Latour zufolge ist diese Epoche durch die philosophische
Alternative »Emanzipation« oder »Bindung« (ebd.: 365) gekennzeichnet. Dahinter
steht, so würde ich philosophiegeschichtlich etwas präziser formulieren, auf der
einen Seite die revolutionäre Linie der kritisch-materialistischen Philosophie vom 18.
bis zum 20. Jahrhundert. Und auf der anderen Seite stehen die gegenaufklärerische
Philosophie des 19. und der Neokonservatismus des 20. Jahrhunderts. Während
jene den Fortschritt propagiert hätten, bilanzieren diese seine Kosten.
Latour (2008: 22) schließt den »Modernismus« heideggerisch mit dem »Humanis-
mus« kurz; Moderne werde »oft über den Humanismus definiert«, schreibt er, und
dabei würde »die gleichzeitige Geburt der ›Nicht-Menschheit‹« vergessen, nämlich
»die der Dinge oder Objekte oder Tiere«. Das soll bedeuten, dass Dinge, Objekte und
nichtmenschliche Lebewesen ihren ontologischen Status nur vermittelt durch eine
differenzproduzierende Selbstdefinition des Menschen zugewiesen bekommen, der
ihr So-Sein depotenziert, indem er sie sich verfügbar macht. Die Unterscheidung
zwischen Mensch und Nichtmensch hat demnach kein fundamentum in re. Der
Designtheorie zwischen Aufklärungskritik und Gegenaufklärung 43

»Postfundamentalismus«1 verweigert der metaphysischen Unterscheidungslehre


die Gefolgschaft.
Heidegger (1947: 19) hatte behauptet, die Wesensbestimmung des Menschen als
animal rationale in der antiken, christlichen und neuzeitlichen Philosophie, bis
hin zum Marxismus und Existenzialismus, würde das wahre Wesen des Menschen
verkennen, nämlich seine Sendung als »Hirt des Seins«. Nachdem die Alliierten
die deutsche Wehrmacht sowie ihre Anhänger und Unterstützer besiegt hatten,
plädierte Heidegger für einen neuen, demütig daherkommenden Humanismus, der
das Menschsein in den Dienst des Seins als solchem stellt. Er sollte den seinsmäßig
unbehausten Menschen der Moderne in die Heimat jener Ordnung zurückführen, die
das Seinsgeschick ihm bestimmt. – Heraus aus Heimatlosigkeit und Entfremdung,
zurück zum Sein: Heideggers zugleich atheistische und pastorale Gedankenführung
ähnelt »der christlichen Auffassung der menschlichen Geschichte als dem Abfall
von Gott und der Rückkehr zu Gott« (Rockmore 2000: 171).
Latour übersetzt dies in Wissenschaftstheorie. Damit knüpft er an die Wissen-
schaftskritik der 1980er Jahre an und verarbeitet Motive, die – zur gleichen Zeit
wie Heideggers Anklage der Seinsvergessenheit, aber mit völlig anderer Stoßrich-
tung – von Horkheimer und Adorno (1947; Horkheimer 1947) formuliert worden
sind. Für Latour ist die Selbstüberhebung der Menschen die Signatur der Moderne
und Prometheus deren mythologische Allegorie. Aus seiner Sicht sind »Technik
und Wissenschaft« für die Human-Modernisten »Träger unbestreitbarer Not-
wendigkeiten« (Latour 2009: 368) im Dienste der Menschen. Sie reduzieren Dinge
auf Tatsachen und tun den Objekten Gewalt an. Für Anti-Modernisten hingegen
sind die Dinge keine faktischen, materialen Objekte; dazu werden sie erst durch
modernen Technokratismus.
Alfred Schmidt (1977: 65) hat einmal wohlwollend resümiert: »Dass die Hybris
des Subjekts gerade in den – allemal metaphysisch begründeten – Humanismen
waltet, zählt zu den wichtigsten Resultaten Heideggers.« Schmidt sah hier einen
Berührungspunkt mit der Theorie der Naturbeherrschung von Horkheimer und
Adorno. Die besagt bekanntlich, dass Herrschaft über Natur nicht per se zu mehr
Freiheit führt, weil sie, in Gestalt sozialer und ökonomischer Herrschaftsapparate,
die innere und äußere Natur der Menschen unterdrückt. Schmidt ist zuzustim-
men, wenn er schreibt: »Soll Naturbeherrschung ihrerseits beherrscht werden und
menschliche Geschichte aufhören, verlängerte Naturgeschichte zu sein, so bedarf
es eines neuen Denkens, das die Dinge ausreden lässt.« (Ebd.: 65) Aber dabei muss

1 Siehe dazu Loheit 2015 (340 ff.), der das Buch Das unmögliche Objekt. Eine postfundamen-
talistische Theorie der Gesellschaft von Oliver Machart (Frankfurt/M. 2013) diskutiert,
in dem Heideggers metaphysikkritischer Ansatz auf die Soziologie übertragen wird.
44 Designtheorie zwischen Aufklärungskritik und Gegenaufklärung

auf alle Fälle zwischen dem metaphorischen Sprachgebrauch der kritischen Theorie
und der »ontologischen Gleichschaltung aller Dinge und Lebewesen« (Haug 2015:
326) unterschieden werden. Wenn Horkheimer, Adorno oder Benjamin sich dem
Ausdruck der Dinge zuwandten, taten sie dies, um an den Dingen die Spuren ihrer
Zurichtung durch die Menschen wahrzunehmen. Sie suchten, mit semiotischem
Blick, nach indexikalischen Zeichen; sie wählten die Darstellungsform der Allegorie
als Übersetzungsmedium für nichtsprachliche Ausdruckscharaktere. So wird die
»Sprache« der Dinge lesbar wie ein Text.2 Latour hingegen phantasiert von einem
»Parlament der Dinge«, in dem die Rechte nichtmenschlicher Wesen ausgehandelt
werden, also die vermeintlichen Rechte all jener vernetzten »Aktanten«, unter denen
sich Latour auch Mischwesen aus Mensch und Maschine vorstellt. So wird aus einer
richtigen Einsicht, die dabei helfen könnte, dass wir lernen, ›die Dinge ausreden
zu lassen‹, am Ende eine Variante des Obskurantismus, bei dem das Konzept des
Subjekts abstrakt negiert wird.
Die Wurzeln dieser Negation scheinen tief in Latours Heidegger-Rezeption
verhaftet. Heideggers ›neuer Humanismus‹ »verwirft […] alle Subjektauffassungen,
die zu ›Biologismus‹ und ›Pragmatismus‹ führen« (Rockmore 2000: 171). Aber
sein Antisubjektivismus ist autoritär. Karl-Heinz Haag hat das im letzten Kapitel
der Kritik der neueren Ontologie herausgearbeitet. Sein Ergebnis: »Man muß die
Heideggersche Fundamentalontologie als den Versuch bezeichnen, das Wissen
einzuschränken, um für ein archaisches Denken Platz zu schaffen.« (Haag 1960:
93) Ebenso wie »der moderne Positivismus […] verkündet auch sie dem Individuum
einfach, daß das Abstrakte für konkret zu gelten habe, daß es die Wahrheit sei.
Sie dient so objektiv der Negation der Menschlichkeit.« (Ebd.)3 »Dinge, die sich

2 Scott Lash (1999) hat in seiner Auseinandersetzung mit Latour betont, dass es einer
materialistisch inspirierten Deutung der Dingwelt um »Objektsuche als allegorische
und metonymische Praxis« geht. Methodisch sei dabei so vorzugehen, dass »wir Objekte
reflexiv der zeitgenössischen Kultur entnehmen und dann in unsere eigene allegorische
Ordnung wieder einbetten, eine Ordnung, die nicht- und postnarrativ ist. Eine Ordnung
der Suche, des Verfolgens […]. Es hat mit dem zu tun, was Lefèbvre einen ›Weg‹ nennt,
einen materiellen Weg, einen indexikalischen und taktilen Weg, dem wir folgen, den wir
dann verlassen und wieder aufnehmen. Vielleicht produzieren wir auf diese Weise Sinn
und Bedeutung in der zeitgenössischen Kultur.« In ironischer Zuspitzung gegen Latour
formuliert Lash sein Resümee: »Wir Nichtmodernen sind nicht Vermittler, sondern
materialistische ›Verfolger‹, Spurensucher. Wir finden nicht Kant’sche Regeln, sondern
›Wege‹. Wir schaffen unsere Hybriden nicht durch Vermittlung als Analogie-Maschinen,
sondern als ›Verfolger‹, als AllegoristInnen.«
3 Haags damaliger Kollege Hermann Schweppenhäuser hat den autoritären Gestus von
Heideggers Ermächtigungserklärung der Sprache über die sprechenden Subjekte kritisiert.
»Die Sprache ist das Haus des Seins«, heißt es in Heideggers Brief über den Humanismus.
Designtheorie zwischen Aufklärungskritik und Gegenaufklärung 45

versammeln« und »uns angehen«: Das ist Latours postmoderne Neuausgabe der
neo-ontologischen Anweisung, dass »das Abstrakte für konkret zu gelten habe«.
Wenn Latour unterstellt, Humanismus und Moderne seien identische kulturelle
Bewegungen, dann übergeht er, auf Heideggers Spuren, die Unterschiede zwischen
dem modernen wissenschaftlichen Selbstverständnis und der geistesgeschichtlichen
Selbstgenügsamkeit des Neuhumanismus im 19. Jahrhundert, als die gefestigten
Eigentums- und Produktionsverhältnisse der bürgerlichen Gesellschaft offenbar
dazu geführt hatten, dass die Radikalität der Reflexion der Totalität von Natur und
Gesellschaft im Medium einer philosophischen, kritischen oder gar revolutionären
Vernunft nachließ.

Latours Darstellung der Sloterdijk-Kritik von Habermas

Für Latour liegt der Fehler des ›alten‹ Humanismus ebenso wie für Heidegger darin,
dass er in traditioneller Metaphysik verhaftet ist. Doch Latour scheint dabei zu
übersehen, dass die Philosophie der Moderne sich von der traditionellen Metaphy-
sik abgesetzt hat. Dazu passt es, wie er den Frontverlauf der Kontroverse zwischen
Habermas (2001; siehe Quante 2015) und Sloterdijk (1999), anlässlich von dessen
Überlegungen zu Gentechnologie und Menschenzüchtung, neu definiert. Haber-
mas’ Haltung erscheint bei Latour als Kritik eines modern-humanistischen, aber
skrupulösen Philosophen am skrupellosen Machbarkeitsdenken der Moderne. Doch
die Kritik übersehe, dass der Problemkern die übergeordnete Differenz zwischen
den Subjekten (den Menschen) und den Objekten (den Sachen) ist. »Habermas ent-
geht«, schreibt Latour (2009: 368), »dass Humanisten, wenn sie Menschen anklagen,
›Menschen wie Objekte zu behandeln‹, überhaupt nicht merken, dass sie selbst die
Objekte unfair behandeln. Ein Humanist kann sich nicht vorstellen, dass Objekte
Dinge sein können […]. Humanisten beschäftigen sich allein mit Menschen; alles
Übrige ist für sie bloße Materialität oder kalte Objektivität.« Sloterdijk hingegen
erscheint bei Latour als Kritiker des falschen, gewalttätigen Objektivismus: Er
»behandelt Menschen nicht als objektive Tatsachen, wie es eben die Humanisten
tun. Sondern er behandelt sowohl Menschen als auch Nicht-Menschen als ›An-
gelegenheiten von großer Wichtigkeit‹, mit denen sorgsam umgegangen werden
muss« (Latour 2009: 368).

Nicht Subjekte sprechen und denken, sondern die Sprache selbst. Heidegger behauptet,
dass »deren Wesen, ganz wie bei mythischen Gottheiten, in ihrem Namen liege, welcher
für alle Reflexion und Vermittlung tabu ist« (Schweppenhäuser 1958: 143).
46 Designtheorie zwischen Aufklärungskritik und Gegenaufklärung

Latour denunziert die Verdinglichungskritik, die Habermas an der Gentech-


nologie übt, als Neuauflage der überlieferten Geringschätzung der Dinge, die den
Menschen untergeordnet werden. Möglicherweise handelt es sich hier nicht um
ein (ungewolltes oder gezieltes) Missverständnis, sondern um eine eigenwillige
Habermas-Deutung; doch dies geht aus Latours Ausführungen nicht klar hervor.
Wie dem auch sei: Es ist ganz sicher kein Geheimnis, dass Habermas die verstän-
digungsorientierte Kommunikation zwischen Menschen und das nicht-repressive
Verhältnis zu den Dingen sowie zur äußeren und inneren Natur zusammendenkt.
Nicht, dass beides de facto zusammengehört. Letzteres ist nach Habermas vielmehr
ethische Norm, aber zugleich auch Bedingung der Möglichkeit von Kommunikation,
die es explizit zu machen gilt.
Gleichwohl bleibt Latours (2009: 369) Argument bedenkenswert, dass man in
den Debatten über Eingriffe ins menschliche Genom und »posthumanistische[n]
Cyborg-Träume« übersehen habe, dass die Wahrheit nicht auf einer der beiden Seiten
stehe – also weder in der technowissenschaftlichen Optimierung von Mensch und
Natur noch in deren Tabuisierung, sondern allein »in einer seltsamen Kombination
von Bewahrung und Erneuerung« (ebd.: 370). Aber wird diese Einsicht wirklich
erst durch einen neuen Designbegriff möglich? Einen, der im Wesentlichen darin
besteht, das eliminierte Konzept der Revolution zu ersetzen? Ich denke nicht.
Zur Begründung muss ich allerdings etwas weiter ausholen. Dabei stütze ich mich
auf ideen- und sozialgeschichtliche Studien von Günther Mensching, Wolfgang Pohrt
und Oskar Negt. Ich möchte zeigen, dass Latours Skizze des Paradigmenwechsels
im Bereich von Gestaltung und Design wissenschafts- und sozialgeschichtlich auf
tönernen Füßen steht.

Aufklärung und Rationalität der Moderne

Wer die Pathologien der Moderne auf zuviel Vernunft zurückführt und dem Den-
ken der Aufklärung anlastet, geht in die Irre. Der Begriff wissenschaftlicher und
praktischer Vernunft war von 1789 bis 1918 (sowie in den anschließenden Jahren
der künstlerischen Avantgarden, die ihn kritisch unter die Lupe nahmen) durch ein
wohlbegründetes Vertrauen gekennzeichnet. Demnach könnte es gelingen, durch
freie Forschung und ihre Kommunikation im öffentlichen Diskurs die Lebensver-
hältnisse für alle zu verbessern. Dazu galt es, den Fortschritt der Wissenschaften
und ihre philosophische Reflexion in Einklang mit dem technischen Fortschritt der
Produktion und Verteilung von Gütern zu bringen. »Die französische Aufklärung
ist ein großes Beispiel für die Auseinandersetzung zwischen der Vernunft und den
Designtheorie zwischen Aufklärungskritik und Gegenaufklärung 47

bis in das religiöse und politische Gebiet hinein vorgeschobenen mythologischen


Blendwerken.« (Kracauer 1963: 56) Dass sich diese Täuschungen in der Moderne
nicht einfach in Luft auflösten, hing bekanntlich mit spezifischen ökonomischen
Faktoren zusammen. Der emphatische Vernunftbegriff der Aufklärung artiku-
lierte »die Möglichkeit von Autonomie, die sich in solidarischem Dialog entfalten
könnte« (Mensching 1971: 231). Gleichwohl waren die moralischen und politischen
Überlegungen der Aufklärungsphilosophie nicht zureichend mit den »objektiven
Interessenkonflikten in der Gesellschaft« (ebd.) ihrer Zeit und der sich anschlie-
ßenden bürgerlichen Epoche vermittelt.
Für die Denker der Aufklärung und ihre Nachfolger waren industrielle und
soziale Revolution zwei Seiten einer Medaille. Es galt, eine veraltete politische
Ordnung zu stürzen, die den Fortschritt von Naturerkenntnis und Naturbeherr-
schung zugunsten aller Menschen blockierte, weil sie sich neusten Erkenntnissen
über »Moral, Religion, Handel und Politik« (Pohrt 1974: 57) verweigerte. Der ge-
meinsame Horizont waren vernünftig geordnete politische und soziale Zustände:
Planung statt Willkür und chaotischer Kampf der Interessen (ebd.: 58). Der aufklä-
rerische Begriff der Vernunft war universal, er verknüpfte naturwissenschaftliche
Forschung mit der Erkenntnis sozialer Gesetzmäßigkeiten. Wissenschaftlicher
und politischer Fortschritt sollten sich wechselseitig bedingen. Was Vernunft als
wahr erkennt, muss auch praktisch (also politisch und gesellschaftlich) realisiert
werden. Der natürliche und soziale Lebenszusammenhang im Ganzen war durch
den Typus der Rationalität, den das aufstrebende Bürgertum verkörperte, zu
begreifen und zu beherrschen (ebd.: 46). Dass sich die bürgerliche Gesellschaft
mit ihren Produktions- und Eigentumsverhältnissen etablierte, war insofern eine
Bedingung für die relative Emanzipation aller. Sie eröffnete einen Möglichkeits-
raum für die tatsächliche Emanzipation der gesamten Menschheit durch bewusste
Koordination des Handelns – und damit die Perspektive eines Zustands nach der
bürgerlichen Gesellschaft. Doch schon bald artikulierte sich die Erfahrung, dass
der umfassende Vernunftbegriff zerfällt und die wissenschaftlichen Disziplinen
auseinanderbrechen. Mit dem politischen Siegeszug des Bürgertums wurde die
Verbindung von wissenschaftlicher und politisch-praktischer Vernunft verabschie-
det. Philosophie erhob nicht mehr den Anspruch, Erkenntnisse verschiedenster
Wissensbereiche zu vermitteln. Die revolutionäre Perspektive, soziales Handeln
vernünftig und planvoll in fortschrittlichem Sinne zu gestalten, kam abhanden. Die
wissenschaftlichen Teildisziplinen wurden »Elemente eines Betriebes, der nicht von
einer universellen Vernunft, sondern von einer staatlichen Anstalt und teilweise
schon von der Industrie zusammengehalten wird« (ebd.: 47). Gefragt sind seither
kontextlose Einzelerkenntnisse und Forschungen, die auf aktuelle Erfordernisse
der industriellen Produktion angewendet und wirtschaftlich verwertet werden
48 Designtheorie zwischen Aufklärungskritik und Gegenaufklärung

können. Die Perspektive einer gesellschaftlichen Organisation des Wissens ging


verloren. Sie wurde nicht mehr gebraucht, um den gesellschaftlichen Reichtum zu
vermehren und seine private Aneignung sicherzustellen.
Die entsprechende Wissenschaftstheorie hat Auguste Comte mit der Begrün-
dung des Positivismus formuliert: Religion und Metaphysik haben ihre Legitima-
tion verloren, nur die Fakten sollen gelten, denn das gesellschaftliche Leben folgt
ähnlichen Gesetzen wie die Natur (Negt 1974: 29 ff.). Comtes Soziologie ist eine
Naturwissenschaft der Gesellschaft. In der Gegenbewegung zur »positiven« Tatsa-
chenwissenschaft zog sich die Philosophie vielfach darauf zurück, Werte und Ideen
aus der Überlieferung des Neuhumanismus zu beschwören – oder zu problemati-
sieren.4 So wie Heidegger (1947: 38), der feststellte, dass »der in das Massenwesen
ausgelieferte Mensch der Technik« »nach einer verbindlichen Anweisung« und nach
»Bindung« verlange, die ihm die Technik aber nicht geben könne.
Auch Latour grenzt sich vom Positivismus ab, wie ja schon angesichts seiner ein-
gangs erwähnten Kritik des Tatsachen-Konzepts deutlich geworden ist. Er beschwört
wie Heidegger die »Bindung«, aber er thematisiert nicht, wie etwa Horkheimer
und Adorno in der Dialektik der Aufklärung, den konstitutiven Zusammenhang
zwischen Wirtschafts- und Wissenschaftssystem. Latours Überlegungen zum
postmodernen Design, das nicht mehr auf Wachstum und Innovation fixiert ist,
suchen nach dem Ausweg aus der Krise der Moderne, und die führt er auf die fatale
Fiktion des Schöpferischen zurück. Die Kreation aus dem Nichts gibt es nicht, so
mahnt er; wir können (und sollten) immer nur Bestehendes überarbeiten. Das heißt
für Latour: die Selbstüberhebung des Subjekts zurücknehmen, wie ein vorsichtiger
Prometheus agieren. Wer den Geist der Aufklärung und der Moderne auf die Ideo-
logie von Wachstumszwang und Expansion der Warenproduktion reduziert, greift
aber zu kurz. Denn jener Geist ist zutiefst ambivalent. Latour scheint aufklärerisches
Denken und technokratisch verkürzte Vernunft für ein- und dasselbe zu halten.
Der Formulierung von Schmidt (1977: 65), dass »Glanz und Elend der Moderne […]
im zwiespältigen Charakter von Subjektivität« beschlossen liegen, könnte Latour
vermutlich zustimmen,5 aber wohl kaum meiner Folgerung daraus: Ich meine, es
gilt erstens, diesen Zwiespalt dialektisch zu rekonstruieren und zweitens, den in

4 Am Ende dieser Linie steht die Klage über »die Heimatlosigkeit des neuzeitlichen Men-
schen«, zu der die moderne Technik beiträgt, in der sich das »Wesen des Materialismus
verbirgt« (Heidegger 1947: 27).
5 Latour (2008: 65) vertritt innerhalb des postmodernen Diskurses eine »nichtmoderne«
Position, die (immerhin) eine »retrospektive Haltung« einnimmt, »die entfaltet, statt
zu entlarven; die hinzufügt, statt wegzulassen; die verbrüdert, statt zu denunzieren;
die sortiert, statt zu demaskieren«. Aufgrund dieser Haltung solle es möglich sein,
»die Verfassung der Modernen« ebenso zu berücksichtigen, wie »die Populationen von
Designtheorie zwischen Aufklärungskritik und Gegenaufklärung 49

seinen Widersprüchen verborgenen normativen Kern herauszupräparieren, der


sich in der Epoche der Moderne zugleich manifestiert, verhüllt und ins Gegenteil
verkehrt hat. Das heißt, es geht darum, die Dialektik der Aufklärung zu rekonstru-
ieren – nicht darum, einen Dualismus zu konstruieren, in dem auf der einen Seite
Humanismus, Aufklärung und Moderne stehen und auf der anderen die »politische
Ökologie« (Latour 2009: 370) und ihr Design.

Zur kritischen Theorie des Designs

Designtheorien bestehen aus explikativen Diskursen mit Begriffserläuterungen


und normativen Diskursen, in denen Geltungsansprüche begründet werden
(Schnädelbach 1977: 177 ff. und ders. 2003: 512). Als hermeneutische Theorien
rekonstruieren sie Erfahrungsweisen kultureller Ausdrucksgestalten. Sie haben
zudem semiotische und handlungstheoretische Aspekte. Zeichen und Artefakten
liegen Kodierungen zugrunde. Sie beziehen sich auf Vergesellschaftungs-, Natur-
und Herrschaftsverhältnisse. Ihre Analyse muss in den Horizont der Auslegung
reflexiv einfließen. Eine kritische Designtheorie6 ermittelt und beurteilt spezifische
Leistungen und Grenzen ihres Analyseobjekts. Sie entwickelt Darstellung und
Kritik ihrer Gegenstände gleichzeitig, betreibt also schon die Analyse als Kritik.
Ihre Begriffe sind deskriptiv und normativ. Deskriptionen können aus dieser Per-
spektive nur dann stimmig geraten, wenn nicht nur nominalistisch paraphrasiert
wird oder positivistisch Fakten gesammelt werden. Beschreibungen der Formen
von Design und Erklärungen ihrer gesellschaftlichen Grundlagen werden in einer
kritischen Theorie des Designs mit der normativen Explikation ihres kontrafak-
tischen Potenzials verbunden.
Kritische Designtheorie rekonstruiert ihr Gegenstandsfeld als dialektisch ver-
standene »Gesamtkonstellation«. Deren Bestandteile sind die unterschiedlichen
Perspektiven auf Objekte im Untersuchungsfeld. Und darüber hinaus auch die
Perspektiven auf dessen Rahmung durch Handlungsregeln sowie durch »soziale
Konflikte und Herrschaftsbeziehungen« (Steinert 1998: 68). Diese »Gesamtkonstel-
lation« wird als »dialektisch« bezeichnet, weil sie Gegensätze und Antagonismen,
die im Gegenstandsfeld angelegt sind und als theoretische Ungereimtheiten oder

Hybriden, die sich unter dieser Verfassung ausbreiten, aber von ihr verleugnet werden«
(ebd.) – also: die Versammlung der ›Dinge‹.
6 Das Folgende entstand unter Verwendung von Schweppenhäuser 2016: 16–20.
50 Designtheorie zwischen Aufklärungskritik und Gegenaufklärung

Widersprüche wiederkehren können, begrifflich bestimmt und die Bewegung des


Widersprüchlichen in den Begriffen rekonstruiert.
Ein Blick auf die design- und architekturgeschichtliche Debatte über den Funkti-
onalismus kann deutlich machen, dass eine immanente Sozialkritik an Phänomenen
der kulturellen Moderne weiter führt als die postmoderne Verabschiedung ihres
normativen Potenzials. Wer das Konzept des Funktionalismus abstrakt negiert,
verpasst die entscheidende Differenz zwischen Mono- und Plurifunktionalismus.
Der Zwiespalt des Bauhaus-Designs bestand darin, dass sich in seinen Produkten
sozialer Gerechtigkeitsanspruch manifestiert, aber verwendet werden sie zumeist als
elitäre Distinktionsmerkmale. Dieser Zwiespalt kann als prophetische Vorwegnah-
me späterer Produktivkraftentfaltung gedeutet werden: Es gab sie seinerzeit noch
nicht im nötigen Ausmaß, um Güter und symbolisch-ästhetische Werte für alle
zugänglich zu machen. Heutzutage würden die entfalteten Produktivkräfte genau
das ermöglichen. Den Zwiespalt kann man aber auch als Folge paternalistischer
Machtphantasien von Designern und Architekten auffassen, die davon träumten,
Menschen umzuerziehen, und normative Ästhetik mit Ethik vermischten. Und
nicht zuletzt kann der Zwiespalt als Indikator für ein sozioökonomisches Reflexi-
onsdefizit im Bauhaus interpretiert werden. Dann stellt sich die Angelegenheit so
dar: Man war von der falschen Annahme ausgegangen, soziale Gerechtigkeit ließe
sich durch Versorgung aller Bevölkerungsschichten mit »gut« und »zweckmäßig«
gestalteten, daher »schönen« Gegenständen und Behausungen verwirklichen – ohne
dass zuvor die Produktions- und Eigentumsverhältnisse grundlegend geändert
werden müssten.
Eine dialektische Designtheorie nobilitiert nicht eine dieser Beschreibungen
als richtig und verwirft die anderen als falsch. Sie versucht vielmehr, folgende
Fragen zu beantworten: Mit welchen Elementen der Deutungsmodelle lassen sich
Aspekte des Untersuchungsfeldes aufschließen? Welche Perspektiven nehmen die
Urheber der Deutungsmodelle ein? Welche soziohistorischen Hintergründe, welche
herrschaftlichen und diskursiven Rahmungen prägen sie?
Das Bauhaus entwarf in Weimar, Dessau und Berlin eine Utopie des Designs,
die über Entwurf und Herstellung von Gebrauchsdingen hinausging; sie wollte die
industrielle Arbeitsteilung überwinden. Kunst, die nicht mehr als autonom verstan-
den wurde, sollte in den sozialen Prozess integriert werden. Im Bauhaus-Programm
wurde »die Einheit der Welt und damit ihre Gestaltbarkeit« (Hirdina 2001: 53) be-
tont. Damit war es Teil der europäischen Avantgarde, die die Kluft zwischen Kunst
und Lebenspraxis überbrücken wollte. Die Nationalsozialisten erzwangen auf dem
Gebiet der angewandten Künste bekanntlich einen Qualitätsexodus. Bald darauf trat
ein ökonomistisch reformierter Funktionalismus unter dem Label »International
Style« von den USA aus seinen Siegeszug um die ganze Welt an, die praktischer,
Designtheorie zwischen Aufklärungskritik und Gegenaufklärung 51

effizienter und produktiver wurde – aber nicht bewohnbarer. Der Funktionalismus


funktioniert nicht, jedenfalls nicht in Bezug auf die vitalen Bedürfnisse der Men-
schen, argumentierte Adorno in seinem Vortrag »Funktionalismus heute« beim
Werkbund in Berlin. Woran krankte der funktionalistische Kult des Nützlichen?
Daran, dass die Menschen, denen die Dinge nutzen sollen, nicht die freien, selbst-
bestimmten Subjekte eines vernünftig eingerichteten sozialen Ganzen sind, in dem
sie und die Dinge nicht mehr auf ihre ökonomischen Funktionen reduziert wären.
»Alles Nützliche ist in der Gesellschaft entstellt, verhext«, argumentierte Adorno
(1965: 392): »Dass sie die Dinge erscheinen lässt, als wären sie um der Menschen
willen da, ist Lüge; sie werden produziert um des Profits willen, befriedigen die
Bedürfnisse nur beiher, rufen diese nach Profitinteressen hervor und stutzen sie
ihnen gemäß zurecht.«
Die spätere, postmoderne Kritik am Funktionalismus basiert auf zwei Argumen-
ten, die sich in den1960er und 1970er Jahren herauskristallisiert haben. Demnach
ist erstens die Behauptung der Einheit von Funktion und Form reduktionistisch.
Und zweitens haben gestaltete Dinge verschiedene Aufgaben. Sie dienen der Funk-
tion, der Information sowie den ästhetischen Bedürfnissen der Benutzer und sind
Bedeutungsträger. All das kann nicht auf eine Formel gebracht werden. Das Design
der funktionalen Stadt sollte die Bereiche Wohnen und Erholen, Produzieren und
Distribuieren wohltuend auseinanderhalten. Die monofunktionalistische Aufteilung
in Zonen, die durch Verkehrswege verbunden werden, war von ihrem Pionier Le
Corbusier »menschenfreundlich gemeint«. Sie endete aber, wie Thomas Friedrich
(2008: 168) – in Anlehnung an Jane Jacobs, Alexander Mitscherlich und Klaus
Horn – zusammenfasst, in »trostlosen Hochhaussiedlungen am Stadtrand, in die
die Menschen letztlich nur zum Schlafen fahren«, in »öden Naherholungsgebieten«
und Innenstädten, die zu Kaufstätten verkümmern und sich »nach Ladenschluss
in Geisterstädte verwandeln«. Reurbanisierung der Städte wäre daher eine Wie-
derherstellung ihrer Plurifunktionalität.
Die postmoderne Kritik und Praxis in Architektur und Design hat aber nicht
selten das Kind mit dem Bade ausgeschüttet. Anstatt die »immanente Kritik einer
hinter ihren eigenen Begriff zurückgefallenen Moderne« zu formulieren, zelebrierte
sie »die Wiederentdeckung der symbolischen Funktion« als »ideologische […] oder
autoritäre […] Geste« (Wellmer 1985: 127; siehe Habermas 1985). Auch Latours
animistische Vision eines »Parlaments der Dinge« führt nicht aus den Aporien
des modernen Designs hinaus. Das könnte nur ein Neuansatz – und zwar einer,
der von Neuem die alte Frage stellt, ob und wie Menschen zum autonomen Subjekt
ihrer praktischen gesellschaftlichen Beziehungen werden können.
52 Designtheorie zwischen Aufklärungskritik und Gegenaufklärung

Stellvertretendes Design

Den »zwiespältigen Charakter von Subjektivität« reflektieren ist also etwas anderes
als den Gedanken ersatzlos streichen, dass Menschen durch intersubjektive Ver-
ständigung und entsprechende Praxis zum Kollektiv-Subjekt ihrer selbstbestimm-
ten gesellschaftlichen Beziehungen werden könnten. Denn das hieße, die soziale
Geschäftsgrundlage von Design kündigen und seine immanente Ethik ignorieren.7
Für William Morris bestand der Zweck von Design im 19. Jahrhundert darin,
arbeitenden Menschen Befriedigung und Freude bei phantasievoller Qualitätsarbeit
zu vermitteln. Es sollte die seelische und somatische Entwicklung der Menschheit
unterstützen. Das sei aber nur durch die Überwindung des Klassenantagonismus
zu erreichen – wenn es »keine erniedrigten Klassen mehr gibt, denen man die
Schmutzarbeit aufbürden kann« (Morris 1879: 53) und alle Menschen frei, gleich
und solidarisch »inmitten schöner Dinge« (ebd.: 60) leben können. Der Darmstädter
Designhistoriker Kai Buchholz stellte fest, »dass sich die wesentliche kulturelle
Aufgabe des Designs seit 1850 nicht geändert hat. Nach wie vor geht es darum,
unter den Bedingungen der technischen Zivilisation eine humane Lebenswelt zu
gestalten« (Buchholz 2012: 205).
Design ist Entwurf für den Bedarf des Bestehenden – und Entwurf eines noch
gar nicht Seienden. Im Sinne von Ernst Bloch (1923: 28 f.) ist es ein »Vorspiel«: ein
»Wachtraum«, in dem der Blick hin »zu einer anderen Welt« gerichtet ist – also ein
Wachtraum der Befreiung. Und dafür, so meine These, brauchen wir ein stellvertreten-
des Design. Was heißt »stellvertretend«? Um das deutlich zu machen, möchte ich an
den Grundgedanken von Adornos negativer Moralphilosophie erinnern. Angesichts
der Unmöglichkeit, im ungerecht eingerichteten gesellschaftlichen Ganzen ethisch
»richtig« zu leben, solle man versuchen, ein »stellvertretendes Leben« zu führen.
Damit meinte Adorno, dass man versuchen solle, »in den engsten Beziehungen der
Menschen so etwas wie Modelle eines richtigen Lebens zu erstellen«; man sollte
also, wann immer es geht, so miteinander umgehen, »wie man […] sich vorstellen
könnte, daß das Leben von befreiten, friedlichen und miteinander solidarischen
Menschen beschaffen sein müßte« (Adorno 1956/57).
Daran möchte ich anknüpfen. Meine Maximen für ein »stellvertretendes Design«
variieren die altbekannte Antinomie, in die man nach Wolfgang Fritz Haug gerät,
wenn man versucht, »im Kapitalismus über diesen hinaus zu gestalten«8.

7 Die folgenden Abschnitte unter Verwendung von Schweppenhäuser 2016: VIII, 4, 33 u.


35.
8 E-Mail von W. F. Haug, 4.12.2015.
Designtheorie zwischen Aufklärungskritik und Gegenaufklärung 53

1. Man sollte daher so entwerfen, als ob das Primäre nicht Verwertung, Markt und
Image-Fragen wären, sondern der – womöglich lebenslange – Gebrauchswert.
2. Man sollte so entwerfen, als ob nicht Individualkonsum der entscheidende
Faktor wäre, sondern kollektive Aneignung.
3. Man sollte so entwerfen, als ob der Imperativ, Aufmerksamkeit zu erregen,
nicht die alleinige Existenzberechtigung für Beiträge zur öffentlichen Kom-
munikation wäre.
4. Man sollte so entwerfen, als ob die Beziehungen der Menschen nicht durch
Warenform und Tauschverhältnis modelliert wären.
5. Man sollte so entwerfen, als wäre Kommunikation an Verständigung und so-
lidarischem Handeln orientiert – und nicht an strategischer Bearbeitung von
»Zielgruppen« in »Kampagnen«.
6. Man sollte so entwerfen, als wäre jeder Mensch niemals nur Mittel für die
Ziele der Gestalter und ihrer Auftraggeber, sondern jederzeit zugleich Zweck
an sich selbst.

Ästhetische Antizipation und soziale Utopie

»Stellvertretendes Design« muss der Paradoxie von Produktivismus und Konsu-


mismus Rechnung tragen – also dem Wachstumsparadox der Moderne. Aber es
darf nicht hinter die Errungenschaften der Moderne zurückfallen und das Konzept
»Emanzipation« durch »Bindung, Zuwendung, Verwicklung, Abhängigkeit und
Fürsorge« ersetzen, wie Latour (2009: 357) nahelegt. Es muss auch stellvertretend
für das Interesse an einem freien, vernunftbestimmten und ästhetisch erfüllten
Leben einstehen. Stellvertretendes Design sollte also das uneingelöste Verspre-
chen der Designmoderne repräsentieren. Es sollte auch »bewahren«, wie Latour
fordert, aber nicht nur. Das Motiv der Innovation, das postmodern als gewalttätig
und totalitär denunziert wurde, ist zu rehabilitieren. Denn eine Neugestaltung der
Lebensverhältnisse, die sich primär an vitalen Bedürfnissen orientiert, steht nach
wie vor aus. Die Dinge kommen nicht dadurch zu sich selbst, dass sie zu Quasi-Ak-
teuren auf dem digitalen Feld gegenwärtiger Kapitalakkumulation erklärt werden.
54 Designtheorie zwischen Aufklärungskritik und Gegenaufklärung

Literatur

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Sloterdijk, Peter (1999): Regeln für den Menschenpark. Ein Antwortschreiben zu Heideggers
Brief über den Humanismus, Frankfurt/M.: Suhrkamp.
Steinert, Heinz, Hg. (1998): Zur Kritik der empirischen Sozialforschung. Ein Methoden-
grundkurs, Buchreihe Studientexte zur Sozialwissenschaft, Bd. 14, Johann-Wolfgang-Go-
ethe-Universität Frankfurt am Main, Fachbereich 3, WBE Methodologie.
Wellmer, Albrecht (1985): »Kunst und industrielle Produktion. Zur Dialektik von Moderne
und Postmoderne«, in: ders., Zur Dialektik von Moderne und Postmoderne. Vernunftkritik
nach Adorno, Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 115–134.
Nominalismus und Realismus
in der Ästhetik des Designs*2
Nominalismus und Realismus in der Ästhetik des Designs

Nominalismus und Realismus in der Ästhetik des Designs

Ästhetik als philosophische Theorie der Kunst fragt traditionell nach der freien
Schönheit von Objekten; sie vernachlässigt die Frage, ob es eine Schönheit des
Brauchbaren gibt. Die Designästhetik des Funktionalismus behauptet dagegen,
dass es eine von der Brauchbarkeit getrennte Schönheit nicht gibt. – Im Folgenden
befrage ich philosophische Konzepte der Schönheit auf ihre Brauchbarkeit für eine
Ästhetik des Designs. Und zwar mit Blick auf die Problematik, ob es sinnvoll ist
anzunehmen, dass es eine »den Objekten inhärente Eigenschaft, ›schön‹ zu sein«
gibt – oder ob »Schönheit und deren attraktive Repräsentation« nichts anderes
sind als »ein soziales Konstrukt, das zwar auf der Natur des Menschen basier[t],
aber diese Bedingungen kulturell weitestgehend überform[t]« (Brock 2002: 584)1.3

* Vortrag auf der Tagung Designästhetik – Theorie und soziale Praxis der Universität
Koblenz-Landau und der Hochschule Furtwangen in Kooperation mit der Deutschen
Gesellschaft für Ästhetik im Arp-Museum, Rolandseck, am 15. Juni 2018. Erstveröf-
fentlichung in: Musik & Ästhetik, 22. Jg., Heft 4/2018, S. 29–38.
1 »Eine historische Ausprägung des Disputs kennen wir als den mittelalterlichen Universa-
lienstreit oder den Realismus-/Naturalismusstreit in den Künsten des 19. Jahrhunderts.
In diesen querelles versuchte man zwischen beiden Positionen zu vermitteln. Man ging
von der beobachtbaren Tatsache aus, daß Menschen objektinhärente Eigenschaften aner-
kannten, indem sie sie als ›rot‹, ›belebt‹, ›schwer‹ oder andererseits als ›andersfarbig‹, ›un-
belebt‹ oder ›leicht‹ kennzeichneten. Diese gleichen Kennzeichnungen der verschiedenen
Dinge gewinne man aus der Zusammenfassung der Eigenschaften, die den verschiedenen
Dingen gleichermaßen zukommen: die Eigenschaft rot zu sein, lebendig zu sein, schwer
zu sein etc. Das hieße auch, daß die einzelnen unterschiedlichen Dinge Repräsentationen
der Eigenschaften seien, die sie gemeinsam haben. Also müßten diese gemeinsamen
Eigenschaften bereits vor der Ausformung der einzelnen Objekte in der menschlichen
Wahrnehmung, in Urteilen und Handeln/Herstellen gegeben sein. Die gemeinsamen
Eigenschaften nannte man Universalia. Die Frage lautete: sind diese Universalia auf
gleiche Weise real wie die verschiedenen Objekte, die sie gleichermaßen repräsentieren?
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 57
G. Schweppenhäuser, Design, Philosophie und Medien, Würzburger Beiträge zur
Designforschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-22225-3_4
58 Nominalismus und Realismus in der Ästhetik des Designs

Was ist ästhetischer Realismus? In der analytischen Philosophie nennt man


»ästhetische Realisten« diejenigen, die es für sinnvoll halten, zu sagen, dass Objekte
ästhetische Eigenschaften haben können – oder, allgemeiner gesprochen: dass es
ästhetische Eigenschaften gibt. Kritiker dieser Position sagen: Ja, Objekte haben
Eigenschaften, aber es wäre sinnlos zu sagen, dass sie ästhetische Eigenschaften
haben. Demnach bringen ästhetische Aussagen nichts anderes als eine Werthaltung
zum Ausdruck. Diese gemäßigt nominalistische Position wird auch »ästhetischer
Naturalismus« genannt. Ihm zufolge gilt mit Blick auf Design-Artefakte: Dinge
besitzen natürliche, d. h. physikalische und chemische Eigenschaften; sie sind fest,
flüssig, hart, weich, hell, dunkel, bunt, einfarbig usw. Dass Menschen sie als schön,
hässlich, langweilig oder spannend bewerten, habe mit diesen Eigenschaften selbst
nichts zu tun. Dagegen argumentieren Verteidiger des ästhetischen Realismus, dass
es sinnvoll ist, Dingen ästhetische Eigenschaften zuzusprechen.
So oder so: Die Begründung ist für Gestaltung und Nutzung von Designobjekten
klarerweise relevant. Ich möchte deutlich machen, warum und inwiefern Design­
ästhetik über den Rahmen der sprachanalytischen Diskussion von Nominalismus
und Realismus hinausgehen sollte. Dazu werde ich zuerst systematisch und dann
historisch vorgehen. Ich werde erst den Schlagabtausch der Argumente zwischen
ästhetischen Nominalisten und Realisten betrachten, anschließend einige Positionen
aus der Philosophiegeschichte, und sodann werde ich versuchen, designästhetische
Anknüpfungsunkte an die philosophische Ästhetik zu nennen.
Betrachten wir zunächst die Kritik am ästhetischen Realismus etwas genauer.
Ästhetische Nominalisten halten es nicht für sinnvoll zu sagen, dass Objekte äs-
thetische Eigenschaften haben können. Sie meinen, Objekte haben Eigenschaften,
und Aussagen darüber bringen Werthaltungen zum Ausdruck. Wenn ich sage: »Die
Lampe ist schön«, dann ist »schön« nicht das Prädikat einer Eigenschaft der Lampe,
sondern Ausdruck meiner Einstellung. Wenn sie mir nicht gefällt, würde ich sagen,
sie sei »unschön« oder »hässlich«. Aber dann hätte ich nichts über die Lampe oder
über ihre Eigenschaften gesagt. Aus dieser Sicht ist es ein Kategorienfehler, Aussagen
über Einstellungen und Werthaltungen als Aussagen über Eigenschaften der Dinge
auszugeben. Korrekt müsste ich sagen: »Die Lampe gefällt mir« oder »gefällt mir

Oder sind diese Universalia bloße Namen für die allgemeinen Eigenschaften, die wir aus
den verschiedenen Objekten durch Abstraktion gewinnen? Realist wurde genannt, wer
die ›Röte‹ oder die ›Schönheit‹ oder die ›Schwere‹ auf die gleiche Weise für real gegeben
hielt wie die als ›rot‹, ›schön‹ und ›schwer‹ wahrgenommenen Dinge. Nominalist wurde
genannt, wer die Universalia für bloße Substantiv-Bildungen von Eigenschaftsworten der
Dinge hielt. Nur eine gedankliche oder sprachliche Abstraktionsleistung ermöglicht es
uns, von ›Röte‹, ›Schönheit‹ und ›Schwere‹ zu sprechen, obwohl nur die einzelnen roten,
schönen und schweren Objekte real gegeben sind.« (Brock 2002: 585 f.)
Nominalismus und Realismus in der Ästhetik des Designs 59

nicht.« Und die Verwirrung würde sich fortsetzen, sagen die Nominalisten, wenn
ich nicht merke, dass »Die Lampe ist schön« kein ästhetisches Urteil ist. Denn hier
werde ja keine Eigenschaft von einem Objekt prädiziert, sondern eine Aussage über
meine Befindlichkeit gemacht. Korrekt müsste es lauten: »Ich empfinde Gefallen
an der Lampe.«
Kritiker des ästhetischen Realismus gehen aber noch weiter: Sie vertreten die An-
sicht, dass Dinge keine ästhetischen Eigenschaften haben können. Von Dingen könne
nur ausgesagt werden, dass sie natürliche Eigenschaften haben. Die Werthaltungen
der Subjekte, die sie betrachten, sind demnach etwas ganz anderes. Sinnvollerweise
könne ausgesagt werden: »Die Lampe ist mittelgroß«, »ist überwiegend weiß« oder
»besteht aus Metall«; aber nicht: »Die Lampe ist schön« oder »ist hässlich«. Sinnvoll
wäre eine Aussage wie zum Beispiel: »Gegenstände, die mittelgroß und überwiegend
weiß sind, aus Metall bestehen und Licht spenden, gefallen mir.«
Dagegen argumentieren Verteidiger des ästhetischen Realismus, dass es sinnvoll
sein kann, Dingen ästhetische Eigenschaften zuzusprechen. Sie weisen das Kate-
gorienfehler-Argument mit folgender Begründung zurück: Auch eine Person, der
mittelgroße, überwiegend weiße, aus Metall bestehende Gegenstände im Allgemei-
nen vielleicht nicht gefallen, könnte durchaus das Urteil aussprechen, dass diese
Lampe »schön ist«. Sie mag sie vielleicht nicht; aber aufgrund ihres Wissens über
Proportionen, Materialbehandlung und das Verhältnis von Funktion und Form,
sowie aufgrund designgeschichtlicher Kenntnisse, kann sie zu dem Urteil gelangen,
dass das sprachlich-kulturelle Prädikat »schön« in diesem Fall eine angemessene
Zuschreibung ist. Dann könnte sie sagen: »Ich mag die Lampe nicht, aber schön
ist sie«, oder: »Die Lampe gefällt mir zwar nicht, aber sie ist schön«. Wie einem
ja mitunter auch ein Mensch nicht gefällt, so schön er auch sein mag ... Solche
Aussagen müsste ein ästhetischer Nominalist als Selbstwiderspruch bemängeln,
da er die Aussage »X gefällt mir« als korrektes Äquivalent für »X ist schön« setzt.
– Die Person aus unserem Beispiel könnte also rational zwischen Attraktivität und
Schönheit unterscheiden.2 Noch etwas kommt hinzu: Die Person aus dem Beispiel
könnte ihre Aussage begründen; sie könnte Argumente anführen, um die Prädikate
»schön« und »hässlich« gegeneinander abzugrenzen, um ihre Verwendungsweise
auf jeweilige Objekte zu beziehen usw.
Wer möchte, kann sich diesen Problembestand bei Hume, Kant und Hegel
vergegenwärtigen. Hume und Kant verstehen Schönheit nicht mehr als Eigenschaft
der Objekte, sondern als Werturteil des Subjekts. Nicht als objektive Eigenschaft

2 Nebenbei: Falls es sich um einen Attraktivitätsforscher handelt, wäre das besonders er-
freulich, denn die tun in der Regel so, als sei ihnen diese philosophische Unterscheidung
unbekannt oder als hätte sie keine Relevanz für ihre empirischen Untersuchungen.
60 Nominalismus und Realismus in der Ästhetik des Designs

schöner Dinge, sondern als Prädikat, das wir Objekten zusprechen, die auf uns
erfreulich, anziehend, anmutig usw. wirken. »Schönheit ist keine Eigenschaft der
Dinge selbst: Sie existiert nur im Geist, der sie betrachtet«3, lehrte der Nominalist
Hume. Wenn aber die Wahrnehmung des Schönen eine subjektive Angelegenheit
ist, dann stellt sich die Frage, warum wir denn dem einen Objekt das Prädikat »ist
schön« zusprechen und dem anderen nicht. Urteilende Subjekte können sich ja
irren und falsche Prädikate aussprechen. Ästhetische Urteilskraft und Geschmack
sind subjektive Vollzüge, aber sie beziehen sich auf etwas, das dem Subjekt nicht
gänzlich unterworfen ist. Die Vollzüge sind nicht unabhängig und die Eigenschaften
des Objekts nicht beliebig austauschbar. Wenn man sagt »Ich finde X schön« oder
»X ist schön«, liegt unausgesprochen zugrunde, dass wir X schön finden, weil X
schön ist, also weil X diese oder jene Eigenschaft hat, aufgrund deren wir das Urteil
»ist schön« aussprechen.
Dem ästhetischen Subjektivismus steht also nicht nur ein leicht zu entkräftender
Objektivismus entgegen, sondern auch das Konzept der Affordanz aus der Psycho-
logie. Ihm zufolge nehmen »Lebewesen die Gegenstände in ihrer Umwelt vor dem
Hintergrund der eigenen Körperausstattung beziehungsweise den entsprechenden
Handlungsmöglichkeiten wahr[…]« (Zillien 2009). Kurz gesagt: Gegen ästhetischen
Subjektivismus spricht immer auch der »Angebotscharakter eines Objektes« (ebd.).
Das war auch Kant bereits klar. Er hat den Schönheitsbegriff im Anschluss
an Hume zwar subjektiviert, aber gleichwohl festgestellt, dass ästhetische Urteile
unausgesprochen auf allseitige Zustimmung zielen. Dass es einen ästhetischen
Gemeinsinn gibt, heißt freilich nicht, dass sich alle immer einig wären. Umgekehrt
wird ein Schuh daraus: Weil es ihn gibt, ist es sinnvoll, über Geschmacksurteile zu
streiten. Grundlage des Streits ist das Geschmacksurteil des Subjekts, aber bei der
Begründung oder Ablehnung dieses Urteils beziehen sich alle notwendigerweise
auch auf das Objekt, worüber geurteilt wird.
Bei Hegel dagegen wird Schönheit, die er als vermittelt über den subjektivie-
renden Geist denkt, wieder eine objektive Eigenschaft der schönen Dinge. Sie ist
für Hegel die wahrnehmbare Folge davon, dass innere Freiheit sich in der äußeren

3 »Beauty is no quality in things themselves: It exists merely in the mind which contem-
plates them; and each mind perceives a different beauty. One person may even perceive
deformity, where another is sensible of beauty; and every individual ought to acquiesce
in his own sentiment, without pretending to regulate those of others. To seek the real
beauty, or real deformity, is as fruitless an enquiry, as to pretend to ascertain the real
sweet or real bitter. According to the disposition of the organs, the same object may be
both sweet and bitter; and the proverb has justly determined it to be fruitless to dispute
concerning tastes. It is very natural, and even quite necessary, to extend this axiom to
mental, as well as bodily taste« (Hume 1742: I.XXIII.8).
Nominalismus und Realismus in der Ästhetik des Designs 61

Erscheinung ausdrückt. Je harmonischer das Verhältnis von Detail und Ganzem


gestaltet ist, desto schöner finden wir es. Warum? Weil seine wesentliche Form
desto freier zur Erscheinung kommt.
Je artikulierter und ausdrücklicher sich die Form von etwas präsentiert, desto
höher die Wahrscheinlichkeit, dass die Betrachtenden das Urteil aussprechen: »Dies
ist schön.« Wenn die Form eines natürlichen Objekts weder durch »Übermaß« noch
durch »Unmaß« gekennzeichnet ist, werden wir es wahrscheinlich schön finden.
Um es mit dem Hegelianer Karl Rosenkranz (1853: 22) zu sagen: wenn keine »Zer-
störung der reinen, von der Natur an sich angestrebten Form« stattfindet. Sofern
das aber der Fall ist, werden wir wahrscheinlich urteilen: ›Dies ist hässlich.‹ Bei
Menschen kommt zur äußeren Freiheit der Bewegung und des Handelns die innere
Freiheit hinzu, die Freiheit der »Selbstbestimmung« (ebd.: 33). Für die idealistische
Ästhetik ist Menschen »Naturschönheit« (ebd.: 36) gegeben; durch Freiheit wird
sie zur Kulturschönheit. Zu überlegen wäre, ob auch Artefakte in diesem Sinne
Kulturschönheiten sind – wenn oder insofern sie, als Erzeugnisse produktiver und
kreativer Arbeit, Resultate freier oder befreiender Tätigkeit von Menschen sind.
Formal und von der Analyse der Begriffsverwendung her kann man die Posi-
tion des ästhetischen Realismus zusammenfassend so formulieren: Es gibt gute
Gründe anzunehmen, dass Dinge ästhetische Eigenschaften haben können, die
in betrachtenden Subjekten ästhetische Erlebnisqualitäten hervorrufen können.
Die analytische Philosophin Maria Reicher (2005: 78) hat das folgendermaßen
formuliert: »Dass ein Gegenstand schön ist, heißt […]: Der Gegenstand hat die
Disposition, in einem Subjekt unter bestimmten […] Bedingungen ein Schön-
heitsgefühl zu verursachen. In diesem Sinn sind […] ästhetische Wertqualitäten
objektive Eigenschaften in den Dingen selber.«
Ist damit die Position des ästhetischen Nominalismus vom Tisch? Ich denke
nicht. Sie kann durchaus zur Klärung begrifflicher Bestimmungen beitragen, die
für eine Ästhetik des Designs benötigt werden.
Wenn ich es richtig sehe, gibt es nur relativ wenige Ausführungen über ästheti-
schen Nominalismus im Bereich des Designs, aber einige im Bereich der Kunst. Um
klarer zu sehen, welche Fragestellungen und Ergebnisse aus den Ausführungen über
ästhetischen Nominalismus im Bereich der Kunst sich in den Bereich des Designs
übertragen lassen, werden wir uns eine nominalistische Designphilosophie der
Gegenwart anschauen und danach einen Philosophen befragen, dessen Argumente
über den ästhetischen Nominalismus in der Kunstdebatte relevant sind.
62 Nominalismus und Realismus in der Ästhetik des Designs

Der philosophische Nominalismus des ausgehenden Mittelalters4 hat die rea-


listische »Bezeichnungsrelation« (Schmid Noerr 1986: 357) zwischen Sprache und
Wirklichkeit aufgelöst. Oder, um es mit einer Formulierung aus Platons Dialog
Timaios zu sagen: Der Nominalismus leugnet, dass die »Darstellung« »mit dem,
was sie darstellt, auch in innerer Verwandtschaft stehen muß« (Timaios: 29). Nomi-
nalistische Designtheorien der Gegenwart beschränken sich aufs Beschreiben. Sie
lehnen es ab, ihre Gegenstände zu erklären oder zu bewerten. Es darf nur beschrieben
werden, wie die Nutzer etwas bewerten. Und die Frage nach Wesensbestimmungen
steht unter Bann des Essentialismus-Tabus.
Jakob Steinbrenner (2016: 90–92) zum Beispiel ersetzt die Frage »Was ist De-
sign?« durch die Frage »Wann ist Design?« Zur Begründung führt er an: Weder das
Entworfensein eines Objekts, noch, dass es von einer bestimmten Person zu einem
bestimmten Gebrauchszweck entworfen wurde, taugt als Unterscheidungskriterium
für die Bestimmung, was ein Designobjekt ist und was nicht. Steinbrenner definiert
daher wie folgt: »Zu einem Designobjekt wird […] ein Gebrauchsobjekt dadurch,
dass wir seine Funktionsweise ästhetisch bewerten.« (Ebd.: 97) Ja – so lässt sich
beschreiben, wann wir etwas unter welchem Aspekt betrachten. Aber es lässt sich
nicht immer verstehen, warum, und auch nicht klären, ob dies den Gegenständen
und Sachverhalten gerecht wird oder nicht.5 Nominalistische Designtheorie kann
in Ungereimtheiten führen. Angenommen, ich »bewerte« Poul Henningsens PH-
5-Leuchten über meinem Esstisch einmal nicht »ästhetisch« – sind sie dann keine
»Designobjekte« mehr? Ist diese »Nicht-Bewertung« stationär? Sind die Leuchten
also nur solange keine Designobjekte, wie ich ihre Funktionsweise nicht ästhetisch
bewerte? Dann könnte ich ihr Designobjekt-Sein genauso an- und ausschalten wie
ihre Beleuchtungsfunktion. Oder, ein entgegengesetztes Beispiel: Angenommen,
ich »bewerte« die Papprollen, auf die das Toilettenpapier in der Fabrik gewickelt
wurde, »ästhetisch«, sagen wir, weil ich damit ein Modell bauen möchte und die
Rollen als geformte Körper betrachte. Oder: Ich verwende sie gar nicht, sondern
sehe sie einfach nur an (Heidegger bezeichnete das als Begaffen). Dadurch werden
die Rollen aber nicht zu Designobjekten. Wenn ich das Designobjekt-Sein meiner
Poul-Henningsen-Leuchten nach Belieben an- und ausschalten könnte, würde
meine Beschreibung nicht an die Objekte selbst heranreichen. Aber sie würde
auch die Konvention verfehlen, der gemäß PH-5-Leuchten als Designgegenstände

4 Ein kurzer Rückblick in die Geschichte der Philosophie: Der »ältere philosophische
Begriffsrealismus« lehrte, dass »die Allgemeinbegriffe der Sprache deshalb die Wirk-
lichkeit ›treffen‹, weil nur das Allgemeine wahrhaft existiert«, weil »die Wirklichkeit
selbst eine logische (und damit sprachliche) Struktur« (Schmid Noerr 1986: 357) hat.
5 Dieser Absatz entstand unter Verwendung von Schweppenhäuser 2016: 15–16.
Nominalismus und Realismus in der Ästhetik des Designs 63

bezeichnet werden und Papprollen für Toilettenpapier nicht. Denn selbst so eine
Konvention ist ja stets auch sachlich motiviert. Ich würde also nur die Namen
auswechseln, die ich den Dingen gebe.
Und das lehrte der Nominalismus im ausgehenden Mittelalter. Begriffe waren für
ihn bloße Namen, ohne Halt an den Gegenständen, für die sie zeichenhaft stehen.
Der Neo-Nominalismus sagt das auch (Goodmann 1968 u. 1978). Daher kann (und
will) er keine philosophischen Begriffe verwenden. – Er möchte auch nicht erklären,
wie es sein kann, dass abstrakte Sachverhalte sich sozusagen materialisieren und
dennoch nicht aufhören, auch abstrakt zu sein. Theorien des Entwerfens kreisen
aber um diese Problematik. Es nützt nichts, wenn man so tut, als gäbe es sie nicht
mehr, wenn man die Sprache von allem Begrifflichen reinigt.
Damit will ich aber nicht sagen, dass ich die entmystifizierende Kraft des nomi-
nalistischen Ansatzes gering schätze. Und damit bin ich bei Adornos Theorie des
Nominalismus. Adorno (1970: 296–334) setzt methodologisch auf einer anderen
Ebene an: Er beschreibt, wie der Kampf gegen das Begrifflich-Allgemeine geführt
wurde, um die Befreiung des Besonderen zu konzipieren. Ästhetischer Nominalismus
ist bei Adorno eine produktions- und werkästhetische Kategorie in rekonstruktiver
Absicht. Historisch gehört sie zur europäischen Moderne des 19. und frühen 20.
Jahrhunderts und semantisch steht sie für ihr Programm der Emanzipation des
Einzelwerks von den Gepflogenheiten und Darstellungskonventionen der Gattung.
Adorno legt zweierlei dar. Erstens: Die Befreiung des besonderen Einzelwerks ist
ohne den Bruch mit den allgemeinen Rahmungen der Gattung, aus der es hervor-
geht, nicht denkbar. Zweitens: Das Einzelwerk wird jene allgemeinen Rahmungen
aber nie ganz los.
Das zeigt Adorno an musikästhetischen Formfragen, anhand der Fuge bei Bach
und der Durchführung im Sonatenhauptsatz bei Haydn und Beethoven. Schön-
bergs Ausbruch aus den Tonartbeziehungen des Quintenzirkels war die radikalste
Absage an die westliche Tonalität. Aber auch sie errichtete bekanntlich ein neues
Regime der Form: das Prinzip der Gleichberechtigung aller Töne und Halbtöne
einer Reihe von zwölf aufeinander bezogenen Tönen; eine Ordnung, aus der kein
emanzipiertes Einzelwerk ausbrechen soll.
Diese Ambivalenz kann man auch an einem anderen Beispiel belegen, das ganz
und gar nicht auf Adornos Linie liegt. Als Charlie Parker sich entschied, seiner
Version des Liedes »Cherokee« nicht durch ornamentale Variationen der Melodie
eine neue Gestalt zu geben, sondern dadurch, die Harmonien beizubehalten, aber
auf ihrer Grundlage improvisierend eine völlig neue Melodieführung zu entwi-
ckeln, war das formale Prinzip des Be Bop entstanden. Im Adorno’schen Sinne
nominalistisch, befreite Parker die Jazzimprovisation durch eine Aufwertung, die
sie formal ins Zentrum des musikalischen Geschehens stellt; er entfremdete den
64 Nominalismus und Realismus in der Ästhetik des Designs

Jazz von seinen Aufgaben als Tanzmusik. Zugleich war das formale Prinzip des Be
Bop aber eben auch ein allgemeines Prinzip der Beherrschung des musikalischen
Materials. Die Improvisation hatte entlang harmonischer Progression und vorge-
gebener Akkordfolgen durch verschiedene Tonarten zu erfolgen. Sie konnte jetzt
nahezu universal angewandt werden, um immerzu neue Wendung zu schaffen,
aber sie war nicht schlechthin frei, sondern in ein Set von Regeln eingebettet. Um
nur einige zu nennen: Das Thema war vor und nach der Improvisation unisono zu
spielen, die Verwendung von verminderter Quinte und unaufgelösten Septakkorden
war obligatorisch usw.
Nun aber wieder zurück zum Design. Der ästhetische Realismus der Design-
theorie wird von Walter Gropius’ gestalterischem Prinzip der Wesensforschung
beim Entwurf mustergültig verkörpert. Und selbstverständlich auch von dem
industriedesignerischen Prinzip der Typisierung, das daraus abgeleitet wurde.
Beim Entwurf, der Gestaltung und der Produktion von Gebrauchsgegenständen
und visuellen Kommunikationsmedien scheint es sich auf den ersten Blick zu er-
übrigen, nach nominalistischen Einzelformen zu suchen. Hier handelt es sich stets
um Einzelexemplare von Typen. Zur Aporie des ästhetischen Nominalismus, die
Adorno diskutiert, kommt es unter Bedingungen moderner Industrieproduktion
gar nicht erst. Die Produkte und Kommunikationszusammenhänge von Indus-
trie- und Grafikdesign sind von vornherein Exemplare, im Sinne von Charles
Sanders Peirce sind sie tokens, die auf einen type zurückverweisen. »Token« ist in
der semiotischen Terminologie von Peirce (1906: 4.537) bekanntlich der Name
für existierende Einzeldinge, »Type« der Name für die »definiert kennzeichnende
Form«: »a definitely significant form«, schreibt Peirce, verleiht den individuellen
Exemplaren ihre allgemeine Identität – nicht jedoch ihre besondere Identität. Die
Repräsentation des Type in verschiedensten Tokens ist ja auch im Buchdruck emi-
nent wichtig, wo es nicht um die emanzipierte Einzelform gehen kann, sondern
um distinkte und jeweils klar erkennbare Manifestationen des Allgemeinen im
Besonderen. Aber dennoch sind wir damit wieder mitten in der Nominalismus-
problematik angekommen. Nun allerdings nicht auf ästhetischem, sondern auf
ontologischem und epistemischem Gebiet.
Und da geht es in erster Linie um die Unterscheidung zwischen der äußeren
Form der Dinge (ihrer Erscheinungsform) und der inneren Form der Dinge. Bei
Aristoteles ist die innere Form die Wesensform; die innere Form eines Naturdings
ist die »gestaltende Form seines Werdens« (Haag 1983: 9). Bei Marx ist die innere
Form aller Dinge die Warenform, die nicht nur Artefakte, sondern auch Naturdinge
annehmen, sobald sie in den universalen Prozess der Verwertung eingegliedert
werden.
Nominalismus und Realismus in der Ästhetik des Designs 65

Wenn man die aktuelle Tendenz zur Individuierung im Design (genauer gesagt:
zur Individuierung der Designprodukte) betrachtet, scheint es, als sei das Problem
des ästhetischen Nominalismus zurückgekommen. Oder, besser gesagt, es scheint
im Bereich des Designs Relevanz zu gewinnen. Nicht zuletzt, oder sagen wir besser:
ganz besonders im Bereich des Selbst-Designs. Je höher die individuelle Besonder-
heit des eigenen Profils auf der digitalen Kommunikationsplattform, desto besser,
lautet die Maxime. Und desto erkennbarer, überwachbarer wird die Person hinter
dem Profil (Borries 2016; Bernard 2017). Die spannungsvollen Verschiebungen im
Kraftfeld von Allgemeinem und Besonderem bekommen hier eine Dimension, die
über den Bereich des Ästhetischen zwar weit hinausreicht, ihn als Medium jedoch
unabdingbar benötigt, um sich zu entfalten. Dabei entfaltet sich auch die Präsenz
des Allgemeinen im Besonderen, sozusagen als Kollateral-Effekt des intendierten
Designs.
Als man sich Ende der 1960er Jahre in der Designtheorie vom funktionalistischen
Paradigma verabschiedete, orientierte man sich am Theoriemodell des semiotischen
Strukturalismus, einer Fortsetzung nominalistischer Aufklärung. Designprodukte
und Designprozesse wurden mehr als Zeichen aufgefasst und weniger als nützliche,
zweckmäßige Objekte oder Verläufe. Als zentral galt nun der Aspekt, dass Design
Bedeutungszusammenhänge produziert, weil seine Produkte Bedeutungsträger
sind, die als Teile von Kodierungssystemen fungieren.
Im neueren designtheoretischen Diskurs ist bemerkt worden, dass dieser Aspekt
nicht nur vom Strukturalismus geltend gemacht wurde, sondern auch von der
kritischen Theorie. Adorno (1965: 381 f.) hat in seiner berühmten Rede vor dem
Werkbund in Berlin darauf hingewiesen, dass die ›praktischen Formen‹ der »Ge-
brauchsdinge« fast nie nur aus ihrem Gebrauch abzuleiten sind, sondern so gut wie
immer auch einen ›symbolischen‹ Charakter haben. Er hat nach Adorno zwei Ebenen:
Gestaltete Objekte können zeichenhaft auf anderes verweisen und sie können ein
Ausdrucksmoment haben. Mit Letzterem kommt der anti-nominalistische Aspekt
des Sprachbegriffs ins Spiel, den Adorno von Benjamin übernommen hatte. Sprache
ist demnach wesentlich nicht ein kodiertes System arbiträrer Verwendungsregeln,
sondern zum einen Ausdruck des Subjekts und zum anderen die Anstrengung,
den Dingen ihren einzig angemessenen Namen zu geben. Erst in dritter Linie ist
Sprache ein (nominalistischer) Code zur Bezeichnung und Verständigung.
Diese nominalismuskritische Sprachauffassung ist im designtheoretischen
Diskurs leider nicht zum Thema gemacht worden. Der Paradigmenwechsel von
der Funktionalität zur Semiotik und zur Semantik der Produkte wird vielmehr als
Einsatzpunkt des Kulturalismus interpretiert. Dieser wird affirmiert als »Bezug-
nahme auf übergeordnete sinnstiftende Kontexte und Strukturen« (Mareis 2014:
118), die dem designerischen Denken und Entwerfen gutgetan habe. Daher kommt
66 Nominalismus und Realismus in der Ästhetik des Designs

im Designdiskurs ein Aspekt nicht zum Tragen, die in Adornos und Benjamins
Fragmenten zu einer Theorie des Designs steckt: Dass die Befreiung der Dinge vom
»Fluch nützlich zu sein« (Benjamin 1982: 1130) eine praktisch-ästhetische Kritik
der kapitalistischen Produktions- und Verwertungsweise ist. Die traditionelle
Ausgrenzung der Brauchbarkeit aus der Ästhetik zugunsten eines vermeintlich
interesselosen Wohlgefallens am schönen Objekt, das zwar keinen Zweck habe, aber
in sich zweckmäßig organisiert wirke, wird bei Benjamin und Adorno gegenwendig
als Kritik an der gesellschaftlichen Trennung des Schönen vom Brauchbaren gelesen.
Denn die Dinge wären erst dann vom »Fluch« befreit, nützlich zu sein, wenn sie
nicht mehr auf ihren Tauschwert reduziert würden – und wenn die Menschen vom
»Fluch«, oder besser: vom Zwang befreit wären, ihre Arbeitskraft als Ware verkaufen
zu müssen. Dafür bedürfte es freilich »eines gesellschaftlichen Gesamtsubjekts«,
das seine Praxis an »einem gesamtgesellschaftlichen Zweck« ausrichtet und nicht
bloß »an partikularen Zwecken« (Adorno 1965: 393) der sozialen Herrschaft und
der Akkumulation von Kapital. Erst dann wäre es denkbar, aus der Verdingli-
chungsfalle herauszukommen. Wenn dann »die ganz nützlich gewordenen Dinge
ihre Kälte verlören«, schrieb Adorno (1965: 392), müssten vielleicht nicht allein
die Menschen »nicht länger leiden unter dem Dingcharakter der Welt: ebenso
widerführe den Dingen das Ihre, sobald sie ganz ihren Zweck fänden, erlöst von
der eigenen Dinglichkeit«. Mit diesem Gedanken knüpfte Adorno an die »exakte
Phantasie« der französischen Sozialutopien des 19. Jahrhunderts an. Er unterstellte
nicht, dass die Wahrscheinlichkeit realer Befreiung von sozialer Fremdbestimmtheit
dadurch ansteigen würde. Aber seine ästhetische Antizipation, dass die Dinge erst
dann gleichsam zu sich selbst kommen könnten, wenn sie von ihrer Instrumenta-
lisierung bei der »Beherrschung und Ausbeutung« (ebd.) der Menschen ›gereinigt‹
wären, scheint immer noch verlockend. Sie lässt sich aber nur denken, wenn die
nominalistische Verabschiedung der Begriffe nicht das letzte Wort hat.
Nominalismus und Realismus in der Ästhetik des Designs 67

Literatur

Adorno, Theodor W. (1965): »Funktionalismus heute«, in, ders., Gesammelte Schriften, hrsg.
v. R. Tiedemann, Bd. 10.1, Frankfurt/M. 1977, S. 375-395.
Adorno, Theodor W. (1970): Ästhetische Theorie, hrsg. v. G. Adorno u. R. Tiedemann, in:
ders., Gesammelte Schriften, Bd. 7, Frankfurt/M.: Suhrkamp.
Benjamin, Walter (1982): Das Passagen-Werk, in: ders., Gesammelte Schriften, hrsg. v. R. Tie-
demann u. H. Schweppenhäuser, Bd. V.2, hrsg. v. R. Tiedemann, Frankfurt/M.: Suhrkamp.
Bernard, Andreas (2017): Komplizen des Erkennungsdienstes. Das Selbst in der digitalen
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Borries, Friedrich von (2016): Weltentwerfen. Eine politische Designtheorie, Berlin: Suhrkamp.
Brock, Bazon (2002): Der Barbar als Kulturheld. Gesammelte Schriften 1991-2002, hrsg. in
Zusammenarbeit mit dem Autor v. A. Zika, Köln: DuMont.
Goodmann, Nelson (1968): Sprachen der Kunst, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1973.
Goodmann, Nelson (1978): Weisen der Welterzeugung, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1990.
Haag, Karl Heinz (1983): Der Fortschritt in der Philosophie, Frankfurt/M.: Suhrkamp.
Hume, David (1742): Essays, Moral, Political, and Literary, Part I, Essay XXIII: »Of The
Standard Of Taste« (http://www.econlib.org/library/LFBooks/Hume/hmMPL23.html
[letzter Abruf: 12.8.2018]).
Mareis, Claudia (2014): Theorien des Designs zur Einführung, Hamburg: Junius.
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II
Philosophische Aspekte
des Kommunikationsdesigns
Ästhetische Erfahrung, Design und
Kommunikation*1
Ästhetische Erfahrung, Design und Kommunikation

Ästhetische Erfahrung, Design und Kommunikation

Es gibt nicht viele philosophische Beiträge zur Ästhetik des Designs, und die sind
zumeist dem Produktdesign gewidmet. Das könnte mit dem zugrundeliegenden
Konzept ästhetischer Erfahrung zusammenhängen. Darauf möchte ich zu Beginn
eingehen und anschließend einen neueren Ansatz zu einer philosophischen Design­
ästhetik diskutieren. In Abgrenzung davon werde ich dann, aus der Perspektive der
Kritischen Theorie, über Grundlagen einer Ästhetik des Kommunikationsdesigns
nachdenken. Danach werde ich noch einmal das Thema der ästhetischen Erfahrung
aufgreifen, nun aber unter Aspekten der Gehalts- und der Ereignisästhetik.

Ästhetik als Hermeneutik der Kunst und als Theorie


ästhetischer Erfahrung

Wenn philosophische Ästhetik als philosophische Theorie der Kunst verstanden


wird, ist Kunst, wie zum Beispiel bei Georg Bertram (2011: 14), »das Gesamt der
Dinge […], in Auseinandersetzung mit denen wir ästhetische Erfahrungen machen«.
Im Umkehrschluss heißt das: Ästhetische Erfahrungen haben wir nur mit Objekten
der Kunst. Ein Merkmal von Kunst bestehe darin, »dass sie Verständigungsge-
wohnheiten irritiert«, schreibt Bertram (2007: 36) mit Bezug auf die Kunsttheorie
von Adorno. Kunst entziehe sich »dem Verstehen, dem gewohnten Umgang mit
symbolischen Medien« (ebd.: 37). »Das Kunstwerk bildet in ästhetischen Medien

* Der Text lag meinem Vortrag auf dem Panel Das ist Designästhetik! beim X. Kongress
der Deutschen Gesellschaft für Ästhetik an der Hochschule für Gestaltung Offenbach
am 19. Februar 2018 zugrunde. Ich danke Oliver Ruf für die Einladung zur Mitwirkung
sowie Ruth Dommaschk und Thomas Friedrich für anschauliche Hinweise.
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 71
G. Schweppenhäuser, Design, Philosophie und Medien, Würzburger Beiträge zur
Designforschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-22225-3_5
72 Ästhetische Erfahrung, Design und Kommunikation

jeweils eigene Formen und Strukturen aus. Dadurch widersetzt es sich dem Ver-
stehen« (ebd.). Die »Irritation und Unverständlichkeit der Kunst« (ebd.) komme
daher, dass die Rezeption eines Kunstwerks ein Prozess ist, der nie abgeschlossen
werden kann. Jede Deutung, jede Entschlüsselung des Sinnes oder der Bedeutung
eines Kunstwerks, kann irgendwann an einen Punkt kommen, an dem sich neue
Sinnebenen und Bedeutungsgehalte erschließen, die sich zuvor nicht aufgetan
hatten (bzw. von denen wir zuvor keine Ahnung hatten).
Bertram verweist darauf, dass Hegel Ästhetik noch als Philosophie der ›schönen‹
Kunst bezeichnen musste, um klarzustellen, dass philosophische Kunsttheorie sich
nicht auf die nicht ›schönen‹ Künste bezieht. Also nicht auf die ›nicht freien Künste‹,
wie zum Beispiel das Kunsthandwerk. Heute, schreibt Bertram (2011: 14), müsse
man das nicht mehr hervorheben. Ästhetik könne bündig Philosophie der Kunst
genannt werden, denn Bereiche wie das Kunsthandwerk würden ja nicht mehr als
Kunst gelten. Wenn sie deshalb auch nicht in den Gegenstandsbereich einer Theorie
ästhetischer Erfahrungen fallen, wird der Begriff ästhetischer Erfahrung erheblich
verengt. Bertram und andere maßgebliche Ästhetiker legen den Schwerpunkt ihrer
Auseinandersetzung mit Kunstwerken denn auch auf das ›Verstehen‹, während
»Wahrnehmung« und ›sinnliche Auseinandersetzung‹ sekundär werden (ebd.: 12).
Die Position, die ästhetische Erfahrung mit Verstehen von Kunst gleichsetzt,
ist aber nicht die einzige. Es gibt andere Konzepte ›ästhetischer Erfahrung‹. Ich
möchte zwei hervorheben, die einander zwar nicht direkt widersprechen, aber einen
Gegensatz bilden. Das eine Konzept fokussiert die Distanz zur Alltagspraxis. Im
ästhetischen Erfahrungsmodus entfernen wir uns demnach von Handlungszwecken
und vom Nutzen der Objekte. Ästhetische Erfahrung ist dann wesentlich Lust am
gesteigerten Daseinsvollzug in produktiver, weil handlungs- und deutungsent-
lasteter seelischer wie somatischer Anspannung (Mead 1926; Henckmann 1998:
45 f.). Ästhetische Erfahrung ist hier primär Erfahrung der grundsätzlichen Un-
bestimmbarkeit ästhetischer Objekte und Wahrnehmungen, die es philosophisch
zu reflektieren gilt. Diese Position vertritt Christoph Menke, und ich zähle auch
Bertrams ästhetische Hermeneutik dazu. Daniel Martin Feige betont in Anknüpfung
an Adorno die kontraintuitive Irritationskraft von Kunst, in deren Formgesetz sich
Vernunft im emphatischen Sinne manifestiert: »Kunst als Kunst«, sagt Feige (2017:
208), ist »Ausdruck einer anderen Rationalität als der verkürzten Rationalität, die
bloß nach dem Nutzen von Gegenständen fragt«. Für Kunstwerke gelte, »dass sie
[…] in der Konstitution ihrer Elemente logisch und schlüssig sind, aber dennoch
keinen außerästhetischen Kriterien der Logizität und Schlüssigkeit gehorchen. Es
ist eine je individuell verkörperte […] unvertretbare […] und damit eine paradoxe
Logizität. Kunst eignet somit ein gegenüber der gesellschaftlichen Realität gegen-
Ästhetische Erfahrung, Design und Kommunikation 73

wendiges Moment: […] nicht durch […] manifeste Inhalte […], sondern vielmehr
durch ihre Form« (ebd.: 209).
Das andere Konzept fokussiert die Gegenseite der autonomen Form: Demnach
ist ästhetische Erfahrung »eine Weise, sich in der Welt zu orientieren« (Küpper und
Menke 2003: 11). Sie ist kein »subjektives Ereignis«, sondern »eine Praxis, in der
Subjekte und Objekte zusammengeschlossen sind« (ebd.: 13). Hier geht es um die
Weisen, in denen wir uns in ästhetischer Einstellung die Wirklichkeit erschließen
(Welsch 1993: 150). John Dewey hat dort angesetzt, aber nicht nur Pragmatisten
argumentieren so, sondern auch Neonominalisten und postmoderne Philosophen.
Sie bestätigen damit indirekt Sigmund Freud (1919: 229), der vor fast 100 Jahren
forderte, dass »man die Ästhetik nicht auf die Lehre vom Schönen einengt, sondern
sie als Lehre von den Qualitäten unseres Fühlens beschreibt«. Ästhetik ist dann
die philosophische Reflexion der Grundlagen und Grundformen des Erlebens und
des Urteilens in Bezug auf die natürliche und auf die gestaltete Umgebung des
Menschen. Ihre Gegenstände sind nicht nur Kunstwerke, sondern auch Dinge des
Alltagslebens und der Natur.
In diesem Sinne betrachtet Gernot Böhme das Design als Erfahrungsbereich
der Ästhetisierung des Alltags. Vielleicht sind seine Beiträge zur Ästhetik der an-
gewandten Künste gerade deshalb so innovativ, weil sie fest in der philosophischen
Tradition verankert sind. Böhme (1995: 10) möchte die philosophische Ästhetik
wieder als Theorie sinnlicher Erkenntnis rehabilitieren, um jene Erkenntnisweise
der Ästhetik, die »in der Welt etwas entdeckt, das anderen Erkenntnisweisen nicht
zugänglich ist«, als solche zu erfassen. Dafür nimmt er die ästhetische Erfahrungs-
weise in den Blick und grenzt sich von einer kognitivistischen Urteilsästhetik ab.
Die sei auf das Sprechen über ästhetische Objekte als Kunstwerke fixiert und darauf,
zu ›beurteilen‹, woran Menschen ästhetisch Anteil nehmen, also auf »die Frage
der Berechtigung der Teilnahme an etwas oder der Ablehnung von etwas« (ebd.:
23). Vor diesem Hintergrund will Böhme eine »neue Ästhetik« (ebd.: 7) und eine
»Kritik der ästhetischen Ökonomie« (ebd.: 10) begründen. Darauf werde ich noch
zurückkommen; aber zunächst möchte ich auf seine Lesart von Kant eingehen.

Kant und eine Ästhetik des Designs

Böhme liest Kant nicht als kognitivistischen, auf Kunstwerke fixierten Urteilsäs-
thetiker, sondern als Geschmacksästhetiker, der den ästhetischen Sinn (wie in der
englischen Tradition) als Medium zivilisierter Verständigung versteht. Böhme
meint, »von den Objekten her« sei Kants Ästhetik in erster Linie eine »Ästhetik des
74 Ästhetische Erfahrung, Design und Kommunikation

Designs«: »Es geht um Kleidung, um Tapeten, Vorgärten und Tafelmusik« (Böhme


2016: 81). Anknüpfungspunkt sind die Stellen in der Kritik der Urteilskraft, an denen
Kant beschreibt, wie Menschen sich mit Objekten umgeben, die sie schön finden.
Nicht nur aufgrund ihres Bedürfnisses, in schöner Umgebung zu leben, sondern
weil sie die Empfindungen, die solche Umgebungen auslösen, mit anderen teilen
möchten. Und primär, weil sie sich durch die schönen Objekte anderen mitteilen
würden – nicht verbal und rational, sondern emotional. »›Mitteilen‹ bedeutet […],
den anderen an dem, was man fühlt, teilnehmen zu lassen« (ebd.: 82), schreibt
Böhme. »Das gelingt einem aber nicht primär durch reden, sondern indem man
sich mit geschmackvollen Dingen umgibt, durch die man anderen Menschen die
Gelegenheit gibt, die eigenen Präferenzen affektiv mitzuvollziehen.« (Ebd.)
In diesem Konzept ästhetischer Kommunikation wird Ästhetik in der Tat im
Sinne Freuds als »Lehre von den Qualitäten unseres Fühlens« verstanden. Ich stimme
Böhme zu, wenn er dem (in meinen Worten) medialen Aspekt des Produktdesigns
und der Raumgestaltung eine markante Rolle in Kants philosophischer Theorie
einer aufgeklärten Zivilisiertheit zuspricht. Aber nun muss ich zwei Fragen stel-
len. Erstens: Wie weit kann man Böhmes Lesart folgen, dass Kants Ästhetik keine
Urteilsästhetik ist? Zweitens: Wie weit lässt sich die These verteidigen, dass Kants
Ästhetik eine »Ästhetik des Designs« ist?

1. Zu Böhmes Lesart der Urteilsästhetik: Kant unterschied bekanntlich ästhetische


Urteile von theoretischen Erkenntnisurteilen und praktischen Handlungsur-
teilen. Ästhetische Urteile sagen nichts über die Wahrheit dessen aus, worauf
sie sich beziehen, auch nichts über seine Wirklichkeit. Das gilt für Urteile über
Kunst und für Geschmacksurteile (die nicht ganz deckungsgleich sind, weil
beim Kunsturteil immer auch der kulturelle Wert des künstlerischen Beitrags
in Betracht zu ziehen sei (Kant 1790: 421 ff. u. 444 ff.; siehe Dorschel 2003:
105). Geschmacksurteile prädizieren auch nicht eine Eigenschaft von einem
Gegenstand (Böhme 1999: 14 f.); sie geben lediglich Auskunft, ob der Person,
die ästhetisch urteilt, etwas am Beurteilten liegt. Der Satz »Der Stuhl ist schön«
ist insofern eine uneigentliche Redeweise: Sie tut so, als ob sie eine Aussage ist,
deren logische Stimmigkeit und sachliche Richtigkeit überprüft werden kann.
Sie tut, als ob ausgesagt würde, dass Schönheit eine Eigenschaft ist, die von dem
Stuhl ausgesagt wird. Richtig wäre, zu sagen: »Ich finde den Stuhl schön«. Diese
Aussage impliziert nicht, dass dasjenige, worauf sie sich bezieht, wahr ist oder
falsch, d. h. dem Objekt adäquat oder nicht; sie impliziert auch nicht, dass es
wirklich ist oder sein sollte. Über Wahrheit oder Unwahrheit des ästhetischen
Objekts kann das ästhetische Urteil nichts sagen, und ob das Objekt existiert
oder nicht, spielt keine Rolle. Es kann ja auch von einem Einhorn die Rede sein
Ästhetische Erfahrung, Design und Kommunikation 75

statt von einem Stuhl. Für Kant drückt das ästhetische Urteil Wohlgefallen oder
Missfallen am Objekt aus; es ist indifferent gegenüber Fragen, die Erkenntnisse
über das Objekt betreffen, und ohne Interesse am Modus seiner Existenz.
2. So weit, so bekannt. Aber: Demnach gehören Designobjekte, streng genommen,
überhaupt nicht in den Geltungsbereich ästhetischer Urteile. Denn Designobjekte
werden immer auch im praktischen Interesse betrachtet. Sie werden, genauer
gesagt, nie nur betrachtet: Eine kontemplative Haltung zu Designobjekten ist
nicht möglich, solange ihre Betrachtung nicht vom Gebrauch getrennt wird.
Wenn Letzteres geschieht, sind sie aber keine Designobjekte mehr, sondern
Kunstobjekte. Menschen, die Museen besuchen, wissen das heutzutage; auch
in einer Duchamps-Ausstellung würde man seine Notdurft nur auf der Toilette
verrichten. Schiller (1792–93: 75, zit. nach Dorschel 2003: 97) war konsequent,
als er aus Kants Lehre vom ästhetischen Wohlgefallen, das frei von Interessen
sei, den Schluss zog, dass »die Nützlichkeit vom Schönen ausgeschlossen ist«,
und damit die moderne Autonomieästhetik begründete, die wenig später von
Carl Philipp Moritz und Goethe ausgearbeitet wurde. Paradox scheint es daher,
wenn Kant an exponierter Stelle Objekte der dekorativen Künste heranzieht, um
den Gedankengang seiner Ästhetik der Urteilskraft zu demonstrieren, die auf
der Differenz zu theoretischen und praktischen Urteilen fundiert ist. Nicht nur
Naturerscheinungen, sondern eben auch dekorative Künste dienen ihm dazu,
zu klären, was er unter ›freier‹, das heißt nicht ›bloß anhängender‹ Schönheit
versteht. Während ›bloß anhängende‹ Schönheit einem Objekt nur im Hinblick
darauf zugesprochen werde, ob es seinen Zweck perfekt erfülle, entfalle diese
Bedingung, wo wir es mit ›freier‹ Schönheit zu tun haben. Hier, sagt Kant, wür-
de das hochentwickelte Geschmacksurteil gerade darauf ansprechen, dass die
Schönheit »gar keinem nach Begriffen in Ansehung seines Zwecks bestimmten
Gegenstande zukomme[…], sondern frei und für sich gefalle[…]. So bedeuten«,
fährt Kant (1790: 310) fort, »die Zeichnungen à la greque, das Laubwerk […] auf
Papiertapeten usw. für sich nichts: sie stellen nichts vor, kein Objekt unter einem
bestimmten Begriffe, und sind freie Schönheiten.« Daher, und nur daher, könne
ihre rein formale Zweckmäßigkeit goutiert werden (Kant 1790: 303).

Soweit Kant. Dagegen wäre einzuwenden, dass Gegenstände des Produktdesigns


zu jeder Zeit nur im Horizont der Vermittlung von praktischem und ästhetischem
Urteil adäquat interpretiert werden können, denn als Produkte gesellschaftlicher
Arbeit tragen sie »die unauslöschliche Spur der Natur im Artefakt« (Rantis 2017:
92). Der Stoff oder das Papier, mit dem die Wände bespannt sind, haben aufgrund
ihrer Materialeigenschaften einen Nutzen, auf den das praktische Interesse ihrer
Anwender gerichtet ist: Sie binden Feuchtigkeit und glätten raue Stellen der Wände.
76 Ästhetische Erfahrung, Design und Kommunikation

Darüber hinaus können sie auch noch praktisch nutzlose, »freie« Eigenschaften
haben, die wir ästhetisch beurteilen, wenn Muster und Farben unser Auge erfreu-
en und unseren Geist anregen, dem freien Spiel der Arabesken oder dem Muster
der Streifen nachzugehen. Und das geschieht, wenn ihre Ornamente, Farben und
Materialeigenschaften naturanaloge Merkmale aufweisen und dadurch das Leben
derer, die sich mit ihnen umgeben, kultiviert erscheinen lassen. Aber sie tun es im
Modus ihrer Verwendung, nicht nur kontemplativ und auch nicht nur kommuni-
kativ (worauf Böhme abhebt).
Kants Rezeptionsästhetik bezieht sich auf eine vorbürgerliche Ding- und Er-
fahrungswelt. Hier ist die letztlich inadäquate Trennung von Form und Funktion
angelegt, die später von der Architektur- und Designtheorie des frühen 20. Jahr-
hunderts in einer beeindruckenden Selbstinszenierung revoziert werden sollte.
Worauf basiert der Musterfall des autonomen Geschmacksurteils, in dem die
»Erkenntniskräfte ohne weitere Absicht« ›belebt‹ und ›beschäftig‹ werden und in
dem die Lust, die dabei empfunden wird, »auf keine Weise praktisch« ist? Er basiert
darauf, dass Erzeugnissen der erweiterten Reproduktion, also der Kultivierung
durch arbeitsteilige Naturbeherrschung im praktischen Alltagsgebrauch, formale
Schönheit attestiert werden kann, weil die Benutzer ihre Einstellung zum Objekt
wechseln. Das Konzept der ästhetischen Einstellung wird zwar bei Kant noch nicht
expliziert, aber ich halte es an dieser Stelle für vertretbar, den Gedankengang so
zu rekonstruieren.
Hinzu kommt im Bereich des Kommunikationsdesigns, dass das Erkenntnisurteil
hier ein wesentlicher Bestandteil des Rezeptionsvorgangs ist. Kommunikationsdesign
hat folgende Aufgabenbereiche: 1. Vermarktung und Verpackung; 2. Information
(z. B. in öffentlichen Verkehrsmitteln und Flughäfen); 3. Aufklärung und Bildung
(z. B. in Publizistik und Wissenschaft sowie in Medien aller Art, die Lehr- und Lern-
prozesse unterstützen); 4. Werte-Erziehung im öffentlichen Raum (z. B. Kampagnen
gegen Raserei auf Autobahnen oder medizinische Fotos auf Zigarettenschachteln); 5.
Unterhaltung. Innerhalb dieser Bereiche gibt es Querverbindungen der Funktionen
und Rezeptionspraktiken. Wenn man diese Bereiche und Verwendungsweisen aus
der Perspektive einer kantianischen Urteilsästhetik in den Blick nimmt, ist ihnen
eines gemeinsam: Die Objekte werden ent-ästhetisiert. Kommunikationsdesign
macht sie praktischen Interessen dienlich oder der Wahrheitsprüfung zugänglich
(oder beides). Es macht sie für nicht-ästhetische Zwecke verfügbar und unterläuft
die Unterscheidung zwischen theoretischen Erkenntnisurteilen, praktischen Hand-
lungsurteilen und Geschmacksurteilen. Der (vielleicht frustrierende) Befund lautet
also: Aus dieser Perspektive betreibt Kommunikationsdesign die Ent-Ästhetisierung
von Objekten und Rezeptionsprozessen.
Ästhetische Erfahrung, Design und Kommunikation 77

Was wäre hier die Entsprechung zu dem, was Andreas Dorschel, von dem eine
der wenigen philosophischen Untersuchungen zur Ästhetik des Produktdesigns
stammt, als die »Ästhetik des Brauchbaren« bezeichnet? Formaspekte visueller
Kommunikation sind vor allem Lesbarkeit, Verständlichkeit und, im weitesten Sinne,
bildhafte Anmutung. Ästhetische Aspekte sind in den Wirkungszusammenhängen
gestalteter Kommunikation keineswegs nur sekundäre, im Sinne Kants (1790: 310)
›bloß adhärierende‹ Qualitäten. Auch hier gilt, was Dorschel (2003: 9) vom Pro-
duktdesign sagt: »daß die Anforderungen der Sache ästhetische Qualitäten nicht
einschränken müssen, sondern« geradezu auch »provozieren können«.
Ich würde sagen, man könnte hier von einer »Ästhetik des Lesbaren« sprechen
oder von einer »Ästhetik des Mitteilbaren«. Aber über diesen semiotischen – genauer
gesagt: syntaktischen und pragmatischen – Aspekten darf man den phänomeno-
logischen Aspekt oder, wenn man so will, den wahrnehmungsphilosophischen
Aspekt des Sich-Zeigens von Formen nicht übersehen. Daher würde ich empfehlen,
in Anlehnung an Lambert Wiesing, hier von einer »Ästhetik der Sichtbarkeit«
zu sprechen. Nicht von ›reiner‹, ›isolierter‹ Sichtbarkeit, für die sich Wiesing im
Anschluss an Konrad Fiedlers formale Ästhetik interessiert. Im Kontext des Kom-
munikationsdesigns geht es eben nicht um jene »Abspaltung des Nursichtbaren,
des Schattenhaften zu einer eigenen Form des Seins«, wie Wiesing (2008: 175) – mit
Fiedler und Robert Musil – im Blick auf die Kunst betont.

Ästhetik der Sichtbarkeit

Ich plädiere dafür, eine »Ästhetik der Sichtbarkeit« vom soziokulturellen Potenzial
des Kommunikationsdesigns her zu denken. Dafür gilt es, zwischen »sichtbar wer-
den« und »sichtbar machen« zu unterscheiden. Meine These ist: In der Vielfalt der
auf Singularität zielenden ästhetischen Formen visueller Designkulturen wie in der
Produktwerbung, der Dokumentation und im Selbst-Design kommt stets auch ein
Allgemeines »zur Erscheinung«, ein gesellschaftliches, kulturelles Allgemeines, das
Resultat von Abstraktion ist und zugleich von konkreter Herrschaft. Ich möchte
das erläutern, indem ich Umrisse einer kritischen Theorie des Kommunikations-
designs skizziere.
Grafikdesign gehört der bürgerlich-kapitalistischen Produktionsweise an, in der
die zeichen- und bildhafte Ästhetisierung industrieller Massenprodukte immer wich-
tiger wurde. Werbegrafik wurde im 19. Jahrhundert als Distributionsbeschleuniger
gebraucht, der »den Dingen über ihre Nützlichkeit hinaus noch eine verlockende
Außenseite« gibt, wie Georg Simmel 1896 schrieb (zit. nach Böhme 2016: 107). Im
78 Ästhetische Erfahrung, Design und Kommunikation

20. Jahrhundert erzeugte Grafikdesign, im Verbund mit den neuen audiovisuellen


Medien, Bedürfnisse, die das Leben immer kultivierter machen, wenn auch stets
nur in Teilen, und weckte Begierden, die immer größer werden, je mehr man sie zu
stillen versucht. Aber zugleich artikulierte sich im Design visueller Kommunikation
auch eine innere Formbestimmtheit, die über diese Primärfunktionen hinausreicht.
Lesbarkeit von Kultur und Wissenschaft, Visualisierung sozialer, politischer und
wissenschaftlicher Fakten – das waren zentrale Anliegen der Avantgarde, für die
Namen wie Jan Tschichold, Gerd Arntz und Otto Neurath stehen. Kommunika-
tionsdesign zielt auf die verständigungsorientierte Gestaltung der Lebens- und
Arbeitsverhältnisse. Zugleich steht der selbstbestimmten Nutzung und dem so-
zialen Design eine fremdbestimmte Überformung bzw. eine sozioökonomische
Präformation der Formgestaltung gegenüber. Letztere geht nicht zwingend aus der
Beschaffenheit von Materialität und Struktur oder aus Medien und Formen hervor.
Sie entsteht durch Gesetzmäßigkeiten ihrer Verwertung. Kommunikationsdesign
ist potenziell Werkzeug und Ausdruck von freier kultureller Selbstbestimmung,
aber es realisiert sich vor allem als Instrument von Warenökonomie und politischer
Kontrolle. Das öffentliche Potenzial wäre freilich nicht ohne die private Verwer-
tungsstruktur zu haben. Denn ohne die den Produktionsverhältnissen immanente
Profitausrichtung wäre die Produktivkraft »Design« nicht hervorgebracht worden.
Und ohne entsprechende politische Herrschaftsmaßnahmen, Gesetzgebung und
Zwangsgewalt hätte sich die ökonomische Gesetzmäßigkeit nicht entfalten können,
die wie ein Sach- oder gar Naturzwang erscheint.
Kommunikationsdesign gehört zu Marketing und Branding, aber auch zur
Herstellung soziokultureller Autonomie. Es ist Teil der Maschine, die das visuelle
Unbewusste kolonisiert und die Formate vorgibt, in denen wir unser Leben nach
aktuellen Erfordernissen der ästhetischen Ökonomie inszenieren; aber es ist auch
dem Fernziel der Verständigung einer kommunikativ handelnden Menschheit
verpflichtet. Kommunikationsdesign schafft intersubjektive Verständigung auf
Grundlage eines Objektbezugs; es bezieht sich auf eine Lebensumgebung, die durch
Arbeit und Interaktion gestaltet wird. Mündige, kommunikativ interagierende
Menschen, die politische Freiheit herstellen, sind die Subjekte der Aufklärung.
Design gehört zu ihrer Praxis, unterliegt aber auch deren Dialektik. Die ästhetische
Dimension dieser Dialektik kann man, mit Gernot Böhme, als Raum der »ästheti-
schen Ökonomie« im gegenwärtigen Stadium der kapitalistischen Wirtschaftsweise
bezeichnen. Es sind demnach nicht mehr allein die kulturindustriell standardisierte
Massenunterhaltung und die attraktive »Aufmachung, das Arrangement würde
Adorno sagen« (Böhme 2016: 100), nämlich das Arrangement der Waren, sondern
Ästhetische Erfahrung, Design und Kommunikation 79

die ästhetische Erfahrung überhaupt und speziell die Inszenierung des eigenen
Lebens, die in eine widersprüchliche Dynamik hineingesogen werden.1

Kommunikationsdesign und ästhetischer Eigensinn

In der Auseinandersetzung mit Böhmes Mitteilungskonzept lassen sich also auch


konzeptionelle Beiträge zu einer Ästhetik des Kommunikationsdesigns herleiten.
Aber auf schlüssige Weise nur dann, würde ich sagen, wenn die eingangs kurz
diskutierte negative Formästhetik nicht einfach übergangen wird.
Für Feige und Adorno manifestiert sich die kontraintuitive Irritationskraft
von Kunstwerken über deren Formgesetz, sofern dieses imstande sei, Vernunft
im emphatischen Sinn als ›ein gegenüber der gesellschaftlichen Realität gegen-
wendiges Moment‹ zu realisieren; nämlich immer dann, wenn ihm eine Logik der
freien Synthesis von Teilen zugrundeliegt, die nicht gegen einander austauschbar
sind. Das leuchtet ein, wenn von autonomen Kunstwerken die Rede ist, die allein
ihrem Formgesetz verpflichtet sind und sich der Unterordnung unter Kriterien
verweigern, die außerhalb der Logik ihrer Form und deren Rezeption liegen. Doch
wie steht es mit den sogenannten angewandten Künsten? Können sie ›gegenwen-
dige Momente gegenüber der gesellschaftlichen Realität‹ aufweisen und Medien
einer kritischen ästhetischen Erfahrung werden? Oder können das ausschließlich
autonome Kunstwerke?

1 Der Kunstwissenschaftler Wolfgang Ullrich (2006: 42) erläutert »den Charakter der
Dingkultur« in Anlehnung an die Ästhetik Kants mit dem Hinweis auf die »Erfahrung«,
die wir im Umgang mit Artefakten machen. Es handele sich um eine »Erfahrung […], es
mit etwas zu tun zu haben, das zwar eine Richtung vorgibt, aber noch kein bestimmtes
Ziel definiert. Wie ein Baum oder ein Ornament zu diversen Phantasien veranlassen
und weder als bloß kontingent und gleichgültig noch als funktional fremdbestimmt
erfahren werden, so kann auch ein Ding, besonders ein Markenprodukt, jenseits seines
Gebrauchswerts sinnvoll scheinen, ohne daß man jedoch angeben könnte, worin genau
sein Sinn bestehen – und sich erschöpfen – sollte.« (Ebd.) So entstehe eine flexible Gestal-
tungsmöglichkeit für die Selbstpräsentation: »der individuelle Selbstentwurf erfährt eine
Bestätigung. Statt maßzuregeln oder zu determinieren, bietet das Ding seinem Besitzer
eine Formatierungshilfe, dient aber zugleich als Variable.« (Ebd.) Die Besonderheit des
einzelnen Dings ist freilich nur exemplarische Erscheinung eines Allgemeinen, das aus
der gesellschaftlichen Beziehung der Menschen zu den Konditionen der Warenform
resultiert. Oder, wie Ullrich (ohne Bezug auf die marxsche Theorie des Warenfetischs)
formuliert: »Daß sie nur eine allgemeine Aura besitzen, macht Markenprodukte jedoch
auch leicht verwechselbar. Ähnlich wie Losungen auf Parteitagen sind die Slogans, die
für sie werben, häufig nur ›leere Codes‹.« (Ebd.: 42 f.)
80 Ästhetische Erfahrung, Design und Kommunikation

Letzteres würde ich nicht sagen. Im Kommunikationsdesign muss ›Ästhetik


der Sichtbarkeit‹ nicht nur bedeuten, dass die Visualisierung von Strukturen und
Prozessen auf eine Weise zu erfolgen hat, die nicht irritiert, sondern attraktiv
und sozialkonformistisch ist. Bei der Gestaltung von Orientierungssystemen auf
Flughäfen sollte die Irritation der Benutzer natürlich nicht das primäre Ziel sein.
Aber auch angewandte visuelle Kunst kann nach dem »Ausdruck einer anderen
Rationalität« suchen – um es nochmals mit Feige (2017: 208) zu sagen –, die nicht,
wie die »verkürzte[…] Rationalität […] bloß nach dem Nutzen von Gegenständen
fragt«. Auch verständigungsorientierte Kommunikationsgestaltung kann »Ver-
ständigungsgewohnheiten irritier[en]« und sich »dem Verstehen, dem gewohnten
Umgang mit symbolischen Medien« entziehen, wie Bertram (2007: 36) mit Bezug
auf Adorno formuliert. Auch Kommunikationsdesign kann »in ästhetischen Medien
jeweils eigene Formen und Strukturen aus[bilden]« (ebd.: 37).
An zwei Beispielen, »Klassikern« der populären Kultur, lässt sich das ver-
deutlichen: am Buchcover von Klau mich von 1968 und am Cover der LP Sticky
Fingers von 1971. Auf dem Buch von Rainer Langhans und Fritz Teufel sieht man
den stilisierten Umriss von vier Fingern einer rechten Hand, der Daumen ist auf
der Umschlagrückseite zu erkennen. Sichtbar wird ein Griff nach dem Buch, nach
einer Ware, deren Titel in leuchtend blauen, plakativ großen Lettern eine paradoxe
Intervention formuliert. Der Inhalt des Buches besteht seinerseits aus »geklauten«
Inhalten. Als Faksimiles reproduziert, werden amtliche Schreiben und Pressezitate
rund um die Prozesse gegen Langhans und Teufel zu Zeugen und Beweismitteln
in einem imaginären Prozess im Kopf der Leserinnen und Leser. Er soll darüber
aufklären, wie sich die bürgerliche Gesellschaft der Etablierten die Rebellion der
jungen Leute durch Kriminalisierung und Medienmanipulation vom Hals hält. Auf
dem Cover der Rolling-Stones-Platte drei Jahre später sind die klebrig-verunreinigten
Finger, von denen der Titel spricht, gar nicht zu sehen. Für sie steht metonymisch der
dinglich-reale, gebrauchsfertige Reißverschluss, der die Plattenhülle zum sexuellen
Partialobjekt macht. Die politische Geste der Achtundsechziger wird abgelöst von
der hedonistischen Pose, die die Popkultur der 1970er Jahre kennzeichnet. Unser
Kontextwissen über den Gestalter Andy Warhol, dessen Freund hier sozusagen das
Dessous-Model gewesen sein soll, sagt uns, dass diese neue Ästhetik der Sichtbarkeit
gleichwohl den sexuellen Befreiungsimpuls fortsetzt, der mit den Achtundsechzigern
ins Zentrum der Alltagskultur getreten ist.
Ästhetische Erfahrung, Design und Kommunikation 81

Gehaltsästhetik, Ereignisästhetik und


Kommunikationsdesign

Offenbar empfiehlt es sich, im Zusammenhang mit Design eben nicht nur For-
mästhetiken zu konsultieren, sondern auch auf zwei konkurrierende Modelle
ästhetischer Erfahrung zurückzugreifen.

(1) Ästhetische Erfahrung bedeutet seit Kant, formelhaft verkürzt: Perzeption plus
Reflexion. So auch in Hegels Philosophie der Kunst. Doch anders als in Kants dualem
Konzept des Geschmacksurteils, das auf seinen Grund im Subjekt zurückgeführt
wird, läuft es dort nicht auf das freie Zusammenspiel der Sinneswahrnehmung mit
der Verstandestätigkeit hinaus. Hegel will das Erkenntnismoment in der Sinnes-
wahrnehmung und das Wahrnehmungsmoment im Begriff rekonstruieren. Seine
philosophische Ästhetik beobachtet, wie sich diese Gegensätze durch einander
hindurchbewegen. Während sich in Kants Konzept ästhetischer Erfahrung die
befreite Subjektivität manifestiert, manifestiert sich in Hegels Konzept die ob-
jektivierte Freiheit. Im Mittelpunkt steht hier das Verstehen geschichtlicher, d. h.
soziokultureller Prozessgestalten in ästhetischer Rezeption. Ästhetische Objekte
verkörpern durch ihre jeweilige Form einen jeweiligen geschichtlichen Gehalt, der
ihre Stellung zur Objektivität bestimmt. Nimmt man Hegels nicht-formalistischen
Begriff der Form zum Ausgangspunkt, kann man sagen: Es geht um die Anschauung
von Sachgehalt und Wahrheitsgehalt ästhetischer Objekte.
Für Hegel gibt es bekanntlich drei symbolische Formen, in denen sich das Be-
wusstsein dem Absoluten – also Gott, der Unendlichkeit oder dem Geist – nähert.
Kunst produziert äußere, sichtbare Bilder; ihr Medium ist die Anschauung. Religion
geht einen Schritt weiter nach innen. Sie produziert innere Bilder – Träume und
Visionen; ihr Medium ist die Vorstellung. Philosophie als höchste Annäherung
an das Absolute durch Distanzierung vom sensuell Wahrgenommenen produziert
Begriffe; ihr Medium ist das Denken.
Anschauung und Vorstellung sind bei Hegel freilich alles andere als geistfrei.
Weil sie bereits am Begriff teilhaben, ist Kunst für ihn ein wahrheitsfähiges Medi-
um. Aber zugleich sind Anschauung und Vorstellung auch das Andere des Geistes.
Deshalb kann erst philosophische Erkenntnis den Wahrheitsgehalt von Kunstwer-
ken erschließen. Das Schöne als sinnliches Scheinen der Idee ist Erscheinung des
abstrakten Begriffs.
»Freie Kunst« und »angewandte« Künste sind in Hegels Ästhetik, wie zu Beginn
erwähnt wurde, in einem hierarchischen Gefälle angeordnet. Können Designobjekte
dann überhaupt als Verkörperung einer anderen Stellung menschlicher (Produk-
tions-) Freiheit zur Objektivität gelten? Als objektiv intendierte Werkästhetik
82 Ästhetische Erfahrung, Design und Kommunikation

rehabilitiert Hegels Kunstphilosophie die Produktionslehre. Sie tut das zwar als
Ideologie eines nachholenden Durchlaufens des Schöpfungsprozesses, welchen der
absolute Geist inauguriere. De facto ratifiziert sie jedoch die praktische Selbstge-
wissheit des modernen industriellen Produktionsprozesses. Die Gewissheit, dass im
schönen Werk Natur und Geist, Notwendigkeit und Freiheit anschaulich vermittelt
sind, transponiert den Gedanken, dass Natur ein »Moment menschlicher Praxis«
(Schmidt 1993: 19) ist, in die Ästhetik. Dann ist es nur noch ein kleiner Schritt
zur Entkoppelung des Konzepts ästhetischer Erfahrung vom Kunstbetrieb, zur
Einbeziehung von Gebrauchsgegenständen und Alltagsumgebungen als legitime
Gegenstände ästhetischer Rezeption.
Bekanntlich hat Hegel diesen Schritt aber nicht getan. Die Künste sind für ihn
unterschiedlich komplexe Medien der Darstellung Gottes, mit anderen Worten: der
Freiheit des Geistes. Aus dieser Perspektive ist die angewandte Kunst des Kommu-
nikationsdesigns, wenn überhaupt, dann eine Vorstufe zur ästhetischen Praxis. Es
handelt sich zwar nicht gerade, wie in der kantischen Perspektive, um eine Weise
der Ent-Ästhetisierung der Dinge. Aber die Ästhetik des Kommunikationsdesigns
ist – anders als die Architektur, die Hegel als symbolische Darstellung des Göttlichen
vermittels der Gestaltung seiner Behausungen lobt – eine immanente Ästhetik.
Die symbolisierende Gestaltung religiöser Devotionalien oder die religiösen
Semantiken, die Dingen des profanen Gebrauchs mitunter appliziert werden,
können nicht als Gegenargument herangezogen werden. Denn Hegels Entwick-
lungskonzept kann die gleichzeitige Ungleichzeitigkeit von symbolisch-bildlicher,
klassisch-humanistischer Skulptur und der romantisch-empfindsamen Kunstspra-
chen von Malerei, Musik und Literatur nicht als jeweils authentische Erscheinungen
unterschiedlicher Stellungen des Bewusstseins zur Objektivität gelten lassen. Der
Rückgang hinter den erreichten Stand der Ausbildung dieser Reflexionskünste auf
anschauliche Verbildlichung des Heiligen oder seiner Stellvertretungen wird als
regressive Verfallsform delegitimiert.

(2) Von Nietzsche ausgehend, formierte sich mit der Wende vom 19. zum 20.
Jahrhundert das Konzept der ästhetischen Einstellung als neues Paradigma. Eine
zentrale Begriffskonstellation in Nietzsches Philosophie ist bekanntlich die des
Werts, der Wertung und der Umwertung. »Werthgefühle und Werthunterschiede«
(Nietzsche 1886: 105) sind das A und O seines Denkens. Das ästhetische wird mit
dem praktischen Interesse verbunden, wenn Nietzsche (1872: 47) in seiner frühen
Theorie der Künste behauptet: »nur als aesthetisches Phänomen ist das Dasein
und die Welt ewig gerechtfertigt«. Mit negativem Bezug auf das Erkenntnisurteil
erklärt er die Kunst als zauberisches Heilmittel für theoretische Menschen, die in
der »Bewusstheit der einmal geschauten Wahrheit […] überall nur das Entsetzliche
Ästhetische Erfahrung, Design und Kommunikation 83

oder Absurde des Seins« (ebd.: 57) sehen würden. Ästhetische Erfahrung hat bei
Nietzsche »eine Affirmation des Lebens und damit das Weiterleben zu ermöglichen«
(Wellberry 2018). Dass diese Wende in der europäischen Philosophie nur durch
Zufall mehr oder weniger parallel mit der Ästhetisierung des (Alltags-) Lebens
durch die visuelle Kommunikation der industriellen Massenproduktion einsetzte,
halte ich für unwahrscheinlich.
Mit und nach Nietzsche eröffnet die ästhetische Einstellung als überlegene Al-
ternative zur moralischen Weltdeutung genuine Bereiche des Erlebens, weil es die
Kategorie des Ereignisses zum Fokus ästhetischer Reflexion macht. Nietzsche hat
das Werk als zentrale ästhetische Kategorie verabschiedet. An dessen Stelle tritt
der gestalterische Akt. Das schöpferische »Kunstschaffen« (Meyer 1993: 4) wird
als höchster Ausdruck des Lebens angesehen. Kunst ist beim späteren Nietzsche
nicht nur Überlebensmittel, sondern »Steigerung des Lebens«, weil sie »Ausdruck
des Schaffenden« (ebd.) ist.
Bei Nietzsche wird philosophische Ästhetik wieder zur Urteilsästhetik: Ästhe-
tische Urteile sind für ihn – und die hierin an ihn anschließende Phänomenologie
– grundsätzlich Werturteile (zur Phänomenologie siehe Henckmann 1998).

Entkunstung der Kunst und kommunikative Verrätselung


von Alltagsobjekten

Wenn ästhetische Erfahrung primär nicht mehr auf Werke ausgerichtet ist, sondern
auf Reflexionsprozesse bei der Betrachtung, können Kunstobjekte ununterscheidbar
von Alltagsobjekten werden, ohne dass dies der ästhetischen Erfahrung Abbruch
täte. Rüdiger Bubner (2003: 47) hat den zeitgenössischen Trend zur Ausstellungs-
kunst in den Events gesehen, die in Museen und an anderen Stellen des öffentlichen
Raums stattfinden, als Folge der modernen Verschiebung ästhetischer Erfahrung auf
den Raum »zwischen Ding und Reflexion«. Das »planmäßige Schillern moderner
Kunstprodukte«, schreibt Bubner (2003: 42), »löst unvermeidlich eine Reflexionsfolge
aus. Täuschst du dich, oder täuscht das Objekt? Sind das Steine und Suppendosen,
oder ist das Ganze installiert? Was soll es denn bedeuten, wenn es schon nichts
sagt?« Für Bubner (2003: 47) geht die Subjektivierung der ästhetischen Erfahrung
mit dem Risiko einher, dass Kunstinszenierungen der Wiederbelebung der archai-
schen Kult-Funktionen dienen und der Kunstbetrieb zum wirtschaftspolitischen
Standortfaktor bei der »Image-Vermarktung in internationaler Urbanitätskon-
kurrenz« degeneriert. Andererseits sieht Bubner auch eine Chance darin, dass sich
der einst avantgardistische Reflexionszwang in einen kuratorischen Gemeinplatz
84 Ästhetische Erfahrung, Design und Kommunikation

verwandelt hat, denn daraus entstehe die Nötigung, in Diskurse einzutreten. »Kant
und die Kommunikationstheoretiker der Gegenwart«, schreibt er, »stellen sich
eine aufgeklärte Öffentlichkeit vor, deren Interaktion auf Grundlage subjektiver
Kunsturteile entsteht.« (Ebd.) Grundlage dafür sei Kants Konzept des ästhetischen
Gemeinsinns, der nicht nur die Grundlage für Verständigung über Schönheitsfragen
ist, sondern auch die psychische Instanz, welche die einzelnen Sinne »zur Einheit
einer verständigen Weltauffassung verbindet« (ebd.: 45).
Ich erlaube mir, Bubners Motiv hier mit einem Wort von Adorno zusammen-
zufassen, das er selbst nicht verwendet hat: die »Entkunstung der Kunst«. Und ich
plädiere nun dafür, »Entkunstung« der Kunst und die ästhetisierende Aufwertung
von Designobjekten als komplementäre Erscheinungen zu deuten.
Adorno spricht deshalb vom »Rätselcharakter« der Kunst: Er betont, dass
Kunstwerke sich der Kommunikation entziehen, ja, dass sie es tun müssen, um
authentisch zu sein, womit er meint, dass ihr Ausdruck und ihre Form nicht durch
soziokulturelle Wahrnehmung- und Darstellungsgewohnheiten gegängelt sind.
Aber dennoch stimmt es, wenn Bertram (2007: 37) konstatiert, dass Adorno Kunst
gleichwohl »in dem Sinne als kommunikativ« versteht, »dass sie durch Entzug in
das weltliche Verständnisgeschehen eingreift.«
Im Kunstsektor verlangt die inszenierte Rätselhaftigkeit der Dinge nach Refle-
xion über den Sinn, den Sinnverzicht und Deutungsverweigerung haben könnten.
Im Designbereich lädt die inszenierte Mehrfachkodierung des Zweckmäßigen zur
Deutung seines Sinngehalts ein.

Literatur

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Jahrbuch für Kulturwissenschaften und ästhetische Praxis 2007, hrsg. von S. Porombka
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Bertram, Georg W. (2011): Kunst. Eine philosophische Einführung, Stuttgart: Reclam.
Böhme, Gernot (1995): Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik, Frankfurt/M.: Suhrkamp.
Böhme, Gernot (1999): Kants Kritik der Urteilskraft in neuer Sicht, Frankfurt/M.: Suhrkamp.
Böhme, Gernot (2016): Ästhetischer Kapitalismus, Frankfurt/M.: Suhrkamp.
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Dimensionen ästhetischer Erfahrung, hrsg. v. J. Küpper u. C. Menke, Frankfurt/M.:
Suhrkamp, S. 36–48.
Dorschel, Andreas (2003): Gestaltung. Zur Ästhetik des Brauchbaren, Heidelberg: Winter,
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Ästhetische Erfahrung, Design und Kommunikation 85

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in: »Kulturindustrie«: Theoretische und empirische Annäherungen an einen populären
Begriff, hrsg. v. G. Schweppenhäuser u. M. Niederauer, Wiesbaden: Springer VS, S. 201–219.
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hg. v. A. Pieper, Leipzig: Reclam, S. 35–51.
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hrsg. v. G. Colli u. M. Montinari, Bd. 5, München: dtv, 1980.
Rantis, Konstantinos (2017): »Adornos Theorie der Kulturindustrie. Eine kritische Be-
wertung in Zeiten kapitalistischer Globalisierung«, in: »Kulturindustrie«: Theoretische
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Schweppenhäuser, Wiesbaden: Springer VS, S. 87–104.
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Welsch, Wolfgang: Ästhetisches Denken, Stuttgart: Reclam 1993.
Wiesing, Lambert (2008): Die Sichtbarkeit des Bildes. Geschichte und Perspektiven der for-
malen Ästhetik, Frankfurt/M., New York: Campus, 2. Aufl.
Photographie und ästhetische Reflexion*1
Photographie und ästhetische Reflexion
Photographie und ästhetische Reflexion

Die antike Philosophie kannte den neuzeitlichen Begriff der Ästhetik noch nicht.
Aisthesis hieß Wahrnehmung, auch Empfindung und Gefühl. In der Neuzeit war
Ästhetik zunächst die Lehre von den Erkenntnissen, die wir auf Grundlage der
sinnlichen Wahrnehmung haben. Man fragte: Wie erkennen wir etwas, ohne
Begriffe, Urteile und Schlüsse zu verwenden – also nur durch die Sinnesdaten? Im
19. Jahrhundert waren die Naturwissenschaften für die Frage zuständig, wie die
Sinneswahrnehmung funktioniert: Physik und Biologie, später auch Psychologie,
die Naturwissenschaft vom Menschen. Nun verstand man unter Ästhetik Kunst-
philosophie; man fragte, wie wir schöne ›Objekte‹ wahrnehmen, genauer gesagt:
›geistig wahrnehmen‹, also erleben und deuten.
Heute verstehen die meisten Philosophen unter Ästhetik Reflexionen, die sich auf
Kunst beziehen, aber auch die Weisen, wie wir uns in ästhetischer Einstellung die
Wirklichkeit erschließen (Welsch 1993: 150). In ästhetischer Erfahrung verbinden
sich affektive und kognitive Elemente. Warum ›brauchen‹ Menschen so etwas? Eine
Antwort lautet: Weil das der privilegierte Ort ist, an dem unser Fühlen präsent
wird. Oder, mit anderen Worten: Der Ort, an dem unsere Bedürfnisse artikuliert,
vergegenwärtigt und innovativ verändert werden. Das »Grundmotiv ästhetischer
Wertschätzung« ist das Bedürfnis »nach unverkürztem kommunikativen Ausdruck
von Menschen« (Koppe 2004: 145 f.). Wenn Bedürfnisse in der ästhetischen Darstel-
lung als erfüllte Bedürfnisse vergegenwärtigt werden, verwendet man das Prädikat
schön, werden sie im Modus ihrer Frustration vergegenwärtigt, Prädikate wie hässlich,
schrecklich, grässlich oder auch erhaben – je nach dem Grad der Frustration und der
Hoffnung, die dem Subjekt bleibt.

* Vortrag bei den Darmstädter Tagen der Fotografie am 26. April 2014.
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 87
G. Schweppenhäuser, Design, Philosophie und Medien, Würzburger Beiträge zur
Designforschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-22225-3_6
88 Photographie und ästhetische Reflexion

In der Alltagskommunikation werden erfüllte und unerfüllte Bedürfnisse meist


durch verbale Stereotypen repräsentiert. Die Alltagssprache denotiert, Konnotati-
onen spielen eine sekundäre Rolle. Wenn sich der Erfahrungshorizont durch die
›Sprachen der Kunst‹ erweitert, wird die standardisierte Wahrnehmung durch ein
Primat der ästhetischen Form irritiert, das die Konnotationen aufwertet. Ich sage
beispielsweise zu einer Kollegin: »Warst du schon mal in Italien?«, aber Goethes
Mignon fragt: »Kennst Du das Land, wo die Zitronen blühen?« In den ›Sprachen
der Kunst‹ wird die Kontingenz der Zeichen überschritten. Ästhetische Zeichen
sind nicht willkürlich und konventionell. Sie suchen nach nicht austauschbaren,
›nichtidentischen‹ Ausdrucksgestalten für das, was sie bezeichnen.
Die ›bedürfnisartikulierenden‹ Sprachen der Künste kommen jenseits der Sche-
matisierungen der Lebenswelt, ihrer Alltagssprache und der am Nutzen orientierten
Gestaltung ins Spiel. Kunst und andere Spielarten ästhetischer Gestaltung artiku-
lieren unsere Bedürfnisse differenzierter und intensiver. Sie formen sie neu. Ihre
Möglichkeiten und der Raum ihrer Befriedigungen werden klarer erkennbar, ebenso
auch der Mangel und das Fehlen.
Ich fasse zusammen: Ästhetik ist die begriffliche Klärung der Grundlagen der
ästhetischen Erfahrung. Ästhetische Erfahrung machen wir mit Kunstwerken, in
der Natur und im Alltag. Sie ist durch Medien vermittelt, die heute nicht mehr als
Teil eines privilegierten Kunst-Bereichs oder eines Kunstrituals aufgefasst werden.
Heute erwartet man von ästhetischer Erfahrung nicht mehr unbedingt, dass sie ›schön
ist‹. Das entspricht der Entwicklung der philosophischen Ästhetik. Sie untersucht
seit dem 19. Jahrhundert nicht nur das Konzept der ›Schönheit‹, sondern auch die
Konzepte des ›Erhabenen‹, des ›Komischen‹ oder ›Lächerlichen‹, des ›Hässlichen‹
oder des ›Schrecklichen‹ und ›Grässlichen‹.
In Kunstausstellungen, bei Punkrock-Konzerten oder Raves mit Techno-Geräu-
schen kann man ästhetische Erfahrungen machen, die nichts mehr mit visueller
und musikalischer Schönheit zu tun haben. Wenn ich ein Video von Bill Viola
betrachte, kommt es darauf an, dass ich ein Problem oder ein Statement erfasse und
affektiv beteiligt bin. Beim Punk geht es um Ausdruck und Haltung, beim Techno
um Körpererfahrung in Bewegung. Das ist dann so ähnlich wie beim Sport und
der hat natürlich auch eine ästhetische Dimension.
Ästhetik ist also tatsächlich eine »Lehre von den Qualitäten unseres Fühlens«
geworden, wie Freud vorgeschlagen hatte. Ich werde fünf Modelle der ästhetischen
Einstellung vorstellen: Kontemplation, Korrespondenz, Imagination, Differenz und
Kritik.1

1 Drei von ihnen – Kontemplation, Korrespondenz und Imagination – gehen auf die
Naturästhetik zurück (siehe Seel 1991 a), doch auch sie lassen sich ohne Weiteres auf
Photographie und ästhetische Reflexion 89

(1) Kontemplation ist Betrachtung, die von Handlungen, Intentionen, Interessen,


Nutzen und Interpretationen absieht. Die Erscheinung einer Landschaft beispiels-
weise wird in ihrer Anwesenheit als Erscheinung wahrgenommen (Seel 1991 a: 39).
(2) Im Korrespondenz-Modell hat die ästhetische Erfahrung handlungsrelevante
Lebensbezüge. Dann empfindet man z. B. die Landschaft als Lebensraum, der das
eigene Erleben intensiviert oder herabdrückt. Dann ist die Landschaft nicht Objekt
der reinen Anschauung, das losgelöst von Interessen und Bedürfnissen betrachtet
wird. Man ist darin involviert. Die Dinge und Lebewesen sind verbunden mit Tä-
tigkeiten, Plänen, Hoffnungen und Ängsten. Sie haben Bedeutung: Der Wanderweg
führt zu einer Stelle, an der man einmal ein wichtiges Gespräch geführt hat. Man
macht einen Spaziergang, um sich in Ruhe eine Strategie für das Gespräch mit dem
Chef über die Gehaltserhöhung zu überlegen. Die Wetterlage ist beunruhigend, weil
sich ein Unwetter zusammenzieht. Die Gegend »korrespondiert« mit den eigenen
»Lebensinteressen« (Seel 1991 a: 90). Die Objekte, mit denen man ästhetische Er-
fahrungen macht, antworten gleichsam auf die Impulse, mit denen man sie besetzt.
Die Richtung der Ästhetik, in der man die Wirkungen untersucht, die Dinge,
Orte oder andere Menschen auf wahrnehmende Subjekte haben, ist die Phänome-
nologie – von Husserl, Heidegger und Merleau-Ponty bis hin zu Hermann Schmitz
und Gernot Böhme. Dort kann man lernen, dass die Empfindungen des Subjekts
nicht bloß Projektionen sind. Ich spüre etwas, weil von dem, was ich wahrnehme,
etwas ausgeht, das meine Empfindung bewirkt. Es geht um einen Zwischenbereich,
der Subjekt und Objekt umschließt; er wird mit dem Begriff der »Atmosphäre«
gekennzeichnet. Gefragt wird nach der »Beziehung von Umgebungsqualitäten und
menschlichem Befinden« (Böhme 1995: 22 f.). – Ein Landschaftsbild kann man zum
Beispiel im Kinderzimmer aufhängen, um eine Atmosphäre aufzubauen, in der das
Kind für die Dinge des Lebens zuversichtlich gestimmt wird.
(3) Im Imaginations-Modell der ästhetischen Einstellung nimmt man Gegenstände
der Anschauung als gestaltete Objekte wahr. Das Bild einer Landschaft wird dann
nicht als Landschaft gesehen, sondern als Bild. Diese Einstellung ist reflexiv, sie wendet
sich zurück auf den Wahrnehmungsakt und seine besonderen Bedingungen. Man
sagt z. B.: »Diese Landschaft sieht aus wie von Cézanne gemalt«, oder: »Heute sieht
die Stadt aus wie von Cartier-Bresson fotografiert«. Die Zeichen und die Form, die
eine ästhetische Erfahrung bewirken, treten ins Bewusstsein. Die Dinge sprechen
die Sprache der Kunst (Seel 1991 a: 136). Sie teilen sich mit, indem sie ihre eigene
Wirklichkeit erschaffen. Das Landschaftsbild wird auf seine Machart hin betrachtet
und mit anderen großen Vertretern dieses Genres verglichen.

alle anderen Bereiche der Ästhetik übertragen. Zu den Modellen Kritik und Differenz
siehe Schweppenhäuser 2007: 27–33.
90 Photographie und ästhetische Reflexion

Die Richtung der Ästhetik, die diesen Bereich am besten erschlossen hat, ist die
Semiotik. Semiotische Ästhetik unterscheidet den Zeichencharakter der ästheti-
schen Mitteilung von anderen Mitteilungsarten. In der ästhetischen Funktion ist
das Zeichen nicht dem Gegenstand untergeordnet, für das es steht. Die Form ist
selbstreferenziell und das Material der Mitteilung kann als solches wahrgenommen
werden. Roman Jakobson hat das die »poetische Funktion« des Zeichens genannt
(siehe Friedrich 1999: 87 ff.). Hier geht es nicht um das ›Was‹, sondern um das ›Wie‹.
Sprache wird ›Lautmaterial‹: Ton, Klang und Sprachform. Bilder werden ›Bildmaterial‹:
Farbe und Bildform. Der Eigenwert des Mediums tritt ins Bewusstsein, die Zeichen
werden gleichsam ›spürbar‹. Aus dieser Perspektive sind Kunstwerke »Zeichen«,
»deren Bedeutung es ist, zu zeigen, wie sie zeigen, was sie zeigen« (Seel 1991 b: 61).
(4) Das Differenz-Modell beschreibt ästhetische Prozesse als Annäherungen an das
›Andere‹ und ›Unverfügbare‹, das sich der Repräsentation entzieht und nur in ästhe-
tischen Chiffren erfahrbar wird. In diesem Modell ist Ästhetik wieder in erster Linie
Kunsttheorie. In der Systemtheorie wird mit der Kategorie der Differenz operiert,
um zu beschreiben, was Kunst leistet. Die fiktionale und bildliche Wirklichkeit der
Kunst unterscheidet sich von der realen. Kunst ist ›Realitätsverdoppelung‹, meinte
Luhmann. Sie schafft eine zweite Realität, die zwar fiktional ist, aber Strukturähn-
lichkeit mit der nichtfiktionalen Realität hat. Ihre Operationen folgen einer eigenen
Sinnrationalität. Der Sinn von Kunst ist es, eine Differenz zwischen Kunstsystem
und allem Übrigen zu schaffen, und zwar mit ästhetischen Mitteln, also Farben,
Noten, Worten usw. Luhmann hat betont, dass die neue Realität, die »imaginäre
Welt der Kunst« »eine Position« ermöglicht, »von der aus etwas anderes als Realität
bestimmt werden kann. Ohne solche Differenzmarkierungen wäre die Welt einfach
das, was sie ist, und so, wie sie ist.« (Luhmann 1995: 229)
(5) Wer schließlich mit dem Kritik-Modell in der Ästhetik arbeitet, knüpft an ihr
kognitives und ihr pragmatisches Potenzial an. In der Philosophie heißt ›etwas
kritisieren‹, seine spezifische Leistung und Funktionsweise zu bestimmen. Neh-
men wir beispielsweise eine medienphilosophische ›Kritik des Fernsehens‹. Das ist
keine Auseinandersetzung mit mangelhafter Programmqualität oder mit Folgen
des Fernsehkonsums, die nicht wünschenswert sind. Nein, es handelt sich um die
Bestimmung der besonderen Leistung, also der Funktions- und Wirkungsweise
dieses Mediums, durch die es sich von anderen Medien, zum Beispiel dem Radio,
unterscheidet: Was kann man nur im Medium Fernsehen realisieren, was nicht
oder nicht so gut usw. Im Kritik-Modell wird jene Dimension des Ästhetischen
akzentuiert, die die Wirklichkeit nicht verdoppelt, sondern verändert: Was sind
die gesellschaftlichen Bedingungen der Möglichkeit ästhetischer Erfahrung? Welche
Hinweise gibt eine ästhetische Ordnung, um eine andere gesellschaftliche Ordnung
zu antizipieren? Wie wird ästhetische Erfahrung verhindert oder manipuliert? –
Photographie und ästhetische Reflexion 91

Auch hier geht es um die besondere Beschaffenheit ästhetischer Erfahrung, die sie
von anderen Formen der Erfahrung unterscheidet. Ästhetische Erfahrung stiftet
Erkenntnis und ermöglicht Handlungen, weil sie kognitive, affektive, sensorische
und imaginäre Prozesse im Menschen verbindet – und zwar als freie Verbindung,
ohne Hierarchie, die Sinne und Phantasie dem Verstand unterwirft.

Und nun zur Ästhetik der Fotografie: Ich möchte zeigen, wie die Varianten der
ästhetischen Einstellung im Alltag unserer Bilderwelt in einem konkreten Fall ausse-
hen. Meine Beispiele nehme ich nicht aus der inszenierten, auf ästhetische Wirkung
zielenden Fotografie. Denn gerade an Beispielen, die man nicht der ›schönen Kunst‹
zuordnen würde, lässt sich gut zeigen, was die ästhetische Einstellung ausmacht.
Daher habe ich ein Pressefoto ausgewählt, das preisgekrönte Bild »Signal« von John
Stanmeyer aus dem Jahr 2013.2
(1) In der kontemplativen Einstellung widmet man sich der Erscheinung, ohne sie zu
deuten. Man nimmt die Szenerie als reines Phänomen der Anschauung wahr. Hier
sind acht Menschen zu sehen, eine nicht eindeutig zu identifizierende Silhouette,
Meer, Himmel und sechs Leuchtkörper. Der Bildraum erschließt sich über elementare
Parameter der Gestaltwahrnehmung – also Vordergrund und Hintergrund bzw. Figur
und Grund – sowie durch die Staffelung der Personen in zunehmender Entfernung
von der Kameraposition. Die Personen bilden im Ganzen eine Gruppe; einige schei-
nen kleine Untergruppen zu bilden, andere eher für sich zu stehen. Räumlichkeit
und Atmosphäre des Bildes kommen natürlich auch durch die reduzierte Farbigkeit
zustande: Blautöne, Schwarz und Weiß. Fünf Leuchtkörper sind direkt zu sehen,
einer indirekt, weil er das Gesicht einer Person erhellt. Einer der Leuchtkörper ist ein
Himmelskörper, bei den anderen handelt es sich um technische Artefakte. Auffällig
ist die ungewöhnliche Position, die gerichtete Haltung über Kopfhöhe. – Die Personen
stehen wie Statuen. Ihre gestaffelte Anordnung verleiht dem Bild die Spannung einer
eingefrorenen rhythmischen Bewegung. Zwanglos ließe sich die Bildkomposition
als Dreiecksform beschreiben; die Schenkel des Dreiecks werden vom Saum des
Lichtscheins gebildet. Die helle Scheibe des Mondes mit einigen konzentrischen
Kreisen wirkt wie der Mittelpunkt einer spiraligen Anziehung, zu der die Personen
hinzustreben scheinen ... Das sind nur einige von vielen möglichen Konnotationen
des Bildes, die sich auf der kontemplativen Einstellungsebene erschließen.

2 »African migrants on the shore of Djibouti City at night raise their phones in an attempt
to catch an inexpensive signal from neighboring Somalia – a tenuous link to relatives
abroad. Djibouti is a common stop-off point for migrants in transit from such coun-
tries as Somalia, Ethiopia and Eritrea, seeking a better life in Europe and the Middle
East.« (https://www.worldpressphoto.org/collection/photo/2014/contemporary-issues/
john-stanmeyer [letzter Abruf: 13.8.2018]).
92 Photographie und ästhetische Reflexion

(2) Wenn die ästhetische Einstellung die der Korrespondenz ist, gibt es handlungsre-
levante Lebensbezüge – obwohl das Bildgeschehen so eigentümlich und fremdartig
erscheint. Aufgrund meiner Lebenserfahrung weiß ich, dass die Personen Mobil-
telefone in der Hand halten. Ich weiß ferner, dass das Foto nachts aufgenommen
wurde – und nicht, wie es früher beim Film hieß, in der »amerikanischen Nacht«,
also bei Tage mit entsprechenden Kamerafiltern. (Wäre der Himmelskörper die
Sonne, sähe die Reflexion der Strahlen auf der Wasseroberfläche anders aus.) Wenn
ich die exponierte Figur in der Bildmitte betrachte, sagt mir das Allgemeinwissen,
dass es sich vermutlich um einen Menschen handelt, der afrikanische Wurzeln hat.
Ich verarbeite die Darstellung eines Vorgangs in der realen Welt als Erfahrung, die
bei der Orientierung hilft. Ich versetze mich in die Lage der Menschen. Wenn ich
die vitale Daseinserfahrung habe, dass der Empfang beim Mobiltelefon Probleme
bereiten kann, verstehe ich, dass sie die Geräte nicht nach oben halten, um selfies
zu schießen. Und ich weiß aus der textlichen Rahmung des Bildes, dass es sich um
Flüchtlinge handelt, die Kontakt zu ihren Angehörigen suchen; vielleicht auch zu
den Helfern, ohne die sie verloren wären. Ich kann mir vorstellen, dass die hoch
ästhetische, vielleicht sogar romantische Atmosphäre des Bildes von den Abgebildeten
ganz anders erlebt wird, nämlich als angstvolle Spannung, vermischt mit schwacher
Hoffnung auf ein besseres Morgen.
(3) Im Imaginations-Modell der ästhetischen Einstellung werden Objekte der
Anschauung als Kunstobjekte wahrgenommen. Das Bild von acht Personen mit
Telefonen bei Mondschein am Meer ist dann nicht in erster Linie Sachinformation,
sondern Bild. Die Dreieckskomposition verweist auf die Tradition der christlichen
Ikonografie. Das Wasser wird zum Verweis auf die Tradition der Marinemalerei.
Die Farbigkeit erlaubt Bezüge zur Malerei der frühen und späten Moderne, von
der Romantik über die monochrome Malerei bis hin zur Land Art. (Bekannte Bei-
spiele wären das Bild »Seestück bei Mondschein auf dem Meer« von Caspar David
Friedrich aus den Jahren 1827/28 im Museum der Bildenden Künste, Leipzig, und
Robert Smithsons »Spiral Jetty« von 1970.) Die Anordnung der Personen evoziert
Erinnerungen an Kult- und Ritualformen. – Diese Einstellung ist reflexiv; sie wendet
sich zurück auf die besonderen Bedingungen der Wahrnehmung, in diesem Fall
sind es kulturell überlieferte.
(4) Gleichwohl ist klar, dass es sich bei diesem Bild nicht um Kunst handelt, die
durch Realitätsverdoppelung eine zweite, fiktionale Realität erzeugt. Hier geht es
nicht um die Produktion der Differenz zwischen dem System, innerhalb dessen das
Bild operiert, und allem Übrigen. Im Gegenteil: Ein Pressefoto ist, der Intention
nach, ja ein Dokument.
Der ›Klassiker‹ der semiotischen Analyse der Strukturen von Medienbildern ist ein
Text von Roland Barthes (1961): »Die Fotografie als Botschaft«. Auch wenn es dort um
Photographie und ästhetische Reflexion 93

Pressefotos aus einer vergangenen Ära geht, die durch das digitale Bild abgelöst wurde,
ist es lohnenswert, sich noch einmal mit Barthes (1961: 12) »strukturale[r] Analyse
der fotografischen Botschaft« zu beschäftigen. Ihm zufolge erscheint Fotografie wie
eine »Botschaft ohne code« (ebd.: 15), die lediglich denotiert; daher schreibt man ihr
»besondere Glaubwürdigkeit« (ebd.: 17) zu. Tatsächlich funktionieren Fotografien
aber gerade deshalb, weil sie »eine denotiert-konnotierte Doppelstruktur« (ebd.: 18)
besitzen. Jedes Foto denotiert manifeste, offizielle Bedeutungen und konnotiert latente
Bedeutungen. Die Letzteren folgen kulturellen Kodierungen, sie sind also nicht einfach
den individuellen Assoziationen überlassen. So entstehen visuelle »Mythologien«.
»[A]lles vollzieht sich, als ob das Bild auf natürliche Weise den Begriff hervorriefe,
als ob das Bedeutende das Bedeutete stiftete«, schrieb Barthes (1957: 113). Er wollte
die »Naturalisierung des Kulturellen« (Barthes 1961: 21) entmythologisieren, indem
er zeigte, dass Bedeutungen immer von Menschen gemacht und daher veränderbar
sind. Im Falle von Bildern hieß das, ihre textartige Struktur zu entziffern.
Die Denotationen der ikonischen Botschaft sind die Personen, Dinge und visu-
ellen Merkmale des Raumes; also alles, was das Bild zu sehen gibt. Mit den Worten
von Barthes (1961: 12): Die Denotation erfolgt über »die Linien, Oberflächen und
Schattierungen«, und, das müssen wir hinzufügen, über die Farben – also über die
Faktoren, durch die ein Foto visuelle Analogien mit dem fotografierten Signifikat
erzeugt. Die Konnotationen der ikonischen Nachricht hängen hier vor allem am
stummen Ausdruck der Personen und an der Atmosphäre des Bildes. Sie gehen in
die Richtung, die ich zuvor aus der Perspektive des Korrespondenz-Modells und
des Imaginations-Modells beschrieben hatte. Das kulturelle Bildgedächtnis stellt
Konnotationen bereit: Rituale, abenteuerliche Reisen, Licht in der Nacht. Die vitale
Daseinserfahrung und das Alltagswissen bereiten den Boden für andere Konnotati-
onen: Ausgrenzung, Kampf ums Überleben in einer globalisierten kapitalistischen
Ökonomie, Chancen und Grenzen von Kommunikationstechnologien und social
media.
(5) Von hier aus ist es nicht mehr weit bis zum Kritik-Modell der ästhetischen
Einstellung, wo jene Dimension des Ästhetischen betont wird, die darauf ausgeht,
die Wirklichkeit zu verändern. Die gesellschaftlichen Bedingungen der Möglichkeit
ästhetischer Erfahrung sind in diesem Fall die warenförmigen Gesetze der Produk-
tion und Vermarktung, die in den Massenmedien herrschen. Ästhetische Erfahrung
wird hier immer auch manipuliert, um Aufmerksamkeit als Anreiz für Kaufent-
scheidungen zu instrumentalisieren. Oder um sie zur Ressource bei der Herstellung
von Einverständnis mit dem bestehenden Zustand von Welt und Gesellschaft zu
nutzen. In diesem Zusammenhang geht es um die Spannung zwischen Vermarktung
und Aufforderung zum Eingreifen, die viele Pressefotos prägt. Ein Dokument des
sozialen Geschehens kann ästhetisch verklären, aber auch Erkenntnis stiften und
94 Photographie und ästhetische Reflexion

zum Handeln motivieren, indem es einen moralischen Impuls auslöst – indem es


zu sagen scheint: Das muss aufhören!
Um den Bilderfetisch einer Bildkritik zu unterziehen, die phänomenologische,
semiotische und ideologiekritische Aspekte verbindet, muss das kontemplative
Modell der ästhetischen Einstellung überschritten werden und die Modelle der
Korrespondenz und der Kritik müssen einbezogen werden. Dann kann man die
Bilder erschließen, mit denen die Medienindustrie unser visuelles Unbewusstes
kolonisiert. Und Antworten auf die Frage nach den gesellschaftlichen Bedingungen
der Möglichkeit ästhetischer Erfahrung finden sowie auf die Frage, wie ästhetische
Erfahrung manipuliert wird. Und dann kann man auch all die anderen Bilder
erschließen, mit denen wir aus freien Stücken kommunikative und ästhetische
Erfahrungen machen.

Literatur

Barthes, Roland (1957): Mythen des Alltags, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1998.


Barthes, Roland (1961): »Die Fotografie als Botschaft«, in: ders., Der entgegenkommende und
der stumpfe Sinn. Kritische Essays III, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1990, S. 11–27.
Böhme, Gernot (1995): Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik, Frankfurt/M.: Suhrkamp.
Friedrich, Thomas (1999): Bewußtseinsleistung und Struktur. Aspekte einer phänomenolo-
gisch-strukturalistischen Theorie des Erlebens, Würzburg: Königshausen & Neumann.
Heidegger, Martin (1927): Sein und Zeit, Tübingen: Niemeyer, 1984.
Koppe, Franz (2004): Grundbegriffe der Ästhetik, Paderborn: Mentis.
Luhmann, Niklas (1995): Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt/M.: Suhrkamp.
Schweppenhäuser, Gerhard (2007): Ästhetik. Philosophische Grundlagen und Schlüsselbegriffe,
Frankfurt/M., New York: Campus.
Seel, Martin (1991 a): Eine Ästhetik der Natur, Frankfurt/M.: Suhrkamp.
Seel, Martin (1991 b): »Kunst, Wahrheit, Welterschließung«, in: Perspektiven der Kulturphi-
losophie, hrsg. v. F. Koppe, Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 36–80.
Welsch, Wolfgang (1993): Ästhetisches Denken, Stuttgart: Reclam.
Kommunikationsdesign und visuelle
Dialektik der Aufklärung*2
Kommunikationsdesign und visuelle Dialektik der Aufklärung

Kommunikationsdesign und visuelle Dialektik der Aufklärung

Im Folgenden werden philosophische Aspekte des Kommunikationsdesigns aus


der Perspektive der semiotischen Kulturtheorie und der kritischen Theorie skiz-
ziert. Ich werde argumentieren, dass diese Aspekte als Dialektik visueller Auf-
klärung beschrieben werden können: Im Kommunikationsdesign manifestiert
sich gleichzeitig der normative Gedanke eines vernünftigen Allgemeinen (die
autonom gestaltete Lebenswirklichkeit in privater und öffentlicher Sphäre) und
das Verwertungsinteresse unter herrschaftlichen Konditionen (die Befreiung des
Besonderen als Antizipation eines konkret Allgemeinen, deren partikulare Form
dessen Realisierung jedoch blockiert). Vor diesem Hintergrund werde ich mich
mit Otto Neuraths Ansatz und der aktuellen Debatte über Ziele und Methoden
der Designwissenschaft auseinandersetzen. In der heutigen Designforschung wird
Neurath nicht gerecht, wer verkennt, dass er die Verbindung von Wissenschaft
und Kommunikationsdesign als Teil einer gesellschaftlichen Revolutionierung
der Produktions- und Distributionsverhältnisse entworfen hat, die nach einem
vernünftigen Plan verlaufen sollte. Andererseits hat Neurath selbst sein eigenes Ziel
insofern verfehlt, als er mit seinem Verständnis von Wissenschaft die innere Form
der Information, also ihre Warenform, nicht begreifbar machen kann.13

* Vortrag auf der Tagung Was war Design? des Instituts für Geschichte und Theorie der
Gestaltung an der Universität der Künste in Berlin am 9. Dezember 2017 und im »De-
signlabor« des Master-Studiengangs Informationsdesign der Fakultät Gestaltung der
Hochschule für angewandte Wissenschaften in Würzburg am 17. Januar 2017.
1 Für die konzise Zusammenfassung des Neurath-Aspekts in den letzten beiden Sätzen
danke ich Thomas Friedrich.
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 95
G. Schweppenhäuser, Design, Philosophie und Medien, Würzburger Beiträge zur
Designforschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-22225-3_7
96 Kommunikationsdesign und visuelle Dialektik der Aufklärung

Design als kulturelle Semiotisierung der Wirklichkeit

Die Wahrnehmung von Formen gehört akzidentell stets zum Modus des Gebrauchs
von gestalteten Objekten, aber mitunter ist sie selbst substanzielle Gebrauchsweise.
Letzteres gilt für den Bereich des Designs, der »Kommunikationsdesign« genannt
wird (und in dem es nicht nur um die Wahrnehmung von Objekten, sondern
auch um die von Prozessen geht). Kommunikationsdesign entstand bekanntlich
im Zeitalter industrieller Massenproduktion als Produktwerbung. In den Gesell-
schaften der fordistischen Periode (tendenzielle Vollbeschäftigung, Massenkonsum
und kulturindustriell organisierte Freizeitgestaltung) kam es zur Blüte und half
bei der »Programmierung des Publikums« und der »Kolonisierung des visuellen
Unbewussten« (Fredric Jameson). Zugleich war Kommunikationsdesign aber nicht
nur visuelles Marketing und Propaganda. Die Gestaltung visueller Kommunikation
ist stets auch visuelle Aufklärung gewesen. Das zeigen semiotische Kulturtheori-
en, wenn sie auf den historischen und soziokulturellen Charakter von Semiosen
reflektieren, um den naturalistischen oder (im Sinne von Roland Barthes) den
»mythologischen« Schein zu destruieren, dass es eine natürliche oder metaphysische
Motiviertheit der Zeichen gibt.
Allgemein kann die soziale Praxis der Kultur als ein kollektiver Prozess der
Semiotisierung von Segmenten der Wirklichkeit (Posner 1992: 37) beschrieben
werden. Kommunikationsdesign ist für den öffentlichen Prozess der Semiotisierung
unerlässlich (und das gilt auch für die Epoche, als das Design noch keine arbeitsteilig
ausgeübte Tätigkeit mit definiertem Berufsbild war). Lebensumgebungen werden
durch Arbeit und Interaktion verändert und – partiell, regional, aber kontinu-
ierlich – in kommunizierbare Zeichenzusammenhänge transformiert. In diesem
Sinne hat Ernst Cassirer Kultur als Produktion von Bedeutungsgeflechten mittels
Zeichengebrauch bezeichnet. Husserl und Heidegger bezeichneten Kultur als »das
Thema des interaktiv deutenden und handelnden Menschen« (Orth 1997: 54). »Die
Wirklichkeit, wenn sie denn erscheint, erscheint dem Menschen als ›seine‹, ihm
nähere oder fernere ›Welt‹. Der Inbegriff der Phänomene gerät damit zum Begriff
der Kultur.« (Ebd.)
Kultur ist die Wirklichkeit, die sich Menschen durch Deutung aneignen. Die
Bedeutungsgeflechte, deren Zusammenhang »Kultur« genannt wird, entstehen durch
Semiotisierung der Wirklichkeit mittels wandlungsfähiger Kodierungen. Daher sind
Kommunikationsdesignerinnen und Kommunikationsdesigner »Kulturschaffen-
de«. Aber nicht alle Kulturschaffenden sind Kommunikationsdesignerinnen und
Kommunikationsdesigner. Was ist deren spezifische Tätigkeit? Was unterscheidet
sie von allen anderen, die ebenfalls Kultur produzieren, indem sie Segmente der
Kommunikationsdesign und visuelle Dialektik der Aufklärung 97

Wirklichkeit semiotisieren, z. B. durch Übersetzung körperlicher Phänomene in


medizinische Kodes oder alltagspraktischer Konflikte in juristische Kodes?
Um mit semiotischen Termini zu erläutern, was Kodierung ist, muss man die
Frage beantworten, was kulturelle Texte sind. Folgt man Roland Posner, dann
kann die semiotische Kulturtheorie grundsätzlich »jede lineare Folge kodierter
Zeichen« (Posner 1992: 24) als Text beschreiben: beispielsweise Verkehrsschilder,
eine gotische Kathedrale oder alltägliche Werkzeuge. Eine Sequenz von Hinweisen
an einer Schnellstraße wird zum Text, weil man die einzelnen Zeichen in rascher
Folge liest und als handlungsleitenden Zeichenzusammenhang erschließt. Eine
gotische Kathedrale bietet sich den Benutzern ebenfalls als »Text« dar, weil Bauplan
und Ausführung ein geordneter Zusammenhang von Bezeichnungen sind, die für
markante Bestandteile der christlichen Heilsgeschichte stehen. Für diese Beispiele
ist die linear-sequenzielle Lektüre wesentlich; aber auch wenn die nicht vonnöten
ist, zum Beispiel bei Werkzeugen, kann im semiotischen Sinn von einem Text die
Rede sein, weil »ihre Form in ihrer Kultur als Signifikant für ihre Funktion wahr-
genommen wird« (ebd.: 31).
Der Beitrag von Kommunikationsdesignerinnen und -designern zur Produktion
kultureller Sinnzusammenhänge mittels Zeichen besteht erstens darin, dass sie
dies professionell tun. Sie tun es zweitens, indem sie Zeichen in geformte Text- und
Bildgestalten verwandeln. Drittens tun sie dies für einen öffentlichen Raum. Dort
gestalten sie strategische und verständigungsorientierte Botschaften. Sie helfen
einerseits dabei, Menschen durch werbliche Botschaften und Propaganda zu ins-
trumentalisieren. Andererseits tragen sie durch Strukturierung und Vermittlung
von Informationen zur Erweiterung der Selbstbestimmung kommunizierender
Menschen bei.
Kommunikationsdesign übersetzt nicht kodierte Wirklichkeitssegmente in Kodes
(im Sinne der Erschließung durch primäre Kodierung), es vertextet die Objektwelt.
Über diese primäre Kodierung hinaus werden Texte aus bestehenden Kodes in
andere Kodes übersetzt; und zwar mit Hilfe von Transformationsregeln (im Sinne
von Charles William Morris), die sicherstellen, dass der unterschiedliche Zeichen-
gebrauch adäquat übertragen wird, damit die Verwender kommunizieren können.
Walter Benjamin hat gefragt, was die »Aufgabe des Übersetzers« ist. Er meinte:
Übersetzer zeigen, dass es eine vernünftige Idee ist anzunehmen, dass es eine uni-
versale Sprache aller Menschen gibt. Man kann die Idee der gemeinsamen Sprache
mythologisch oder theologisch als »Ursprache« verstehen – missverstehen, würde
ich dann sagen. Man kann sie aber auch als »regulative Idee« im Sinne von Imma-
nuel Kant verstehen. Damit ist ein normatives Verfahrensziel gemeint: Wenn man
das Ziel allgemeiner Verständigung erreichen will, muss man die Regel befolgen,
stets so vorzugehen, als könnten grundsätzlich alle Sprachen ineinander übersetzt
98 Kommunikationsdesign und visuelle Dialektik der Aufklärung

werden. Darin besteht die prozedurale Verfahrensrationalität der regulativen Idee.


Der Möglichkeit nach ist Kommunikationsdesign die visuelle Seite dieses Projekts.2
Kommunikationsdesign hilft bei der Herstellung soziokultureller Autonomie:
Es ist der regulativen Idee, dem Fernziel der Verständigung einer kommunikativ
handelnden Menschheit verpflichtet. Kommunikationsdesign schafft intersubjektive
Verständigung auf Grundlage eines Objektbezugs; es bezieht sich auf eine Lebens-
umgebung, die durch Arbeit und Interaktion gestaltet wird. Also bewegt es sich
in der Sphäre des öffentlichen Vernunftgebrauchs und des öffentlichen Handelns.
Darin hatte Kant das Merkmal gesellschaftlicher Aufklärung gesehen. Aus der
Forderung nach sozialer Freiheit zur öffentlichen Erörterung wissenschaftlicher,
gesellschaftlicher sowie kultureller und religiöser Themen hat Kant die Forderung
nach politischer Freiheit abgeleitet. Zusammenleben in vernünftig begründeter
Gleichheit und Freiheit: das war die Sozialutopie der Aufklärung. Ihr Programm ist
der Ausgang aus einer Unmündigkeit, die durch Herrschaft erzwungen, aber auch
selbstverschuldet ist, in herrschaftsfreie Kommunikations- und Interaktionsver-
hältnisse. Das verbale und visuelle Design, das solche Verhältnisse, in Verbindung
mit Wissenschaft, Technik und Politik, anbahnt, gehört zur Praxis der Aufklärung.

Aufklärung, Naturbeherrschung und Infografik

Max Weber hat darauf hingewiesen, dass Aufklärung fortschreitende Naturbe-


herrschung voraussetzt. Mit dem Begriff der Rationalisierung meinte Weber (1919:
594) das credo der Aufklärung, dass „es […] prinzipiell keine geheimnisvollen
unberechenbaren Mächte gebe, […] daß man vielmehr alle Dinge – im Prinzip
– durch Berechnen beherrschen könne.« Die Verfahrensrationalität moderner
Wissenschaft beruht auf Quantifizierung, Messung, Operationalisierung und
statistischer Erfassung.
Als Infografik (ein Genre des Kommunikationsdesigns, das es seit dem 19. Jahr-
hundert gibt) ist das in den letzten Jahren populär geworden. Statistisches Wissen
wird visuell so aufbereitet, dass die Gesetze der Gestaltwahrnehmung greifen. Eine
Vielfalt von Einzelinformationen wird reduziert und als Muster dargestellt. Aus

2 Bedeutungsdifferenzen, die sich beim verbalen und visuellen Übersetzen nicht transpo-
nieren lassen (zumal auf der konnotativen Ebene), sind nicht notwendigerweise Verluste.
Sie können zum Differenzierungsgewinn beitragen: Wenn ihre Unübersetzbarkeit ins
Bewusstsein tritt, kann man sie verbal oder visuell umschreiben und begreifen. Voka-
bular und Syntax erweitern sich permanent.
Kommunikationsdesign und visuelle Dialektik der Aufklärung 99

chaotischer Mannigfaltigkeit wird ein einheitliches Ganzes. So wird ein Muster


der Wirklichkeit in ein Sinn-Bild übersetzt, das zwischen Sinnlichkeit und Sinn
oszilliert, zwischen konkreter Anschaulichkeit und begrifflicher Abstraktion.3
Infografiken wollen nicht nur Tatsachen aufzählen. Sie zielen auf synchrones
Erfassen komplexer Wirkungszusammenhänge. In der Rezeption eines Textes würde
dies diachron und Schritt für Schritt erfolgen; Infografiken bieten eine bildartig-syn-
chrone Einsicht in die Zusammenhänge an. Worte und Zahlen gehören aber stets
auch dazu. Das stellt die Infografiken in die Tradition der Allegorie, einer barocken
Text-Bild-Form: Gedanklich-abstrakter Gehalt wird in eine sinnlich-anschauliche
Gestalt übersetzt;4 erläuternde Worte werden hinzugefügt, die oft zugleich alles
wieder verrätseln. Die Texte dienen der Erschließung der intendierten Bedeutung
»hinter« der sinnlichen Präsentation.
Aber Infografiken sind keine Allegorien, sondern Metaphern – Metaphern für
Statistiken. Infografik ist visualisiertes wissenschaftliches Wissen. Insofern gehört
sie zum Arsenal rationaler Aufklärung.
Wenn die Rationalität der Aufklärung, wie Weber sagte, darin besteht, »daß
man alle Dinge durch Berechnen beherrschen« kann, dann heißt das aber auch,
dass der herrschaftskritische Impuls der Aufklärung gegenwendig wird, wie Max
Horkheimer und Theodor W. Adorno etwa 20 Jahre nach Weber feststellten.
Herrschaftskritik hatte die Aufklärung im vorrevolutionären Frankreich aus
der Taufe gehoben und zu Beginn der bürgerlichen Epoche vehement bestimmt.
Aber technische Naturbeherrschung durch wissenschaftliche Aufklärung ist die
Grundlage politischer und sozialer Herrschaft. Wird sie zum Maß aller Dinge,
dann wird aus Herrschaftskritik Herrschaftssicherung. Naturbeherrschung, das
höchste und letzte rationale Ziel, wird zur Norm sozialen Handelns. Vermessung
und statistische Erfassung für die Berechnung von Wahrscheinlichkeiten erscheinen
als ultima ratio. Emanzipation der Menschen durch Naturbeherrschung verlängert
die Herrschaft von Menschen über Menschen.

3 Man kann es auch, im Sinne von Hegel, umgekehrt formulieren. Hegel vertrat die An-
sicht, dass die philosophische Rekonstruktion der Wirklichkeit im Begriff eigentlich
den Namen Konkretion verdient, weil sie eine Vielzahl von Einzeltatsachen und Einzel-
beobachtungen zusammenzieht, also kon-grediert, während der gerade, unmittelbare
Blick auf die bunte Vielfalt der Wirklichkeit, der an ihrer Oberflächenerscheinung haften
bleibt, von den zugrundeliegenden Strukturen abstrahiert und das Wesen, von dem die
Erscheinungen ein Bild geben, nicht begreift. In diesem Sinne wäre also die sinnliche
Anschauung abstrakt und die denkende Erfahrung einer textlich-begriffliche Struktur
konkret.
4 »Abstrakt« im nicht-hegelschen Sinne.
100 Kommunikationsdesign und visuelle Dialektik der Aufklärung

Für Horkheimer und Adorno ist das die Dialektik der Aufklärung: Die Einsicht,
dass die Ordnung der Welt nicht von Natur aus besteht, sondern von Menschen
gemacht ist, führt nicht in die Freiheit. Frei wäre eine menschliche Gesellschaft,
die das Subjekt ihres geschichtlichen Handelns ist. Doch an die Stelle der (rational
nicht mehr haltbaren) Vorstellung einer natürlichen Ordnung ist nicht das Ziel
getreten, eine vernünftige, bewusst und selbst gemachte Ordnung herzustellen.
Statt gemeinsamer Bemühung um eine vernünftige Sozialordnung aus Freiheit in
solidarischer Praxis regiert ein »subjektlose[s] Allgemeine[s]« (Mensching 1992:
11) – das moderne Produktions- und Konkurrenzverhältnis. Die Frage ist, ob man
ihm mit statistischen Erkenntnismethoden beikommen kann.

Utopie und Ideologie der (Bild-)Statistik

Schauen wir uns an, wie der Vater der kritischen Infografik das Projekt wis-
senschaftsmethodologisch begründet hat. Otto Neuraths »Wiener Methode der
Bildstatistik« stellt soziale Daten und Tendenzen mit vereinfachten, typisierten
Zeichen dar. Neurath wollte »mit seinen Konzepten der visuellen Kommunikation«
Informationen mit einer global kommunizierbaren visuellen Sprache »so schnell
und einfach wie möglich […] vermitteln.« (Hartle 2018: 138) Neurath gehörte
zum Wiener Kreis; im Geiste des logischen Positivismus drang er auf »Entschla-
ckung und Universalisierung durch Vereinheitlichung« (ebd.: 140) der Aussagen.
»Der gewöhnliche Bürger«, schrieb er, »sollte in der Lage sein, uneingeschränkt
Informationen über alle Gegenstände zu erhalten, die ihn interessieren, wie er
geographisches Wissen von Karten und Atlanten erhalten kann« (Neurath, zit.
nach Hartmann und Bauer 2006: 28).
Statistiken eignen sich bestens, um logisch sauber visualisiert zu werden.
Piktogramme sind dafür ideal; sie sind aufs Wesentliche reduziert und von allem
gereinigt, was von der Botschaft ablenken könnte. Aber Statistiken sind gera-
de aufgrund ihrer Transparenz und Eindeutigkeit nicht gegen Ideologie gefeit.
In der kritischen geografischen Forschung ist in den letzten Jahren untersucht
worden, wie Statistiken zu falschem Bewusstsein beitragen können. Als Fazit
wurde festgehalten: »Jede Statistik ist anfällig für Ideologie, weil sie isolierende
Abstraktionen benötigt und notwendigerweise de-kontextualisiert.« (Bothe 2014:
51) Ihre Erscheinungsform kann den Eindruck hervorrufen, dass die Relationen,
die zwischen den präsentierten Sachverhalten hergestellt werden, alternativlos sind
(ebd.: 52). Statistische Fakten erscheinen geschichtslos; auch, wenn sie inhaltlich
das Gegenteil besagen. Wir haben es mit dem Phänomen der Verdinglichung zu
Kommunikationsdesign und visuelle Dialektik der Aufklärung 101

tun. Fakten, »Räume« und »Territorien« werden gezeigt, aber »deren soziale Be-
dingtheit« wird per se nicht sichtbar. »[D]er ideologische Charakter von Statistik
kann […] in der Darstellung und in der Form selbst liegen, wenn deren Charakter
als soziales Produkt unsichtbar wird.« (Ebd.)5
Das ist natürlich auch in der Designtheorie untersucht worden. Thomas Fried-
rich (2015: 11) schreibt in seinem Aufsatz »Kritik der Informationsgrafiken« dazu
Folgendes: »Daten systematisch zu ordnen, um […] aus ihnen […] Informationen,
im besten Fall sogar Wissen zu machen, ist voraussetzungsvoll. Es gibt […] unter-
schiedliche Weisen solcher […] Ordnung – durchgesetzt hat sich die statistische […],
welche die Lebenswelt in eine Zahlenwelt transformiert. Die erlebte Alltagswelt ist
aber voll von Widersprüchen, sie ist antagonistisch aufgebaut; die physikalische, die
soziale und die subjektiv-psychologische Welt sind in der Lebenswelt […] miteinander
verwoben. Sie, bzw. Teile von ihr, statistisch darstellbar zu machen, erfordert eine
spezifische Zurichtung. Die Darstellung der Welt in Zahlen suggeriert […] Objek-
tivität. Ihre […] Zurichtung der Lebenswelt, die ohne Gewalt in unterschiedlichen
Formen und Abstufungen gar nicht zu denken ist, wird dabei häufig verschleiert,
ebenso dahinter stehende Interessen der Auftraggeber von Statistiken.« Friedrich
zeigt das anhand der Arbeitslosigkeits-Statistiken in Deutschland. Die sehen jedes
Jahr schöner aus, weil die Berechnungsweise verändert wird, mit der man das
Datenmaterial informationell aufbereitet. Das wird aber nicht mitkommuniziert.
Auch Neuraths emanzipatorische ISOTYPE ›transformiert die Lebenswelt in
eine Zahlenwelt‹. Die Leseweise des statistischen Materials ist auch dort von der Art
und Weise geprägt, in der wir gelernt haben, konventionelle Statistiken zu lesen.6
Sie präsentieren Ausschnitte aus dem »komplizierten Netz« der »Oberfläche«, wie
es in dem Manifest des Wiener Kreises heißt, das Neurath mitverfasste. Das kann
zur ikonischen Verdinglichung werden.

5 »Wenn sich diese Statistiken dann noch auf Räume bzw. Territorien beziehen, wird
auch deren soziale Bedingtheit unsichtbar. Zu den Gefahren der Verdinglichung von
Statistiken kommt […] die des Raumfetischismus, der die ›physische Lage im Raum‹
[…] ohne Berücksichtigung [von] dessen Gewordenheit als Erklärung ansieht: ›Diese
doppelte Reifizierung ist dann auch doppelt anfällig für Ideologieproduktion‹.« (Bothe
2014: 52)
6 Erich Schöls hat mich darauf aufmerksam gemacht, dass Neurath angesichts des pro-
pagandistischen Einsatzes der Wiener Methode im Kooperationsinstitut ISOSTAT
in Moskau durch die russische Regierung Vorbehalte gegen die Ideologisierung des
Einsatzes von Statistiken anmeldete und seine Aktivitäten dort beendete.
102 Kommunikationsdesign und visuelle Dialektik der Aufklärung

Designwissenschaft und Auftragsforschung

Neurath war Nationalökonom und Philosoph. Er vertrat einen empiristischen,


metaphysikfeindlichen Ansatz. Auch insofern bietet es sich geradezu an, ihn zur
Galionsfigur der Designforschung zu machen, die in den letzten Jahren Fahrt
aufgenommen hat.
Designforschung ist sowohl die Praxis als auch das umstrittene normative
Zentrum der Designwissenschaft. Sofern sie sich überhaupt als Disziplin versteht,
ist sie eine relativ junge Fachrichtung. Die akademische Professionalisierung der
Designausbildung begann hierzulande in den 1970er Jahren, als Werkkunstschu-
len sich in Gestaltungsfachbereiche an Fachhochschulen oder Kunsthochschulen
verwandelten. Heute fordern deren Vertreter von Hochschulleitungen und Mi-
nisterien Geld für eigene Forschungsprojekte. Zur Begründung verweisen sie auf
die enorme Relevanz von Design als ökonomische und kulturelle Produktiv- und
Vermarktungskraft.
Im Zeitalter der Digitalisierung hat die Verwissenschaftlichung der Produkti-
onsweisen ein neues Niveau erreicht. Das hat auch zur Verwissenschaftlichung des
Designs geführt. Innerhalb der Design-Community wird das keineswegs einhellig
begrüßt. Hier ist strittig, wie hoch der Forschungsanteil an Designfachbereichen
sein sollte, und strittig ist auch, ob es überhaupt genuine Designwissenschaft und
Designforschung gibt. Was wären deren Gegenstände? Welche Methoden sind
anzuwenden, welche Forschungsziele anzuvisieren?
Die Auffassung des Verhältnisses von Design, Wissenschaft und Forschung hat
sich verändert; das gehört zu der Veränderung dessen, was allgemein unter Wissen-
schaft verstanden wird. Gegen Ende des 20. Jahrhunderts ist diese Veränderung in
einer Studie über The New Production of Knowledge beschrieben worden (Gibbons
et al. 1994/2014). Die deutsche Übersetzung erschien zehn Jahre später unter dem
dramatisierenden Titel: Wissenschaft neu denken. Wissenschaft und Öffentlichkeit
in einem Zeitalter der Ungewißheit. Die Autorinnen und Autoren dieser Studie
untersuchten The Dynamics of Science and Research in Contemporary Societies. Ein
Ergebnis war folgendes: Die Reorganisation des wissenschaftlichen Sektors zu den
Konditionen einer verschärften Weltmarktkonkurrenz hat dazu geführt, dass sich
Forschungsprozesse aus ihren traditionellen Formen lösen; sie werden sozusagen
unakademischer. Früher dominierte disziplinär orientierte Arbeit; seither wird eher
projekt- und anwendungsorientiert geforscht. Das verändert das Verständnis von
wissenschaftlicher Forschung. Finanziert werden Forschungsvorhaben meist nur,
wenn sie disziplinenübergreifend angelegt sind und ihre Nutzanwendung belegen
können. Entsprechend habe sich das Selbstverständnis der Beteiligten verändert:
Forscherinnen und Forscher sehen sich weniger als Fachgelehrte innerhalb über-
Kommunikationsdesign und visuelle Dialektik der Aufklärung 103

lieferter Wissenschaftssektoren und mehr als Praktiker der Wissensproduktion,


die in unbeständigen Teams arbeiten, die auf aktuelle Auftraggeber und Budgets
zugeschnitten sind. Arbeitsteilung wird durch das Bewusstsein abgelöst, dass
die unterschiedlichen Bereiche sozialer Wissensproduktion zusammenhängen.
Wissenschaft wird als ein Teil sozialer Praxis im Zusammenhang mit Kultur und
Wirtschaft verstanden (Gibbons et al. 1994: 1–16; Mareis 2010: 21). Menschen auf
dem Gebiet der Wissensproduktion seien miteinander durch ihre »gemeinsamen
intellektuellen Orientierungen« sowie »durch materielle und ökonomische Interessen
verbunden« (Gibbons et al. 1994: 8). Das richtet sich auch gegen wissenschaftliche
Selbstbestimmung. »Wissenschaft und Forschung« könnten nicht mehr »als ein
autonomer Raum verstanden werden«, resümiert Claudia Mareis (2010: 20). Wis-
senschaftlich erzeugtes Wissen »hat nützlich zu sein, sei es für die Industrie, für
die Regierung oder für die Gesellschaft im allgemeinen Sinne. Dieser Imperativ
ist von Anfang an gegenwärtig.« (Gibbons et al. 1994: 4) Forschungsteams aus
Sozialwissenschaftlern, Ingenieuren, Juristen und Geschäftsleuten tun sich kurz-
fristig zusammen, wenn »die Natur des Problems es erfordert« (ebd.: 5). Auch die
Humanwissenschaften seien willkommen, wenn das »Nachdenken über die Werte
vonnöten ist, die in menschlichen Bestrebungen und Vorhaben impliziert sind«
(ebd.). In den Fachbereichen Philosophie, Anthropologie und Geschichte habe sich
»die Angebotsseite solchen Nachdenkens von der Nachfrageseite abgelöst« (ebd.:
8), heißt es in der Studie. Die Humanwissenschaften hätten sich entfernt »von den
Geschäftsleuten, Ingenieuren, Ärzten, behördlichen Agenturen und der allgemei-
nen Öffentlichkeit, die bei einer enormen Bandbreite von Themen praktische oder
ethische Führung braucht« (ebd.). Dies würde sich jedoch allmählich ändern. Diese
neue Auffassung von Wissenschaft bezeichnen die Autoren der britisch-schweize-
rischen Studie liebevoll als mode two (im Gegensatz zum traditionell akademischen
Wissenschaftsverständnis im sogenannten mode one). Im mode two konvergieren
die systemischen Regelkreise von Wissenschaft und Wirtschaft. Das kontext- und
anwendungsbezogene Problemlösungswissen folgt dem Zusammenspiel von An-
gebot und Nachfrage (ebd.: 4).
Im Zuge dieses Prozesses tritt die Designforschung auf den Plan und bietet sich als
generalistische Problemlöserin an. Wenn es um eine passende Wissenschaftstheorie
geht, beruft man sich nicht selten auf Neurath, den Pionier der transdisziplinären
Verbindung von Wissenschaft und Grafikdesign. Dass Neurath das als Teil einer
sozialistischen Revolutionierung der Produktions- und Distributionsverhältnisse
entworfen hat, in der gesellschaftliche Arbeit und die Verteilung ihrer Ergebnisse
einem vernünftigen Plan zu folgen hätten, wird meist geflissentlich übergangen.
Neurath wird zum Stichwortgeber bei der planlosen Ökonomisierung von Kultur
und Gesellschaft, die er Zeit seines Lebens bekämpft hat.
104 Kommunikationsdesign und visuelle Dialektik der Aufklärung

Als die Autonomie der Wissenschaft bei Entscheidungsträgern, Forschenden


und Studierenden noch etwas galt, taten sich, oftmals unbeabsichtigt, Räume auf,
die nun verloren gehen, wenn sich der wissenschaftliche Sektor neu formiert.
Wissenschaft gilt als soziale und kulturelle Praxis, aber geformt wird sie von den
Imperativen wirtschaftlicher und politischer Herrschaft. Empirische Forschung
muss sich nützlich machen, für Industrie, Militär und Machthaber aller Art sowie
für die Verwaltung sozialer und kultureller Belange. Andernfalls werden ihr die
Subsistenzmittel entzogen. In der Folge entsteht eine Filterblase aus konformis-
tischen Projektanträgen. Der Bertelsmann-Konzern hat die Bologna-Reform auf
den Weg gebracht, die das akademische Studium durch Verkürzung der Studien-
zeiten und Einschränkung der Möglichkeiten zu inhaltlicher Vertiefung in eine
berufsvorbereitende Ausbildung verwandelte. Die Lobbyarbeit der Medien- und
Bildungsindustrie sorgt dafür, dass auf politischem Wege eine dauerhafte Nachfrage
für ihr Angebot gesichert wird.
Zurück zur Designwissenschaft und Designforschung: Was wären deren Gegen-
stände? Welche Methoden sind anzuwenden, welche Forschungsziele anzuvisieren?
Ich plädiere dafür, die Bedingungen der Möglichkeit dafür, dass Design wissen-
schaftliche und forschende Aufgaben übernimmt, in ihrer Widersprüchlichkeit
zu beschreiben. Wenn die Emanzipation des Kommunikationsdesigns Bestandteil
einer Entautonomisierung und Funktionalisierung der Wissenschaften für eine
bestimmte Form der gesellschaftlichen Reproduktion ist, dann ist genau das als
Konflikt zum Thema zu machen. Zu untersuchen wäre, welchen Part Kommuni-
kationsdesign übernimmt, wenn die Aneignung der Arbeitskraft als Ware und die
Verwertung des Werts durch strategische Kommunikation zur Manipulation der
Verwender abgesichert und der politische Herrschaftsrahmen dafür stabil gehalten
wird. Zu untersuchen wäre, welche Möglichkeiten Kommunikationsdesign hat, sich
dem zu verweigern und die Selbstbestimmung der Benutzerinnen und Benutzer
zu befördern. Und zwar im regulativen Sinne einer universalen Sprache mündiger
Menschen, die sich autonom verständigen können und ihre Codes zur kulturellen
Semiotisierung der Wirklichkeit selbst schreiben.
Einst als Distributionsbeschleuniger für die Warenzirkulation eingeführt, kann
Kommunikationsdesign Beiträge zur De-Kommodifizierung der Lebenswelt leisten.
Ich finde es daher wichtig, darüber nachzudenken, ob Design als versatiler Vernet-
zungsdienstleister für marktgängige Forschung im Sinne von mode two verstanden
wird oder als Zweig der Kultur- und Sozialwissenschaften. Kommunikationsdesign
als angewandte, kritische Humanwissenschaft: Das wäre mein Favorit.
Kommunikationsdesign und visuelle Dialektik der Aufklärung 105

Kommodifizierung der Information

Otto Neurath wollte wissenschaftliche Methoden und gestalterische Mittel einset-


zen, um soziale Beziehungen zu revolutionieren. Dabei musste analysiert werden,
ob die ökonomischen Institutionen geeignet sind, das Glück der größten Zahl zu
maximieren. Wie gesagt: Das Ziel war eine vernünftige, planmäßige Organisation
sozioökonomischer Prozesse, in der das Partikularinteresse der Kapitalverwertung
durch das Universalinteresse an gerechter Verteilung des gesellschaftlich erwirt-
schafteten Wohlstands abgelöst wird. Volkspädagogische Aufklärung sollte den
Weg zur freiheitlich-sozialistischen Lebensgestaltung ebnen. Die Entfaltung der
visuellen Produktivkräfte sollte genutzt werden, um selbstbestimmtes Handeln
zu ermöglichen.
Neurath hatte erkannt, dass visuelles Lehren in einer Epoche unerlässlich wird,
in der Menschen einen »großen Teil ihres Wissens und ihrer allgemeinen Bildung
durch bildhafte Eindrücke, Illustrationen, Lichtbilder, Filme [empfangen]. Die
Tageszeitungen bringen von Jahr zu Jahr mehr Bilder. Dazu kommt das gesamte
Reklamewesen, das […] mit optischen Signalen […] arbeitet« (Neurath, zit. nach
Hartmann und Bauer 2006: 26). Aus diesem pädagogischen Befund leitete er die
Forderung ab: »Das System einer Bildersprache [hat] Sätze der Wissenschaft in
Bilder zu verwandeln« (ebd.: 116).
Dieselbe soziokulturelle Tendenz, in deren Verlauf sich Design als Zweig der in-
terdisziplinären Wissensproduktion emanzipiert, ist aber auch die Tendenz, in deren
Verlauf Informationen zur Ware werden. Es ist die Tendenz, die alle menschliche
Poiesis und Praxis (alles Herstellen und Tun) den Gesetzen des Marktes unterwirft,
und der ist in der Moderne bekanntlich den Gesetzen einer Produktionsweise
unterworfen, die man als kapitalistische bezeichnet.
Dass Informationen zur Ware werden, heißt nicht nur, dass sie käuflich zu er-
werben sind. Es geht nicht um diesen äußeren Umstand, sondern um ihre innere
Form. Information als Ware folgt dem Gesetz der Verwertung des investierten
und produzierten Werts. Eine Ware ist dazu da, auf dem Markt den Mehrwert zu
realisieren, der bei ihrer Produktion aufgespeichert wurde. Wirtschaftliche Rele-
vanz hat sie nur vermöge ihres Tauschwerts. Ihr Gebrauchswert ist lediglich das
Substrat für die Realisierung des potenziellen Werts. Ihr Gebrauchswert ist also
(in der Terminologie der aristotelischen Philosophie des Mittelalters) akzidentell,
nur beiherspielend. Waren werden nicht in erster Linie um seinetwillen produziert.
Da die Produktion von Waren unter Bedingungen der Konkurrenz sich immerfort
vervielfacht, gibt es immer mehr Waren, deren Gebrauchswert nur Anhängsel ihrer
Tauschbarkeit ist. Wenn man beispielsweise den Müll zur Ware macht, wird es immer
mehr Müll geben. Ein Mittel zur Vervielfachung des Mülls sind Verpackungen; die
106 Kommunikationsdesign und visuelle Dialektik der Aufklärung

sollen nicht nur die Ware beim Transport schützen, sondern, mittels Design, den
»Inszenierungswert« (Gernot Böhme) des Produkts für die Käufer visuell realisieren.
Unter den Bedingungen der warenproduzierenden Konkurrenzökonomie muss es
auch immer mehr Informationen geben; ob und wozu jemand sie braucht, ist zwar
nicht völlig egal, aber doch zweitrangig.

Untiefen des neopositivistischen Wissenschaftskonzepts

Es gehört zur Dialektik der designerischen Aufklärung, dass die Errungenschaften


der visuellen Kommunikation von Wissen die Ziele nicht erreicht haben, für die
Neurath ein Forscherleben lang stand. Meiner Ansicht nach hängt das nicht nur mit
widrigen äußeren Umständen zusammen, sondern auch mit Neuraths Auffassung
von Wissenschaft. Es sei nicht deren Aufgabe, hinter den sinnlich wahrnehmbaren
und empirisch überprüfbaren Dingen nach Wesensbestimmungen zu suchen. Wis-
senschaft müsse an der Oberfläche bleiben. Mit den Worten von Neurath und seinen
Kollegen vom Wiener Kreis: »Sauberkeit und Klarheit werden angestrebt, dunkle
Fernen und unergründliche Tiefen abgelehnt. In der Wissenschaft gibt es keine
›Tiefen‹; überall ist Oberfläche: alles Erlebte bildet ein kompliziertes, nicht immer
überschaubares, oft nur im einzelnen faßbares Netz.« (Hahn/Neurath/Carnap 1929:
11) Neuraths Ideal, fasst Johan Hartle zusammen, war »eine ›befreite Symbolik‹
aus […] wertfreien, positiven Zeichen«; »Befreiung hieß […] auch […] Befreiung
von Mehrdeutigkeit, Ikonizität und ästhetischer Unbestimmtheit.« (Hartle 2018:
140) Im Manifest des Wiener Kreises, das Neurath im Jahre 1929 mitverfasst hat,
heißt es, »die Bewegung der wissenschaftlichen Weltauffassung« sei »empiristisch
und positivistisch«: »es gibt nur Erfahrungserkenntnis, die auf dem unmittelbar
Gegebenen beruht.« (Hahn/Neurath/Carnap 1929: 15) Mit diesen begrifflichen
Mitteln kann man aber die innere Warenform, die die Dinge und die Praxis in der
kapitalistischen Produktionsweise annehmen, nicht erfassen. Neuraths positivisti-
scher Empirismus hat genau an dem Punkt zu kurz gegriffen, an dem die kritische
Theorie das Wesen des »automatischen Subjekts« der bürgerlichen Gesellschaft auf
den Begriff bringen konnte. »Der Wesensbegriff«, schrieb der Frankfurter Philosoph
Günther Mensching (1975: 175), »der die moderne Gesellschaft als Totalität kons-
tituiert und doch nicht als erscheinendes Einzelfaktum dingfest gemacht werden
kann, ist das Kapital, daseiende Abstraktion, die sich durch die Einzelmomente
des Prozesses der neueren Geschichte hindurch reproduziert«.
Damit wären wir wieder bei Aristoteles und Marx: bei der Warenform als
innerer Form, die das Denken und Handeln prägt. Marx hatte argumentiert,
Kommunikationsdesign und visuelle Dialektik der Aufklärung 107

dass Wissenschaft die Voraussetzung für Kritik ist, denn »alle Wissenschaft wäre
überflüssig, wenn die Erscheinungsform und das Wesen der Dinge unmittelbar
zusammenfielen« (Marx 1894: 825). Seine kritische Theorie der Gesellschaft auf
wissenschaftlicher Basis geht von der Distinktion zwischen Wesen und Erscheinung
aus, die dem Kategorienarsenal der Metaphysik entstammt. »Daher ist der Marxsche
Materialismus immanent genötigt, die Realität des Abstrakten zu unterstellen.«
(Mensching 1987: 69) Dass der Begriff der Form aristotelische und thomistische
Wurzeln hat, ist offenkundig, aber das disqualifiziert ihn nicht als metaphysische
Erblast, auch nicht im Bereich des Designs. Von hier aus kann man nämlich wieder
an das Prinzip Infografik anknüpfen und Neuraths visuelle Sprache nutzen, um
Ideologien zu durchleuchten. Und zwar in Verbindung mit Diskursen.7

7 Das wurde in der Würzburger Master-Thesis von Benedikt Martini (2017) mit Erfolg
versucht. Ihr Thema sind populäre ökonomische Narrative. Durch eine Verbindung von
Infografiken und theoretischen Exkursen wird über die Mythen aufgeklärt, die diesen
Narrativen zugrunde liegen. Martinis Arbeit positioniert sich gleichzeitig im öffentlichen
Raum, im virtuellen Raum und in Buchform. Dabei wird die »soziale Bedingtheit« der
Fakten und der fake news sichtbar gemacht. Die Verbindung mit Diskursen, in denen
die innere Form ökonomischer Vergesellschaftung thematisiert wird, unterläuft den
möglichen »ideologischen Charakter« von Statistiken und den Positivismus des »un-
mittelbar Gegebenen«.
108 Kommunikationsdesign und visuelle Dialektik der Aufklärung

Abbildungen

Fundierte öffentliche Meinungsbildung ist seit der Finanzkrise von 2008 Benedikt Martini

Benedikt Martini Manipulation oder Information?


nahezu unmöglich. Wie kann ein sozial und politisch verantwortliches
Design jenseits von Werbung und PR umgesetzt werden?

Benedikt Martini befasst sich mit der Rolle des Kommunikationsdesigns zwi-
Manipulation oder
schen Manipulation und Information. Eine fundierte öffentliche Meinungsbil-
dung über das bestehende Wirtschaftssystem scheint unmöglich, weil Inhalte
oft verkürzt und häufig ohne größeren Kontext dargestellt werden.
Information?
Wie ließe sich demgegenüber ein visuelles Angebot zur Wissensvermittlung
über das bestehende Wirtschaftssystem schaffen, sodass offene und kom- Politisches Kommunikationsdesign
plexe Diskurse ermöglicht werden? in der »Postdemokratie«
VSA:

Zentrale Impulse enthält sein Ansatz aus der in den 1920er Jahren maßgeb-
lich von Otto Neurath (mit Unterstützung des Grafikers Gerd Arntz) entwi-
ckelten Wiener Methode der Bildstatistik. Mit Plakat- und Servietten-Grafiken
sowie Bierdeckel-Texten bereitet der Autor ökonomische Sachverhalte auf und
macht so ein fortschrittliches Konzept der Arbeiter- und Volksbildung für die
Anforderungen medialer Diskurse im 21. Jahrhundert nutzbar.
VSA:

ISBN 978-3-89965-757-9

9 783899 657579 www.vsa-verlag.de

Martini_Manipulation_oder_Information.indd 1 29.05.2017 07:37:10


Kommunikationsdesign und visuelle Dialektik der Aufklärung 109

Quelle aller Abbildungen: Benedikt Martini, Manipulation oder Information? Politisches


Kommunikationsdesign in der »Postdemokratie«, Hamburg: VSA, 2017.
110 Kommunikationsdesign und visuelle Dialektik der Aufklärung

Literatur

Bothe, Julian (2014): Kritik und Statistik. Nutzen und Gefahren statistischen Wissens für
Kritische Geographien anhand der Positionen von Popper, Marx, Derrida und Foucault,
Abschlussarbeit im Masterstudiengang Geographie »Global Transformations and
Environmental Change« der HafenCity Universität Hamburg, Institut für Geographie
(https://www.hcu-hamburg.de/fileadmin/documents/Professoren_und_Mitarbeiter/
Joerg_Pohlan/Bothe_Julian_Masterarbeit_2014_Kritik_und_Statistik_errata.pdf [letzter
Abruf: 13.8.2018)].
Friedrich, Thomas (2015): »Kritik der Informationsgrafiken«, in: Informationsvisualisierung.
Missbrauch und Möglichkeit, hrsg. v. V. Götz u. A. Rigamonti, Stuttgart: av edition, S. 11–13.
Gibbons, Michael, Camille Limoges, Helga Nowotny, Simon Schwartzman, Peter Scott u.
Martin Trow (1994): The Dynamics of Science and Research in Contemporary Societies,
London, Thousand Oaks, New Delhi: Sage (dt.: Wissenschaft neu denken. Wissenschaft und
Öffentlichkeit in einem Zeitalter der Ungewißheit, Weilerswist: Velbrück, 2004, 4. Aufl. 2014).
Hahn, Hans, Otto Neurath und Rudolf Carnap (1929): »Wissenschaftliche Weltauffassung.
Der Wiener Kreis«, hrsg. v. Verein Ernst Mach, in: Wiener Kreis. Texte zur wissenschaft-
lichen Weltauffassung von Rudolf Carnap, Otto Neurath, Moritz Schlick, Philipp Frank,
Hans Hahn, Karl Menger, Edgar Zilsel
und Gustav Bergmann, hrsg. v. M. Stölzner u. T.
Uebel, Hamburg: Meiner, 2006, S. 3–16.
Hartle, Johan F. (2018): »Abbildlichkeit und Transparenz der Zeichen. Otto Neuraths sozi-
aldemokratische Bildpolitik«, in: Handbuch der Medienphilosophie, hrsg. v. G. Schwep-
penhäuser, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, S. 137–143.
Hartmann, Frank, und Erwin K. Bauer (2006): Bildersprache. Otto Neurath Visualisierun-
gen, Wien: WUV.
Martini, Benedikt (2017): Manipulation oder Information? Politisches Kommunikationsdesign
in der »Postdemokratie«, Hamburg: VSA.
Marx, Karl (1894): Das Kapital. Dritter Band, Frankfurt/M.: Europäische Verlagsanstalt, 1967.
Mensching, Günther (1975): »Zeit und Fortschritt in den geschichtsphilosophischen Thesen
Walter Benjamins«, in: Materialien zu Benjamins Thesen ›Über den Begriff der Geschichte‹.
Beiträge und Interpretationen, hrsg. v. P. Bulthaup, Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 170–192.
Mensching, Günther (1987): »Nominalistische und realistische Momente des Marxschen
Arbeitsbegriffs«, in: Krise und Kritik. Zur Aktualität der Marxschen Theorie, hrsg. v. G.
Schweppenhäuser, D. zu Klampen u. R. Johannes, Lüneburg: zu Klampen, 2. Aufl., S. 58–76.
Mensching, Günther (1992): Das Allgemeine und das Besondere. Der Ursprung des modernen
Denkens im Mittelalter, Stuttgart: Metzler.
Orth, Ernst Wolfgang (1997): »Heidegger und Husserl. Kultur als Horizont des Erscheinens«,
in: Heidegger – neu gelesen, hrsg. v. M. Happel, Würzburg: Königshausen & Neumann,
S. 54–74.
Posner, Roland (1992): »Was ist Kultur? Zur semiotischen Explikation anthropologischer
Grundbegriffe«, in: Kultur-Evolution. Fallstudien und Synthese, hrsg. v. M. Landsch, H.
Karnowski u. I. Bystrina, Frankfurt/M.: Peter Lang, S. 1–65. (https://www.semiotik.
tu-berlin.de/fileadmin/fg150/Posner-Texte/Posner_Was_ist_Kultur.pdf [letzter Abruf:
13.8.2018]).
Weber, Max (1919): »Wissenschaft als Beruf«, in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissen-
schaftslehre, Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1988, S. 582–613.
Zur Dialektik des visuellen Nominalismus
Kommunikationsdesign und »alter Realismus«*1
Zur Dialektik des visuellen Nominalismus

In der sozialen Porträtfotografie des 20. Jahrhunderts steckt ein unerledigtes


Problempotenzial aus der Tradition des philosophischen Universalienrealismus.
Das werde ich in Anknüpfung an Alfred Döblins Lesart der Arbeiten von August
Sander rekonstruieren. Aber ist über den Klassiker sozialdokumentarischer Por-
trätfotografie nicht schon längst alles gesagt? Kürzlich war zum Beispiel in Hans
Beltings Buch Faces. Eine Geschichte des Gesichts zu lesen: »Nach dem Ende der
bürgerlichen Gesellschaft im Ersten Weltkrieg entwickelte August Sander […] das
neuartige Projekt, die Menschen offen als Repräsentanten von Berufen und Stän-
den abzubilden. Er zeigte sie als soziale Typen in ganzfigurigen Ansichten ihrer
gesellschaftlichen oder beruflichen Tätigkeit am Schreibtisch oder auf der Baustelle
[…] gleichsam alle Stände, selbst die bisher ausgeschlossenen Klassen, [wurden] in
offiziellen Fotografien mit einer je eigenen Norm vorgestellt.« (Belting 2013: 224)
»Das Projekt«, schrieb Belting (2013: 224), »wurde gleichsam im Widerstand gegen
das bürgerliche Porträt entworfen«, und deshalb träten dort »die lange geleugneten
Widersprüche in der Gesellschaft offen zutage«. Und auch dazu, was Döblin über
Sander geschrieben hat, scheint schon alles gesagt. Die Verbindung ist ja bestens
bekannt: Döblin schrieb die Einleitung zu einem Buch mit einer Auswahl von
Sanders großem Projekt, einer noch nie dagewesenen, konzeptionell strukturierten

* Für Anregungen danke ich Hyun Kang Kim; für eine kritische Lektüre früherer Fas-
sungen und für weiterführende Literaturhinweise Christoph Naumann-Zimmer. – Dem
Text liegen Vorträge auf der Tagung Realism in Design an der Hochschule Düsseldorf
am 20. Mai 2017, in Sven Kramers Seminar Realismuskonzepte in Literatur und Film
an der Universität Lüneburg am 1. Juni 2017, und beim Symposion Perspektiven der
Fotografie zugrunde, das Marcus Kaiser an der Fakultät Gestaltung der Hochschule für
angewandte Wissenschaften in Würzburg am 9. November 2017 geleitet hat. Der Text
enthält Auszüge aus dem Manuskript meines Buchs Revisionen des Realismus. Zwischen
Sozialporträt und Profilbild, das 2018 im Metzler Verlag erscheint.
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 111
G. Schweppenhäuser, Design, Philosophie und Medien, Würzburger Beiträge zur
Designforschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-22225-3_8
112 Zur Dialektik des visuellen Nominalismus

Sammlung von Porträtfotografien seiner Gesellschaft in jener Epoche. Das Buch


hieß Antlitz der Zeit, im Untertitel: Sechzig Aufnahmen deutscher Menschen des 20.
Jahrhunderts. Es hat Ende der 1920er Jahre Aufsehen erregt, die Kritiker haben es
gefeiert, und bis in die jüngste Zeit fand es Nachahmer; zum Beispiel Stefan Moses,
der ebenfalls das Adjektiv »deutsch« im Titel verwendete, aber, anders als Sander,
Menschen vor einem ausgespannten hellen Tuch fotografierte, mit einem Attribut
in der Hand, das ihren Beruf indizieren soll. Im Diskurs der Fotogeschichte wurde
Antlitz der Zeit Ende gegen der 1970er Jahre als paradigmatisches Werk anerkannt.
Dafür war Susan Sontags Buch On Photography von 1977 wichtig. Sontag hatte sich
dabei an Walter Benjamins »Kleine Geschichte der Fotografie« von 1931 angelehnt,
die bis heute als ein Referenzwerk der Fototheorie gilt. Als Benjamin dort die Be-
deutung von Sanders Arbeiten würdigte, war er auch auf Döblins Einleitung zu
sprechen gekommen. Man könnte beinahe sagen, das ging auch gar nicht anders.
Döblin war 1929 ein Schriftsteller von Weltruf, Berlin Alexanderplatz war im selben
Jahr erschienen wie Antlitz der Zeit. Für Kurt Wolff, den Verleger, war es also ein
großer Erfolg, dass er Döblin als Autor für eine Einleitung gewinnen konnte. An
Döblin kam keiner vorbei.

Die halbierte Döblin-Rezeption

Auch nach Benjamin haben sich so gut wie alle, die über Sanders Porträtfotografie
schrieben, auf Döblin bezogen. Aber, und darum geht es mir: Immer und aus-
schließlich nur auf einen von zwei Aspekten, unter denen Döblin Sander rezipiert
hat. Demnach sah Döblin Sanders Bedeutung darin, die Fotografie zum Medium
wissenschaftlicher Erkenntnis gemacht zu haben; nicht zu einem Medium natur-
wissenschaftlicher, sondern zu einem Medium sozialwissenschaftlicher Erkenntnis.
Das haben alle Autorinnen und Autoren, von Benjamin über Susan Sontag bis zur
Gegenwart, zu Recht betont. Döblin (1929: 13) schrieb über Antlitz der Zeit: »Man
hat vor sich eine Art Kulturgeschichte, besser Soziologie, der letzten dreißig Jahre.
Wie man Soziologie schreibt, ohne zu schreiben, sondern indem man Bilder gibt,
Bilder von Gesichtern und nicht etwa von Trachten, das schafft der Blick dieses
Photographen, sein Geist, seine Beobachtung, sein Wissen und nicht zuletzt sein
enormes photographisches Können.« Und dann prägte Döblin, der ja ursprünglich
Mediziner war, ein sprachliches Bild, das lange fortwirkte: »Wie es eine vergleichende
Anatomie gibt, aus der man erst zu einer Auffassung der Natur und der Geschichte
der Organe kommt, so hat dieser Photograph vergleichende Photographie getrieben
und hat damit einen wissenschaftlichen Standpunkt oberhalb der Detailphotographie
Zur Dialektik des visuellen Nominalismus 113

gewonnen. Es steht uns frei, allerhand aus seinen Bildern herauszulesen, die Bilder
sind im ganzen ein blendendes Material für die Kultur-, Klassen- und Wirtschafts-
geschichte der letzten dreißig Jahre.« (Ebd.: 13 f.; Hervorh.: G.S.)
Benjamin hat das bestätigt; aber nicht aus historischem Interesse, sondern aus
politischem. Für ihn lag Sanders Verdienst darin, dass er den physiognomischen Blick
wissenschaftlich rehabilitiert. »Sanders Werk ist viel mehr als ein Bildbuch«, schrieb
er: Es ist »ein Übungsatlas« (Benjamin 1931: 381) für das Training des politischen
Blicks, den man brauche, um in der Klassengesellschaft am Vorabend des Natio-
nalsozialismus zu überleben. Sanders Fotoarbeiten würden im »physiognomischen,
politischen, wissenschaftlichen Interesse« die »menschlichen Zusammenhänge«
(Benjamin 1931: 383) erforschen.
Die späteren Autorinnen und Autoren haben sich auf dieser Linie bewegt – auch
dann, wenn sie nicht wie Benjamin aus der Perspektive einer Politisierung der Ästhetik
argumentierten. Mit Döblin wurde das Innovative und Vorbildliche von Sanders
Arbeit in der Verwissenschaftlichung der Fotografie gesehen. Je nach Standpunkt
galten die Resultate wissenschaftlicher Fotografie als wertfreie Erkenntnisse oder
als Elemente einer wissenschaftlich abgesicherten politischen Praxis. (Letzteres
war, nebenbei gesagt, die Intention von Sander, der sich der Sozialdemokratie nahe
fühlte. Er verstand sich als politischer Fotograf, auch wenn er damit nicht Agitation
und Propaganda meinte.)
Aber wie gesagt: In dieser Rezeptionslinie von Benjamin bis zur Gegenwart ist
etwas übersehen worden. Döblins Label »wissenschaftliche Fotografie« war nämlich
nur die eine Hälfte seiner Lesart. Die andere bezog sich nicht auf die Natur- und
Sozialwissenschaft, sondern auf die Philosophie. Denn Döblin zufolge kehrt in
Sanders Fotografie der Universalienstreit der spätmittelalterlichen Philosophie
zurück. Mit Blick auf seinen Zeitgenossen Sigmund Freud, den Döblin in diesem
Zusammenhang freilich nicht bemüht hat, kann man sagen: Der Universalienstreit
kehrte als Wiederkehr des Verdrängten zurück. Döblin meinte, in Sanders Fotos
käme der ›metaphysische Gegensatz des Allgemeinen und des Individuellen‹ (Hegel)
ästhetisch zur ›Erscheinung‹.
Kann man heute noch so argumentieren? Ich würde sagen: Ja. Um einen Gedan-
ken aus Bertrand Russels Theorie der Bedeutung zu variieren: »Ohne die Annahme
der Existenz von realen Abstrakta kommen wir nicht aus« (Schick 1993: 614). Doch
dafür müssen wir in diesem Fall die besondere, individuelle Erscheinungsform
der porträtierten Personen in Beziehung zu einem negativen Allgemeinen setzen.
Ansätze zur Visualisierung des sozial Allgemeinen im je Besonderen verweisen
auf ein unabgegoltenes Potenzial des »alten« Realismus, also des Begriffsrealismus.
Dies ist aber nicht ontologisch, sondern sozialphilosophisch zu rekonstruieren.
114 Zur Dialektik des visuellen Nominalismus

Die Wiederkehr des Universalienstreits in der Porträtfotografie des 20. Jahrhun-


derts: Mit diesem Ansatz hat Döblin die sozialdokumentarische Porträtfotografie
von Sander aufgeschlossen. Sander sei ein Fotograf des Universalienrealismus
gewesen. Seine Fotografien würden sichtbar machen, dass das abstrakte soziale
Allgemeine über die Individualität der Personen dominiert.
Die Frage, wie sich gesellschaftliche Realabstraktionen visuell manifestieren, steht
quer zum konstruktivistischen Konsens in der Medientheorie. – An dieser Stelle
sehe ich einen Berührungspunkt mit der Debatte über den »neuen Realismus« in
der Philosophie. Was man ›die Wirklichkeit‹ nennt, ist demzufolge nicht nur das
Ergebnis soziokulturell kodierter Konstruktion. Ja – wir erfahren Wirklichkeit
vermittelt durch Begriffe. Aber es ist denknotwendig anzunehmen, dass wir mit
etwas vorgängig Existierendem zu rechnen haben, auf das sich soziokulturelle
Konstruktionen sowie zeichenhafte und begriffliche Repräsentationssysteme, durch
die wir Realität erschließen, beziehen. Diese Position unterscheidet sich von einem
naiven Realismus durch die Annahme – um es mit Markus Gabriel (2014) zu sagen
–, »dass wir die Wirklichkeiten, auf die wir Bezug nehmen, tatsächlich begrifflich
und perspektivisch vermittelt erfahren. Diese Begriffe und Perspektiven sind selbst
Wirklichkeiten und deswegen ihrerseits erkennbar.«

Sanders Beitrag zur visuellen Kommunikation

Bevor ich nun der visuellen Wiederkehr des philosophischen Problems ›daseien-
der Begriffe‹ weiter nachgehe, möchte ich aber klären, ob und inwiefern meine
Fragestellung überhaupt designrelevant ist. August Sander war schließlich, im
landläufigen Sinne des Wortes, kein Designer. Manche Betrachter würden seine
Arbeiten eher als fotografische Kunstwerke bezeichnen; so auch sein Nachfahre
Julian, der findet, dass es höchste Zeit wäre, den Urgroßvater endlich »als Künstler
und in der Kunstgeschichte« zu würdigen »und nicht nur in der engen Nische der
Fotografie«1. Ich antworte darauf mit einem werkgeschichtlichen Hinweis. Sander
verstand sich zu Beginn seiner Laufbahn tatsächlich als künstlerischer Fotograf,
aber seine berühmten Arbeiten sind erst entstanden, nachdem er sich von der Auf-
fassung abgewandt hat, dass Fotografie »Kunst« im bürgerlichen Sinne ist. Das hat
Ulrich Keller schon 1980 klargestellt; in seinem Standardwerk, einem instruktiven
Beitrag zur posthumen Erstveröffentlichung des Zyklus Menschen des 20. Jahrhun-
derts, schreibt er: »spätestens 1922 hatte [Sand]er mit allen kunstphotographischen

1 Süddeutsche Zeitung, 4./5. März 2017, S. 22.


Zur Dialektik des visuellen Nominalismus 115

Ambitionen gebrochen, um ›exakte Photographie‹ zu betreiben, wie er sie nannte«


(Keller 1994: 25). Nun entwickelte Sander seinen dokumentarisch-soziologischen
Stil, mit dem er in die Foto- (und Wissenschafts-) Geschichte eingegangen ist. – Aber
vielleicht muss man ja gar nicht so strikt unterscheiden zwischen künstlerischen
Arbeiten und Fotoarbeiten, die dokumentarische Intentionen verfolgen und dabei
ästhetisch hochgradig durchgearbeitet sind. Bei Sanders Porträts handelt es sich
um angewandte Kunst: keine kommerzielle, kein »Kunstgewerbe«, sondern »ange-
wandt« im Sinne von wissenschaftlicher Aufklärung. »Angewandte Kunst« – das
ist zwar nicht gerade das aktuellste Synonym für Kommunikationsdesign, aber
doch ein ganz passables.2

Philosophischer und visueller Realismus

Döblin hat 1929 in seiner Einleitung zur Publikation der Auswahl von Sanders
Porträtfotografien also für eine Revision des philosophiegeschichtlichen Prozes-
ses plädiert, in dem die Universalienrealisten unterlegen sind. Döblin ist nicht
in philosophiehistorische Detail gegangen; aber er hat Sanders dokumentarische
Fotografie in die Nachfolge einer Debatte gestellt, die Hegel (1833/1836: 572) in der
Geschichte der Philosophie folgendermaßen zusammengefasst hatte: »Der Realis-
mus der Scholastiker behauptet, daß das Allgemeine ein Selbständiges, Fürsich-
seiendes, Existierendes sei […]. Wogegen die […] Nominalisten […] behaupteten,
das Universale sei nur Vorstellung, subjektive Verallgemeinerung, Produkt des
denkenden Geistes; wenn man Gattungen usf. formiere, so seien dies nur Namen,
[…] Vorstellungen für uns, die wir machen, – nur das Individuelle sei das Reale.«
Döblin wollte mit seiner Lesart zeigen, dass nicht nur das Individuelle real ist,
sondern auch etwas, für das Hegel die Synonyme Allgemeines und Universales
verwendete. Dahinter steht grundsätzlich zunächst einmal die Frage, wie Wirklich-

2 Im Sinne des produktiven Missverständnisses, auf das Bernhard Bürdek (mit Bezug auf
Herbert Read) hingewiesen hat: Unter »applied art« verstand man im Sprachgebrauch
des britischen Kunsthandwerks Verzierungen, die auf Gegenstände appliziert, also
›aufgetragen‹ oder ›angebracht‹ wurden (Bürdek 2012: 65). Mit der Zeit verschob sich
die Bedeutung des Aufbringens von Ornamenten, die im Kontext der Moderne zumeist
abwertend konnotiert war. Sie wurde allmählich als (überwiegend positiv konnotierte)
Manifestation der lebens- und gesellschaftspraktischen Wirkmächtigkeit künstlerischer
Gestaltung verstanden. Also als Manifestation einer Gestaltung, die sich, diesseits eines
umkämpften Bereichs radikaler Autonomie, im Hier und Jetzt nützlich macht – so, wie
heutzutage eine Applikation auf dem Datenspeicher des Mobiltelefons.
116 Zur Dialektik des visuellen Nominalismus

keitssegmente, die nicht sinnlich wahrnehmbar sind, durch visuelle Semiotisierung


kodiert werden (können). Mein Antwortversuch lautet: Sie werden erkennbar, weil
sie (bzw. dann, wenn sie) durch die Visualisierung begrifflich bestimmbar werden.
Visueller Realismus ist insofern eine Ikonisierung, die hilft, »Realabstraktionen« zu
erschließen. Realabstraktionen sind Resultate eines gesellschaftlichen Allgemeinen.
Aber nicht des vernünftigen Allgemeinen, das die Philosophie seit der Aufklärung
als normatives Leitbild zugrunde legt. Solch ein vernünftiges Allgemeines ist
noch nirgends Wirklichkeit geworden. Vorerst folgen Realabstraktionen aus der
Reduktion konkreter Mannigfaltigkeit menschlicher Tätigkeit auf wirtschaftlich
verwertbare Merkmale unter Bedingungen sozialer Herrschaft, die stets auch durch
Gewalt und Repression gekennzeichnet ist.

Ein Bild der bestehenden Gesellschaftsordnung?

Wer von Kindesbeinen an in einer Kultur technisch reproduzierter Bilder so-


zialisiert wurde, muss sich heute vermutlich erst einmal klar machen, was die
Faszination von Sanders Arbeiten für die Zeitgenossen ausmachte. Technisch
perfekte Aufnahmen kannte man zu dieser Zeit aus den Illustrierten Zeitungen,
aber dort waren in der Regel spektakuläre Ereignisse, ›bedeutende Persönlich-
keiten‹ der Politik und celebrities aus der Unterhaltungsbranche zu sehen – aber
nicht Menschen, die sich aufgrund ihrer Alltäglichkeit normalerweise sozusagen
im Bereich des Unsichtbaren bewegten. Die ersten Abbildungen in Sanders Buch
zeigten »Westerwälder Bauern«. Es folgte »Der Herr Lehrer«; dann wurde es, mit
»Kleinstadtbürgern« und Handwerkern, städtisch. Nach einem Generationenbild
»Mutter und Tochter, Bauer und Bergmannsfrau« als Übergang folgten »Landpro-
letarierkinder«, eine »Arbeiterfamilie«, eine »Proletariermutter« mit Kleinkind, ein
»Berliner Kohlenträger«, ein »Arbeiterrat aus dem Ruhrgebiet«, ein »Handlanger«,
ein »Kommunistischer Führer« und drei »Revolutionäre«. »Werkstudenten« und
ein »Kräuterheiliger« gingen katholischen und evangelischen »Geistlichen« vor-
an. Nach drei Porträts aus dem Bürgertum sah man ein männliches Mitglied der
»Jugendbewegung«, dann wieder Berufsporträts. Bilder aus der Welt der Schüler
und Studenten schlossen sich an und weiter ging es mit den ›höheren Ständen‹.
Anschließend trat ein »Bürgerliches berufstätiges Ehepaar« auf den Plan, das
aussah, als sei es Siegfried Kracauers legendärer Sozialforschungs-Reportage Die
Angestellten. Aus dem neuesten Deutschland entstiegen (die allerdings erst ein Jahr
später, 1930, erschienen ist). Es folgten Personen, die man früher als ›Kunst- und
Kulturschaffende‹ bezeichnet hätte und heute ›Kreative‹ nennt. Die letzten Porträts
Zur Dialektik des visuellen Nominalismus 117

schienen durch eine absteigende Linie verbunden: junge Vertreter der »Bohème«,
ein »Schankkellner«, eine »Putzfrau«, ein »Abgebauter Seemann« und schließlich,
das letzte Bild der Sammlung: »Arbeitslos«.
Einige Bilder sind ins kulturelle Gedächtnis eingegangen: der »Konditor«, die
»Revolutionäre« um Erich Mühsam, der stolz wirkende »Handlanger« oder die drei
»Jungbauern« auf dem Weg zum Tanzvergnügen. Der Arbeitslose aus dem Jahre
1928 steht in einer ikonischen Reihe mit den berühmten sozialdokumentarischen
Aufnahmen, die zur gleichen Zeit, der Zeit der wirtschaftlichen Depression in den
USA, für die Farm Security Administration gemacht wurden.
Weniger präsent ist heute Sanders Gesamtkonzept. Sein ehrgeiziges Projekt
ging weit über die Auswahl hinaus, die in Antlitz der Zeit veröffentlicht wurde. Im
vollen Umfang konnte es nie realisiert werden. Sander (1929, zit. nach Keller 1994:
9) wollte einen visuellen Aufriss der »bestehenden Gesellschaftsordnung« geben
– wissenschaftlich, aber auch sozialkritisch. Er verstand sich als teilnehmender
Beobachter. Sein sozialanthropologisches Spurensicherungsprojekt war eine Ex-
pedition ins Innere der eigenen Kultur. Ulrich Keller hat beschrieben, wie Sander
sich nach dem Ersten Weltkrieg von der eigenen sozialen Klasse distanzierte. Die
»Qualität des ›Exakten‹, die seine Bilder nun annehmen«, war demnach ein »Signal
des Übergangs von der kunstphotographischen Verklärung des Bürgertums zu
dessen […] sachliche[r] Inventarisierung.« (Keller 1994: 25) Dabei konnte Sander an
ältere Arbeiten anknüpfen. Einige waren in seiner ersten Karriere als konventioneller
Porträtfotograf mit künstlerischen Ambitionen entstanden. Andere hatte er in freier
Tätigkeit gemacht, geleitet von kontemplativer Neugier auf seine nähere Umgebung.
Nun plante Sander also »einen photographischen Querschnitt durch alle Berufe,
Klassen und Lebensbereiche des Weimarer Deutschland«, berichtet Keller (1994:
25). »Grundstock und Grundmuster dieses Projekts waren in den Westerwälder
Bauernportraits bereits vorhanden. Der […] Versuch, die Einzelperson als Teil
eines sozialen Mikrokosmos zu verstehen, ihre Prägung durch gruppenspezifische
Formen des Familienlebens, der der Arbeit und des Vergnügens darzustellen, wird
jetzt […] zum klaren Konzept ausgearbeitet und auf die verschiedenen Gesellschafts-
partner angewendet, auf Arbeiter und Handwerker, das kleine, mittlere und große
Bürgertum sowie auf Randgruppen wie Zirkusleute und Landstreicher.« (Ebd.)
Sander legte für seine Struktur der »bestehenden Gesellschaftsordnung« drei
Prinzipien zugrunde: die zyklische Bewegung des geschichtlichen Verlaufs, die
soziale Gliederung nach Berufsständen und die Aufteilung des Lebens in öffentli-
ches und privates (siehe Keller 1994: 47 f.). Diese Prinzipien spiegelten sich in der
Anordnung der Bildgruppen wider. Sanders weltanschauliche Vorstellung von
historischen Kreisläufen aus Aufstieg, Niedergang und Verfall war in den 1920er
Jahren keine Seltenheit. Sie prägte die Ordnung der Bilder in Antlitz der Zeit. Da
118 Zur Dialektik des visuellen Nominalismus

bildeten ländliche Bauernporträts den Auftakt, daran schlossen sich städtische


Handwerkerporträts an, und denen wiederum Menschen der Großstadt, geprägt
von den Produktionszusammenhängen der Industrie. Außer den Arbeitenden lebten
in der Großstadt die höheren Stände, aber auch jene, die nach Sanders Auffassung
entweder zur kulturellen Hochblüte oder aber zur ›Dekadenz‹ gehörten. Dazwi-
schen, gleichsam am Rande des sozialen Abgrunds, jene, die niedere Dienste leisten.
Nicht in Antlitz der Zeit enthalten sind Bilder von Menschen in sozial und
politisch bedrohten Lebenslagen. Sie sind im großen Kompendium Menschen
des 20. Jahrhunderts in der Abteilung »Großstadttypen« zu sehen: zum Beispiel
ein »Bettler«, ein »Fürsorge-Empfänger« oder ein »Stadtstreicher« (Sander 1994:
404–406). Ebenso fehlten jene damals bereits vorliegenden Bilder aus der Gruppe,
die Sander in seinen unveröffentlichten Mappen als »Letzte Menschen«3 bezeichnet
hat: die »Zwergwüchsigen« und die »Tote«, die »Kleinwüchsige[n]« und die Toten,
die bei Sander (2002 b: VII/45/9-10 u. VII/45/14–15) »Materie« genannt werden.
Ab 1930 kamen für diese Rubrik beispielsweise hinzu: ein »Alter Bauer«, ein »Ex-
plosionsopfer«, »Blinde« und »Blinde Kinder« (Sander 2002 b: VII/45/13, VII/45/12
u. VII/45/27). Um 1938 entstand die Porträtgruppe »Verfolgte« (Sander 2002 a:
VI/42/1-12): jüdische Mitbürger, die vor einem neutral grauen Hintergrund sitzen,
was die Bilder von den anderen unterscheidet, die in der häuslichen und berufli-
chen Umgebung der Porträtierten gemacht wurden, oder in einer Landschaft, mit
der sie in Verbindung standen, oder in ihrer urbanen Lebenswelt. Die Bildgruppe
»Verfolgte« in Menschen des 20. Jahrhunderts geht jenen »Letzte[n] Menschen«
voraus, deren Bilder das Kompendium beschließen.

3 Dieser Bezeichnung liegt eine falsche Nietzsche-Lesart zugrunde: Die »letzten Menschen«
sind in dessen seinerzeit viel gelesenem Zarathustra-Buch keineswegs sozial Deklas-
sierte; sie sind keine Absteiger, sondern vielmehr die Repräsentanten eines saturierten
bürgerlichen juste milieu, das nicht weiß, dass es am Abgrund steht. Friedrich Nietzsches
Zarathustra-Figur will die träge und demokratisch verweichlichte Gesellschaft der
»letzten Menschen« wachrütteln, damit sie sich auf die nahende Ankunft des »Über-
menschen« vorbereitet. Das zielt nicht auf gesellschaftlich Marginalisierte, Behinderte
und Menschen, die ohne Hilfe nicht überleben können, sondern ganz im Gegenteil auf
die gute Gesellschaft des mainstream. Dort sind zwischenmenschliche Konflikte durch
psychotechnische Therapie scheinbar behoben, die Lebensnot ist durch Beruhigungs-
mittel – bis hin zur Sterbehilfe und erleichterten Arbeitsbedingungen – gelindert, und
soziale Antagonismen sind durch Gleichverteilung und Demokratie beschwichtigt,
wenn auch nicht beseitigt.
Zur Dialektik des visuellen Nominalismus 119

Distanz und Einfühlungsvermögen

Ich finde, die vielfältige Erscheinung des sozial Allgemeinen im Individuell-Beson-


deren wird oft dadurch begünstigt, dass Sander den Menschen, die er porträtierte,
relativ strenge Parameter vorgab. Innerhalb dieser Parameter konnten (und soll-
ten) die Menschen aber ihren ganz eigenen Ausdruck finden. Weil Sander einen
allgemeinen Rahmen vorgab, damit der je besondere, individuelle Eigenausdruck
besser herauskommen soll (was tatsächlich gelang, würde ich sagen), tritt das
sozial Allgemeine, das sie bestimmt, umso deutlicher hervor – und zwar häufig
als Selbststilisierung.
Der »Großindustrielle« aus Köln (Nr. 46) ist eine der wenigen Personen, die
nicht in die Kamera schaut, und die einzige im Antlitz der Zeit, die ein Vollprofil
zeigt. Es ist, als würde der Herr Kommerzienrat einem Maler für ein repräsentati-
ves Porträt Modell sitzen, auf dem ein Visionär des industriellen Fortschritts neue
Ziele anvisiert. Der »Pianist« (Nr. 53) tritt als Repräsentant des seelisch und geistig
›Höheren‹ auf. Er nimmt eine Pose ein, die darauf angelegt scheint, dass man ihn
nur ja nicht übersieht. Sie wird durch Attribute unterstützt: In der Länge hilft der
Hut, in der Breite tut der feine Gehstock in der Hand mit abgewinkeltem Arm
das Seine. Abendgarderobe und die Partitur lassen keinen Zweifel daran, dass der
Künstler auf dem Weg zu einer bedeutenden Darbietung ist. Dazu passt freilich das
Tageslicht nicht so recht, das den großen Saal durchflutet; aber vielleicht sieht man
den Meister ja bei einer Matinee ... Wir wissen aus der Forschung, dass es sich hier
nicht um eine autonome Inszenierung des Fotografen handelte, sondern um eine
Dokumentation. Anders als der Pianist mit Geltungsbedürfnis, wirkt der Komponist
Paul Hindemith (Nr. 52) ganz in sich zurückgenommen und in sich ruhend. Er
verkleinert seine Körperfläche und scheint die Betrachter prüfend anzuschauen.
Der zu seiner Zeit als gemäßigt revolutionär geltende Tonkünstler zeigt keine Spur
von repräsentativem Gehabe. Hindemith stammte aus einer Hanauer Arbeiter-
familie mit handwerklich-kaufmännischen Vorfahren aus dem Tschechischen.
Bis die Nationalsozialisten ihn aus Deutschland vertrieben, war er dort überaus
erfolgreich. Eine heute noch verbreitete Porträtaufnahme aus dem Jahre 1923, die
man zum Vergleich heranziehen kann,4 passt besser zum konventionellen Bild des
gefeierten Kulturschaffenden durch künstlerische Fotografie: Die Figur im tadel-
losen Smoking nimmt eine klassische Denkerpose ein; sie scheint im Nirgendwo
zu sitzen, der Hintergrund mutet an wie eine Kohlezeichnung.

4 https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/b/be/Paul_Hindemith_1923.jpg
(letzter Abruf: 7.8.2018)
120 Zur Dialektik des visuellen Nominalismus

Aufgrund der Distanz, die Sander zu den Menschen einnahm, wird deren Frei-
heit, Haltung und Ausdruck selbst zu bestimmen, nicht beschnitten. Bei Sander
ging die Distanz allerdings mit Einfühlungsvermögen einher. Das merkt man
noch dem Kontrast an, der zwischen Porträts im eigenen Soziotop (im Hause oder
draußen) und Porträts von Verfolgten besteht, denen ihr eigener Raum genommen
wurde. Auch ein Vergleich des berühmten Porträts des Arbeitslosen in Antlitz der
Zeit in der Form, wie es ins Buch aufgenommen wurde (Nr. 60), mit dem nicht
ausgeschnittenen Bild, das die Umgebung, die große Stadt, zeigt5 macht Sanders
Einfühlungsvermögen spürbar.

Nominalismus und Realismus in der Fotografie

In Döblins Lesart wird das Allgemeine sichtbar, dem die Einzelnen ihr Dasein
und ihr So-Sein verdanken, das gesellschaftlich Allgemeine also, von dem sie auf
Gedeih und Verderb abhängen. Die menschliche Haltung ist beinah die gleiche,
aber der soziale Raum macht den Unterschied ums Ganze. – Döblin hat in seiner
klugen Einleitung für Antlitz der Zeit, wie gesagt, auf ein Problem aus der Philo-
sophiegeschichte zurückgegriffen, das damals wie heute als längst erledigt galt.
Der sogenannte Universalienstreit war eine Debatte im ausgehenden Mittelalter.
Noch einmal: Die Frage war, ob den Allgemeinbegriffen Realität zugesprochen
werden kann, mit denen Aristoteles die Welt ordnete, indem er die Dinge in der
Welt, logisch folgerichtig, in Gattungen, Arten und Individuen einteilte, oder ob
Realität lediglich von besonderen Einzeldingen ausgesagt werden dürfe. Die Uni-
versalisten argumentierten so: Den Allgemeinbegriffen, aufgrund derer die Dinge
in der Welt in Gattungen, Arten und Individuen eingeteilt werden, muss etwas in
der Realität selbst entsprechen. Geordnete Erkenntnis ist nur möglich, wenn sie
sich an der objektiven Ordnung der Wirklichkeit ausrichtet. Die Nominalisten
argumentierten hingegen so: Allgemeinbegriffe sind reine Verstandesgebilde. Sie
besitzen keinerlei Fundament in der Realität; sie sind nichts weiter als Rubriken
und Registraturmappen. Begriffe sind Sammelordner, in denen wir Wahrnehmun-
gen und Beobachtungen nach Gutdünken ordnen. Sie sind nicht Ausdruck und

5 https://images.metmuseum.org/CRDImages/ph/web-large/DP228689.jpg (letzter Abruf:


7.8.2018)
Zur Dialektik des visuellen Nominalismus 121

Abbild objektiver Realität, sondern (nur) Konstruktionen des Verstandes. Etwas


Allgemeines existiert nicht.6
Damit hatten die Nominalisten den Weg für die neuzeitliche Beobachtungs-
wissenschaft frei gemacht. Nur Theologen und verstockte Metaphysiker, so schien
es, wollten sich damit nicht abfinden. Döblin war anderer Ansicht. Er interessierte
sich für die Visualisierung eines Allgemeinen, das selbst nicht unmittelbar in Er-
scheinung tritt, aber für die sichtbaren, besonderen Einzelmenschen konstitutiv ist.
Wie gesagt: Auf Sanders Fotografien werde sichtbar, dass ein soziales Allgemeines
über die humane Individualität der porträtierten Individuen dominiert. Wenn sich
zeigen lässt, dass es sich hier nicht um eine Äquivokation handelt, also nicht um
einen philosophischen Kategorienfehler, sondern um eine legitime Übertragung
ontologischer und erkenntnistheoretischer Gedankengänge in sozialphilosophische
Zusammenhänge, dann lässt sich das unerledigte Potenzial des philosophischen
Begriffsrealismus freilegen.
Döblin hat die Beobachter bei der Arbeit beobachtet. Er unterschied drei Typen
von Fotografen. Die ersten waren für ihn Porträtfotografen, die auf ästhetische
Effekte aus sind und sich insofern als Künstler sehen, als sie das Gesicht der port-
rätierten Person nur als Material für ihr Bild wahrnehmen. Die zweiten hielt er für
Porträtfotografen, die »möglichst ähnlich« fotografieren wollen: »das Persönliche,
Private, Einmalige, an diesem Menschen soll auf der Platte festgehalten werden«
(Döblin 1929: 12). Döblin (1929: 13) nannte »diese Ähnlichkeitsphotographen«
»Nominalisten, die keine Kenntnis von den großen Allgemeinheiten haben.« Er
meinte, sie würden sich den individuellen Einzeldingen hingeben und darüber
das Allgemeine vergessen. »Die Nominalisten«, schrieb er, »waren der Meinung,
daß nur die Einzeldinge wirklich real und existent sind, die Realisten hielten aber
dafür, nur die Allgemeinheiten, die Universalien, sagen wir die Gattung, sagen wir
die Idee, sind eigentlich real und existent.« (Döblin 1929: 7) Und schließlich gab
es nach Döblin (1929: 13) noch eine dritte Gruppe, nämlich Porträtfotografen, die

6 Die bedeutendsten Vertreter des Nominalismus waren Wilhelm von Ockham, Johannes
Roscelin und Peter Abaelard. – In einem bis heute renommierten philosophiehistorischen
Kompendium, das 1927 in der 11., bearbeiteten Auflage erschienen war, lesen wir, dass
es im Universalienstreit um die Frage ging, ob genus und species (Gattung und Art),
die Zentralbegriffe der aristotelischen Kategorienlehre, »substantielle Existenz haben
oder bloß in unseren Gedanken« sind – genauer gesagt, um die Frage, »ob sie, falls sie
substantiell existieren, Körper oder unkörperliche Wesen seien, und ob sie von den
sinnlich wahrnehmbaren Objekten gesondert oder nur in und an diesen existieren. […]
Mit dieser Fragestellung wurde nun jene andere […] in Zusammenhang gebracht, ob
die Kategorien res oder voces sein. Daraus ergibt sich dann die Hauptverschiedenheit
der Auffassung, indem die einen die Universalien für res, die anderen für voces hielten,
der Gegensatz also des Realismus und Nominalismus.« (Ueberweg 1956: 205.)
122 Zur Dialektik des visuellen Nominalismus

›Anhänger des Realismus‹ sind. »Sie halten die großen Universalien für wirksam und
real« (ebd.). In der Geschichte der Philosophie, schrieb Döblin (1929: 7), waren die
»Nominalisten […] der Meinung, daß nur die Einzeldinge wirklich real und existent
sind«. So ähnlich würden die meisten Porträtfotografen die Welt sehen: Sie würden
sich den besonderen Einzelnen hingeben und darüber das Allgemeine vergessen.
Sander – so das Ergebnis von Döblins Beobachtung zweiter Ordnung – gehört
zu den Porträtfotografen des Universalienrealismus. Seine Fotografien sind nicht
Ȋhnliche Bilder, bei denen man bestimmt und leicht den Herrn X oder die Frau
Y erkennt«. Nein: Wie oben bereits zitiert wurde, erkenne man, aufgrund von
Sanders universalienrealistischem Parameter, hier »eine Art Kulturgeschichte,
besser Soziologie, der letzten dreißig Jahre« (Döblin 1929: 7). Sander fotografierte
Menschen aus allen gesellschaftlichen Schichten. Sie erscheinen lebendig und
ausdrucksvoll, aber Leben und Ausdruck sind durch ihre soziale Rolle vermittelt.
Das je Individuelle und Besondere tritt in den Hintergrund. Das geht über Beklei-
dung und professionellen Habitus hinaus. Bis in die Physiognomie hinein sind
die Menschen Repräsentanten ihres Standes, ihrer Schicht oder ihrer Klasse: »der
Herr Wachtmeister«, »der Pianist« und so weiter. Das Besondere ist immer schon
durchs soziale Allgemeine geformt und damit relativiert. Dieses Allgemeine ist
meta-subjektiv, eine strukturelle, begriffliche Entität, die nicht unmittelbar als sol-
che in Erscheinung treten und sensuell wahrnehmbar werden kann. Indem Sander
also intuitiv den Erkenntnisstandpunkt des philosophischen Realismus einnimmt,
meinte Döblin (1929: 14), habe er die »vergleichende Photographie« begründet und
»einen wissenschaftlichen Standpunkt oberhalb der Detailphotographie gewon-
nen«. In diesem Licht erscheint das Erbe der scholastischen Philosophie nicht als
metaphysischer Zopf, den ein wahrhaft modernes Denken abschneiden müsse,
sondern im Gegenteil als Basis einer zeitgemäßen wissenschaftlichen Betrachtung
der – wie man es von heute aus sagen könnte – systemisch (fremd-) bestimmten
sozialen Lebenswelt.

Die Dialektik des Nominalismus

Döblins Ehrenrettung der Universalienrealisten ist erläuterungsbedürftig. Denn bei


ihnen war ja nicht von einem sozialen Allgemeinen (im modernen Sinne) die Rede.
Aber Döblins Lesart trägt einem latenten gesellschaftstheoretischen Gehalt der
universalienrealistischen Philosophie Rechnung. Um das zu verdeutlichen, möchte
ich die Dialektik von Realismus und Nominalismus kurz skizzieren. Dabei folge
ich den Philosophen Günther Mensching, Christoph Türcke und Karl Heinz Haag.
Zur Dialektik des visuellen Nominalismus 123

Bis zum Ausgang des Mittelalters wurde die Realität nach dem Modell einer
göttlichen Weltordnung beschrieben. Sie ruhte auf hierarchischen Prinzipien, die
feudale Herrschaftsordnung galt als ihre weltliche Gestalt. Man hielt es für beweis-
bar, dass die Ordnung der Dinge in der Natur und der menschlichen Gemeinschaft
auf Prinzipien beruht, die durch menschliche Vernunft erkennbar sind. Sie allein
verleihen der Realität Bestand, weil sie aus der göttlichen Vernunft entspringen.
Ihre Erkenntnis sei möglich, weil die subjektive Menschenvernunft sie, gemäß den
Regeln der Logik, rekonstruieren kann. Im Universalienstreit argumentierten die
nominalistischen Kritiker gegen die Annahme, dass die begriffliche Ordnung der
Dinge auch ihre seinsmäßige Ordnung ist. »Die Universalien sind nur im subjek-
tiven Denken allgemein« (Mensching 1995: 51). Das Allgemeine sei lediglich eine
gedankliche Konstruktion. Es habe kein objektives fundamentum in re und werde
den Bestimmungen der Einzeldinge, die sich beobachten lassen, nur additiv beige-
fügt. Denn egal ob es um Bezeichnungen für konkrete Gegenstände, Lebewesen und
Artefakte gehe oder um Bezeichnungen für abstrakte Gegenstände: »Das Benennen
von Dingen sei lediglich ein bestimmter, eingespielter Gebrauch von Namen, den
man so, aber auch anders festsetzen kann, weil sie in der Natur keine Entsprechung
haben.« (Türcke 2008: 190) Daher komme eben auch den Universalien kein Sein
zu; dies könne man lediglich empirischen Einzeldingen zusprechen. Im Univer-
salienrealismus würden Worte, die in Wirklichkeit substanzlose Begriffe sind, so
betrachtet, als wären sie von höherer, eigentlicher Seinsbeschaffenheit. Doch erst
umgekehrt werde ein Schuh daraus: Einzeldinge würden aufgrund von Ähnlich-
keiten, die sie miteinander aufweisen, zu Gattungen und Arten zusammengefasst.
Der Verstand konstruiere dann, in einer letzten Abstraktion, das »rein Allgemeine«
(Mensching 1995: 51), das als solches nicht existiere.
Die nominalistische Aufwertung der Einzeldinge bereitete die soziale Eman-
zipation der Individuen vor. De facto haben die Nominalisten das Modell einer
universalen Weltordnung zerstört und der feudalen Herrschaftsordnung den
Boden unter den Füßen weggezogen – auch wenn das gar nicht ihre Absicht war.
Sie haben die neuzeitliche Vorstellung vorbereitet, dass wissenschaftlich-techni-
sche Naturbeherrschung die Grundlage freier individueller Selbstbestimmung im
gesellschaftlichen Zusammenhang ist. Die Position des Begriffsrealismus gilt seit
dem Triumph der via moderna in den Wissenschaften als erledigt. Nominalismus
ist auch das Bewusstsein der Semiotisierung von Segmenten der Wirklichkeit im
kulturellen Prozess.
Aber warum ist das ein Problem? Was hatte Döblin an dem Ansatz zu beanstan-
den, den er die »nominalistische« Porträtfotografie nennt? Sozialphilosophische
Kritiker des Nominalismus gehen davon aus, dass die Menschen als Individuen
(also, in philosophischer Terminologie: als ›Besondere‹) immer vom ›Allgemeinen‹,
124 Zur Dialektik des visuellen Nominalismus

d. h. von sozialen Bewegungsgesetzen, bestimmt sind, und zwar weit mehr, als es
den Anschein hat. Der Nominalismus hat sozusagen das Kind mit dem Bade aus-
geschüttet: Er zeigte, dass die Menschen die Ordnung der Welt selbst herstellen,
untergrub dabei aber die Erkenntnis, dass diese Ordnung zwar selbstgemacht,
aber zugleich auch fremdbestimmt ist. Die allgemeinen Bewegungsgesetze, denen
wir uns als Individuen nach wie vor unterwerfen müssen, produzieren wir zwar
selbst, aber, mit den Worten von Marx: Wir tun es »nicht aus freien Stücken, nicht
unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen
und überlieferten Umständen.« (Marx 1852: 115) Mit Herbert Marcuse kann man
hinzufügen, dass »die Ökonomie als die fundierende Schicht« in der bürgerlichen
Gesellschaft »derart zum ›Wesentlichen‹ geworden ist, daß alle anderen Schichten
[der gesellschaftlichen Wirklichkeit] zu ihrer ›Erscheinungsform‹ geworden sind«
(Marcuse 1936: 69).
Noch einmal: Nominalistisches Denken nimmt Selbstbestimmung vorweg,
die sich begrifflich von der statischen Ordnung einer unveränderlichen Natur
befreit, und diese Freiheit in der industriellen Produktionsweise auch praktisch
herstellt. »Die Autonomie der Menschen gegenüber der Naturordnung, welche der
Nominalismus theoretisch antizipiert, galt es danach produktiv herzustellen, die
Welt jenem Selbstbewußtsein gemäß einzurichten«, schreibt Günther Mensching:
»Darin erschließt sich die Perspektive eines Fortschritts, der die Produktivkräfte
gesellschaftlich entfesselt« (Mensching 1984: 43). Dieser Fortschritt bedeutet aber
einen Bruch im menschlichen Selbstverständnis. »Die Einsicht, daß die Individuen
in produktiver Tätigkeit selbst die Begriffe hervorbringen und sie zu Urteilen und
Schlüssen verknüpfen, erscheint […] in einem neuen Licht«, schreibt Christoph
Türcke, »wenn ihr der Boden entzogen wird, auf dem sie bei Thomas von Aquin
noch stand: die Gewißheit, daß die Strukturen des Denkens bei aller Selbststän-
digkeit letztlich doch in denen des Seins ihr sicheres Fundament haben. Geht diese
Gewißheit verloren, weil die Gesellschaft, auf die sie sich gründet, zerfällt, so werden
die Menschen in einer zuvor nicht gekannten Weise auf sich zurückgeworfen.«
(Türcke 1983: 22; siehe Türcke 2016: 36–42) Natur wird zum bloßen Substrat von
Naturbeherrschung. Sie wird als an sich selbst bestimmungslos vorgestellt und zur
Projektionsfläche industrieller Eingriffe degradiert (Haag 1983: 54–67). Realität
scheint kein objektives Fundament mehr zu haben, auf dem sie, außerhalb des
Dafürhaltens der Subjekte, stehen könnte. Der Nominalismus macht den Weg frei
für die Anerkennung des Individuell-Besonderen; aber er leugnet, dass es immer
noch durch Allgemeines vermittelt ist, und liefert es so dessen Herrschaft aus. Für
Thomas Hobbes zum Beispiel, der den Nominalismus in politische Philosophie
umsetzte, gab es keine wesensmäßigen Bestimmungen der Individuen mehr, durch
deren Erkenntnis sich Gesetze und Herrschaft vor der kritisch prüfenden Vernunft
Zur Dialektik des visuellen Nominalismus 125

zu legitimieren hätten. Stattdessen verfügt der Staat autoritär über alle Einzelnen
(Haag 2005: 7 ff.).
Die Menschen des zwanzigsten Jahrhunderts, so kann man Döblins Ansatz
vor diesem Hintergrund resümieren, sind (noch) gar nicht die unverwechselbaren
Individuen, die sie sein sollten, gemäß ihrem Anspruch auf menschliche Würde.
Sie sind bis ins Innerste geprägt vom Äußerlichen, dem gesellschaftlichen Allge-
meinen – »soziale Charaktermasken« im Sinne von Marx.

Spur und Zeichen, Konstruktivismus und Essentialismus

Im fototheoretischen Diskurs wurde Döblins Einleitung zu Sanders Antlitz der Zeit


im Prinzip zur Kenntnis genommen, aber im Detail hat niemand daran angeknüpft.
Die originelle Verbindung mit dem Universalienrealismus wurde übergangen,
auch noch, nachdem Auszüge aus Döblins Sander-Vorwort 30 Jahre später in der
Schweizer Kulturzeitschrift Du ein weiteres Mal veröffentlicht wurden (Döblin
1959). Fragen des Realismus der Fotografie wurden entweder im Rahmen des äs-
thetischen, des bildtheoretischen oder des ontologischen Realismus diskutiert. Die
ontologische Drift kam über die Konzepte der ›Spur‹ und der ›Einschreibung‹ in
den Diskurs. Ist das fotografische Bild als reale, indexikalische Spur zu ›lesen‹ oder
als symbolische Konstruktion, die arbiträr ist und nur aufgrund von Konventionen
gilt? In der Frühzeit des Mediums galten Fotos als Spuren von Einschreibungen,
die reale Objekte mittels physikalischer und chemischer Abläufe, die der Fotograf
kontrolliert, selbst hinterlassen. Das wird im Alltagsgebrauch oder vor Gericht
ja noch heute so empfunden. Spätestens durch die Digitalisierung der Fotografie
ist solch ein Realismus aber eigentlich unmöglich geworden. Und bereits für die
analoge Fotografie ist gezeigt worden, dass Fotografien niemals Widerspiegelungen
ansichseiender Wirklichkeit sind, sondern semiotische Konstruktionen. Die ideolo-
giekritische Semiotik von Roland Barthes (1961) hat den naturalistisch-realistischen
Schein, ganz im Geist des Nominalismus, dekonstruiert.
Stuart Hall, der an die strukturale Zeichenanalyse von Barthes angeschlossen
hat, betonte in seinen Überlegungen zur Produktion und Aneignung von kodier-
ten Botschaften der visuellen Sprache, dass visueller Realismus stets ein Resultat
bestimmter diskursiver Praktiken ist. »Auch ikonische Zeichen sind […] kodierte
Zeichen«, sagt Hall (1995: 95; Übers.: G.S.): »Naturalismus und ›Realismus‹ – die
scheinbare Treue, welche die Repräsentation dem Ding oder dem Begriff hält,
die repräsentiert werden, sind Ergebnis und Effekt einer gewissen spezifischen
Artikulation der Sprache in Bezug auf das ›Reale‹«, also: »Ergebnis einer diskursi-
126 Zur Dialektik des visuellen Nominalismus

ven Praxis.« Die Wahrnehmung visueller Zeichen ist eine Art Lektüre, sie findet
unter Bedingungen der unbewussten Dekodierung von Zeichentexturen statt.
Kants Synthesis der Apperzeption, die alle Subjekte immer schon übergreift, wird
im semiotischen Strukturalismus der Cultural-Studies-Schule auf der Ebene der
Zeichen-Entschlüsselung mit der Marx’schen Analyse des Arbeitsprozesses unter
Bedingungen der kapitalistischen Akkumulation zusammengebracht. Die Produk-
tion visueller Botschaften ist demnach ins gesamtgesellschaftliche Produktionsver-
hältnis eingelassen, und ihre Rezeption ebenso. Durch Analyse der Signifikation
soll der Text lesbar werden, der sich zwischen die Wirklichkeit und die Subjekte
schiebt, aber es geht nicht darum, Welt und Wirklichkeit in den Text aufzulösen.
Der kulturtheoretische Sozialkonstruktivismus der Cultural Studies geht nicht
so weit wie der später in Mode gekommene radikale Konstruktivismus. Dieser
unterläuft die Grundlagen intersubjektiver Verständigung über Gesellschaft und
Natur, wenn er die Möglichkeit der Annahme einer außersubjektiven Wirklichkeit
grundsätzlich für widersinnig erklärt. Cultural Studies wollen durch Reflexion der
Überkreuzungen von Diskurspraktiken und Ideologien über die Differenz zwischen
der Welt und dem kodierten Text aufklären.
Solche semiotische Aufklärung, die soziale Mechanismen der Produktion von
Bedeutung analysiert, ist nominalistische Ideologiekritik. Aber genau dort trifft sie
sich mit Döblins Kritik des visuellen Nominalismus. Denn das soziale Allgemeine
einer durch Klassen und Herrschaft bestimmten Gesellschaft hat nicht aufgehört
zu existieren, es entzieht sich nur der Erkennbarkeit.
Die provokante Implikation der Döblin-These ist jedoch im Fotodiskurs, wie ich
nun schon mehrfach gesagt habe, nicht bemerkt worden. Dort wurde überhaupt
nicht auf das Verhältnis von Universalienrealismus und -nominalismus eingegan-
gen; aber es ging, wenn man so will, um Folgeprobleme, die mit dem Dilemma von
positivistischer Sozialstatistik und essentialistischer Typenlehre zu tun haben.
Konkret wurden entweder Versuche aus dem 19. Jahrhundert diskutiert, vermeint-
liche »Verbrechertypen« mithilfe fotografischer Visualisierung anthropometrisch
zu erfassen, oder aber die Frage, wie die Verbreitung digitaler Fototechnik dabei
hilft, die essentialistische Illusion zu zerstören, dass Fotos auf magische Weise
die Präsenz eines Objekts repräsentieren würden, welches real existiert oder real
existiert hat. Ersteres ist das Thema der Abhandlung »Der Körper und das Archiv«
von Allan Sekula aus dem Jahre 1986; Letzteres war Thema in einem Aufsatz von
Wolfgang Ullrich von 1997.
Sekula, der Konzeptkünstler und Fotograf, der seinen Ansatz der Dokumen-
tarfotografie als »critical realism« bezeichnet hat, setzt sich in seiner Abhandlung
kritisch mit dem Problem auseinander, das ein im 19. Jahrhundert dominierender
empiristisch-nominalistischer Ansatz hat, der »Verbrechertypen« (Sekula 2003: 309)
Zur Dialektik des visuellen Nominalismus 127

kartografieren möchte. Diesem Rückfall in naivsten Realismus der Menschentypen,


den Sekula (2003: 24) als »essentialistisches Typologiesystem« bezeichnet, stand
alsbald ein »nominalistisches Identifikationssystem« gegenüber, mit dem kriminelles
Tun detektivisch aufgeklärt werden sollte. Nun sollte keine Typologie mehr erar-
beitet werden, sondern eine komplette Dokumentation der Vielfalt erscheinender
Merkmale, anhand derer man einzelne kriminelle Individuen aufspüren und über-
wachen könnte. Die vollständige empirische Dokumentation der Totalität erwies
sich natürlich binnen Kurzem als ein Ding der Unmöglichkeit. Sekula (2003: 24 f.)
hat gezeigt, wie diese Extreme, die er treffend »die beiden Pole der positivistischen
Regulierungsversuche sozialer Abweichungen« nennt, als dialektische Momente
eines in sich widersprüchlichen Bild von den Ursachen der Kriminalität in der
bürgerlichen Gesellschaft zusammengehören.
Angesichts der Fotografie im Alltag konstatierte Ullrich (1997: 64), dass die
Bildbetrachter oftmals noch ein »essentialistisches Bildverständnis – eine Bildverges-
senheit« – an den Tag legen würden. Diese Rezeptionseinstellung sei jedoch auf dem
Rückzug, weil die digitale Bildproduktion auf dem Vormarsch ist. Die Selfie-Kultur
von heute, so argumentiert Ullrich in einem neueren Aufsatz, ist nicht auf Indi-
vidualismus und Narzissmus zurückzuführen.7 Ullrich (2015) meint, hier würde
ein Zeichencode etabliert, ein universal verständliches Set von Ausdrucksgesten

7 So eine Sicht auf das Phänomen scheint sich ja durchaus anzubieten – z. B. im Anschluss
an Überlegungen von Marshall McLuhan (1964: 57 ff.), der die Faszination der Anwender
technischer Geräte als Symptom ihrer Selbstverliebtheit gedeutet hat. In der Tat ist diese
Deutung heute ein populäres Motiv jener Kulturkritik, die sich vom Populären abgren-
zen möchte. Allerdings gilt es zu beachten, dass McLuhan nicht psychologisch ansetzte,
sondern technik-deterministisch. Damit das Sinn ergibt, bestritt McLuhan, dass Narziss
im Mythos autoerotisch auf sich selbst fixiert gewesen sei. »Der Jüngling Narziß faßte sein
eigenes Spiegelbild im Wasser als eine andere Person auf. Diese Ausweitung seiner selbst
im Spiegel betäubte seine Sinne, bis er zum Servomechanismus seines eigenen erweiterten
und wiederholten Abbilds wurde. […] worauf es bei dieser Sage ankommt, das ist der
Umstand, daß Menschen sofort von jeder Ausweitung ihrer selbst in einem andern Stoff
als dem menschlichen fasziniert sind.« (McLuhan 1964: 57) »Jede Erfindung oder neue
Technik ist eine Ausweitung oder Selbstamputation unseres natürlichen Körpers […]
Als Erweiterung und Beschleunigung des Sinneslebens beeinflußt jedes Medium sofort
die gesamte Sinnesorganisation« (McLuhan 1964: 61). Für McLuhan ist es daher nichts
Anstößiges, wenn Menschen auf ihre Kommunikationsinstrumente fixiert sind, denn
er meint: »die dauernde Aufnahme unserer eigenen Technik in den Alltag versetzt uns
in die narzißtische Rolle unterschwelligen Bewußtseins oder der Betäubung in bezug
auf diese Abbilder von uns selbst. Indem wir fortlaufend neue Techniken übernehmen,
machen wir uns zu ihren Servomechanismen. Deswegen müssen wir, um sie überhaupt
verwenden zu können, diesen Objekten, diesen Ausweitungen unserer selbst, wie Göttern
kleinerer Religionen dienen.« (McLuhan 1964: 63)
128 Zur Dialektik des visuellen Nominalismus

für die digitale Kommunikation emotionaler Momente und Befindlichkeiten. Dem


stimme ich grundsätzlich zu; aber anders als Ullrich würde ich betonen, dass dabei
das individuelle Interesse für die kulturindustrielle Integration der Endverbraucher
sorgt. Bei der Entwicklung eines neuen kommunikativen Codes produzieren wir
visuelle Kulturwaren. Die erscheinen als höchste Stufe der Individualität (oder,
für Kulturkritiker: als hemmungsloser Individualismus). Sie sind aber Erschei-
nungsweisen des Konkurrenzkampfs um Aufmerksamkeit. Hier findet keine ver-
ständigungsorientierte Kommunikation, kein selbstbestimmter Austausch statt.
Die »Kolonisierung des visuellen Unbewussten« (Jameson) durch die allgemeinen
»Imperative der Macht und des Geldes« (Habermas) in Produktion und Verwaltung
– sie hat in der Selfie-Kulturindustrie ihren vorläufigen Höhepunkt erreicht. Mit den
universalen selfies folgen wir aus freien Stücken dem allgemeinen sozialen Imperativ
der Wahrnehmbarkeit. Dieser ist das Zentrum der Aufmerksamkeitsökonomie
einer digitalisierten Konkurrenzgesellschaft. Das individuell Besondere erscheint
als das Einzige, was zählt; soziale und zwischenmenschliche Allgemeinheit scheint
zurückzutreten, universale Prinzipien und Werte lösen sich auf.
Im spätmodernen Kulturkapitalismus wird das Singuläre gefeiert, schreibt
der Soziologe Andreas Reckwitz (2017: 7 f.): »Sowohl für materielle Güter wie für
Dienstleistungen gilt, dass an die Stelle der Massenproduktion uniformer Waren
[…] Ereignisse und Dinge treten, die nicht für alle gleich oder identisch sind,
sondern einzigartig, das heißt singulär sein wollen. […] Standen in der alten In-
dustriegesellschaft […] formale Qualifikationen und Leistungsanforderungen im
Vordergrund, so geht es in der neuen Wissens- und Kulturökonomie darum, dass
die Arbeitssubjekte ein außergewöhnliches ›Profil‹ entwickeln.« Meine These im
Anschluss daran: Wenn das Individuelle als das neue Allgemeine auftritt, kommt
darin das alte soziale Allgemeine zu neuer Erscheinung. Wir sind Besitzer von Ar-
beitskraft, die als Ware getauscht wird, um Mehrwert zu produzieren. Arbeitskraft
zählt nicht primär, weil sie konkrete, individuelle Gebrauchswerte schafft, sondern
weil sie abstrakten, allgemeinen Tauschwert besitzt – in der Fabrik, im Service-
und Kreativbereich und immer stärker auch in der Bildungs- und Kulturindustrie.
Wie dem auch sei: Döblin zufolge ist Sanders Realismus kein ästhetischer oder
dingontologischer, sondern ein metaphysischer Begriffsrealismus. Selbstverständ-
lich ist das cum grano salis zu verstehen: Döblin wollte wohl kaum behaupten,
dass Sanders Phantasie einer geordneten Ständegesellschaft soziologischer Kritik
standgehalten hätte. Es war sicherlich auch nicht so gemeint, als würde sich die
Seinsweise philosophischer Allgemeinbegriffe in den fotografischen Porträts als
höherstufige Seinswirklichkeit erweisen. Allgemeinbegriffe sind tatsächlich so
abstrakt, wie die Nominalisten behauptet hatten. Aber die Fotografien, das kann
man in einer Terminologie sagen, die Döblin nicht verwendet hat, demonstrieren
Zur Dialektik des visuellen Nominalismus 129

die Realität sozialer Abstraktionen. Und eine Pointe der nominalismuskritischen


Sander-Lesart, die Döblin selbst dabei gar nicht herausgearbeitet hat, besteht in
Folgendem: Durch visuelle Verwandlung in ikonische Zeichen werden symbolische
Zeichen im Sinne von Peirce, also Begriffe, die konventionell festgelegt worden sind,
als realexistent erkennbar. Es scheint, als sollte Russel Recht behalten: »Ohne die
Annahme der Existenz von realen Abstrakta kommen wir nicht aus.«

Literatur

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III
Kommunikationsdesign und Ethik
Moralphilosophie
im Kommunikationsdesign*1
Moralphilosophie im Kommunikationsdesign

Moralphilosophie im Kommunikationsdesign

Kommunikationsdesign ist kein »moralfreier Raum«, denn dergleichen gibt es in


der Gesellschaft und Kultur nicht. Die Verbindung von Kommunikationsdesign und
Ethik ist daher keine bloße Zuschreibung »von außen«. Kommunikationsdesigner
entwickeln nicht nur Strategien für irgendwelche Mitteilungsziele, die man bei ihnen
in Auftrag gibt. Sie fragen immer auch, wie die kommunikativen Zwecke zu bewerten
sind, welche Mittel für welchen Zweck gerechtfertigt sind, welche nicht usw. Der
ethische Diskurs, den es im Design durchaus gibt, wird aber fast ausschließlich von
Vertretern des Produktdesigns geführt; Stimmen aus dem Kommunikationsdesign
sind selten zu hören. Für Otl Aicher (1991: 67), den guten Geist von Ulm, stand fest:
»der designer ist eine art moralist. […] Seine tägliche arbeit besteht aus wertungen.«
Gestalter, so würde ich diese robust formulierte Aussage interpretieren, treffen
Entscheidungen, die ethisch begründbar sein sollten. Ihre Produkte drücken ihre
moralischen Haltungen aus und bewerten die bestehende Welt.

* Ursprünglich ein Vortrag auf der Tagung Ethik und Moral in Kommunikation und
Gestaltung an der Fakultät Gestaltung der Hochschule für angewandte Wissenschaf-
ten in Würzburg am 25. Oktober 2012. Erstveröffentlichung in: Ethik und Moral in
Kommunikation und Gestaltung, hrsg. v. Christian Bauer, Gertrud Nolte u. Gerhard
Schweppenhäuser, Würzburg: Königs­hausen & Neumann, 2015, S. 39–55. Die vorliegende
Fassung wurde gekürzt und überarbeitet. Eine frühere, längere Fassung erschien unter
dem Titel »Wertgefühle, Wertunterscheidungen und moralische Wertbezeichnungen:
Moralphilosophie im Kommunikationsdesign« in: Zwischen den Kulturen. In Gedenken
an Heinz Paetzold, hrsg. v. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik u. Helmut Schneider, Kassel:
Kassel University Press 2012 (Kasseler Philosophische Schriften – Neue Folge, Bd. 5),
S. 154–173. – Teile des Textes wurden in das Buch Ethik im Kommunikationsdesign.
Verständigung, Verantwortung und Orientierung als Kriterien visueller Gestaltung
aufgenommen, das ich gemeinsam mit Christian Bauer verfasst habe (Würzburg: Kö-
nigshausen & Neumann, 2017).
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 133
G. Schweppenhäuser, Design, Philosophie und Medien, Würzburger Beiträge zur
Designforschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-22225-3_9
134 Moralphilosophie im Kommunikationsdesign

Ethische Modelle und Konzepte

Ist ein »Moralist« dasselbe wie ein »Ethiker«? »Moral« nennt man die individuellen
Überzeugungen von Menschen und auch die Sitten in einer Gemeinschaft, »Ethik«
ist hingegen, um es mit Erlinger (2012) zu sagen, »Nachdenken über Moral«. Oder,
um es mit Niklas Luhmann (1989) zu sagen: Ethik ist die »Reflexionstheorie der
Moral«. Allerdings nicht, wie Luhmann meinte, im Sinne einer Theorie, die ihren
Gegenstand bloß wie ein Spiegel reflektiert, rein deskriptiv verfährt und keine nor-
mativ-kritische, begründete Stellung zu ihrem Gegenstand einnehmen kann. Ethik
fragt vielmehr reflexiv nach den Prinzipien und Geltungsansprüchen, die unseren
moralischen Überzeugungen zugrunde liegen. Ein Moralist will die bestehenden
Sitten durch Kritik, Praxis, Entwurf und Vorbild beeinflussen, während ein Ethiker
ein Moralphilosoph ist, der Begründungen von Moralprinzipien betrachtet, sie inter-
pretiert und ihre Qualität untersucht. Beides ist in unserem Zusammenhang wichtig.
Wie gesagt: Gestalter und Wissenschaftler aus dem Bereich der visuellen Kom-
munikation haben sich mit Beiträgen zum Thema »Design und Ethik« bislang
zurückgehalten. Aicher war eine der wenigen Ausnahmen. Eine weitere Ausnahme
ist das Buch Form:Ethik. Ein Brevier für Gestalter von Hajo Eickloff und Jan Teu-
nen. Die Autoren postulieren Werte, die für alle akzeptabel sind: für Entwerfer,
Hersteller, Konsumenten und Werber. Aber ihr Buch strotzt vor Unverbindlichkeit;
die postulierten Werte heißen Naturbewahrung, Nachhaltigkeit, gesellschaftlicher
Nutzen, Schönheit und Kreativität. Wer würde dem widersprechen? Die Autoren
schreiben: »Für Gestalter kann es wichtig sein, sich eine Sensibilität für den unsicht-
baren Bauplan des Universums zu bewahren, weil er dadurch eine Verantwortung
für seine Mitmenschen, seine Umwelt und gegenüber zukünftigen Generationen
gewinnt.« (Eickloff und Teunen 2006: 111) Wie Verantwortung als ethischer Wert
begründet wird, geht daraus aber nicht hervor. – Ich werde weiter unten ein phi-
losophisches Begründungsmodell der Verantwortung ansprechen.
Eine profunde Auseinandersetzung mit visueller Kommunikation anhand von
moralphilosophischen Kategorien müsste dort ansetzen, wo es weh tut – also bei den
normativen Konflikten, in die Gestalter geraten können. Stellen wir uns vor, es geht
um Gebrauchsanleitungen für eine Herz-Lungen-Maschine oder für Landminen. Oder
es geht darum, ob man Werbung für Fair-Trade-Produkte aus der Landwirtschaft
macht, oder für Kleidung, die von ausgebeuteten Kindern genäht wurde. Dann gibt
es wohl einen Konsens, was moralisch »in Ordnung« ist und was nicht. Aber zum
Beispiel bei der AIDS-Aufklärung hört der Konsens schon auf. Wenn die Religion ins
Spiel kommt, lässt sich die Ächtung von Kondomen moralisch begründen, nämlich
mit der Ehrfurcht vor Gottes Einrichtung der Natur. Man kann dann ja durchaus
der Meinung sein, dass Empfängnisverhütung mit der Verantwortung »für den
Moralphilosophie im Kommunikationsdesign 135

unsichtbaren Bauplan des Universums« nicht vereinbar ist. Wenn man eine Kam-
pagne für Kondomverwendung macht, muss man also begründen können, wieso es
moralisch falsch ist, keine Kondome zu verwenden. Wenn man sich dafür auf eine
Wertediskussion einlässt, könnte sie auf die Frage hinauslaufen: Was ist der höhere
Wert? ›Fortpflanzung mit hohem Risiko oder Schutz der Gesundheit?‹ Man könnte
auch zwischen zwei Geboten abwägen: entweder ›Du sollst die Fortpflanzung nicht
behindern‹ oder ›Du sollst dich und andere vor Schaden bewahren‹.
Will man die Diskussion aber nicht auf der Ebene von Wertpräferenzen füh-
ren, so kann man auf formalem Wege versuchen zu zeigen, dass das Verbot in
sich nicht stimmig ist. Etwa folgendermaßen: Wenn ›das Leben‹ als solches der
höchste Wert ist, gilt das ja auch für das Leben jedes einzelnen, der sich also vor
einer HIV-Infektion schützen sollte. Eine ähnliche Argumentation könnte man
auch vorbringen, wenn es um Aufklärung über Möglichkeiten und Risiken von
Schwangerschaftsabbrüchen geht. Denn auch hier kann man das Leben als allge-
meinen Wert verstehen, der den einzelnen Menschen vorgeordnet ist – oder man
kann die Auffassung vertreten, dass Leben immer nur als konkretes Leben von
einzelnen Menschen moralisch relevant ist.
Oft ist die Lage aber uneindeutig, oder aber es ist nicht mehr nur die Moralphilo-
sophie zuständig, weil man sich auf dem Reflexionsgebiet der politischen Philosophie
befindet. Unter einem anderen Aspekt betrachtet, kann man hier aber auch den
Übergang von der allgemeinen Ethik zur angewandten Ethik ansetzen (siehe dazu
Thurnherr 2000 und Nida-Rümelin 2005). Als »allgemeine Ethik« bezeichnet man
im Fachdiskurs der Philosophie die Reflexion und Begründung von Moralprinzipien;
deren Gegenpol ist gewissermaßen die moralische Kasuistik. Also die Betrachtung
und Diskussion konkreter Einzelfälle. Die »angewandte Ethik« ist zwischen der
Prinzipienbegründung und der Einzelfallanalyse angesiedelt: Es handelt sich hier
um die Bemühung, Übergänge zwischen dem allgemeinen Bereich und dem der
Einzelfälle zu entwickeln, also anwendbare Regeln zur Orientierung zu formulie-
ren, die näher am empirischen Geschehen dran sind als Allgemeinprinzipien, aber
gleichwohl noch einen gewissen Grad von Allgemeinheit besitzen.
Moralisches Handeln wird nicht nur rational, aus ethischen Werten oder Moral-
prinzipien, abgeleitet. Es entsteht immer auch impulsiv, angesichts von konkreten
Herausforderungen des moralischen Gefühls. Wenn wir aber nur gefühlsethisch
argumentieren und alles auf den moralischen Impuls setzen würden, hätten wir
keine Instanz für normative Kritik. Die ist aber nötig – besonders, wenn moralische
Impulse ausbleiben. Dann geht es nicht ohne Rationalität (Adorno 1966: 226 ff.).
Wenn es im Zusammenhang moralischer Konflikte und ihrer ethischen Reflexi-
on auf die Begründungen, also auf Argumente, ankommt, führt die Beschwörung
136 Moralphilosophie im Kommunikationsdesign

von Werten (oder die Verkündung einer pantheistischen Weltanschauung wie im


zitierten Ethik-Brevier für Gestalter) nicht weit.
Es geht aber auch anders. First Things First, das Manifest des Grafikdesigners Ken
Garland, plädierte schon 1964 für die Priorität nützlicher und dauerhafter Formen
der Kommunikation. Statt Werbung für Konsumvielfalt sollten sich Grafikdesig-
ner Dingen widmen, die zum »nationalen Wohlstand« beitragen. Garland nennt
Orientierungssysteme, Bücher, Zeitschriften, Kataloge, Bedienungsanleitungen,
Lehrmittel, Filme und Fernsehfeatures, Industriefotografie und wissenschaftliche
Veröffentlichungen. Sie sollen Bildung, Erziehung und Kultur sowie größere Auf-
merksamkeit für die Welt im Allgemeinen fördern. 35 Jahre später veröffentlichten
die Adbusters das Manifesto 2000. Die Autoren stellten selbstkritisch fest, dass sie als
Werbeprofis ihren Beitrag zur Verstümmelung des öffentlichen Diskurses leisten.
Reklame, Marketing und Markenentwicklung erziehen Bürger zu Konsumenten
und verändern Sprache, Gefühle, Kommunikation und Interaktion. Designer
sollten aber bei der Entwicklung kultureller Neuerungen mitwirken, z. B. mit so-
zialen Marketingkampagnen, Büchern, Zeitschriften, Ausstellungen, Lehrmitteln,
Fernsehprogrammen, Filmen und Wohltätigkeitsprojekten. Die visuelle Sprache der
Gestalter soll dem Konsumismus den Kampf ansagen: weg vom Produktmarketing,
hin zu demokratischer Kommunikation.
Beiden Manifesten liegen ethische Argumentationen zugrunde. Sie greifen
auf folgende Werte zurück: sozialer Nutzen, Nachhaltigkeit und demokratische
Teilhabe. Grundlage ist die utilitaristische Ethik, wie sie John Stuart Mill im
19. Jahrhundert formuliert hat. Sie besagt: Der soziale Gesamtnutzen (oder: der
Gesamtgewinn) steht über dem egoistischen Gewinninteresse. Daher ist nur ein
solches Handeln gerechtfertigt, das zum maximalen Glück der größten Zahl von
Menschen beiträgt. Das Einzelinteresse wird aber nicht verleugnet: Die kritischen
Manifeste rufen nicht zum Berufswechsel oder zum Branchenboykott auf. Sie legen
Kommunikationsdesignern ans Herz, ihren Lebensunterhalt auf anständige, sozial
und kulturell zuträgliche Weise zu verdienen.
Kann man den ethischen Anspruch im Kommunikationsdesign auch von an-
deren Positionen aus begründen als vom Utilitarismus? Als weitere Bezugspunkte
bieten sich die Verantwortungsethik, die Pflichtethik oder die Ethik des Mitleids
bzw. der Solidarität an. Auch die Ethik des Willens zur Macht kann eine Rolle
spielen. Ich werde das im Folgenden ausführen und dann am Ende die – von Kant
inspirierte – These vertreten, dass die beste Ethik des Kommunikationsdesigns
eine Ethik der Kommunikation ist.
Schauen wir uns zunächst die Bereiche des Kommunikationsdesigns an. Ich
unterscheide vier Sektoren, die jeweils mehrere Medienbereiche übergreifen: 1.
Information, Bildung und Aufklärung, 2. soziale Kampagnen, 3. Public Relations
Moralphilosophie im Kommunikationsdesign 137

und 4. Werbung. Den Punkt Public Relations werde ich hier allerdings nicht be-
handeln, damit der Rahmen des Beitrags nicht gesprengt wird.

Information, Bildung und Aufklärung

Zunächst zum ersten Sektor. Der Pionier auf dem Gebiet sozialer Aufklärung, Bildung
und Information durch visuelle Kommunikation war Otto Neurath, auf den sich heute
u. a. Ruedi Baur beruft. Neurath wollte Experten-Informationen aus Wissenschaft
und Politik allgemeinverständlich gestalten, damit arbeitende Menschen sie nutzen
können, um ihre Lebenslage zu verbessern. Die Verantwortung des Gestalters war
für Neurath an eine sozialethische Haltung gebunden. Die Lebensverhältnisse kön-
nen mithilfe von Forschung und Wissenschaft verbessert werden, wenn wir unsere
sozialen Beziehungen vernünftig gestalten, das heißt: planen. Das war bei Neurath
übrigens keine Volkspädagogik der »guten Form«. Deren Vertreter glaubten – ganz
im guten Geist von Ulm – sicher zu wissen, was die »gute Form« ist und wie sich
»gute Menschen« verhalten sollen. Kommunikationsdesign als Aufklärung ist aber
etwas anderes, nämlich Hilfe zum selbstständigen Wahrnehmen und Denken.
Kant lehrte, dass Vernunft nur praktisch werden kann, wenn sich Menschen aus
Freiheit selbst bestimmen; Freiheit ist nur denkbar, wenn die Grundlage unseres
Handelns widerspruchsfrei verallgemeinert werden kann. Diese Argumentation
ist formal, hat aber inhaltliche Folgen. Nach Kant (1788: A 54) sollte jeder, wenn
es moralisch darauf ankommt, so handeln, dass der Grundsatz der Handlung
»jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könnte«.
Dann würde er »die Menschheit« in sich und in allen anderen »niemals bloß als
Mittel«, sondern »jederzeit zugleich als Zweck« (Kant 1785: BA 66 f.; siehe Kant
1788: A 155) auffassen. Wenn die Menschheit nicht nur als Idee, sondern auch in
Wirklichkeit »Zweck an sich selbst« wäre, müssten die besonderen Interessen und
das allgemeine Interesse nicht mehr auseinanderfallen. Das ist aber bis heute nicht
der Fall. Der wirtschaftsliberalistische Interessenbegriff bleibt auf das Eigeninteresse
konkurrierender Wirtschaftssubjekte beschränkt. Das utilitaristische Nutzenkalkül
des Gemeinwohls ist längst vom wohlfahrtsstaatlichen Planungsgedanken abge-
koppelt. Das spricht, nebenbei gesagt, gegen die utilitaristische Begründung aus
den Manifesten von Garland und den Adbusters.
Aufklärung richtet sich an den erkennenden Verstand und die reflektierende
Vernunft. Sie kann sich aber auch an das Gefühl richten. Als Beispiel sei auf Jan
Bannings Fotoreportagen über Langzeitwirkungen von Kriegen hingewiesen: Sie
zeigen Menschen mit Geburtsfehlern, die entstanden sind, weil das Pflanzengift
138 Moralphilosophie im Kommunikationsdesign

in die Nahrungskette gelangt ist, mit dem die US-Army den vietnamesischen
Urwald verseuchte, um freie Sicht für ihre Bombardements zu bekommen. Oder
sie zeigen Frauen, die während des Zweiten Weltkriegs in Asien zur Prostitution
gezwungen wurden.1 Banning erinnert daran, wie Opfer imperialistischer Gewalt
heute leben. Dergestalt können Fotoreportagen moralische Impulse geben. Zu die-
ser Erinnerungsarbeit gehört, dass Banning Interviews mit den Menschen führt,
die er porträtiert, und das Wissen aus dieser intensiven Kommunikation in die
Präsentation seiner Arbeiten in Büchern oder Vorträgen einbringt.
Noch einmal zur Erinnerung: Wenn man nicht exklusiv auf die kantische
Urteilskraft oder auf Schopenhauers moralisches Gefühl setzen will, sondern –
wie Adorno – davon ausgeht, dass in moralischen Impulsen die rationale und
die emotionale Moralbegründung verbunden sind, dann leitet man moralisches
Handeln nicht aus ethischen Werten oder rationalen Moralprinzipien ab, sondern
man nimmt an, dass der moral sense mehr ist als die verpflichtende Vernunft; aber
man verlässt sich nicht auf den moral sense. Daher versucht die moralische Im-
pulstheorie, eine Verbindung zwischen vor-rationaler moralischer Intuition und
begrifflicher Reflexion zu verankern (Adorno 1966: 358 f.).
Nun eine kurze Zusammenfassung des Bisherigen: Der Bereich Information,
Bildung und Aufklärung kann »von innen her« ethisch programmiert und reflektiert
werden. Hier werden Vernunftgründe für selbstbestimmtes Handeln angeboten,
oft universalistische Moralprinzipien zugrunde gelegt und manchmal moralische
Impulse gegeben.

Soziale Kampagnen

Soziale Kampagnen sind häufig »angewandte Ethik« in visueller Form – wie z. B.
Mobilisierung für das soziale Miteinander oder gegen rituelle Genitalverstümmelun-
gen, Warnungen vor Raserei oder Hinweise für effektives Händewaschen in Zeiten
von Pandemiegefahr. Hier geht es um Verhaltensänderung im Sinne moralischer
Grundsätze. Der Standpunkt der Moral ist unparteiisch, aber nicht neutral. Dieser
Bereich ist also »von innen her« moralisch motiviert.
Die Motive lassen sich auf drei normative Begründungstypen zurückführen:
Hilfe zur Selbstbestimmung, Mitleid oder Gemeinwohl. Raserei, Suff und mangeln-
de Hygiene können volkswirtschaftliche Probleme im Sinne der utilitaristischen

1 http://www.janbanning.com/gallery/agent-orange-children-of-the-white-mist/
(13.8.2012); http://www.janbanning.com/gallery/comfort-women/ (13.8.2018).
Moralphilosophie im Kommunikationsdesign 139

Ethik schaffen. Genitalverstümmelungen (siehe unten: 155 ff., sowie Mende 2011)


verstoßen gegen die Maxime des negativen Utilitarismus, soviel Leid wie möglich
zu vermeiden. Ein anderer Bezugspunkt ist Schopenhauers Ethik des Mitleids und
der Solidarität. Mitleid ist demnach »die alleinige Quelle uneigennütziger Hand-
lungen«, »die wahre Basis der Moralität« (Schopenhauer 1840: 285). Gerechtigkeit
und Menschenliebe können nur aus Mitleid folgen. Schopenhauer argumentiert
gegen Kant, dass Mitleid das einzig rational erkennbare Moralprinzip ist, obwohl
es selbst nicht rational ist. Das Moralprinzip des Mitleids geht über die rationale,
kognitivistische Ethik von Kant hinaus. Hier wird nicht primär auf rationale Ur-
teilskraft gesetzt, sondern (wie ich schon angedeutet habe) auf moralisches Gefühl.
Immer öfter tragen soziale Kampagnen Züge von Werbemaßnahmen, mit de-
nen sich soziale Träger im Konkurrenzkampf um die Aufmerksamkeit des Spen-
den-Publikums bemühen. Hilfe zur Selbstbestimmung, Mitleid und Gemeinwohl
sind dann nur noch akzidentelle Motive. Der substanzielle Beweggrund ist das
Selbstbehauptungsinteresse von Organisationen, die bei knappen Ressourcen zu
wirtschaftlicher Effizienz gezwungen sind. So verlieren Selbstbestimmung, Mitleid
und Gemeinwohl ihren Status als Zwecke, denn sie werden zu Mitteln, um die
eigenen Aktivität in gutem Licht erscheinen zu lassen und sich auf dem Markt
des Mitleids gegen Mitbewerber durchzusetzen. Das kann man zwar mit Zweck-
rationalität begründen (»Der Zweck heiligt die Mittel«), aber moralphilosophisch
betrachtet ist es problematisch.

Werbung

Werbung – oder, wie ich lieber sage: Reklame – hat die Aufgabe, Aufmerksamkeit zu
erregen, Konsumeinstellungen zu festigen oder umzulenken und Kaufhandlungen
zu motivieren. Reklame vermittelt Informationen und löst Empfindungen aus. Sie
beeinflusst das Fühlen, Denken und Handeln im Sinne kommerzieller Zwecke.
Sie spricht nicht nur Bedürfnisse an, sie weckt vor allem Begehrnisse. Bedürfnisse
dienen der Erhaltung des Lebens, Begehrnisse dienen »der Inszenierung, der
Ausstaffierung und Steigerung des Lebens« (Böhme 2001: 70). Im Gegensatz zu
Bedürfnissen können Begehrnisse nicht befriedigt werden; sie werden »durch ihre
Befriedigung nicht gestillt […], sondern vielmehr gesteigert.« (Ebd.: 71). Moralische
Fragen stellen sich im Kommunikationsdesign, wenn es um die Mittel, um die
Zwecke und um den Kontext geht. Wir müssen also erstens fragen, ob die Mittel
der Werbung ethisch legitim sind.
140 Moralphilosophie im Kommunikationsdesign

Wenn Werbung suggestiv und manipulierend arbeitet, ist sie nicht von innen
heraus an moralische Prinzipien gebunden – oft ist ein »unmoralisches Angebot«
auffälliger und vermeintlich wirkungsvoller als jedes andere. Edward Bernays (1929:
52 f.), der Begründer der Public Relations, hatte mit Bezug auf Freuds Theorie der
verdrängten Triebwünsche bemerkt: »Eine Ware wird nicht wegen ihres spezifi-
schen Werts oder wegen ihres Nutzens begehrt, sondern weil sie als Symbol für
etwas anderes steht; für eine Sehnsucht, die der Konsument sich aus Scham nicht
eingesteht. […] Menschen sind oft von Beweggründen getrieben, die sie vor sich
selbst verbergen.« Wer sich psychologische Tricks zunutze macht, behandelt die
Menschen seiner Zielgruppe nicht wie Subjekte, sondern eben wie (militärische)
Ziele. Er erkennt deren Anspruch auf Selbstbestimmung nicht an. Das verstößt ge-
gen das Instrumentalisierungsverbot, welches, Kant zufolge, aus unseren Begriffen
der Person und der Menschenwürde folgt. Menschen sollten durch Suggestion und
Manipulation auch nicht zu ›guten Zwecken‹ geführt werden, sondern nur durch
vernünftiges Informieren und Überzeugen. Andernfalls behandelte man sie nicht
»immer auch als Zweck an sich selbst«, sondern nur noch als Mittel.
Zweitens ist zu fragen, ob die Zwecke der Werbung ethisch legitim sind. Sinn
und Zweck von Werbung ist die Beeinflussung der Konsumenten im Interesse der
Auftraggeber. Diese Interessen sind nicht verallgemeinerbar, sondern – per defi-
nitionem – an partikulare Standpunkte gebunden. Das universalistische Postulat
der freien Selbstbestimmung jeder Person ist mit dem Zweck von Werbung daher
häufig nicht vereinbar. – Auf den Bereich »Kontext« werde ich noch eingehen.
Halten wir fest: Weil Werbung bzw. Reklame per se nicht auf Moralnormen
und -prinzipien verpflichtet ist, muss sie von außen ethisch »überwacht« werden.
Nun könnte man aber mit Nietzsche das Konzept des Gewissens als Zentrum
der rationalen Pflichtmoral problematisieren. Das heißt, man könnte den Maßstab
anzweifeln, der bei dieser Kritik der Werbung zugrunde gelegt wird. Moral, lautet
Nietzsches Argument, ist nicht an sich gut, sondern immer nur gut für etwas. Sie
ist kein Zweck an sich selbst, sondern Mittel für etwas, das außerhalb von ihr liegt.
Denn Moral sei notwendig, damit Menschen überleben können, also etwas Natur-
haftes, das nur im Hinblick auf das Leben zu erklären ist. »Leben« ist für Nietzsche
zweierlei: biologischer Naturzusammenhang und geschichtliche Entfaltung von
Kultur und Zivilisation. Das Leben sei »jenseits von gut und böse«, es gebe keine
»moralischen Phänomene« im Leben, »sondern nur eine moralische Ausdeutung von
Phänomenen« (Nietzsche 1886: 92). Moral ist für Nietzsche eine Erscheinungsform
des Willens zum Leben, und damit meint er: des Willens zur Macht.
Angenommen, man würde so weit gehen, Werbung in diesem Sinne als allge-
meines Lebensphänomen zu verstehen. Dann könnte man argumentieren, dass
die suggestive Instrumentalisierung anderer Menschen nicht unberechtigt ist.
Moralphilosophie im Kommunikationsdesign 141

Das Bedürfnis nach Erhaltung und Steigerung des eigenen Daseins, der »Wille zur
Macht«, wäre dann das Zentrum aller Lebensregungen – vom Körpergeschehen
bis zu den feinsten kulturellen Gestaltungen. Und eine seiner machtvollen sozio-
kulturellen Manifestationen wäre die suggestive (Ver-)Formung unseres Begehrens
durch die modernen Mittel der Werbung. Wer so argumentieren würde, wäre
ein moralphilosophischer Nihilist und erläge einer Täuschung, denn er deutete
Erscheinungen, die auf die entwickelte Marktwirtschaft zurückzuführen sind, wie
Naturphänomene. (Das tun heute allerdings viele, vor allem im Dunstkreis der
populären Hirnforschung, aber dadurch wird es nicht richtiger.)
Wenn man diesen Denkfehler vermeiden will, dann kann man sagen: Werbung
als Information, die den Produkt- und Preisvergleich ermöglicht, ist ethisch kor-
rekt, Werbung als manipulative Rhetorik nicht. Die Frage ist nur: Wo verläuft die
Grenze? Das wäre jeweils an Fallbeispielen zu untersuchen.
Werbung will heute allerdings immer seltener zum Kauf überreden. Sie versucht
auch »nur noch selten, […] Kunden […] die Vorteile eines Produkts zu erklären«,
wie Thomas Steinfeld (2009) zutreffend festgestellt hat. Stattdessen »illustriert« sie
»die Ware, verzichtet auf Text und Argument, schafft für jedes Ding eine eigene
Wirklichkeit, in die der Kunde eintreten muss wie in einen Traum.« (Ebd.) So wird
sie zum Schrittmacher der Ästhetisierung des Alltagslebens und der Inszenierung
von allerlei verschiedenen Lebensformen. Wenn die Diagnose zutrifft, dass Werbung
heute Inszenierung ist, die das Leben ausstaffiert und steigert, dann könnte man
fragen, ob es eine ästhetische Rechtfertigung für Formen der Werbung gibt, die
ethisch nicht legitimierbar sind. Nietzsche (1872: 47) sagte: »nur als aesthetisches
Phänomen ist das Dasein und die Welt ewig gerechtfertigt«. Könnten wir dann,
frei nach Nietzsche, sagen: »Als ästhetisches Phänomen ist Werbung moralisch
gerechtfertigt«? Für Nietzsche kann es keine moralische Rechtfertigung des Da-
seins geben, weil Moral nichts anderes ist als die Delegitimierung des Daseins, die
ins Werk gesetzt wird, indem man schlechtes Gewissen und Schuldgefühl ins-
talliert. Wenn es überhaupt einen Wert des Daseins gibt, dann kann er nicht mit
moralischen Kategorien beschrieben werden; eine Rechtfertigung des Daseins ist
nur in der Ästhetik zu finden. Der Wert des Daseins bestand für Nietzsche in der
ästhetischen Erfahrung, d. h. in der Wahrnehmung des Daseins als Ereignis. Die
Ästhetisierung der Lebenswelt, die populäre Kultur des 20. Jahrhunderts im Zeichen
des Konsumismus der Massenproduktion, ist also ohne Nietzsches vitalistische
Theorie ästhetischer Erfahrung gar nicht zu begreifen.
Man kann nun folgende Grenzwerte benennen: Auf der einen Seite stimuliert
Werbung kreative Kräfte im visuellen und narrativen Bereich. Auf der anderen
Seite korrumpiert sie unsere Urteilskraft – auch in moralischer Hinsicht.
142 Moralphilosophie im Kommunikationsdesign

Darüber hinaus gibt es ein Phänomen, das Roland Posner (1998) treffend als
»semiotische Umweltverschmutzung« bezeichnet hat: Wahrnehmung und Kom-
munikationsfähigkeit werden nicht nur durch Gestank und Lärm eingeschränkt,
sondern auch durch das »Rauschen«, mit dem die Werbebotschaften alle Kanäle
erfüllen. Wer in der Werbung arbeitet, kann auf die »Ökologie der Zeichen« (Pos-
ner) achten und versuchen, nachhaltig mit symbolischen Ressourcen umzugehen.

Verantwortungsethik und Transformationsdesign

In den 1990er-Jahren, als »Nachhaltigkeit« noch kein Schlagwort war, bezogen sich
Produktdesigner gern auf die Verantwortungsethik von Hans Jonas. Design sollte
ökologisch, generationen- und sozialverträglich sein. Wie hatte Jonas sein »Prinzip
Verantwortung« begründet? Er hatte »eine neue Art von Demut« (Jonas 1984: 55)
gefordert, und zwar »wegen der exzessiven Größe unserer Macht«. Zwiespältige
Errungen­schaften wie Atomkraft oder Gentechnologie hätten irreversible Folgen.
Daher sollten wir in unserem nachreligiösen Zeitalter von Wissenschaft und Technik
»die Kategorie des Heiligen« (ebd.: 57) wiederherstellen. Wir sollten von Neuem
»Ehrfurcht und Schaudern« (ebd.: 392) lernen. So könnten wir uns »vor den Irrwegen
unserer Macht schützen« und »das Gedeihen des Menschen in unverkümmerter
Menschlichkeit« (ebd.: 393) fördern. Jonas hat eine komplexe Begründung seines
Moralprinzips geliefert. Eickloff und Teunen hingegen verkünden in ihrem Brevier
für Gestalter nur noch eine banal-pantheistische Weltanschauung aus zweiter Hand.
Aber dennoch ist das »Prinzip Verantwortung« von Jonas bis heute strittig. »Das
Heilige« ist in sich höchst zwiespältig. »Ehrfurcht und Schaudern« kann es nur
auslösen, wenn es nicht begriffen wird. Das Heilige ist mit Gewalt verbunden und
mit Angstgefühlen besetzt – jedenfalls dann, wenn es authentisch so empfunden
und nicht bloß künstlich heraufbeschworen wird. Das ist keine gute Basis für freies,
vernunftbestimmtes Handeln.
Plausibler als eine Reanimation des »Heiligen« scheint ein neuer Ansatz zu sein,
der »Transformationsdesign« genannt wird. Das ist ein Vorschlag, wie man heute im
Produktdesign das Ruder herumreißen könnte. Von allem weniger, Beschränkung
in der Produktion und im Konsum, das ›Verhältnis von Rohstoff und Erzeugnis‹
(Welzer 2012 a: 11) neu denken – das sind die Maximen des »Transformationsde-
signs«. Man könnte es auf die Formel bringen: Flohmarkt statt Supermarkt. Dieser
Ansatz wird von dem Sozialpsychologen Harald Welzer vertreten, der das innovative
Fach an der Universität Flensburg lehrt. Er möchte »konkrete Wege für veränderte
Mobilitätsformen, Wirtschaftsformen, Ernährung, Konsum und so weiter […] un-
Moralphilosophie im Kommunikationsdesign 143

tersuchen« (Welzer 2012 b). Produktdesign soll nicht mehr die »Formensprache der
Konsumwirtschaft« (Welzer 2012 a: 10) sein. Die Aufgabe des Produktdesigns sieht
Welzer (2012 a: 11) darin, nicht mehr »unablässig zusätzliche Dinge in die Welt zu
bringen, die man nicht braucht, sondern die, die man nicht braucht, aus der Welt
zu schaffen«. Und damit ist man eigentlich schon vom Produktdesign zum Kom-
munikationsdesign übergegangen. Denn Welzer schlägt vor, dass Designer »nicht
eine coole Flasche für ein Mineralwasser aus Fidschi […] entwerfen, sondern den
Hinweis auf den nächsten Wasserhahn« (ebd.). – »Transformationsdesign« nimmt
den Nachhaltigkeitsdiskurs auf, möchte aber seine Form, seinen Gestus ändern.
Dazu hat Welzer eine Stiftung namens »Futurzwei« gegründet. »Die Aufgabe der
Stiftung ist es«, sagt er, »eine andere Form der Kommunikation über Nachhaltig-
keitsthemen zu etablieren. Also wir machen keine Kommunikation mehr, in der wir
sagen: ›Es darf jetzt nicht mehr als so und so viel CO2 in die Luft geblasen werden‹,
›Es ist fünf vor zwölf – die Katastrophe steht vor der Tür‹. Die Stiftung kümmert
sich vielmehr um die Kommunikation von bereits funktionierenden nachhaltigen
Formen des Wirtschaftens und Lebens. Sie stellt Menschen vor, die heute schon die
Dinge fundamental anders machen« (Welzer 2012 b).

Ethische Grenzwerte der Werbung zwischen strategischer


und verständigungsorientierter Kommunikation

Kommen wir nun noch einmal zurück auf die ethischen Grenzwerte der Werbung.
Wer in der Werbung arbeitet, kann versuchen, sich so weit es geht an Moralprinzipien
zu halten bzw. nirgendwo mitzumachen, wo dagegen verstoßen wird. Natürlich
gibt es keine ethischen Probleme, wenn Verlage auf ihre Buchproduktion aufmerk-
sam machen und dabei Autorenfotos und Zitate aus Kaufempfehlungen aus dem
Feuilleton verwenden. Auch andere Formen der Buchwerbung verstoßen kaum
gegen das Instrumentalisierungsverbot von Personen (selbst wenn sie in absurde
Geheimniskrämerei ausartet, wie es seinerzeit der Fall war, als das Erscheinen des
ersten ›Post-Potter‹-Buchs der Harry-Potter-Autorin im Vorfeld vermarktet wur-
de). Es gibt auch keine Ethikprobleme, wenn Baumärkte ihre Geräteschuppen in
digital bearbeiteten Bildern mit blauem Himmel und grünen Rasen präsentieren.
Werbung und Ethik können auch zusammengehen, zum Beispiel bei Produkten,
deren ethische Bilanz besser ist als andere: Fair-Trade-Produkte, ›ökologisch
korrekte‹ Produkte etc. Niemand würde bestreiten, dass es moralisch besser ist,
für Produkte zu werben, bei denen keine Kinder ausgebeutet werden, Arbeiter
halbwegs angemessen bezahlt und natürliche Ressourcen nicht geschädigt werden.
144 Moralphilosophie im Kommunikationsdesign

Die Grenze dürfte dort liegen, wo derartiges Werben das Gewissen beruhigen soll
oder Teil eines kollektiven Buß-Rituals wird.
Nun gibt es nicht nur Pflichten gegen andere, sondern auch Pflichten gegen uns
selbst. Und daraus entstehen immer wieder Pflichtenkollisionen. Angenommen, ein
Kommunikationsdesigner lehnt es ab, für eine Bank zu werben, die möchte, dass
die Kunden Geld in Aktienfonds anlegen, deren Kursgewinne bei der Wette auf
steigende Preise für Agrarprodukte ursächlich mit Hunger und Elend zusammen-
hängen. Das Beispiel ist nicht erdacht, sondern dokumentiert. »Eine umstrittene
Werbeaktion der Deutschen Bank für einen Fonds ruft Globalisierungsgegner auf
den Plan«, berichtete vor zehn Jahren die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ
2008). In der Tat – das Geldhaus hatte mit den Sätzen geworben: »Freuen Sie sich
über steigende Preise? Alle Welt spricht über Rohstoffe – mit dem Agriculture Euro
Fond haben Sie die Möglichkeit, an der Wertentwicklung von sieben der wichtigsten
Agrarrohstoffe zu partizipieren. Investition in etwas Greifbares.«

Abb. 1
Bildquelle: http://myhead.soup.io/post/2801478/Deutsche-Bank-wirbt-mit-der-Hungerkri-
seFreuen-Sie [letzter Abruf: 24.3.2018]

ATTAC (2008) wurde ein paar Wochen später deutlicher: »Während die Hungerkrise
verzweifelte Menschen in Haiti, Bangladesh, Westafrika und anderswo auf die Straße
treibt und auch in Deutschland viele Eltern ihre Kinder nicht mehr ausreichend
Moralphilosophie im Kommunikationsdesign 145

ernähren können, wirbt die Deutsche Bank für die Spekulation mit Getreide – auf
Brötchentüten bei Frankfurter Bäckern. […] Attac, die kritischen Aktionäre und
Urgewald protestieren anlässlich der Hauptversammlung der Deutschen Bank
vor der Festhalle der Messe Frankfurt gegen die skrupellose Geschäftspolitik des
Unternehmens. Wir fordern […] sofort die Werbung und die Ausweitung der
Spekulation mit Lebensmitteln zu stoppen.«
Auch ein parodistisches Umfunktionieren mit den Mitteln des Kommunika­
tionsdesigns wäre eine Option, die sich in die Tradition politischer Aufklärung
von Heartfield und Brecht stellen würde.2

Abb. 2
Bildquelle: http://blog.pantoffelpunk.de/wp-content/uploads/2008/05/hunger4.jpg [letzter
Abruf: 12.7.2015]

2 Bertolt Brecht hat das Verfahren des Umfunktionierens visueller Botschaften durch
Neuvertextung und Veränderung des Dekodierungszusammenhangs in seinem Buch
Kriegsfibel von 1955 paradigmatisch mit propagandistisch-kulturindustriellem Bildmate-
rial demonstriert. »Brechts Kriegsfibel, da sie auf das Erlernen eines ›Neuen Sehens‹ von
Fotos hin angelegt ist, belässt […] das Objekt dieser Befragung, die Fotos, weitgehend
unverändert, muss es aber von seinem ursprünglichen (Publikations-)Zusammenhang
[…] trennen und neu kontextualisieren.« (Seibert 2009: 67)
146 Moralphilosophie im Kommunikationsdesign

Wenn er dann seinen Job verliert oder seine Agentur schließen muss, hat er zwar
der Pflicht gemäß gehandelt, niemandem zu helfen, der die Not von anderen aus-
beutet. Aber er kann nicht mehr für sich und seine Familie sorgen. Welche Pflicht
hat den Vorrang? Wägen wir ab: Der Gestalter konnte ja vorher wissen, dass seine
Entscheidung für die Werbebranche seine moralische Integrität eines Tages auf die
Probe stellen würde. Es scheint zumutbar, wenn man erwartet, dass er seine Familie
nun durch andere Arbeit ernährt. Aber wer rigoros moralische Sauberkeit fordert,
überfordert den Einzelnen. Und er übersieht, wie wichtig es ist, dass Menschen mit
intaktem Gewissen nicht von vornherein einen Bogen um die werbetreibende Wirt-
schaft machen. Man sollte zumindest versuchen, auch da moralisch verantwortlich
zu handeln, wo es im Allgemeinen unverantwortlich zugeht. Es ist ja schließlich
nicht ausgeschlossen, dass ethisch nachdenkliche Gestalter ihre Kunden mit guten
Gründen davon überzeugen, dass es besser ist, moralisch zu handeln.
Wie kann man der »Ethik-Ferne« der Werbung abhelfen? Gebote und Verbote
»von außen« gibt es ja. Aber verbindliche Werte und Normen müssen »von innen«
entwickelt werden, also durch Selbstreflexion der Werbedesigner. Wir haben ge-
sehen, dass es dazu Ansätze gibt wie z. B. die First-Things-First-Manifeste. »Von
innen«: das heißt durch Reflexion auf die kommunikativen Zwecke. Die Grenze
solcher Reflexion besteht darin, dass Werbung strategische Kommunikation ist und
keine verständigungsorientierte Kommunikation. Strategisches Handeln orientiert
sich am Erfolg, kommunikatives Handeln an Verständigung und am Konsens. Ich
schlage daher vor, die ethische Reflexion des Kommunikationsdesigns am Begriff
der Kommunikation festzumachen.

Ethik der Kommunikation

Ich plädiere dafür, dass wir nicht die ›Werte‹ als Bezugsrahmen nehmen, weil die
sich permanent wandeln, sondern deren Form, die konstant bleibt. Statt ›gut oder
schlecht‹ sollten wir als Unterscheidungscode ›richtig oder falsch‹ bzw. ›gerecht
oder ungerecht‹ ansetzen. Der Bezugsrahmen muss aus normativen Moralprin-
zipien bestehen.
Die Ethik der Kommunikation, die Karl-Otto Apel und Jürgen Habermas als
»Diskursethik« formuliert haben, zeigt, welche Verständigungsmöglichkeiten in
der verbalen Kommunikation stecken. Sie zeigt außerdem die Differenz zwischen
dem Faktischen und dem Möglichen. Diskursethik beruht auf dem Gedanken,
dass in die Struktur des Sprechens immer schon eine normative Zielvorstellung
eingebaut ist. Es ist die Idee konsensueller Verständigung. Diskursethik geht davon
Moralphilosophie im Kommunikationsdesign 147

aus, dass »in der realen Kommunikationsgemeinschaft zugleich deren ideale Gestalt
angebahnt« (Paetzold 1990: 12) wird. Der Grundsatz lautet: Geltung dürfen nur
solche Normen beanspruchen, denen alle Beteiligten vernünftigerweise zustimmen
könnten. Sämtliche Folgen und Nebenfolgen müssen von allen Betroffenen ohne
Zwang akzeptiert werden können. Deswegen muss auch jeder, der irgendwie beteiligt
ist, das Recht und die Möglichkeit haben, am Diskurs teilzunehmen.
Man kann diesen Gedanken auf das Kommunikationsdesign übertragen. Nicht
nur in sprachlicher Kommunikation, sondern auch in visueller Kommunikation
steckt das Ziel gleichberechtigter Verständigung und freier Konsensfindung aller
Beteiligten. Wer Zeichen in den öffentlichen Raum setzt, muss die Adressaten wie
vernünftige Menschen behandeln, ihre Menschenwürde achten und bereit sein,
über die Grundlagen des gemeinsamen Handelns nachzudenken.
In visuellen Diskursvorgaben müssen die gerechtfertigten Bedürfnisse aller
Teilnehmer angemessen berücksichtigt werden. Auch im Werbegeschäft können
nur die Normen Geltung beanspruchen, denen alle Beteiligten, also auch die Kon-
sumierenden, vernünftigerweise zustimmen könnten. Jeder muss die Möglichkeit
haben, am Diskurs über die normativen Grundlagen des Kommunikationsdesigns
teilzunehmen.
Damit eine Gestaltungsnorm gelten darf, so kann man Habermas’ (1991: 12)
diskursethisch begründetes Kriterium abwandeln, »müssen Ergebnisse und Neben-
folgen, die sich voraussichtlich aus [ihrer] allgemeinen Befolgung für die Befriedigung
der Interessen eines jeden ergeben, von allen zwanglos akzeptiert werden können«.
Um Verständigung zu gewährleisten, soll nie nur strategisch gehandelt werden.
Andere Subjekte sind immer auch als gleichberechtigte Kommunikationspartner
zu achten. Der kategorische Imperativ lautet dann: Gestalte so, dass deine Gestal-
tungsmaximen in einem Diskurs bestehen könnten, zu dem alle zugelassen sind,
die möglicherweise davon betroffen wären.
Verbale und visuelle Kommunikation im Alltag haben das Potenzial gleich-
berechtigter Verständigung. Aber ihre Rahmenbedingungen werden aufgrund
der »Kolonialisierung der Lebenswelt durch die Imperative eines ungesteuerten
ökonomischen Wachstums« verzerrt, um es mit den Worten von Habermas zu
sagen. Habermas ist kein Idealist; er glaubt keineswegs, dass die Diskursethik alle
sozialen Hindernisse durch die Kraft der Vernunft aus dem Weg räumen kann. Stra-
tegische Ziele blockieren kommunikative Ziele, partikulare Interessen dominieren
und blockieren das vernünftige Allgemeininteresse. Soziale Machtstrukturen und
Profitorientierung behindern die Sprache und die intersubjektiven Beziehungen;
sie hemmen Erziehung, demokratische Öffentlichkeit und visuelle Kultur in ihrer
Entfaltung. So wird verhindert, dass die Idee herrschaftsentlasteter Symbolisierun-
148 Moralphilosophie im Kommunikationsdesign

gen verwirklicht wird. Dagegen ist Widerstand zu leisten – auch mit den Mitteln
des Kommunikationsdesigns.
Die kommunikativen Zwecke, die mit visuellen Medien realisiert werden, müssen
sich durch die Prinzipien ›Selbstbestimmung in Freiheit‹ und ›gleichberechtigte
Verständigung‹ rechtfertigen lassen. Andere dürfen nicht zum Zuge kommen.
Gestalterinnen und Gestalter, die ethisch reflektieren, werden entdecken, dass sie
verpflichtet sind, kognitive und emotionale Fähigkeiten zu fördern, die wir brau-
chen, um verständigungsorientiert und solidarisch zu handeln und in reflexiven
Diskursen gemeinsam darüber nachzudenken.
Über die Fragen, ob es einen Ethik-Kodex des Kommunikationsdesigns geben
kann, wie er aussehen sollte und ob die Kommunikationsethik sein bester Rahmen
wäre, herrscht alles andere als Konsens. Ohne konsensuelle Verständigung wird
Konsens aber nicht als regulative Idee der täglichen Praxis anerkannt werden. Zur
Durchsetzung können keine Ethik-Kommission des Bundestags und keine Zen-
surbehörde verhelfen, das kann nur die kritische Selbstreflexion der Akteure im
Kommunikationsdesign. Wie das im Einzelnen umgesetzt werden soll, kann ich
nicht sagen; es kam mir zunächst einmal darauf an, eine Begründung vorzuschlagen.

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Die visuelle Sprache der Moral
Überlegungen zu einer Ethik des
Kommunikationsdesigns*1
Die visuelle Sprache der Moral

Zwei Seiten des Ethos

Gibt es ein »ethos« der Kommunikationsdesigner? Das Wort »Ethos« steht in der
griechischen Philosophie für Herkommen und Gewohnheit, für Sitte und Brauch
in Gemeinschaften, aber auch für den Charakter, also für Überle­g ung, Einsicht und
Urteilsfähigkeit. Früher sagte man: für den Charakter eines tugend­haften Menschen.
Heute wird man das Wort »Tugend« eher vermeiden und, in der Termino­logie
moderner Psycho­lo­gie, von einer Verhaltensdisposition sprechen, also von einer
stabilen Charaktereigen­schaft. Der Sachgehalt des Begriffs ist deshalb jedoch nicht
überholt. Heraklit lehrte: »ἦθος ἀνθρώπῳ δαίμων« (Kranz 1959: 80). Sein Begriff
ēthos wird klassischerweise mit »Wesen«, »Eigenart« oder »Indivi­duali­tät« übersetzt:
»Das Wesen eines Menschen ist sein Schicksal«, oder »Die Eigenart eines Menschen
ist sein Schicksal«. – Textnah (und mythisch-schlicht konnotiert) heißt es bei Kranz
(1959: 81): »Seine Eigenart dem Menschen der Dämon«. Capelle (1968: 156) übersetzt
korrekt, doch etwas ungelenk: »Dem Menschen ist sein Wesen sein Schicksal.«
Die Rede vom Schicksal scheint für heutige Überlegungen zur Ethik wenig ge­eignet;
aber Heraklits Intention ist nach­voll­ziehbar, denn ob wir auch nur in die Nähe dessen
gelangen, was man ein »gelingendes Leben« nennt, hängt nicht nur davon ab, was man
früher »Glücksgüter« nannte – also Einkommen, Erfolg, Gesundheit und dergleichen

* Der Text ist aus einem Vortrag auf der Tagung Philosophical Perspectives On Design an
der Fachhochschule für Kunst, Design und Musik in Freiburg am 16. Januar 2015 her-
vorgegangen. Er entstand im Kontext des Forschungsprojekts »Kommunikationsdesign
und Ethik – Ethik des Kommunikationsdesigns«, das von der Fritz-Thyssen-Stiftung
gefördert wurde. Erstveröffentlichung in: Design & Philosophie. Schnittstellen und Wahl-
verwandtschaften, hrsg. v. Julia-Constance Dissel, Bielefeld: transcript, 2016, S. 31–58.
Die vorliegende Fassung wurde geringfügig überarbeitet.
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 151
G. Schweppenhäuser, Design, Philosophie und Medien, Würzburger Beiträge zur
Designforschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-22225-3_10
152 Die visuelle Sprache der Moral

–, sondern maßgeblich davon, ob wir imstande sind, im Einklang mit morali­schen


Grundsätzen zu handeln. Und das gilt selbstverständlich auch für Kommunikati-
onsdesigner. Sie be­einflussen Verhalten und Einstellungen ihrer Mitmen­schen durch
Inter­ventionen und Inszenierungen im öffentlichen Raum. Daher tun sie gut da­ran,
nicht bloß strategisch über die Mittel nachzudenken, mit denen man das effekt­voll
ins Werk setzen kann, sondern auch über die Zwecke, die erreicht werden sollen.
Aristoteles hat den Zusammenhang zwischen morali­scher Integrität des Indivi-
duums und seinem Wir­ken in der Gemein­schaft nicht nur in seinen Überlegungen
zur Ethik und deren Verbindun­gen zur politischen Theorie untersucht, die für viele
bis heute maßgeb­lich sind, sondern auch in seiner Theorie der Redekunst. Rhetorik
ist bei ihm das Bindeglied zwischen Ethik und Politik, zwischen den »Privatverhält­
nissen« und dem »Staatswohl« (Aristoteles 1354 b; Übers.: Sieveke 1995: 9). »Von
den Überzeugungs­mitteln, die durch die Rede zustande gebracht werden, gibt
es drei Arten«, schrieb Aristoteles. »Sie sind nämlich entweder im Charakter des
Redners begründet oder darin, den Hörer in eine gewisse Stimmung zu ver­setzen,
oder schließlich in der Rede selbst, d. h. durch Beweisen oder scheinbares Beweisen.«
(Ebd.: 1356 a; 13)1 Eine Rede kann dem­­nach persuasiv wirken, wenn 1. der Charakter,
also das per­for­ma­tive ethos des Vortragenden als glaubwürdig empfunden wird;
wenn 2. die Affekte des Publikums durch das pathos des Vortrags richtig einge­
stimmt werden und wenn 3. »Wahres oder Wahrscheinliches« über die Sache, von
der die Rede ist, auf rationalem, logischem Wege vermittelt wird. Daran hat sich
im Zeitalter der audio­v isuellen, digitalen Massen­medien wenig geändert. Über­
zeugungsfeldzüge im öffentlichen Raum bedienen sich nach wie vor der auf Logik
und Inhalt bezogenen logos-Strategie, der emotional orientierten pathos-Strate­gie
und der Glaub­w ürdigkeit sugge­rierenden ethos-Strategie (siehe Pfister 1994: 213 f.).
Hanno Ehses (2008) hat in seinen Überlegungen zur visuellen Rhe­­­to­rik eine
aristotelische Typologie der Handlungsaufforderungen durch Design auf­ge­stellt.

1 »Durch den Charakter geschieht dies, wenn die Rede so dargeboten wird, daß sie den
Redner glaubwürdig erscheinen läßt. Den Anständigen glauben wir nämlich eher und
schneller, grundsätzlich in allem, ganz besonders aber, wo es eine Gewißheit nicht
gibt, sondern Zweifel bestehen bleiben. Doch auch das muß sich aus der Rede ergeben
und nicht aus einer vorgefaßten Meinung über die Person des Redners. Nicht trifft zu,
wie manche der Fachtheoretiker behaupten, daß in der Redekunst auch die Integrität
des Redners zur Überzeugungsfähigkeit nichts beitrage, sondern fast die bedeutendste
Überzeu­gungskraft hat sozusagen der Charakter. Mittels der Zuhörer überzeugt man,
wenn die durch die Rede zu Emotionen gelockt werden. Denn ganz unterschiedlich
treffen wir Entscheidungen, je nachdem, ob wir traurig oder fröhlich sind, ob wir
lieben oder hassen. […] Durch die Rede endlich überzeugt man, wenn man Wahres
oder Wahrscheinliches aus jeweils glaubwürdigen Argumenten darstellt.« (Aristoteles:
Rhetorik, Übers. Krapinger 1999: 12 [Hervorhebung: G.S.].)
Die visuelle Sprache der Moral 153

Sie hilft dabei, den ethischen Aspekt visueller Kommunikation zu klären.2 Beim
logos-Appell konzentriert sich die visuelle Sprache auf den Ge­genstand. Die Be-
trachter sollen durch rationale Argumente über­zeugt werden: Im »logos-Kontext«
geht es insbesondere um typo­gra­fische und andere grafische Mittel, mit denen man
Informationen glie­dert und hierar­chi­siert, damit sie ver­ständlich und nachvollzieh­bar
werden (Ehses 2008: 112 f.). Der logos-Appell wird häufig mit Zeichen artikuliert, die
auf kognitiven Wegen wir­ken und sachlich konno­tieren – also Diagramme, Listen
und Bilder mit hohem Infor­mations­gehalt. Dieser Appell übernimmt nor­malerweise
in »[a]kade­mischen Schriften, Gebrauchsanweisungen und [L]eitsystemen« (ebd.:
113) die Führungs­rolle. Zur rational-kognitiven Ansprache kommt die Arbeit »mit
den Gefühlen des Publikums« (ebd.): Der pathos-Appell wirkt über Farben und
For­men sowie über Bilder, die affektive Reaktionen hervorrufen. Emotionen werden
mithilfe von visuellen Symbolen »in materieller, technologischer oder künst­le­ri­
scher Form« (ebd.) und durch visuell inszenierte ›rhetorische Figuren‹ sti­mu­­liert.
Reklame für Verbrauchsgüter und Versicherungen verwenden mit Vor­liebe die
Mittel des »pathosbestimmten Designs« (ebd.). Und beim ethos-Appell hört man
sozusagen »die Stimme des Desig­ners« (ebd.: 114). Hier, schreibt Ehses, setzt man
»auf Glaub­­würdig­keit, Mitgefühl und Verlässlichkeit, um ein Publikum zu über­
zeugen.« (Ebd.: 113) Hier zählen das gehaltvolle, klare Konzept und die markante
Ästhetik. Und zwar, um die Persönlichkeit des Designers zu artikulieren: Man setzt
»kraftvolle Zeichen« ein, »die auf Integrität […], Vorlie­ben und Empfindlichkeiten
[…] hinweisen.« »Poster und Medienkampagnen« zu sozialen, politi­schen oder
gesund­heit­lichen Themen »sind oft ethos­bestimmt« (ebd.).
Ein Aspekt wäre freilich hinzuzufügen: Der Horizont des ethos-Appells ist
insofern etwas weiter zu fassen, als hier nicht ausschließlich nur die Haltung des
Designers ihren Ausdruck finden und Wirkung entfalten kann, sondern ebenso
auch die des Auftraggebers.3 Man kann dann auch »die Stimme des Absenders«
hören. Die muss freilich nicht immer vernehmlich hervortreten, und wenn sie es
tut, muss die Stimme des Designers nicht notwendigerweise in derselben Tonlage
erklingen. Die wirkungsvollsten Mitteilungen dürften in der Regel diejenigen sein,
in der beide Stimmen harmonieren. Mitunter mögen aber auch diejenigen besonders

2 Ein verwandter Bereich ist das Arbeitsfeld der »Visual Literacy«; dort widmet man sich
seit den 1970er Jahren der Untersuchung »visueller Bildung« aufseiten der Rezipienten,
d. h. der Ausbildung kritisch-analytischer, aber auch gestalterischer Bildkompetenz.
Dies ist auch eine Reaktion auf die Macht und Allgegenwart suggestiver Botschaften
in der visuellen Kommunikation (für den Hinweis danke ich Anke Haarmann). Siehe
auch die Debatten zum sogenannten »pictorial turn« (etwa bei Holert 2005).
3 Für den Hinweis darauf danke ich Volker Friedrich, dessen in diesem Punkt abweichende
Ethos-Lesart mir einleuchtet.
154 Die visuelle Sprache der Moral

auffallen, deren Stimmführungen auseinanderlaufen; Letzteres ist aber vermutlich


eher etwas für Spezialisten, die sehr reflektiert bzw. professionell rezipieren.
Wie dem auch sei – wenn man »die Stimme des Desig­ners« hört, lebt das Dik-
tum des Heraklit wieder auf, und man kann durchaus in Anlehnung daran sagen:
»Das Wesen, der Charakter eines Gestal­ters ist sein Schicksal«. Von ihm hängt es
letzten Endes ab, ob die Kampagne ein Er­folg wird. Schon Cicero wusste: Wenn
Rhetorik wirken soll, muss der Redner selbst die Einstellung ver­körpern, die er bei
den Hörern auslösen möchte.
Der Horizont der Themen lässt erkennen, dass das »Ethos« der Ge­stalter nicht
allein individualethisch verstanden werden darf. Wir müssen uns auch an den
anderen, den weiteren Sinn des grie­chischen Wortes erin­nern. Er ver­weist auf die
moralischen Grundlagen des Gemein­­wesens. Nicht nur Individuen haben ein ethos,
sondern auch Gemein­schaften und Gesellschaften; deren gelebtes Ethos wird seit
Hegel (1820: 292–512) als »Sittlichkeit« bezeichnet.
Die Grund­­frage der philosophischen Ethik lautet: »Wie soll ich leben«? Gibt es
Kriterien, wie wir uns ver­hal­ten sollen, wofür wir uns ent­scheiden sollen, um gut oder
richtig zu leben? Solche Kriterien müssen überindi­v idueller, allge­meiner Art sein.
Also nicht nur »Wie soll ich handeln, damit es mir gut geht?«, sondern auch: »Wie soll
ich anderen gegenüber angemessen handeln?« Ethik ist eine Theorie, die einerseits
klärt, was persönlich zuträg­lich und zweckmäßig ist, und andererseits, wozu man
im sozialen Sinne verpflichtet ist, was gerecht und was allgemein notwendig ist. Mit
ande­ren Worten: Jede Ethik hat partikulare und universale Aspekte. Lebensformen
haben sich in der Moderne bekanntlich ausdifferenziert, Wertorien­tie­run­­­gen sind
vielfältig geworden. Individuelle Vorstellungen vom Glück und die Plu­ra­lität der
Lebensstile haben zu gegensätzlichen Be­grün­dun­gen von Moral­konzep­ten geführt.
Wo­ran kann sich jemand orientieren, der Wertkonflikte und Interessenkonflikte
nicht den Gesetzen des Marktes oder dem Recht des Stärkeren überlassen will, son-
dern auf gerechte Weise schlichten möch­te? Mit einer Formulierung von Gunzelin
Schmid Noerr (2012: 36): Es geht darum herauszufinden, was die »allgemeinen,
grundlegenden Prinzipien« sind, »aus denen sich besondere moralische Urteile
begründen lassen«. Allgemein gespro­chen sind es die Werte und die Normen, die
in einer Gemeinschaft, zu­mindest im Grundsatz, anerkannt werden. Mora­lische
Werte sind Hinter­grund­annahmen darüber, was zum gelingenden Leben gehört
und was eine vernünftig eingerichte­te Gesellschaft aus­macht; moralische Normen
sind »handlungsleitende Anweisungen, die dazu dienen, Werte zu realisieren oder
gegenüber anderen Ziel­setzungen zu schützen« (ebd.).
Das »Ethos« der Kommunikationsdesigner ist also nicht nur die indi­v i­du­elle
»Haltung«. Die Charakterdisposition des Einzelnen ist eine Seite, aber zur individual­
ethischen Perspektive muss die sozialethische hin­zu­kommen. Das Zwischenreich
Die visuelle Sprache der Moral 155

zwischen Individual­- und Sozialethik sind die berufsethischen standards. Allerdings


– dies sei hier nur am Rande vermerkt – gibt es so etwas wie einen Ethikkodex der
Kommunika­tions­designer nicht (oder: noch nicht). Was es gibt, sind »die Wirk­sam­
keiten des gelebten Ethos« (Fleischer 1995) auf diesem soziokulturellen und wirt­schaft­
lichen Feld; also nicht nur die pragmatischen »Üblichkeiten« in der Bran­che, sondern
auch praktische Vernunft, die sich in Über­lie­ferung und All­tags­praxis manifestiert.
Im Folgenden werden einige Beispiele im Hinblick auf die drei »Appelle« der visu-
ellen Rhetorik untersucht, die aus Kam­pagnen gegen female genital mutilation, kurz:
»FGM«, stammen. In der unterschiedli­chen Akzentuierung von Vernunft, Emotion
und Haltung treten Konturen eines universalisti­schen Ethos der Gestaltung vor Augen.

Abb. 1 Medizinisch
Bildquelle: http://de.wikipedia.org/wiki/Weibliche_Genitalverst%C3%BCmmelung [letzter
Abruf: 24.3.2018]
156 Die visuelle Sprache der Moral

Zunächst eine Darstellung, die aussieht wie aus dem medizini­schen Lehrbuch. Sie
demonstriert Varianten der Genitalverstümmelung. Die anatomische Prä­sen­tation
kann als Anleitung zur Durchführung der Eingriffe dienen, sie kann aber auch als
Dokumentation der physischen Beschädigung gelesen werden.

Abb. 2 Statistisch
Bildquelle: http://salfordwomensaid.org/female-genital-mutilation/ [letzter Abruf: 24.3.2018]

Eine klassische Informationsgrafik aus dem Jahre 2012 präsentiert in sachli­cher


Auf­machung gesichertes Wissen über die Verbreitung dieses Ini­tia­tions­ritus. Wo
Menschen mit abendländischen »Wert­gefüh­len« (um es mit Nietzsche zu sagen)
zumeist empört reagieren, präsentiert ein logos-Appell nüchtern und statistisch
Fakten. Die visuelle Sprache wirkt wissen­schaftlich, seriös und informativ. Der Text
weist in ruhiger Tonlage auf den soziokulturellen Sinn des Rituals und mögliche
Gefahren hin: Es handele sich »häufig« um die Vorbedingung für eine Heirat, »aber«
es könne »körperliche und seelische Probleme verursa­chen«. Wohlge­merkt: kann,
muss aber nicht ... Zu Risi­ken und Nebenwirkungen fragen Sie Ihren Medizinmann
oder Schama­nen: Das wäre eine Assoziation, die sich hier aufdrängen könnte – wobei
Die visuelle Sprache der Moral 157

freilich bekannt ist, dass die Pro­zedur in der Regel nicht von Männern, sondern
von kundigen Frauen ausgeführt wird.

Abb. 3 Gesellschaftlich
Bildquelle: https://www.gov.uk/government/news/new-campaign-calls-on-mothers-and-ca-
rers-to-end-female-genital-mutilation [letzter Abruf: 14.8.2018]

Dieses Fotoplakat aus der britischen Kampagne »nspcc.org.uk/fgm« visualisiert den


pathos-Appell. Wir sehen große Augen, der Kopf eines Kindes stützt sich auf Holz;
man weiß nicht, ob es sich geborgen fühlt oder Schutz sucht. Der Text gibt einen
158 Die visuelle Sprache der Moral

Hinweis: Es könnte das Kind der Mutter sein, die end­lich Schluss macht mit der
schrecklichen Tradition. Oder steht ihm die Traumatisierung noch bevor? Ein­deutig
ist die Auf­forde­rung, die an die Betrachterinnen ergeht. Im Kleingedruckten wird
das Brauch­tum ohne Wenn und Aber, wenn auch in sachlichem Ton, als Kindesmiss­
hand­lung bezeichnet. Der Hinweis, dass es gegen königlich britische Gesetze verstößt,
verstärkt den verbalen logos-Appell. Der feine Riss, der durch die Worte »Genital
Mutilation« verläuft, indiziert auf sehr zurückhaltende Weise das gestalterische
ethos: eine seriöse Ästhetik, die »Glaub­­würdig­keit« und »Mitgefühl« signalisiert.

Abb. 4 Künstlerisch
Bildquelle: http://gomezramos.blogspot.com/2012/02/stop-la-ablacion.html [letzter Abruf:
14.8.2018]
Die visuelle Sprache der Moral 159

Abb. 5 Künstlerisch
Bildquelle: http://rvpnreligiones.blogspot.com/2016/01/dia-internacional-de-tolerancia-cero.
html [letzter Abruf: 14.8.2018]

Weitere Spielarten des pathos-Appells bearbeiten das Thema künst­le­risch: Zunächst


Variationen einer figuralen Darstellung als kolorierte Zeichnung oder Farbfoto-
grafie, in die das stilisierte Bild einer Rasier­k linge eingearbeitet ist. Es steht als
metonymisches Zeichen stellvertre­tend für die ganze Prozedur, die offenbar nicht
mit medizinischen Spezialinstrumenten durchge­f ührt wird. Die Farbe Rot konno-
tiert Blut; ein Beispiel lässt traditionelle Gewänder und Schmuck als Attri­bute der
Weiblichkeit fungieren, während ein anderes verschie­de­ne Stufen der Kindheit zur
Erscheinung kommen lässt. Die bildrhetorischen Tropen rufen somit unterschiedlich
gestufte Affekte hervor, die auf der Textebene suggestiv (»Stop«, »Stop«, »Stop«;
»Basta ...«) und in­for­mativ (durch den Hinweis auf den »Internationa­len Tag der
Null-Toleranz gegen Beschneidung«) gelenkt werden.
160 Die visuelle Sprache der Moral

Abb. 6 Künstlerisch
Bildquelle: http://singenerodedudas.com/blog/mutilacion-genital-femenina-la-mas-cruen-
ta-violacion-de-derechos-humanos/ [letzter Abruf: 14.8.2018]

Abb. 7 Künstlerisch
Bildquelle: http://singenerodedudas.com/blog/mutilacion-genital-femenina-la-mas-cruen-
ta-violacion-de-derechos-humanos/ [letzter Abruf: 14.8.2018]
Die visuelle Sprache der Moral 161

Auch in den nächsten beiden Beispielen wird das ikonische Zeichen »Rasierklinge«
als pars pro toto eingesetzt, allerdings ist der ethos-Appell jetzt stärker zu vernehmen:
Der Hinweis auf einen Dokumentarfilm kombi­niert es mit Fotografie, Typografie und
Text; das Plakat der »Stop«-Kampagne verbindet es mit dem grafisch verfremdeten
biologischen Zeichen für Weiblichkeit, das bekanntlich von der Frauenbewegung als
kämpferisches Symbol umkodiert worden ist. Im Film-Hinweis spielen realistisch
reproduzierte Kinderaugen noch eine gewisse Rolle; beim Stop-Plakat dominiert
das ästhetisch weitgehend autonome Spiel von Formen und Farben. Dabei wird das
symbolische Zeichen für den Feminismus als – freilich stark stilisiertes – ikonisches
Zeichen eines Frauenkörpers lesbar, der verletzt wird.

Abb. 8 Sprecherisch
Bildquelle: https://www.rochdaleonline.co.uk/news-features/2/news-headlines/107954/
zero-tolerance-for-fgm [letzter Abruf: 14.8.2018]

Im diesem Beispiel kommt ein Text in der ersten Person Singular dazu: Das »Ich«
kann Benutzer, aber auch Gestalter des Posters sein.
162 Die visuelle Sprache der Moral

Abb. 9 Reißerisch
Bildquelle: http://www.frankfurt.de/sixcms/detail.php?id=2884&_ffmpar%5B_id_in-
halt%5D=7725514 [letzter Abruf: 24.3.2018]

In diesem Beispiel steht der ethos-Appell, die Stimme der Gestal­ter, im Vorder-
grund. Der Text ist markant formuliert: Hier werden keine Nach­­rich­ten vorgelesen,
sondern ein Missstand ange­pran­gert. »300 Mädchen jede Stunde« – anschauli­cher
geht es kaum. Keine Umschrei­bung, keine Bemühung um Rück­sicht auf schwache
Gemüter oder politisch korrekte Kritiker; es heißt forciert konkret: Den Mädchen
»wer­den mit einer Glas­scherbe die Ge­ni­talien abgeschnitten«. Der Ge­dan­ke daran
sei »unerträglich«. Und mit der zupacke­nden Kürze werblicher Sprache geht es im
nächsten Satz elliptisch wei­ter: »Genau wie die Schmerzen, die sie ein Leben lang
begleiten.« Hier wird auf dem pathos-Register gespielt, doch die dominierende Ton-
lage entstammt dem ethos-Appell – dem kompromisslosen Engagement gegen das
Böse und der gestalterischen Kreativität. Der Ton ist das Gegenstück zur eingangs
betrachteten Info-Grafik: Empörung und Zorn statt betonter Sachlichkeit. Die
Pressemeldung zur Kampagne zeigt, wie dies aufgenommen wurde: »Das Plakat
zeigt eine junge Frau mit dunkler Haut, schwarzen Haaren. Obwohl unbekleidet
und schutzlos wirkend, blickt sie entschlossen in die Augen des Betrachters. Das
Die visuelle Sprache der Moral 163

Plakat ist eingerissen. Ein Stück Schulter fehlt der Frau. Erst beim zweiten Blick wird
deutlich, dass der angebliche Riss im Plakat Absicht ist. [...] Das Plakat ist Teil der
heute zum Frauentag startenden Kampagne ›Gewalt gegen Frauen ist Alltag‹ von
Terres des Femmes. Ziel der Kampagne ist es, Aufmerksamkeit für ein Thema zu
schaffen, das in Vergessenheit zu geraten droht. [...] Die Gelder für die Kampagne
kommen deswegen nicht von Terres des Femmes. Die Werbeagentur Heymann
Schnell zahlt die Rechnung. Gut für den Geldbeutel von Terre des Femmes und
gut fürs Image der Agentur.« (taz 2007) Das augentäuschende Detail, der Riss im
Bild als Sinnbild für die Zerstörung phy­sischer Identität – darauf muss man erst
einmal kommen; wer das ge­sehen und verstanden hat, wird es nicht so schnell
wieder vergessen. Das lässt sich die Werbe­agentur etwas kosten; es ist ja für den
guten Zweck und für das eigene Image.

Abb. 10 Sarkastisch
Bildquelle: http://16days.thepixelproject.net/16-organisations-charities-and-grass-
roots-groups-working-to-stop-fgm/ [letzter Abruf: 24.3.2018]
164 Die visuelle Sprache der Moral

Das letzte Beispiel geht noch einen Schritt weiter: Der ethos-Appell erlaubt sich
ein kontrolliert-zynisches Rollenspiel. »Jetzt noch die Klitoris heraus­schnei­­den,
und sie ist perfekt«, sagt eine fiktive Person, die gleichsam als Ver­körpe­rung eines
menschenverachtenden Frauenbildes auftritt. Hier wird das rhetori­sche Stilmittel
des Sarkasmus im Text eingesetzt und in die visuelle Spra­che über­setzt. Wir sehen
ein hellhäutiges model, das gewiss nicht den afrikanisch-asiatischen Kulturraum
konnotiert. Wird das demnächst auch bei uns eingeführt? So könnte eine nahe lie-
gende Assoziation lauten. Im klein­gedruck­ten Text wird erläutert, was rückständige
Menschen »in vielen Teilen der Welt« denken, und ihre Tat wird als »grausames
Ver­brechen« gebrand­markt. Keine Frage: die Gestalter stehen voll hinter der Bot-
schaft, die sie in die zivilisierte Welt hinausschicken.

Übersetzung ethischer Implikationen

Nach der Beispielanalyse nun eine methodi­sche Be­trach­tung. Forschung über Ethik
und Kommunika­tions­design hat mehre­re Aspekte: zunächst die Untersuchung
der Praxis im Hinblick auf Kriterien aus der Moral­philosophie, also die beschrei­
bende – oder auch kritisch-prüfende – Untersuchung gestalte­rischer Pro­ble­me
und Ent­schei­dungen aus ethischer Perspektive. Dazu kommt die Rekonstruk­
tion der morali­schen Posi­tio­nen, die dem Kommunikations­design inhä­rent sind.
Oder sagen wir besser: die Übersetzung impliziter moralischer Haltungen, die im
Entwur­f mehr oder weniger artikuliert zum Ausdruck kommen, in die explizite
Sprache der Moraltheorie. Letzteres ist sozu­sagen die ethische Re­flexions­t heorie
der Moral des Gestaltens.
Nach Niklas Luhmann (1989) ist »Ethik« die »Reflexionstheorie der Moral«. Bei
dieser Definition wird allerdings unterstellt, dass Ethik sinnvollerweise ausschließlich
deskriptive Ethik sein kann. Sie könne das Handeln der Menschen gleichsam nur wie
ein Spiegel »reflektieren«, also bloß (in Begriffen) abbilden. Luhmanns Definition
ist falsch, weil sie die Möglichkeit normativer Moralphilosophie leugnet. Wenn
man Reflexion hingegen nicht nur im physikalischen Sinne versteht, sondern mit
einem philosophischen Konzept der Reflexion arbeitet, lässt sich »Reflexionstheorie
der Moral« durchaus als Synonym für eine Moralphilosophie verwenden, die das
Handeln nicht nur widerspiegelt. Philosophisch über Moral zu »reflektieren« heißt,
über Handlungen und deren Grundlagen ›nachzudenken‹ (Kluge 1999: 674) und
sie ›prüfend‹ zu ›betrachten‹ (Duden 2018). Daher kann eine philosophische »Re-
flexionstheorie der Moral« mit guten Gründen normativ-kritisch Stellung nehmen.
Die visuelle Sprache der Moral 165

Es dürfte Konsens bestehen, dass Kommunikations­designer nicht nur Stra­


tegien für ihre Auftraggeber entwickeln sollten, sondern auch fragen, wie deren
kommu­ni­ka­ti­ve Zwecke zu be­werten und welche Mittel dafür legitim sind. Wir
leben zwar in einer Welt – so könnte man mit Karl Kraus (1914: 13) sagen –, in
der der »Lebenszweck den Lebensmitteln sub­ordi­niert« wird. Das heißt, wir leben
in einer Welt, die sich »im Labyrinth der Öko­no­mie ver­irrt« hat, wie Kraus (1914:
14) mit Schaudern fest­stellte. Aber vielen Menschen, vermutlich den meisten, ist
bewusst, dass das Le­ben anders sein könnte und sollte. Und darunter sind eben
auch zahl­reiche Kommunikations­designer.
Für Otl Aicher (1991: 67), war »der desig­ner […] eine art moralist.« So weit
würde ich nicht gehen. Moralisten wollen die herrschenden Sitten be­ein­flussen,
durch Kritik, Praxis, Entwurf und Vor­bild; das wollen Kommu­ni­­ka­tions­designer
nicht unbedingt. Aber ich stimme Aichers Intention – wenn ich sie denn richtig
ver­standen habe – insofern zu, als Design moralische Haltungen aus­drücken und
die Welt bewerten kann. Und zwar auch dann, wenn die »Wert­gefüh­le« und »Wert­
unterscheidun­gen« (um es mit Nietzsche zu sagen) nicht, oder nicht ausdrücklich,
re­flektiert werden. Hier gilt es also, zu übersetzen und die impliziten Wert­­haltungen
expli­zit zu machen. Darin sehe ich aber nicht nur die Auf­gabe des philo­sophischen
Interpreten. Wenn Gestalter Ent­schei­­dungen treffen, die moralisch zu begründen
sind, sind ihre Selbstrefle­x ion und ihre eigene Über­setzungskompetenz gefordert.

Intrinsische Ethik und moralfreie Zonen4

Es gibt Felder des Kommunikationsdesigns, die gleichsam von innen heraus


moralisch motiviert sind, und Felder ohne intrinsische Moral. Letzteres gilt für
Werbung und Public Relations. Deren strategischer Zweck ist Überredung; ihr
taktisches Mittel ist die Suggestion.
Erich Kästner (1930: 235) ging noch davon aus, dass es eine »ethische Fundierung
des Reklamebegriffs« gibt. Er phantasierte vor 80 Jahren auf den Spuren von H. G.
Wells über eine weltweite ethi­sche Erneuerung der Menschheit durch Wer­bung
als Mittel der Volks­erziehung. »Propaganda«, schrieb Kästner (1930: 237), »ist das
Medium aller Werte geworden«. Sie müsse sich lediglich auf mora­lisch relevante
Fragen konzentrieren. Kästners Artikel für die Zeitschrift Gebrauchsgraphik trug den

4 Einige Überlegungen und Formulierungen in diesem und dem folgenden Abschnitt


(»Mitleid und ›moralischer Impuls‹«) sind aus dem Aufsatz »Moralphilosophie im
Kommunikationsdesign« (in diesem Band) übernommen.
166 Die visuelle Sprache der Moral

pro­gram­matischen Titel »Reklame und Weltrevolution«. Doch diese ver­meintliche


Revolution krankt an einem Wider­spruch. Der tritt bei Edward Bernays, dem
Begründer der Lehre von den public relations, deutlich hervor. »Die bewuss­te und
zielgerich­tete Mani­pu­lation der Ver­hal­tens­wei­­­sen und Einstellun­gen der Massen ist
ein we­sent­licher Be­stand­teil de­mokratischer Gesell­schaften«, schrieb Bernays (1928:
19) etwa zur glei­chen Zeit, als Kästner seine Utopie der moralischen Aufklä­rung
durch Reklame publizierte. Denn ohne Manipu­lation, stellte Bernays nüchtern fest,
würden die Märkte nicht funktionie­ren. Er ignorierte je­doch, dass die normative
Grund­lage jeder Demokra­tie die freie Selbst­bestim­mung aller ist. Unter der dünnen
Schicht des Bekenntnisses zur Demokratie kommt beim Theore­tiker der modernen
Propaganda denn auch immer wieder der alte Topos autoritärer Massenverachtung
zum Vorschein: »Steht kein Vorbild eines Führers zur Verfügung, muss die Herde
für sich selbst denken. Dabei greift sie zurück auf Klischees, Schlag­worte oder
Bilder« (ebd.: 51). Es ist para­dox, wenn man demokratische Ge­­sell­schaften mit
Manipulation durch Public Relations am Leben erhal­ten will. Und es ist vor allem
ethisch nicht legitim, weil Menschen zu bloßen Mitteln degra­­diert und nicht – im
Sinne von Immanuel Kant – als »Zwecke an sich selbst« geachtet werden: »Nun
sage ich: der Mensch […] existiert als Zweck an sich selbst, nicht bloß als Mittel
zum beliebigen Gebrauche für diesen oder jenen Willen, sondern muß in allen
seinen, sowohl auf sich selbst, als auch auf andere vernünftige Wesen gerichteten
Handlungen jederzeit zugleich als Zweck betrachtet werden.« (Kant 1785: BA 64 f.)
Das »Medium aller Werte«, das Kästner beschworen hat, zehrt also die Werte
auf – sofern es sich denn um ethi­sche handelt. Von einem kantiani­schen Standpunkt
aus betrach­tet, ist das ein Beleg für die Schwie­rigkei­ten, in die sich Wertethiken
rasch ver­stricken, weil sie sich per definitio­nem weigern, die oben ange­spro­che­ne
Vielfalt partikularer moralischer Werte auf die universale Form des mora­lischen
Urteils zu reduzieren und dabei mit guten Gründen auszuwählen.
Zurück zum Thema. – Im Unter­schied zu Werbung und Public Relations, die
der ethischen Reflexion und Kontrolle »von außen« bedürfen (was freilich nicht
heißen soll, dass die nicht von den Menschen ausgeübt werden kann, die in diesen
Branchen gestalterisch tätig sind), im Unterschied dazu also sind soziale Kam­pag­­nen
häufig »ange­wandte Ethik« in visuell präg­nan­ter Form: beispielsweise Warnun­gen
vor Raserei auf Autobah­nen, Hinweise auf die Gefahren des Rauchens, Mobi­lisie­
run­gen gegen Alkohol­missbrauch oder, wie gesehen, gegen rituelle Genital­ver­stüm­
me­­lungen. Solche Kampagnen zielen auf Ver­haltensänderung bei den Adressa­ten
im Sinne von moralischen Handlungs­grund­sätzen.
Meine These ist, wie gesagt: Eine Ethik des Kommunika­tions­designs, die ledig-
lich bei den individuellen Konflikten und Hand­lungs­­­­entschei­dungen der Designer
ansetzen würde, wäre verkürzt, ja gerade­zu halbiert. Es gilt, auch sozialethische
Die visuelle Sprache der Moral 167

An­sprüche zu formu­lie­ren, die als kriti­sches Korrektiv gegenüber vorherr­schenden


Formen des Für-Richtig-Haltens gelten können. Als reflexives Korrek­tiv kann
die Ethik des Kommu­ni­ka­tions­designs eine Normativität mit sozial­­utopi­schem
Charak­ter begrün­den und Handlungsalternativen aufzeigen.
In der Praxis gelingt das insbesondere dann, wenn logos-, pathos- und ethos-Ap-
pell sozusagen im harmonischen Dreiklang auftreten können. Und damit meine
ich nicht nur die Gesinnung, die dem Entwurf zugrunde liegt und rationale und
emotionale Aspekte ebenso zusammenbringt wie individual- und sozialethische.
Nein, ich meine auch die Sache selbst, also den Gegenstand der Kommunikation:
Häufig kommen hier die Objek­te den subjektiven Haltungen der Entwerfer entgegen.
Die Moti­ve sozialer Kampagnen lassen sich auf drei normative Be­gründungs­
typen zurück­f ühren: Hilfe zur Selbstbestimmung, Mitleid oder Gemein­wohl. Das
Gemein­wohl steht im Mittelpunkt der utilitaristischen Ethik. Rase­rei, Rauchen und
übermäßiger Alkoholkonsum schaffen in volkswirtschaftlicher Hinsicht Probleme.
Genitalverstümmelungen verstoßen gegen die Maxi­me des negativen Utilitaris-
mus, soviel Leid zu vermeiden wie möglich. Andere mögliche Bezugspunkte sind
Schopenhauers Moralprinzip des Mitleids und der Solidarität oder Kants Prinzip
der rational begründeten Würde des auto­nomen Menschen.
Also noch einmal zurück zur Aufklärungs­kampagnen gegen die kultu­relle Praxis
der Genital­verstümmelung: Wir hatten gesehen, dass Desig­nerinnen und Designer
sich mo­ra­lisch zur Intervention aufgerufen fühlen. Mit der Freiheit und Autono-
mie stehen hohe Werte auf dem Spiel. Frei­heit und Selbstbestimmung sind nach
Kant Grund­lage der Menschen­w ürde, also Kernbestand von Moral. Für Kant hieß
richtiges Handeln, dass Menschen sich aus Freiheit selbst be­stimmen. Freiheit kann
nur wirklich werden, wenn Menschen – »niemals bloß […] Mittel« sind, sondern
»jederzeit zugleich als Zweck an sich selbst« (Kant 1785: BA 66 f.; Kant 1788: A 155 f.).
Genitalverstümmelungen verstoßen gegen die Menschenwürde, weil sie Freiheit
und Selbstbestimmung einschränken (siehe Mende 2011). In der Vorstellung, dass
es unveräußerliche Menschenrechte gibt, hat sich der Gedanke der Menschen­w ürde
im Kampf gegen Sklaverei und Unterdrückung bewährt. Doch was tun, wenn die
Betroffenen der­artige Unter­stützung gar nicht wollen? Wenn sie es als Einschrän­
kung ihrer Selbst­be­stimmung auf­fassen, dass man sie daran hindert, vollwerti­ges
Mitglied ihrer Gemein­schaft zu werden, indem sie an einem alt­ehrwür­di­gen Ritual
teilnehmen? Oder weil man ihnen die Frei­heit nimmt, sich aktiv zu den Grund­werten
ihrer Kultur zu be­kennen, die wir für un­moralisch halten? Vielleicht fürch­ten sie
sich davor, dass sie ausge­stoßen werden, nicht geheiratet wer­den können und im
Elend ver­sinken. Was tun, wenn ihnen all diese Elemente ihres »le­ben­digen Ethos«
(Fleischer 1995: 42) wichtiger sind als das Konzept der Menschen­w ürde?
168 Die visuelle Sprache der Moral

Das Problem besteht dann – aus entwurfsmethodischer Sicht – darin, dass der
ethos-Appell der Gestalter, ihr Engagement für die Werte der okzidentalen Rationalität,
aus der vermeintlichen Harmonie mit dem logos- und dem pathos-Appell heraus­f ällt.
Freiheit und Selbstbestimmung sind offenbar zwiespältige Werte. Für die Mo-
ralphilosophie der Aufklärung ist die Überlegung zentral, dass Individuelles und
Allgemeines nicht auseinanderfallen dürfen. Aber wie lassen sich diese Pole der
Moral vermitteln? Im Geiste Kants wird man folgendermaßen argumentieren: Alle
Menschen möchten glücklich sein; aber was sie darunter verstehen, ist individu­ell
höchst verschieden. Moral muss also die Bedingungen dafür schaffen, dass alle
ihre Vor­stellun­­­gen vom gelingenden Leben verwirklichen können. Man muss
nicht allen vor­schrei­­ben, wie gelingendes Leben aussieht, aber freie und gerechte
Lebens­bedingun­gen für alle schaffen. Wenn die Menschheit in jedem einzelnen
nicht nur mental, sondern auch real »Zweck an sich selbst« wäre, dann müssten
die besonderen Einzel­inter­essen und das allgemei­ne Interesse nicht mehr ausei-
nanderfallen; dann müsste es keinen Widerspruch zwi­schen den Ritualen einer
Gemein­schaft und dem individuellen Bedürfnis nach Selbst­bestimmung geben.
Junge, unmündige Menschen müssten nicht mit Hilfe althergebrachter Bräuche
für fragwürdige Gemeinschaftswerte instrumentalisiert werden.
Der ethos-appell könnte auf diesem Terrain zugunsten des logos-Appells zurück­
treten, weil die sozialethischen Intentionen der Gestalter wirkungsvoller zum
Ausdruck kommen, wenn vernünftige Argumente für einen politischen Diskurs
über ethische Werte und zivili­sa­torische Standards vermittelt werden.

Mitleid und »moralischer Impuls«

Man könnte hier aber auch schlicht Mitleid empfinden und deshalb aktiv werden.
Dann wäre der logos-Appell die Grundlage eines pathos-Appells, also sozusagen
der primäre Inhalt der Sprache der Dinge, oder besser gesagt: der stumme Aus­
drucks­charakter einer Sach­lage, die Gestalter und Betrachter ver­neh­men und durch
die sie gestimmt werden.
Das Moralprinzip des Mitleids und der Solidarität wurde von Arthur Schopen­
hauer (1840: 177) for­muliert. Es lautet: »Verletze niemanden, sondern hilf allen,
soviel du kannst.« Schopenhauer setzt nicht primär auf die ver­nünf­t ige Urteilskraft,
sondern auf das moralische Gefühl. Er argumen­tiert gegen Kant, dass Mitleid das
einzig rational erkennbare, wenngleich selbst nicht rationale Moralprinzip ist.
Es ist »die alleinige Quelle uneigen­nützi­ger Handlun­gen«, »die wahre Basis der
Moralität« (ebd.: 285). Freilich wollen nicht alle Menschen bemitleidet werden.
Die visuelle Sprache der Moral 169

Pater­nalistisches Mitleid kann gegen das Recht zur Selbstbestim­mung verstoßen.


Aber wenn Mitleid und Solidarität die eigene Haltung bestim­men, wird man tun,
was man kann, um gegen die Praxis der Genital­verstümme­lung zu kämpfen.
Moralisches Handeln wird nicht nur rational, aus ethischen Werten oder
Prinzipien, abgeleitet. Es entsteht immer auch impulsiv, ange­sichts von konkreten
Herausforderungen des moralischen Gefühls. Theodor W. Adorno hat gezeigt,
dass der moralische Impuls, der sich regt, wenn wir vom Leid anderer erfahren,
ein ganz wesentlicher Bestandteil des Handelns ist. Aristoteles hat die ethos-Ethik
begründet; Schopen­hauer vertrat so­zu­sagen eine Ethik des pathos, während Kant
eine Ethik des logos formu­liert hat. Die meisten Moralphilosophen setzen heute
entweder auf die Urteilskraft, wie Kant, oder auf das moralische Gefühl, wie
Schopen­hauer. Adornos Theorie des moralischen Impulses vermittelt zwischen
rationaler und emo­tionaler Ethik (Adorno 1966: 281). Der moralische Impuls ist
mehr als Rationalität, mehr als die ver­pflichten­de Vernunft im Sinne Kants. Wenn
wir aber, wie Schopen­hauer, nur gefühls­ethisch argumen­tie­ren und alles auf den
moralischen Impuls setzen, haben wir keine Instanz für norma­tive Kritik. Doch
diese ist nötig – besonders dann, wenn moralische Im­pul­se ausbleiben. Dann geht
es nicht ohne Ratio­nalität, nicht ohne den logos. Aber auch wenn derartige Impulse
vorhanden sind, kann die moralische Ansprache nur überzeugen, sofern logos- und
pathos-Appell nachvollziehbar vermittelt sind.
Im Anschluss an Schopenhauer hat Jürgen Habermas (1991) betont: Keine
Gerech­tig­keit ohne Menschenliebe und Mitleid. Wer humane Lebens­ver­hält­nisse
erreichen möch­te, muss die Verletzlichkeit menschli­cher Subjekte beachten. Denn
weil wir ver­letzliche Individuen sind, brauchen wir Auto­nomie und Gleich­berech­
tigung, müssen wir moralische Subjekte wer­den. Aber schützen können wir uns
letztlich nur in gemeinschaft­licher, inter­sub­jektiver Praxis, und das heißt: in einer
solidarischen Lebens­praxis.
Heinz Paetzold (1990: 15) hat das Prinzip der Dis­kursethik von Apel und Ha-
bermas einmal so zusammengefasst: »Mora­lisch [...] handelt ein Mensch dann,
wenn er« – erstens – »den Bestand der realen Kommu­ni­ka­tionsgemeinschaft nicht
gefährdet« und darüber hinaus – zweitens – »in dieser«, also in der realen Kom-
munikationsgemeinschaft, »zugleich ihre Erweite­rung zur idealen Gemeinschaft
anbahnt.« Dabei ist mit dem Wort »ideal« nichts anderes gemeint als die normative
Grund­lage des menschlichen Zusammenlebens, die in seiner faktischen Reali­tät
zwar oft schwer zu erkennen, aber gleichwohl immer, als Anlage und Möglichkeit,
vorhan­den ist. Sie lautet: Kein menschenwürdiges Zusammenleben ohne Kom-
munikation. Nicht nur im Sinne von Mitteilung! Kommunikation sollte nie nur
strategisch sein, sondern immer auch verständigungs­orientiert, und das heißt: an
der Möglichkeit solidarischer Praxis orientiert.
170 Die visuelle Sprache der Moral

Abb. 11–13 Realistisch


Bildquellen: http://de.wikipedia.org/wiki/Tostan#Die_Abschaffung_der_Beschneidung_
am_Beispiel_des_Senegals [26. 01. 2015)]; http://ourglobalhealth.blogspot.de/2013/10/
spotlight-series-time-to-cut-mutilation.html [letzter Abruf: 24.3.2018]; http://skollfoun-
dation.wpengine.netdna-cdn.com/wp-content/uploads/2011/10/tostan1.jpg [letzter Abruf:
13.7.2015]; http://actionnownetwork.com/home/contents/wp-content/uploads/TOSTAN%20
LOGO.jpg [letzter Abruf: 13.7.2015]
Die visuelle Sprache der Moral 171

Von hier aus zeichnet sich vielleicht eine Lösung des Di­lemmas bei der Haltung
zur Kampagne gegen Genital­verstümme­­lung ab. Man sollte Menschen­w ürde und
Menschenrechte nicht von außen als überlegene moralische Werte verkünden (die
sich von selbst verstehen und die anderen moralischen Werten überlegen sind). Man
sollte dort ansetzen, wo die Betroffe­nen selbst artikulie­ren, dass Leidfrei­heit und
Selbst­bestim­mung auch für sie zu ei­nem ge­lingen­den Leben gehören. Selbst dann,
wenn sie dafür nicht den Begriff »Men­schen­w ürde« benutzen, nicht der Ansicht
sind, dass es unveräußerliche Menschenrechte gibt und individu­elle Selbst­bestim­
mung für sie nicht der oberste Wert ist.
In diesem Fall heißt das: Man sollte nicht leugnen, dass Genital­verstümmelung
eine soziale Norm ist; man sollte also mit den Menschen sprechen, die daran betei-
ligt sind. Man sollte fragen, ob wirklich alle, die von dieser Norm betroffen sind,
allen Folgen und allen Nebenfolgen zu­stimmen können. Die Kam­pagne »Tostan«
in Afri­ka geht so vor5 – bislang noch mit relativ wenig Kommuni­ka­tionsdesign,
aber das kann sich ja ändern. Beim Twitter-Auftritt der Kam­pagne wird bereits
etwas mehr gestaltet.

Zur Ambivalenz des Verantwortungs-Diskurses

Hervorzuheben bleibt, dass der ethos-Appell im Kommunikationsdesign keines-


wegs nur da zum Tragen kommt, wo explizit moralische oder ethische Inhalte
behandelt werden.6 Die Haltung, das Ethos einer Gestalterin oder eines Gestalters
kommt auch dort zur Geltung, wo es beispielsweise um typografische Entschei-
dungen beim Setzen von lyrischen, narrativen oder non-fiktionalen Texten geht.
Tritt die Gestaltung dabei in den Vordergrund oder eher zurück? Welche Formen
sind dem jeweiligen Inhalt angemessen? Angemessenheit im Sinne von adaequatio
ist in formaler Hinsicht nicht weit entfernt vom aptum der klassischen Rhetorik;
allerdings geht es, wenn nach adaequatio gefragt ist, nicht um die Konsistenz und
Schlüssigkeit der Darstellung im Ganzen, sondern darum, was dem Gegenstand
inhaltlich angemessen ist, der in Rede steht. Ist ästhetischer Ausdruck, also ein
»subjektiver Faktor«, adäquat, oder sollte besser der Gestus funktionaler Neutralität
gewählt werden? Wie Kommunikationsdesigner sich an solchen und vielen anderen
ähnlichen Punkten entscheiden, hängt sicher immer auch von ihren »Vorlie­ben und

5 https://www.tostan.org (letzter Abruf: 14.8.2018). – Ich danke Janne Mende dafür, dass
sie mich auf die Arbeit dieser Organisation aufmerksam gemacht hat.
6 Für diesen Hinweis danke ich Kai Buchholz.
172 Die visuelle Sprache der Moral

Empfindlichkeiten« ab, und es kann durchaus als Indikator für ihre »Glaubwür-
digkeit« und »Integrität« gelten – insbesondere im Hinblick auf ihre Bereitschaft,
darüber zu reflektieren und überzeugende Gründe angeben zu können.
Im letzten Teil dieses Aufsatzes möchte ich dennoch weiterhin auf dem Gebiet
der Analyse von ethos-Appellen mit ethischer Thematik verweilen und ein weiteres
Beispiel für eine visuelle Sprache der Moral diskutieren, das deren Möglichkeiten
und Risiken aufschlussreich repräsentiert.
»Verantwortung« ist in den letzten Jahren zu einem der zentralen Be­griffe im
Diskurs über moralische Fragen geworden. Mit den Worten von Hans-Ernst Schiller
(2011: 160): »Verant­wortung heißt […] Antwort zu geben auf die Anklage, dass man
etwas getan hat, was religiösen und moralischen Geboten oder staatlichen Gesetzen
wider­spricht.« Es kann sich auch um etwas handeln, was man nicht getan hat oder
tut, also um eine Unterlassung. Mitunter wird das Konzept »Verantwortung« zur
Psychologisie­rung sozialer Phänomene verwendet. Der Appell an die indi­v iduelle
Verantwortung kann ein schlechtes Gewissen installieren. Und auf dem Weg, der
vom Sozialstaat mit öffent­licher Gesund­heitsfürsorge zu Verhältnissen geführt
hat, in denen sich jeder allein darum kümmern muss, wo er bleibt und was im
Konkurrenz­kampf aus ihm wird, ist »Eigen­verant­wortung« sogar zu einem neo­
liberalen Kampfbegriff geworden. Schiller (2011: 183–187) spricht in diesem Zu-
sammenhang von »Selbstverantwortung als Zuschreibung und Überforderung«.
Aber auch wenn die Verantwortung des Individuums nicht vom Ge­meinwohl
abgekoppelt werden soll, sondern wenn im Gegenteil betont wird, dass jeder
Einzelne sich für die Allgemeinheit einsetzen soll, kann die Beschwörung von
Verantwortung problematische Züge annehmen. An der Kampagne »BIS DU
WAS DAGEGEN TUST« von Amnesty Interna­tio­nal lässt sich die Ambi­valenz
moralischer Kommunikation studie­ren.
Die visuelle Sprache der Moral 173
174 Die visuelle Sprache der Moral

Abb. 14–17 Drastisch


Bildquelle: http://www.amnesty.de/ [letzter Abruf: 27.1.2015]
Die visuelle Sprache der Moral 175

In einem gelb unterlegten Fenster der Homepage baut sich, Satz für Satz, der fol-
gende Text auf:

»2 Elektroden
Die eine am Finger befestigt
Die andere am Genital

Die Stromspannung wird erhöht


Die Stromspannung wird erhöht
Die Stromspannung wird erhöht

Bis Du was dagegen tust.


Auf amnesty.de/stopfolter

Amnesty International«

Dazu ist am Ende der Bildfolge das AI-Logo zu sehen.


Die Leser sollen sich als moralische Akteure wahrnehmen – auch wenn sie
nicht unmittelbar involviert sind. Passivität wird als verachtenswerte Unterlassung
dar­gestellt. Die Kampagne übt Druck aus, der im pulsie­ren­den Takt der auftau-
chenden und verschwinden­den Sätze und im cres­cen­­do der Wiederholung visuell
wahrnehm­bar, also gleichsam spürbar, wird.
Die affektorientierte Pathos-Strate­gie ist dabei zwar untergeordnet, aber sie ist
unter­schwellig wirksam. Die imaginäre Einfühlung in das Leid der Opfer grundiert
mein Schuldbewusstsein als Betrachter. Als solchem bleibt mir zwar im visuellen
Sinne erspart, was Susan Sontag (2003) »regarding the pain of others« nennt; aber
»regarding« hat ja vor allem die Bedeutung »im Hinblick auf«, und die kommt
natürlich auch dann mit voller Wucht zur Geltung, wenn im buchstäblichen Sinne
nichts zu sehen ist.
Auf die inhaltsbezogene Logos-Strategie wird hier ver­zichtet. Im Kreise von
Machern und Betrachtern der Kam­pagne wäre es überflüssig, rationale Argumente
gegen die Folter vorzubringen. Folter ist eine Methode der Herrschaftsausübung,
der man nicht den Anschein von Legitimierbarkeit zubilligen sollte, indem man
sich auf einen Austausch von Argumenten »pro und contra« einlässt.7
In dieser bilderlosen, konsequent typografi­schen Dar­stellung dominiert der
ethos-Appell: Ein imaginärer Sprecher, der durch sein Enga­ge­ment für die Menschen­
rechte moralisch unangreifbar ist, wendet sich mit einer Schuld­zuweisung an sein

7 Und schon gar nicht auf pseudo-staatsphilosophische Diskurse über die Rechtferti-
gung der Folter, die nach dem 11. September 2001 wieder Fahrt aufnahmen; siehe dazu
Gremliza 2015 sowie zur Folter-Thematik in der Literatur Kramer 2004.
176 Die visuelle Sprache der Moral

Gegenüber. Hier geht es nicht darum, Mit­gefühl zu erzeugen; hier soll das Bewusstsein
einer Mitschuld ge­weckt werden. Absolution kann nur erhoffen, wer, gemäß der
rigorosen Auf­for­de­rung, aktiv wird. Ein Mensch, lautet die An­k lage, wird solange
gefol­tert, bis ich etwas dagegen tue. Aber was kann ich denn dagegen tun? Habe ich
die Möglichkeit zur Intervention? Ich kann doch allenfalls etwas sehr Indirektes,
Mittelbares tun. Das heißt, ich kann per Mausklick eine Petition unter­zeichnen.
Dass die Folter darauf­h in endet, ist unwahrscheinlich. Aber ich kann mir immerhin
sagen, dass ich mich vor den Kampagnen­machern gerecht­fertigt habe, die mich für
meine ignorante Taten­losigkeit zur Rechen­schaft gezogen haben.
Hier scheint die Metapher der »Moralkeule« ausnahmsweise einmal angebracht,
mit der Martin Walser um die Jahrtausendwende in der Debatte über das Ho-
locaust-Mahnmal in Berlin entgleist war. Aber vielleicht ist eine Keule in diesem
Fall ja das geeignete Instrument? Jede Minute, die verstreicht, ohne dass jemand
die Folterknechte der Herr­schen­den in aller Welt hindert, Menschen leiden zu
lassen, um ihnen Ge­ständ­nisse abzupressen oder sie sonstwie zu erniedrigen, ist
verlorene Zeit. Ich fürchte nur, dass mit der »Moralkeule« der morali­sche »Impuls«
eher gehemmt oder gar blockiert wird, der sich regen soll­te, »wenn ge­mel­det wird,
irgendwo sei gefoltert worden«, wie es Adorno (1966: 181) formuliert hat.8 Kommt der
morali­sche Impuls noch ausreichend zum Tragen, wenn ich mich in der Sicherheit
wiege, dass ich das Richtige tue, indem ich eine Petition unterzeichne? Ich kann
noch einen Schritt weiter gehen und Geld spenden. Beides ist selbstverständlich
besser, als wenn gar nichts geschieht. Aber mögli­cher­weise sehen wir hier die
Kehrseite der Über­forde­rung des Betrach­ters: nämlich die Überschätzung seiner
Interventionsmöglichkeiten.

8 Zwei Jahre vor dem Erscheinen von Adornos Negativer Dialektik hatte Max Frisch eine
Romanfigur die Erfahrung artikulieren lassen, aus Medienberichten zu vernehmen, dass
in Algerien gefoltert wird, was eigentlich zutiefst erschüttern müsste, aber unweigerlich
zum Hintergrundrauschen der eigenen Befindlichkeitswahrnehmungen wird. »Jetzt ar-
beiten sie schon eine Stunde an dem Wagen […]: Die Achse ist gestaucht, die Radscheibe
verbogen, auch das Kugellager muß wahrscheinlich ersetzt werden. Ich verstehe nicht
viel davon. Der Gedanke, hier übernachten zu müssen, schreckt mich; dabei ist es ein
ordentlicher Landgasthof. Noch immer habe ich den Mantel nicht ausgezogen, sitze und
versuche eine Zeitung zu lesen (man könnte auch mit der Eisenbahn fahren, um nicht
hier zu übernachten […]), meine Pfeife saugend, während in Algier (lese ich) gefoltert
wird – / Das ist, was stattfindet. / Wenn ich es wieder lese, was in Algier geschieht oder
anderswo, und wenn ich es mir einige Augenblicke lang vorstellen kann, gibt es nichts
anderes, und die Vorstellung ist kaum auszuhalten. Und ich bin bereit zu jeder Tat. Aber
ich sitze hier, eine veraltete Zeitung lesend, und halte es aus. Tatlos … Ich warte auf die
Ersatzteile für den Wagen« (Frisch 1964: 32 f.).
Die visuelle Sprache der Moral 177

Ich möchte niemandem etwas unterstellen, aber aus der Psychologie der Moral
weiß man, dass Rigorismus und Zerknir­schung in Größen­wahn um­schlagen können.
Kein Kampf gegen die Folter ohne symbolische Praxis – doch es sollte nicht bei
Scheinaktivität bleiben, die das Gewissen beruhigt. Es kommt noch etwas hinzu,
nämlich die Gefahr der Abwehrhaltung bei den Adressaten. Dieser Effekt ist aus
der empirischen Psychologie bekannt: Wer beim Publikum Einstellungs- oder
Verhaltensänderung bewirken möchte, tut gut daran, direkte Schuldzuweisungen
zu unterlassen. Sie können dazu motivieren, dass die Angesprochenen die Opfer
schlechtmachen, um ihr eigenes Tun oder Unterlassen zu rechtfertigen (Cooney
2011: 41 f.). Nehmen wir an, die Botschaft würde lauten: »Du bist schuld an der
Massentierhaltung; denn du bist geizig und willst keine angemessenen Fleischpreise
bezahlen«. Das kann zu einer inneren Flucht nach vorn führen, zu Gedanken wie
diesen: »Ein paar Schweine und Hühner mehr im Stall – das wird wohl nicht so
schlimm sein. Die bekommen doch reichlich zu fressen, und sie werden ja sowieso
nur für den Markt gezüchtet.« Die Vorstellung, dass der Gedanke an Folteropfer
statt Mit­gefühl Abwehrreaktionen wecken könnte (nach der Devise: »Die werden
schon ihren Teil dazu beigetragen haben, dass es überhaupt so weit gekommen
ist«) – diese Vorstellung wäre schmerzhaft.
Daher ist es aus meiner Sicht auch bei der Anti-Folter-Werbung rat­sam, den
logos-Appell zu verstärken und den Ball beim ethos-Appell etwas flacher zu hal-
ten. Im Übrigen ist zu bedenken, dass uns der Kampf gegen die Folter nötigt, das
Gebiet der Ethik zu verlassen und das der Poli­tik zu betreten. Man könnte bei-
spielsweise zum Nachdenken darüber anregen, wie man die hiesigen politischen
Entscheidungs­träger dazu bringen könnte, aus einem Militärbündnis auszutreten,
dessen führen­der Staat Folter­gefäng­nisse betreibt und sich dabei von anderen
Mitgliedsstaaten unterstützen lässt. Das wäre eine politische Strategie, für die ich
mich vor Ort einsetzen könnte.
Ich schließe mich Helmut Fleischer (1995: 44) an, der betonte: »das sittliche Sein
der Menschen« bestehe in einer Verbindung, in der »das je spezifische Können […]
mit dem Wollen und dem Sollen« zusammenfindet und »in ein […] qualifiziertes
Wirken« einmündet. Alles zusammen bilde erst »die Wirklichkeit des Ethos«. Der
Nor­ma­ti­v ismus der kantianischen Moral­philosophie, die aristotelische Ethos-
Ethik und Scho­pen­­hauers Gefühlsethik: Diese Positionen markieren Punkte auf
einer ethi­schen Land­karte. Wir sollten sie, wie Adorno es vorgemacht hat, in einer
permanenten Such­bewegung durch­laufen. Es sind nicht die Gebiete verfeindeter
Stämme. Ihre jeweiligen Fachvertreter gebärden sich zwar häufig, als sei dies der
Fall – aber darum müssen sich Kommunikationsdesignerinnen und Kommuni-
kationsdesigner glücklicherweise nicht kümmern.
178 Die visuelle Sprache der Moral

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Die visuelle Sprache der Moral 179

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IV
Medienphilosophie und Ethik
Erschließung und Virtualisierung der Welt
Methodologische und ethische Aspekte
der Medienphilosophie*1
Erschließung und Virtualisierung der Welt

Günther Anders (1986: 441) bemerkte im Jahre 1980: »Ob der Ausdruck ›Medialität‹
[…] den Anspruch erheben darf, eine philosophische Kategorie zu sein, das bleibe
dahingestellt.« Ich belasse es vorerst bei dieser Andeutung; am Ende werde ich darauf
zurückkommen. Der vorliegende Beitrag gibt zuerst einen knappen Überblick zum
Stand der Diskussion über Medienphilosophie als eigenständiges akademisches
Fach. Danach werden inhaltliche Überlegungen zur Medienphilosophie vorgestellt
und zum Schluss wird ein Ausblick auf medienethische Fragen skizziert.

Was ist »Medienphilosophie«?

An deutschen Universitäten wird das Fach »Medienphilosophie« erst seit wenigen


Jahren, und auch nur recht sporadisch, gelehrt. Einige interdisziplinäre Fachbereiche
bieten es als eigenständiges Fach an, nicht jedoch die klassisch-philosophischen.
Viele Philosophen sind skeptisch. Sie fragen: Warum der anspruchsvolle Titel
»Medienphilosophie«? Warum spricht man nicht einfach von »philosophischen
Theorien der Medien« oder »des Medialen«?
Im Prinzip steht der Name »Medienphilosophie« für zwei Ansätze. Der eine
wendet sich mit philosophischer Methodik einem neu erschlossenen Phänomen-
bereich zu. Dieser Bereich wird (je nach methodologischem Paradigma) beschrie-

* Der Text ist aus meinem Eröffnungsvortrag bei der Tagung Mit Kindern über Medien ins
Philosophieren kommen an der Universität Würzburg am 23. Juni 2017 hervorgegangen.
Er erscheint auch in: Mit Kindern über Medien und über Menschen und (andere) Tiere
ins Philosophieren kommen. Beiträge zum Philosophieren mit Kindern, hrsg. von Susanna
May-Krämer, Kerstin Michalik u. Andreas Nießeler, Münster, LIT, 2018.
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 183
G. Schweppenhäuser, Design, Philosophie und Medien, Würzburger Beiträge zur
Designforschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-22225-3_11
184 Erschließung und Virtualisierung der Welt

ben, erklärt, verstanden oder rekonstruiert.1 Der andere Ansatz möchte mit der
Wahl jenes Phänomenbereichs ein neues philosophisches Paradigma begründen.
»Medienphilosophie« ist dann die Philosophie der Medien – und nicht bloß das
Philosophieren über einen Gegenstand namens »Medien«. Für die Berechtigung
dieses Anspruchs wird ins Feld geführt, dass Philosophieren über »Medien« vom
Gegenstand niemals unberührt bleiben kann. Denn seine Reflexion kann ja nicht
anders geschehen als vermittelt durch ein Medium (oder mehrere).2
Es ist wahrlich nicht überraschend: Was man vernünftigerweise unter Medienphi-
losophie versteht, hängt offenbar davon ab, welches Konzept von Philosophie man
vertritt; außerdem hängt es davon ab, was für ein Konzept von Medien man hat.3

1 In diesem Ansatz wird »Medienphilosophie als eine Bereichsphilosophie« verstanden,


»die eine philosophische Reflexion auf die Medien sein möchte, vor allem im Sinne der
Medien als bloßen Mitteln der Kommunikation. Wie Technikphilosophie nicht selbst
eine Erscheinungsform von Technik ist und die wie die Staatsphilosophie nicht selbst
etatistisch sein muss, so gäbe sich eine solche Medienphilosophie ganz unberührt von
ihrer eigenen möglichen Medialität.« (Röttgers 2012: 354)
2 Kurt Röttgers (2012: 354) hat diesen anspruchsvollen Ansatz treffend als eine »Positi-
on« bezeichnet, die sich »in die Tradition derjenigen Verwandlungen der Philosophie«
stellt, »die mit dem sogenannten linguistic turn einhergehen, d. h. einer Abkehr von
bewusstseinsphilosophischen Begründungen der Interpretation unseres Weltverhal-
tens. Sie unterstellt, dass der medial turn eine noch grundlegendere Grundlegung
bieten kann als die Sprachphilosophie […]. Medien eröffnen allgemein einen Schlüssel
unserer Weltzugänge«. Lorenz Engell, Inhaber des Lehrstuhls für Medienphilosophie
an der Bauhaus-Universität Weimar, geht hier erheblich weiter. Er vertauscht genitivus
objectivus und subjectivus und sagt, die Rede von Philosophie der Medien bedeute, dass
die Medien selbst philosophieren. Medien, meint er, denken selbst, weil sie sich denken.
Das Fernsehen, zumal durch die Fernbedienung erweitert, sei eine »philosophische
Apparatur« (Engell 2003: 61), es sei gar der Musterfall des »Medien-Denkens« (ebd.: 67).
Als z. B. das Fernsehen Live-Bilder der Erde zeigte, die vom Mond aus aufgenommen
wurden, seien alle prämedialen Verhältnisse von Raum und Zeit verändert und Virtu-
alität und Aktualität in eins gesetzt worden. Auch das Medium Film ist Engell zufolge
ein selbstdenkendes. Das »filmische Bild«, das für Gilles Deleuze ein »Denk-Bild« ist,
dürfe »durchaus als denkendes Bild ausgelegt werden« (Fahle und Engell [1997]: 10.) Das
»filmische Denken«, unter dem »ein Denken der Bewegung und der Zeit« zu verstehen
sei (ebd.), soll demnach nicht das Denken von Filmerinnen oder Filmern sein, sondern
die Denktätigkeit des Films selbst – was auch immer man sich darunter vorstellen mag.
3 In dieser Debatte bin ich nicht nur Beobachter, sondern auch Teilnehmer. Im Frühjahr
2018 erschien das Handbuch der Medienphilosophie, das ich für den Verlag der Wissen-
schaftlichen Buchgesellschaft herausgegeben habe. Beim folgenden Versuch, den beiden
genannten, per se überraschungsarmen Aussagen inhaltliche Konturen zu geben, knüpfe
ich häufig an Gedanken und Argumente von Autorinnen und Autoren des genannten
Handbuchs an.
Erschließung und Virtualisierung der Welt 185

Wer argumentiert, dass wir eine Medienphilosophie brauchen, sollte zunächst


zeigen können, dass sie etwas leisten kann, das die Medienwissenschaften nicht
können. Wodurch unterscheiden sich diese von jener? Letztere orientieren sich an
empirischen Methoden. Medienwissenschaftliche Theorien, die diesen Methoden
zugrunde liegen oder sie reflektieren, orientieren sich an Bezugswissenschaften und
deren Paradigmen. Das sind unter anderem Literatur- und Kulturwissenschaft,
Philosophie, Soziologie und Psychologie. Im Unterschied dazu ist Medienphiloso-
phie grundsätzlich die begriffliche Klärung der Grundlagen dessen, was wir unter
einem »Medium« verstehen. Dabei werden die drei Parameter Sprache, Kultur und
Gesellschaft angelegt.
Bevor ich dies näher erläutere, möchte ich auf den Abstraktionsgrad eingehen,
den ein philosophischer Medienbegriff haben sollte. Empirische Medien- und
Kommunikationswissenschaftler sind sich nicht einig, ob ein weitgefasster oder
ein enggefasster Medienbegriff vorzuziehen ist. Sehr weite Medienbegriffe erweisen
sich oftmals als ungeeignet für spezifische Forschungen. Von den Wänden ehedem
bewohnter Höhlen über Pferde bis hin zur Luft bestimmen sie beinah alles als »Me-
dium«, was irgendwie mit dem ideellen oder materiellen Transport von irgendetwas
zu tun hat. Zu eng gefasste Medienbegriffe hingegen können unzureichend für ein
substantielles Verständnis des Gegenstandes sein. Sie übertragen lediglich bran-
chenübliche ad-hoc-Definitionen in die Theorie, etwa den journalistischen Begriff
der Medien, der mehr oder weniger synonym mit »Massenkommunikationsmittel«
ist. – Ich werde argumentieren, dass man am besten beraten ist, wenn man sowohl
mit einem weiten, philosophischen Begriff der Medien arbeitet als auch mit einem
engen, medienwissenschaftlichen Begriff.
Eine allgemeine Definition stammt von Stanley Cavell (1999: 93): »Ein Medium
ist etwas, wodurch etwas Bestimmtes getan oder auf bestimmte Weise gesagt wird.«
Dieses Konzept wirkt auf den ersten Blick noch viel weiter gefasst als die unspezifische
Subsumtion von Höhlen, Reittieren oder Luft unter den Medienbegriff. Also wird
man gut daran tun zu klären, was denn mit »etwas Bestimmtes tun« und »etwas
auf bestimmte Weise sagen« gemeint ist. Mein Vorschlag, durchaus im Anschluss
an Cavell, lautet: Medien tun als materielle Bedeutungsträger, was sie sagen, indem
sie den Benutzern ihren immateriellen Bedeutungsgehalt in einer spezifischen
Form übermitteln. Und ich füge (durchaus im Dissens mit dem Paradigma des
linguistic turn) hinzu: Die Vermittlungsleistungen von Medien erfolgen nicht nur
intersubjektiv, sondern auch zwischen Subjekten und Objekten.
Daraus kann eine erste, sozusagen weit ausgreifende These abgeleitet werden:
Medien sind Mittel der Welterschließung. Später werde ich eine zweite These
vorstellen, die von einem eng gefassten Medienbegriff ausgeht. Zunächst aber zur
Frage, was »Welterschließung durch Medien« heißen kann. Grundlegend ist dafür
186 Erschließung und Virtualisierung der Welt

zunächst Edmund Husserls Konzept der Intentionalität. Mit diesem Terminus


bezeichnet Husserl die »Grundstruktur des Bewusstseins, nach der jedes Bewusst-
seinserlebnis auf einen Gegenstand gerichtet ist«; es geht »in der Phänomenologie
um Gegenstände im ›Wie‹ ihres Gegebenseins im Bewusstsein« (Friedrich 2018:
47). Husserl zufolge finden wir die extramentale Welt nicht einfach fertig vor,
konstruieren sie aber auch nicht souverän in Gedanken; sie ist vielmehr in jedem
einzelnen Akt des Wahrnehmens und Erkennens als Inhalt von Erfahrung und
Bewusstsein immer schon gegeben.
Um zu beschreiben, wie Menschen über Medien ihre Welt erschließen, empfiehlt
es sich, die Betrachtung einzugrenzen. Ich werde daher die Medienphilosophie
in die Nähe von drei weiteren Bindestrich-Philosophien stellen, welche die zuvor
angesprochenen Parameter kategorial reflektieren, nämlich Sprachphilosophie,
Kulturphilosophie und Sozialphilosophie.
Dass es Berührungspunkte zwischen Sprach- und Medienphilosophie gibt,
bedarf wohl keiner ausführlichen Begründung. Natürliche Sprachen sind die pro-
minentesten Medien der Humankommunikation. Sprache ist nicht ein Mittel der
Kommunikation, sondern die Struktur von Kommunikation überhaupt ist sprachlich
(auch die zwischen Menschen und Maschinen oder zwischen vernetzten Maschinen
mittels künstlicher Sprachen). Medienphilosophische Ansätze teilen zudem mit
der Sprachphilosophie die selbstreflexive Besonderheit, »daß der Gegenstand der
Erklärung ihr näher ist als die Gegenstände sonst; denn Sprache wird durch Spra-
che bestimmt, in Wörtern das Wesen der Wörter bezeichnet« (Schweppenhäuser
1958: 313). Mit Mike Sandbothe (2018: 242) kann an dieser Stelle beispielsweise
auf John McDowell und Martin Seel verwiesen werden: Für beide ist die Sprache,
das »grundlegende Medium menschlicher Erkenntnis«, »so strukturiert […], dass
wir uns ohne sie […] auf nichts intentional beziehen können«. Aber gleichzeitig sei
»alles, worauf wir uns in ihr beziehen, von der Sprache selbst als sprachunabhän-
giger Gegenstand vorausgesetzt« (ebd.). Medien beziehen sich demnach in einer
sprachartigen Weise auf Außersprachliches (oder auf Innersprachliches), das nicht
identisch mit ihnen ist.
Die Behauptung, dass Medien und Kultur nahe beieinander sind, erscheint
sicherlich auch nicht allzu gewagt. Kultur – wir können auch sagen: ­Zivilisation –
ist eine gesellschaftliche Praxis, bei der erfahrbare Lebensumgebungen in kom-
munizierbare Zeichenzusammenhänge transformiert werden. Dies erfolgt regional
und kontinuierlich. Zeichenzusammenhänge sind die Grundlage, um die Umge-
bung durch Arbeit und Interaktion zu verändern. Und das heißt: sie sich als Welt
anzueignen. In diesem Sinne hat Ernst Cassirer Kultur als Produktion von Bedeu-
tungsgeflechten mittels Zeichengebrauch bezeichnet. »Die symbolische Formung
[…] ist ein kontinuierliches Geschehen. Durch kulturelle Kontinuität werden die
Erschließung und Virtualisierung der Welt 187

symbolischen Formen untereinander und intern differenziert, relativiert. Doch sie


bleiben wie ein Netz aufeinander bezogen.« (Paetzold 1993: XII) Aus dieser Pers-
pektive kann man die Geflechte aus bedeutungstragenden Zeichen die Medien der
Kultur nennen. Man kann aber auch umgekehrt sagen: Kultur ist selbst ein Medium,
das, genauer besehen, aus Zeichengeflechten besteht, die Bedeutungen produzieren.
Auch in der Phänomenologie – jener philosophischen Strömung, die mit Cassirers
transzendentalphilosophischem Ansatz konkurriert – wird Kultur als Wirklichkeit
bezeichnet, die sich Menschen durch Erleben und Deutung aneignen. Und zwar in
zeichenvermittelter Interaktion. Deutend und handelnd produzieren und erschließen
wir unsere »nähere oder fernere ›Welt‹« (Orth 1997: 54). Deren Zusammenhang
als Handlungsraum nennen wir Kultur. Und auch im Poststrukturalismus ist die
welterschließende und weltformende Funktion der Medien betont worden. »Medien
sind nicht nur apparative Zurüstungen des Menschen«, referiert Klaus Wiegerling
(2018: 174) die Position von Jacques Derrida und Gilles Deleuze. Medien »zeichnen
sich nicht nur durch Vermittlung, Zentrierung und Trägerschaft von Informationen
aus, vielmehr kommt ihnen eine Ordnungs- und Sinnstiftungsfunktion zu, die uns
die Welt erst denken lässt.« (Ebd.) Für Derrida gilt sogar: »Der Mensch als Subjekt
ist Ergebnis medialer Effekte, nicht dessen Ursache.« (Ebd.: 177)
Die Semiotisierung der Wirklichkeit kann freilich nur innerhalb gesellschaft-
licher Zusammenhänge erfolgen. Dort finden Kooperation und kommunikative
Interaktion statt – basal über natürliche Sprachen, aber auch über sekundäre,
artifizielle Sprachen, die Kodes der medialen Kommunikationsprogramme. Sozi-
alphilosophie legt hier die Erkenntnis zugrunde, dass die Menschen ihren Repro-
duktionsprozess und dessen kulturelle Reflexionsformen selbst gestalten, wenn auch
nicht immer aus freien Stücken. Zum Gestaltungs- bzw. Produktionsparadigma
wird das Interaktionsparadigma hinzugenommen, da nicht nur Arbeit, sondern
auch intersubjektive Verständigung zu den Grundlagen des sozialen Fortschritts
im Bewusstsein der Freiheit gehört. Kritische Sozialphilosophie geht davon aus,
dass das humane Potenzial verständigungsorientierter Kommunikation durch
selbstgemachte gesellschaftliche Fremdbestimmtheit gefährdet wird und daher
»eine Kritik der gesellschaftlichen Kommunikationsverhältnisse« (Honneth 1994:
59) erforderlich ist.
Dies mag als Skizze des Zusammenhangs zwischen Sprachphilosophie, Kul-
turphilosophie und Sozialphilosophie vorläufig ausreichen. Medienphilosophie
reflektiert ihre Gegenstände in einem Kontext der Welterschließung durch soziale
Interaktion, die über Sprechen und Zeichenverwendung vermittelt ist.
Um es in Anlehnung an Sybille Krämer (2000: 14) zu beschreiben: Wir machen
aus unserer Umwelt eine Welt, indem wir unsere Wahrnehmungen denkend re-
flektieren und mit anderen darüber kommunizieren, »was für uns wirklich ist und
188 Erschließung und Virtualisierung der Welt

was ›Wirklichkeit‹ heißt«. Und warum spielen Medien dabei so eine wichtige Rolle?
Weil sie uns »Unterscheidungsmöglichkeiten […] eröffnen« (ebd.: 15). Was heißt
das? Das werde ich in den folgenden Abschnitten erläutern. Ich möchte versuchen,
die Konstellation aus Medien-, Sprach-, Kultur- und Sozialphilosophie mit Blick
auf drei Fragen zu perspektivieren: Inwiefern schaffen Medien Wirklichkeit und
inwiefern vernichten sie sie? Was könnte Medienkompetenz im philosophischen
Sinn heißen? Wie stellt sich die Beziehung der Konzepte Freiheit und Selbstbestim-
mung in medienethischer Hinsicht dar?

Medien als Wirklichkeitsvermittler und Welterschließer

Kultur, hatte ich angedeutet, ist die soziale Praxis der Semiotisierung von Wirklich-
keit, vermittelt durch Medien; eine Praxis, die erfahrbare Lebensumgebungen in
kommunizierbare Zeichenzusammenhänge transformiert. Der philosophische Blick
auf die Medien zeigt: Medien sind immer beteiligt, wenn erfahrbare Lebensumge-
bung Wirklichkeit wird, die uns gegeben ist. Damit wir uns intentional, also mit
Handlungs-, Erkenntnis- oder Verständnisabsichten, auf Ausschnitte der Realität
beziehen und sie dadurch zu unserer Wirklichkeit machen können, brauchen wir
Medien. In Kant’scher Terminologie ausgedrückt, sind Medien die Bedingungen
der Möglichkeit von Welterschließung.
Mit Kant muss der nächste Schritt eine Kritik der Medien sein. Damit ist selbst-
redend nicht gemeint, die Medien schlechtzumachen, sondern zu beschreiben, was
Medien leisten können und was nicht – und natürlich auch zu beschreiben, wie sie
leisten, was sie leisten.
Diese Reflexion ist nicht zuletzt wichtig, um nicht in die Falle eines zirkulären
Medien-Apriorismus zu gehen. Dann würde man nämlich bei der Behauptung
landen, dass Medien die Welt in Gänze konstituieren, könnte aber nicht angeben,
wodurch denn die Medien selbst konstituiert sind. Dieter Mersch (2018: 28) hat
diese Falle so beschrieben: »Wenn ›alles‹, was ist, allein in Medien gegeben ist,
bleibt die Frage, wie Medien selbst gegeben sind oder sich als solche zu erkennen
geben, sodass wir es mit einer petitio principii zu tun bekommen, die […] negiert,
was sie behauptet.«
Grundsätzlich lässt sich hierzu zweierlei sagen. Zum einen erschließen wir durch
Medien eine Welt, die eben nicht von vornherein gegeben ist, sondern erst zur Ge-
gebenheit gemacht werden muss. Dabei prägen die Erschließungsmedien der Welt
diese auf eine Weise mit, hinter die wir zu keinem Zeitpunkt zurückgehen können.
Die Erschließung der Formen erfolgt zu den Konditionen des Mediums, in dem sie
Erschließung und Virtualisierung der Welt 189

erscheinen; so, wie die Form eines Fußabdrucks am Strand im Medium des feuchten
Sandes. Zum andern ist diese Welt als Gegebenheit unsere Wirklichkeit. Aber weil
sie durch Medien vermittelt wird, ist sie immer auch eine mögliche Wirklichkeit,
eine virtuelle Realität. Sie könnte auch anders sein, wenn die Medien anders (oder
wenn es andere Medien) wären, durch die wir uns die Welt geben. Damit kommt ein
Moment von Kontingenz in die mediale Wirklichkeit. Wir können dahinter nicht
zurückgehen. Das kann Euphorie auslösen (›Alles ist möglich‹) oder Depression
(›Wenn alles auch ganz anders sein könnte, ist nichts gewiss‹).
Werfen wir an dieser Stelle einen kurzen Seitenblick auf die Soziologie, wo vor
ein paar Jahren der »Möglichkeitssinn« wiederentdeckt worden ist. Der Ausdruck
stammt von Robert Musil, dem Autor des Mannes ohne Eigenschaften. Zur Literatur
der klassischen Moderne gehört das ambivalente Erleben von ermutigend-offener
Unfestgelegtheit und entmutigend-vager Unbestimmtheit. Und genau das gehört zur
Erlebniswelt von heutigen Heranwachsenden. Wie ist die Welt, die ich mir aneigne?
Wie könnte sie sein, wenn ich ›in ihr mitspiele‹? Wie wird sie ›mir mitspielen‹? Welche
Artikulationen, welche Handlungsweisen passen zu mir? Welche sind für andere
anstößig oder für mich nicht akzeptabel? Imaginäres Probehandeln ist der Moti-
vationskern, wenn junge Menschen narrative Fernsehserien (z. B. »Mädchen-WG«)
oder scripted-reality-Formate und Casting Shows anschauen und wenn sie in die
Bild- und Textwelten von Instagram und Twitter eintauchen. Probehandeln – das
ist freilich ein zu rationalistisches Konzept. Eher würde ich sagen, es sind der élan
vital, halb- oder unbewusste Wünsche und Phantasmagorien, die junge Menschen
viel Zeit mit verschiedenen Medien verbringen lassen, oder auch die Suche nach
erotischen und beruflichen Identitätsmöglichkeiten.
Um es mit Henri Bergson (1948: 124) zu formulieren: Das Leben ist die »fort-
gesetzte Schöpfung von unvorhersehbar Neuem«. Leben ist als soziokulturelles
Konstrukt auf mediale Darstellungen verwiesen. Dort sehen wir »die Welt, die
vor unseren Augen abrollt« (ebd.). Junge Menschen spüren ihr lebendiges Werden
besonders stark; »in der beweglichen Welt der Phänomene« – so nennt Berg-
son das Sein im Ganzen – sehen sie »die Wirklichkeit, die vor unseren Augen
schöpferisch entsteht« (ebd.). Solche Betrachtung kann Befriedigung und Glück
gewähren. Ich füge hinzu: Auch die mediale Vermittlung der Wirklichkeit kann
das. Die Verzauberung, die entstehen kann, wenn wir, wie Bergson schreibt, die
»unaufhörlich wieder entstehende Neuheit« und die »bewegliche Originalität
der Dinge« (ebd.) entdecken, lässt sich auf Betrachtungen und Erfahrungen in
der virtuellen Wirklichkeit übertragen. Das gehört zum Kerngehalt ästhetischer
Erfahrung. Bergson meint, »an dem großen Werk der Schöpfung, das […] sich
vor unseren Augen abspielt, fühlen wir uns als Mitwirkende, als Schöpfer unserer
selbst.« (Ebd.) Wenn wir darauf reflektierten, erweiterten wir unsere Freiheit:
190 Erschließung und Virtualisierung der Welt

»Unsere Fähigkeit zu handeln wird intensiver dadurch, daß sie zum Bewußtsein
ihrer selbst kommt.« (Ebd.) Dies gilt selbstverständlich umso mehr, wenn wir, wie
es sich für Medienphilosophierende geziemt, ›das große Werk der Schöpfung‹ als
Ergebnis medialer Kreativität erkennen. Das Nachdenken über »die Beziehungen
des Möglichen zum Wirklichen«, schreibt Bergson, ist zwar ein »Gedankenspiel«,
aber ein eminent wichtiges: »Es kann eine Vorbereitung zum richtigen Leben sein.«
(Ebd., Hervorhebung: G.S.)

Medien als Weltvirtualisierer und Wirklichkeitsformatierer

Was ist das »richtige Leben«? Und was wäre das »falsche«? Ist es außerhalb des
Rahmens der Lebensphilosophie überhaupt noch sinnvoll, solche Fragen zu stellen?
Um dem nachzugehen, werde ich später auf das Medienkonzept der kritischen
Theorie eingehen, also auf ein philosophisches Paradigma, innerhalb dessen die
– sozialphilosophischen, nicht vitalistischen – Aporien des »richtigen Lebens«
bekanntlich höchst relevant sind. Zuvor möchte ich nun aber den zweiten, ziemlich
eng gefassten Medienbegriff einführen, den ich ja schon angekündigt hatte.
In den Medienwissenschaften wird gern mit formalistischen Medienbegriffen
gearbeitet. Ein typisches Beispiel dafür ist derjenige von Werner Faulstich (2002: 26),
der Elemente aus der Informationstheorie und der Systemtheorie verbindet: »Ein
Medium ist ein institutionalisiertes System um einen organisierten Kommunikati-
onskanal von spezifischem Leistungsvermögen mit gesellschaftlicher Dominanz.«
Institution, Organisation, soziale Herrschaft – eine kritische Medienphilosophie
muss diese Aspekte im Blick haben. Die Welt, hatte ich gesagt, ist nicht als solche
gegeben; sie wird durch Mediengebrauch zur Gegebenheit für uns. Und Medien
formen, was sie vermitteln, auf irgendeine Weise mit. Beim identifikatorischen
Gebrauch von Massenmedienformaten, der für Heranwachsende offenbar unum-
gänglich ist, verhält es sich im Prinzip nicht anders als im Beispiel des Fußabdrucks
am Strand. Die Form der Objekte (z. B. die Performance und die Beziehungen
der Medienfiguren) erhält ihre jeweilige Gestalt aufgrund von Eigenschaften, die
dem Medium angehören (z. B. Stileigentümlichkeiten von Medienformaten, die
mit Attraktivität, Selbstinszenierung, narzisstischen Spiegelungsangebote oder
cliffhangern arbeiten).
Ein Medium vermittelt, indem es zwischen zwei Gegenständen, die von ihm
unterschieden sind, eine Verbindung herstellt. Es ist (trivialerweise) durch den
Bezug auf (mindestens) zwei andere Einheiten gekennzeichnet, die durch das
Medium verbunden werden. Im Strand-Beispiel sind das der Beobachter und das
Erschließung und Virtualisierung der Welt 191

Lebewesen, das die Fußspur hinterlassen hat. Wenn von Videospielen die Rede
ist, sind es gamer und Produzenten. Außerdem ist ein Medium durch den Inhalt
gekennzeichnet, den es transportiert: also durch die Form, in der die Spur erscheint
oder durch die Themen und die plots und settings sowie durch Regeln der Spiele.
Und nicht zuletzt ist es durch seine materiale Beschaffenheit gekennzeichnet; im
Beispiel durch die Wassermenge, die der Sand aufnehmen kann, beim Computerspiel
durch Spielmechaniken und die Ästhetik des Erscheinungsbildes (siehe Feige 2017).
Nun möchte ich aber noch einmal die Betrachtungsebene wechseln. Medien
sind konstitutiv für den Sinn bzw. die Bedeutung für die Benutzer, der bzw. die,
vermittelt über die Medienverwendung, produziert wird. Man kann sagen, dass
Medien Sinn »übertragen«, aber auch, dass sie ihn »zugleich mitbedingen und prä-
gen« (Krämer 2003: 85). Eine philosophische Medientheorie sollte daher »nach der
konstitutiven Rolle der Medien für das, was sie vermitteln« (ebd.: 80), fragen. Sybille
Krämer stellt vor diesem Hintergrund zwei überlieferte Auffassungen gegenüber.
Nach der »geisteswissenschaftlichen« Auffassung sind Medien immer etwas Se-
kundäres: Hier sind sie die »materiellen Realisierungsbedingungen symbolischer
Formen« (ebd.). Es gibt dann »ein Außerhalb von Medien«. Medien erzeugen dann
nicht, sondern übertragen. Nach der »kulturalistischen« Auffassung hingegen sind
Medien stets etwas Primäres: Sie übertragen nicht, sondern erzeugen. Es gibt dann
»kein Außerhalb von Medien«; in dieser Sicht sind Medien die »zeitgenössische
Fortbildung eines Sprach-, Zeichen- oder Technikapriori« (ebd.).
In dieser Frage nehme ich eine Vermittlungsposition ein – auch, um den zirkulä-
ren Medienapriorismus zu vermeiden, auf den Dieter Mersch hingewiesen hat. Ich
würde nicht sagen, dass man die geisteswissenschaftliche und die kulturalistische
Auffassung nicht verbinden kann. Übertragen durch Erzeugen – das widerspricht
sich nicht. Übertragenes wird im Übertragungsvorgang produktiv verändert. Die
Spur, die ich im geformten Sand sehen kann, transformiere ich in eine Vorstellung
von einem Lebewesen; diese Vorstellung, kann man auch sagen, ist erzeugt worden.
Damit greife ich den anderen Punkt wieder auf, von dem ich vorhin ausge-
gangen bin: Als Welt, die uns gegeben ist, ist die Wirklichkeit immer auch virtual
reality, also auch Möglichkeit. Die Tendenz zur Indifferenz von Virtualität und
Aktualität sehe ich aber nicht, wie Lorenz Engell, als Indikator dafür, dass Medien
selbst zu denken anfangen. Medien sind als Vermittler Bedingung der Möglichkeit
von Erlebnissen und Erkenntnissen, sowohl im erkenntnistheoretischen als auch
im handlungsbezogenen Sinn. Die Welt (also die Realität für uns) ist vermittelt
und ebenso die Wirklichkeit (also die Gesamtheit alles dessen, was als Gegebenes
überhaupt wahrnehmbar und erfahrbar ist oder Gegenstand der Reflexion werden
kann). Dieser Zusammenhang ist in den Kontext unserer kommunikativen und
technologischen Lebenswelt eingelassen. Hier kommt die Medienkritik ins Spiel.
192 Erschließung und Virtualisierung der Welt

Kritik ist nach Kant, wie gesagt, die Unterscheidung der Leistungen und Unzu-
ständigkeiten von etwas, durch die sich dessen Möglichkeitsbedingungen rekonst-
ruieren lassen. Nach Hegel und Marx ist Kritik weiterhin die denkende Bestimmung
der inneren Widersprüche in den Sachen, die im Denken reflektiert werden, und
die Rekonstruktion der Widersprüche in der Bewegung der Begriffe. Begriffe sind
das Medium, in dem wir denken.
Was heißt das für die Medienphilosophie? »Die ganze Welt wird durch das Filter
der Kulturindustrie geleitet«, schrieben Horkheimer und Adorno (1947: 151). Die
Autoren der Dialektik der Aufklärung haben das ironisch als späte Verifikation von
Kants Konzepts des »transzendentalen Schemas« (Kant 1787/1972: B 177) dargestellt.
Der »Schematismus« ist in der Kritik der reinen Vernunft ein kognitiver Mechanis-
mus. Er vermittelt die Allgemeinheit eines Begriffsinhalts mit der je besonderen,
anschaulichen Gestalt, in der sein abstrakter Inhalt zur Erscheinung kommt. Das
Schema ist ein »Produkt der Einbildungskraft« (ebd.: B 179). Es synthetisiert die
Vielfalt der Wahrnehmungen zur Einheit des Begriffs. Dem Schematismus fällt nach
Kant die vorgängige Aufgabe zu, »einem Begriff sein Bild zu verschaffen« (ebd.: B
179 f.). Der Beitrag der Einbildungskraft zur Erkenntnis besteht darin, zwischen
Konzept und Bild zu vermitteln – das heißt: zwischen logischer Abstraktion und
konkreter Anschaulichkeit. – Die Aufgabe, »die sinnliche Mannigfaltigkeit vorweg
auf die fundamentalen Begriffe zu beziehen«, schrieben Horkheimer und Adorno
(1947: 149), »wird dem Subjekt von der Kulturindustrie abgenommen«. In den
kognitiven Akten der Individuen und in den Erscheinungen gesellschaftlich-ge-
schichtlicher Bewegung findet demnach eine funktionale, warenförmige Synthesis
statt. Sie ist abstrakt medial, aber zugleich höchst real. Die Einheit der Gesellschaft,
so der Befund der kritischen Theorie von Marx, wird durch die ökonomische
Wertform vermittelt. Sie stellt Äquivalenz her, indem Nichtidentisches unter abs-
trakte Identität subsumiert wird. Mit »nichtidentisch« sind hier ganz allgemein die
konkreten Gebrauchswerte gemeint, die Menschen produzieren und performen,
um in arbeitsteiligen Gesellschaften, vermittelt durch den Tausch von Waren,
Bedürfnisse zu befriedigen. Besonderes Augenmerk liegt dabei auf der menschli-
chen Arbeitskraft, die als Ware verkauft und gekauft wird. Hier wie dort wird die
qualitative Vielfalt dessen, was mit und durch die Waren realisiert werden kann,
unter die abstrakte, weil quantifizierende, Identität des Tauschwerts subsumiert.
Und dabei kommt der Arbeitskraft eine besondere Eigenschaft zu. Während ihrer
Anwendung (im industriellen Produktionsprozess: an der Maschinerie, auf dem
Dienstleistungssektor: direkt am Kunden oder an den Objekten, die ihm gehören)
fügt sie den produzierten Gütern und Dienstleistungen mehr Wert hinzu, als der
Käufer der Ware Arbeitskraft ihrem Verkäufer laut Arbeitsvertrag bezahlen muss,
damit dieser sich ausruhen und seine Arbeitskraft für den kommenden Tag rege-
Erschließung und Virtualisierung der Welt 193

nerieren kann. Jener Mehrwert kann und soll sich sodann im Verkauf als Profit
realisieren lassen. – Nicht die Herstellung konkreter Gebrauchswerte hält den
wirtschaftlichen Motor der Moderne in Gang, sondern die Verwertung von Kapital
durch die Produktion von Tauschwert, der mehr Kapital erzeugt.
Die vermeintlich reine Unmittelbarkeit der Anschauung ist nicht erst, wie Kant
gezeigt hat, durch die Reflexion des Verstandes vermittelt, sondern auch, wie wir
seit Marx wissen, immer schon durch die Form der sozialen Synthesis. Wenn wir
in naher Zukunft Pay-TV-Abonnements abschließen müssen, um Fußballspiele der
Champions League ansehen zu können, mag uns das schmerzlich bewusst werden.
Wenn wir aber in Scripted-Reality-Formate eintauchen, in die Selbstinszenie-
rungswelt von Instagram und Facebook oder in die Welt der drolligen Püppchen
des Animal-Crossing-Spiels, über das Kinder in die monetär dominierte Tausch-
gesellschaft einsozialisiert werden, dann nehmen wir diesen Vermittlungsschritt
in der Regel nicht als solchen wahr.
Medien machen Sinn- und Bedeutungszusammenhänge wahrnehmbar, haben
dabei aber die Besonderheit, gleichsam zurückzutreten und tendenziell unwahr-
nehmbar zu werden. Für Philosophen sind sie auch deshalb so interessant, weil
sich in jedem Mediengebrauch beobachten lässt, dass das Gebrauchte einerseits
Bedingung der Möglichkeit ist, etwas anderes wahrzunehmen, und andererseits
als solche nicht mitwahrgenommen wird. »Medien kommt die Eigenart zu, dann,
wenn sie etwas zur Erscheinung bringen, für die Nutzerwahrnehmung zu ver-
schwinden.« (Krämer 2018: 35)

Mein Leben als You-Tube-Video oder:


Was bedeutet »Freiheit« und »Selbstbestimmung«
in medienethischer Hinsicht?

Meine dritte These lautet: Medienkompetenz braucht aus philosophischer Sicht


vor allem eine medienethische Basis. Denn der Vermittlungsschritt, der aus der
Wahrnehmung verschwindet, vermittelt nicht nur die Weise, in der agiert und
performed wird. Er vermittelt auch die Identifikation mit dem, was wir dort er-
leben. Auf dem massenmedialen Sektor der Nachrichten und Berichte trägt sich
Vergleichbares zu: Inhalte, die moralische Irritation auslösen, nehmen wir vermittelt
über Formen wahr, welche die Irritation relativieren. Beispielsweise erhalten wir
visuelle und textliche Informationen über grausame Massentierhaltung in einem
Kontext, der nicht die industrielle Produktion und Vermarktung von Lebewesen
als solche problematisiert, sondern nur deren massenkonsumistische Gestalt.
194 Erschließung und Virtualisierung der Welt

Von vornherein erscheinen dabei ethischer Konsum und Freilandhaltung von


Schlachtvieh für den elitären Biomarkt als positives Identifikationsangebot. Die
Frage nach der Legitimität des Lebens unterm Diktat der Warenform, auch im
green capitalism, stellt sich auf dieser Grundlage gar nicht erst. Von der sozialen
Synthesis, die eine kapitalistisch organisierte Agrarindustrie hervorbringt, wird
durch die moralisierende, falsche Behauptung abgelenkt, dass das Elend der land-
wirtschaftlichen Nutztiere ursächlich aus dem Geiz der Konsumenten hervorgehe,
die nicht bereit wären, mehr Geld für Nahrungsmittel auszugeben. Letzteres, das
sogenannte Verbraucherverhalten, ist jedoch ebenso Resultat der Konditionen der
Weltmarktkonkurrenz wie das Vorgehen im Produktionssektor.
Nach Wolfgang Klafki besteht Bildung darin, dass Heranwachsende die »Fä-
higkeit zur Mitbestimmung« entwickeln. Konkret heißt das: Jeder Mensch soll
den »Anspruch«, die »Möglichkeit« und die »Verantwortung für die Gestaltung
der gemeinsamen kulturellen, politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse«
(Wagner 2013: 271) haben können. Allgemein verstand Klafki Bildung als Beitrag
zur Entwicklung von drei Grundfähigkeiten: Selbstbestimmung, Mitbestimmung
und Solidarität. Wie sieht es damit aus im Zeitalter der Medialisierung? Mit
diesem Begriff wird in den Sozial- und Medienwissenschaften, aber auch in der
Medienethik, die Beobachtung interpretiert, »dass die Grenze zwischen Arbeit
und Freizeit immer mehr verschwimmt, da berufliche und private Aktivitäten
häufig mit denselben technischen Geräten ausgeübt werden« (Bohlken 2018: 278).
Weiterhin steht Medialisierung als kritisches Konzept für die Frage, wie sich
»das Verhältnis zwischen Sender und Empfänger bzw. Produzent und Nutzer«
verändert, »wenn die neuen Medien dem Einzelnen zahlreiche Möglichkeiten der
direkten Interaktion und der one to many-Kommunikation bieten – vom Bloggen
[…] über die Organisation politischer Gegenöffentlichkeiten bis hin zur viralen
Kommunikation über die sozialen Medien (inklusive viralem Marketing).« (Ebd.)
Damit begibt man sich, wie Eike Bohlken treffend bemerkt, auf ein Gebiet, an dem
sich »Medienphilosophie, Medienanthropologie und Medienethik« (ebd.) treffen.
Aus verschiedenen methodischen Perspektiven muss also der Frage nachgegangen
werden, »was Menschen durch eine […] alle Lebensbereiche durchdringenden
Mediennutzung aus sich machen können und sollten« (ebd.).
Eingangs habe ich Günther Anders erwähnt, der 1980 geschrieben hatte: »Ob
der Ausdruck ›Medialität‹ […] den Anspruch erheben darf, eine philosophische
Kategorie zu sein, das bleibe dahingestellt.« Nun, bei aller Vorsicht fand Anders
dann wohl doch, dass diesem Ausdruck philosophischer Rang zukommt: Er hatte
ihn ja selbst eingeführt, und zwar bereits im Jahre 1956, als die philosophischen
Spatzen diese Thematik noch nicht von den Dächern pfiffen. Damals hatte Anders
mit jener Kategorie allerdings etwas anderes bezeichnet, nämlich etwas, dass in der
Erschließung und Virtualisierung der Welt 195

neueren Soziologie meist als Mediatisierung bezeichnet wird. Gemeint ist damit,
dass ›mediatisierte‹ oder ›medialisierte‹ Menschen nicht mehr zielbewusst und
verantwortungsvoll handeln, sondern dort, wo sie hingestellt werden, konformis-
tisch mitmachen. Das wäre kaum möglich, würden sie nicht durch eine Reihe von
Vermittlungsschritten auf Distanz von den Konsequenzen ihres Tuns gehalten.
Wir alle sind heute medialisiert, meinte Anders. Wir entscheiden nicht selbst über
unsere Handlungsziele, deshalb können wir die Folgen nicht abschätzen und werden
»apokalypse-blind« (Anders 1985: 286). Dies gelte nicht bloß für diejenigen, die in
untergeordneter Funktion am industriellen Massenmord an den europäischen
Juden mitgewirkt hätten oder an Herstellung und Abwurf von Atombomben.
Nein, wir alle können mehr herstellen, als wir uns vorzustellen vermögen. Und wir
glauben, dass alles, was machbar ist, auch gemacht werden soll; jedenfalls solange,
wie wir von den Konsequenzen distanziert bleiben. Dabei spielten die Medien im
engeren Sinne eine zentrale Rolle, und zugleich eine paradoxe, denn sie distanzieren
durch Annäherung. Sie beliefern uns mit einer fertigen Welt in Bildern. In dieser
medialisierten Welt würden wir irgendwie mitmachen, aber nicht im eigentlichen
Sinne des Wortes handeln.
Günther Anders beobachtete, dass uns die Welt in einem medialen Transfor-
mationsprozess konsumgerecht angepasst wird. Als Ware werde sie zum ›Genuss-
mittel‹ und in ein ›Schlaraffenland‹ umgestaltet. Dabei verliere sie Authentizität,
Unabsehbarkeit und Widerständigkeit. Denn die Welt als ›Medium der Distanzen‹
löse sich in ihren Raum- und Zeitkategorien auf (Anders 1985: 335 ff.). Am Ende
trete die Welt selbst als Ideologie auf, was ausdrückliche Ideologien obsolet mache.
»In einer technisch und medial zugerichteten Welt ist das Dasein a priori ein (vor-)
geprägtes«; es hat seine, vom frühen Heidegger beschriebene »Fähigkeit verloren
[…], als ›weltoffenes‹ Subjekt einer unabsehbaren und widerständigen Welt zu
begegnen. Welt (als Ware) und Subjekt (als Konsument) sind einander kongruent
gemacht.« (Ellensohn/Putz 2018: 67) Die »mediale Situation« ist nach Anders eine
Situation, in der sich die Beziehung zwischen Mensch und Welt zu Lasten der
Menschen verändert. »Die Welt ist wahr- und vernehmbar, die Subjekte nicht; das
Subjekt nimmt teil an der Welt, ohne selbst Teil der Welt zu sein.« (Ebd.: 68) Durch
die visuellen und textuellen Medien, meinte Anders, kommt ›die Welt zum Men-
schen‹, anstatt dass er zu ihr kommt. Die ergebnisoffene Erfahrung, die Menschen
mit der Welt machen können, sei durch massenmediale Formatierung erheblich
eingeschränkt. Selbstbestimmung und »Widerstand«, auch mit dem Risiko »des
Scheiterns« (ebd.), würden tendenziell verschwinden.
Man muss sich dem Pessimismus von Günther Anders nicht zur Gänze anschlie-
ßen. Das Element seiner Medialisierungstheorie, an das anzuknüpfen mir indessen
höchst plausibel erscheint, ist nicht primär technik- und kulturkritischer Art; es
196 Erschließung und Virtualisierung der Welt

ist der Gedanke, dass Medien das Weltverhältnis in eine Warenform bringen. Die
wiederum ist nicht so sehr unter den Aspekten Kommerzialisierung und Güterkon-
sum via Medien von Belang, sondern vielmehr insofern, als unsere Kommunikation
durch Medialisierung in Warenform gebracht wird. Dieser Gedanke verbindet die
Medienphilosophie von Günther Anders mit der Kommodifizierungskritik seines
(von ihm nicht geliebten) Fachkollegen Adorno.
Dass Kommunikation Warenform annimmt, bedeutet, dass ihr Tauschwert Pri-
orität bekommt. Zum Beispiel, wenn Heranwachsende ihre Welt erschließen, indem
sie YouTube-Videos anschauen und über soziale Netzwerke und Messengerdienste
Kontakt halten. In den Videos packen You-Tuberinnen ihre Warensendungen aus,
aber dabei kommt es nicht auf die konkreten Waren an, sondern auf »clicks« und
»likes« der Betrachtenden; das ist die Währung, in der die Vorbildlichkeit der
Akteure bewertet wird. Und in den Netzwerken zählt am Ende, wie gefragt und
wie verfügbar eine Person ist. Hier steht jedoch nicht der Gebrauchswert des so
gewonnenen Prestiges im Vordergrund. Das Prestige wird nicht genossen, es wird
also nicht konsumiert (im Sinne von ›verbraucht‹), sondern reinvestiert, um die
eigene kommunikative Präsenz zu vermehren. Die Telekommunikationswirtschaft
ist daran interessiert, dass mehr kommuniziert wird, dass sich das Engagement
bei der Kommunikation verstärkt und die Kunden länger an ihren mobilen End-
geräten verweilen.41
Auch von einer eher medienoptimistischen Position aus sollte man Günther
Anders’ Diagnosen also im Blick haben: als Tendenzbeschreibungen, nicht als Pro-
tokolle vollendeter Tatsachen. Dann kann man seine Diagnosen für medienethische
Therapien fruchtbar machen, um »Pathologien« des Mediengebrauchs anzugehen
(im Sinne einer Lehre von dem Leiden, das er generieren kann).
Nicht nur, wenn es um Suchtphänomene und Cyber-Mobbing geht, haben Erzie-
hungsberechtigte (und Bildungsphilosophen) legitimes Interesse an Gefahrenabwehr
und -prävention sowie am Schutz der Persönlichkeit in der öffentlichen Sphäre und
im privaten Bereich. Aus Sicht der Medienethik gilt es dann beispielsweise, eine
visuelle Kompetenz zu schulen, die sich der »Macht der Bilder« entziehen kann. Man
sollte die »Selbstverständlichkeit des Sehens« problematisieren können. Hier, hebt
Bohlken (2018: 279) hervor, »geht es einerseits angesichts der heute zur Verfügung
stehenden Möglichkeiten der Bildbearbeitung um die Authentizität von Bildern,
um die offene Grenze zwischen Qualitätsverbesserung und Manipulation«, und
»andererseits um die Rechte am eigenen Bild bzw. um den Schutz der Privatsphäre
abgebildeter Personen.«

4 Dafür wird derzeit Software entwickelt, die Emotionen erkennen kann, indem Text-
merkmale und Gesichtsausdrücke ausgewertet werden (vgl. Moorstedt 2017).
Erschließung und Virtualisierung der Welt 197

Meiner Ansicht nach sind Medienethiker gut beraten, wenn sie sich am agen-
cy-Konzept aus den Cultural Studies orientieren. »Agency« ist im kulturwissen-
schaftlichen Rahmen gar nicht so leicht zu übersetzen. ›Ermächtigung‹ liest man
mitunter, aber dieses Wort konnotiert im deutschen Sprach- und Geschichtsraum
nicht gut. ›Human agency‹ bedeutet ›menschliche Einwirkung‹ oder ›menschliches
Handeln‹. Als philosophischer Terminus steht agency für ›Handlungsmacht‹ oder
›Handlungsfähigkeit‹. Kulturtheoretische deutschsprachige Äquivalente sind ›Eigen-
ständigkeit‹, kulturelle und politische ›Handlungsfähigkeit‹ oder, so unschön und
bildungsbürokratisch es auch klingt: ›Handlungskompetenz‹. Im Konzept agency
treffen sich Medienethik, Cultural Studies und kritische Pädagogik (vgl. Winter
2008: 114). Wenn es um Mediengebrauch geht, heißt agency, dass Mediennutzung
reflektiertes Handeln im eigenen Interesse sein sollte. Unter Handeln versteht man
in der Philosophie erstens, eine Intention zu verwirklichen, der ein Willensmotiv
zugrunde liegt; und zweitens ist Handeln zweckgerichtetes Tun, gemeinsam mit
anderen – also Praxis im Sinne von Aristoteles. Freies Handeln im Sinne von Kant
ist die selbstbestimmte Umsetzung vernunftbestimmter Willensakte.51Damit wären
wir noch einmal beim philosophischen Begriff der Autonomie angekommen. Mit
Autonomie kann und sollte in der Medienphilosophie vernünftigerweise nicht
gemeint sein, dass denkende Fernseher, Filmkameras oder vernetzte Computer
philosophieren. Autonomie sollte vielmehr bedeuten, dass Mediennutzerinnen
und -nutzer sich aus Fremdbestimmtheit befreien und zu Mitbestimmung und
Solidarität fähig werden.

Literatur

Anders, Günther (1985): Die Antiquiertheit des Menschen. Erster Band: Über die Seele im
Zeitalter der zweiten industriellen Revolution, München.
Anders, Günther (1986): Die Antiquiertheit des Menschen. Zweiter Band: Über die Zerstörung
des Lebens im Zeitalter der dritten industriellen Revolution, München.
Bergson, Henri (1948): »Das Mögliche und das Wirkliche«, in: ders., Denken und schöpfe-
risches Werden, Meisenheim am Glan: Hain, S. 110–125.
Bohlken, Eike (2018): »Medienethik«, in: Handbuch der Medienphilosophie, hrsg. v. G.
Schweppenhäuser, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, S. 273–283.
Cavell, Stanley (1999): »Aus: die Welt betrachtet«, in: Filmästhetik, hrsg. v. L. Nagl, Berlin,
Wien: Akademie/Oldenbourg, S. 84–102.

5 Siehe z. B. Eisler (1899: 323 f.); Müller-Freienfels (1922: 268); Hoffmeister (1955: 287 f.);
Klaus u. Buhr (1969: 470 f.) sowie Prechtl u. Burkard (1999: 225–228).
198 Erschließung und Virtualisierung der Welt

Eisler, Richard (1899): Wörterbuch der philosophischen Begriffe und Ausdrücke, Berlin:
Mittler u. Sohn.
Ellensohn, Richard und Kerstin Putz (2018): »›Alles Wirkliche wird phantomhaft, alles
Fiktive wirklich‹. Medienphänomenologie und Medienkritik bei Günther Anders«, in:
Handbuch der Medienphilosophie, hrsg. v. G. Schweppenhäuser, Darmstadt: Wissen-
schaftliche Buchgesellschaft, S. 63–71.
Engell, Lorenz und Josef Vogl (1999): »Vorwort«, in: Kursbuch Medienkultur. Die maßgeb-
lichen Theorien von Brecht bis Baudrillard, hrsg. v. C. Pias u. a., Stuttgart: DVA, S. 8–11.
Engell, Lorenz (2003): »Tasten, Wählen, Denken«, in: Medienphilosophie. Beiträge zur
Klärung eines Begriffs, hrsg. v. S. Münker, A. Roesler u. M. Sandbothe, Frankfurt a. M.:
Fischer, S. 53–77.
Fahle, Oliver und Lorenz Engell (1997): »Deleuze in Weimar«, in: Der Film bei Deleuze, hrsg.
v. O. Fahle u. L. Engell, Weimar: Verlag der Bauhaus-Universität.
Faulstich, Werner (2002): Einführung in die Medienwissenschaft, München: Fink.
Feige, Daniel Martin (2017): »Videospiele im Spannungsfeld von Kunst und Kulturindustrie«,
in: »Kulturindustrie«: Theoretische und empirische Annäherungen an einen populären
Begriff, hrsg. v. M. Niederauer u. G. Schweppenhäuser, Wiesbaden: Springer VS, S. 201–220.
Friedrich, Thomas (2018): »Phänomenologisches und ästhetisches Schauen im Ausgang von
Husserl und Merleau-Ponty«, in: Handbuch der Medienphilosophie, hrsg. v. G. Schwep-
penhäuser, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, S. 45–54.
Hoffmeister, Johannes, Hg. (1955): Wörterbuch der philosophischen Begriffe, Hamburg: Meiner.
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Zur Kritik der Medienethik*2
Zur Kritik der Medienethik

Zur Kritik der Medienethik

Die Verwendung des Begriffs ist mehrdeutig – häufig ist von »Medienethik« die
Rede, wenn es um die »Moral« der Massenmedien geht: Was gilt dort als üblich,
sittlich geboten und erwünscht oder als illegitim, verachtenswert und empörend?
Diese Verwendungsweise entspricht der Rede von der Wirtschaftsethik, verstanden
als Arbeitsmoral oder als Werte und Handlungsnormen, die man in der ökono-
mischen Welt für rechtschaffen und erstrebenswert hält. Zugleich bezeichnet der
Begriff »Medienethik« aber auch die wissenschaftliche Untersuchung der Moral,
die dem Betrieb der Massenmedien inhärent ist. Die äquivoke Verwendung von
»Medienethik« entspricht der Unterscheidung zwischen »Moral« und »Ethik«.
»Moral« ist ein Sammelbegriff für die Überzeugungen der Einzelnen, was gut oder
gerechtfertigt ist, sowie für die Sitten in einer Gemeinschaft. »Unsere moralischen
Orientierungen […] erwachsen aus Meinungen, Erzählungen, Bewertungen, Gefüh-
len, die wir von der Kultur, in der wir leben, übernommen haben.« (Schmid Noerr
2006 a: 27) Man kann sie als ›gelebte Moral‹ bezeichnen, die in früheren Epochen
aus mythischen Erzählungen hergeleitet wurde, während sie in der Moderne ih-
ren Stoff aus den massenmedialen Alltagsmythen der populären Kultur beziehen
(ebd.). Das Pendant zur »Moral« ist in diesem Modell der Terminus »Ethik«, der
gleichbedeutend mit »Moralphilosophie« ist.
Philosophische Ethik fragt, wie Moralprinzipien begründet werden, ob die Be-
gründungen stichhaltig sind und welche moralischen Überzeugungen gerechtfertigt
werden können. Geht es um »Medienethik« im Sinne der Berufs- und Standesethi-
ken, wie zum Beispiel im Ethik-Kodex des Deutschen Presserates,13sollte man daher

* Ursprünglich ein Vortrag in der Reihe Ethik – Wozu und wie weiter? an der Technischen
Universität Darmstadt, 13. November 2013. Erstveröffentlichung in: Zeitschrift für kri-
tische Theorie, Heft 38-39, 2014, S. 10–38. Die vorliegende Fassung wurde überarbeitet.
1 http://www.presserat.de/pressekodex/pressekodex/ (letzter Abruf: 16.8.2018).
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 201
G. Schweppenhäuser, Design, Philosophie und Medien, Würzburger Beiträge zur
Designforschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-22225-3_12
202 Zur Kritik der Medienethik

besser von »Medienmoral« sprechen. Wenn im Folgenden von »Medienethik« die


Rede ist, dann sind moralphilosophische Analysen von Wertorientierungen und
Handlungsnormen bei der Produktion, Distribution und Rezeption von Mas-
senmedien gemeint. Dies folgt dem Sprachgebrauch in der Philosophie und der
Medienwissenschaft. Unter Medienethik versteht man dort die »wissenschaftliche
Beschäftigung mit der vorhandenen Medienmoral und Kommunikationskultur«
Funiok 2002: 54). Einen ausgearbeiteten philosophischen Begriff des Mediums findet
man in den Entwürfen der Medienethik in der Regel allerdings nicht. Ein »Medium«
ist dort sozusagen die Einzahl von »Medien«, und dieses Wortes wiederum wird
im Sinne der journalistischen Rede von »den Massenmedien« verwendet (Presse,
Radio, Fernsehen und Internet). – Als deskriptive Ethik fragt Medienethik, was
in der dort gängigen Medienpraxis als moralisch gerechtfertigt gilt. Als normative
Ethik bewertet sie die Medienpraxis und fragt, welche Werte und Normen hier
vernünftigerweise gelten sollten.

Demokratische Öffentlichkeit und Verantwortung

Mir geht es nicht um die Darstellung aller Positionen, die gegenwärtig in der
Medienethik vertreten werden, sondern um den Versuch, ihre Grundlagen zu
skizzieren. Dafür werde ich mich hauptsächlich auf Rüdiger Funiok beziehen;
seine Schriften, die hohe Anerkennung unter Fachleuten genießen und auch in der
Medienöffentlichkeit wahrgenommen werden, können als konsensfähiger Extrakt
aus der medienethischen Debatte der letzten zwei Jahrzehnte gelten.
Maßstab ist für Funiok (2011: 91) »das Gelingen medienvermittelter demokra-
tischer Kommunikation«, durch die Öffentlichkeit entsteht: eine Sphäre für die
Selbstvergewisserung mündiger Menschen über ihre Lebensformen und -inhalte. »In
den modernen Massendemokratien«, resümiert Funiok (ebd.) die Sozialgeschichte
der Medien, »ist der Willensbildungsprozess auf die Vermittlung von (repräsen-
tativen) Meinungskundgaben in Zeitungen, später auch im Radio und Fernsehen
angewiesen. Die Herstellung von Öffentlichkeit für Themen von allgemeinem
Interesse und die kommunikative Legitimierung von politischer Autorität stellen
seither eine grundlegende Funktion der Medien dar.« Medien haben demnach den
»gesellschaftliche[n] Auftrag […] demokratische Meinungsbildung zu ermöglichen
und zu fördern« (ebd.: 90), damit die gegenwärtige »Mediengesellschaft« eine »de-
mokratische Wissensgesellschaft bleiben oder werden« (ebd.) könne. Adressaten
der Medienethik sind Personen und Institutionen, die Medien produzieren und
verbreiten. Postuliert wird ein Bewusstsein der Verpflichtung zum verantwortli-
Zur Kritik der Medienethik 203

chen Handeln, das Funiok (2002: 42) (mit Bernhard Debatin) eine »innere Steu-
erungsressource« nennt. Wenn diese, oder, in traditioneller Terminologie: wenn
das Pflichtbewusstsein fehlt, ist das Rechtssystem mit seinen Verboten zuständig.
Aber nicht allein das Konzept der Pflicht schaffe Handlungslegitimation, sondern
vor allem das der Verantwortung (Funiok 2011: 78). Grundlage der Bewertung ist
in der Medienethik also nicht mehr die individualethische Frage, ob ›aus Pflicht‹
gehandelt worden sei, sondern die sozialethische, ob sich jemand für sein Handeln
im Hinblick auf legitime Ansprüche anderer verantworten könne. Jeder Medien-
akteur solle »über die Güte seines Handelns verantwortlich entscheiden« (Schicha/
Brosda 2010: 10), heißt es im Handbuch Medienethik.
Das Konzept »Verantwortung« stammt bekanntlich aus dem Rechtssystem, es
hängt mit dem Haftbarmachen eines Täters zusammen. »Verantwortung heißt […]
Antwort zu geben auf die Anklage, dass man etwas getan hat, was religiösen und
moralischen Geboten oder staatlichen Gesetzen widerspricht.« (Schiller 2011: 160)
Im Laufe der letzten zwei Jahrhunderte ist Verantwortung allmählich zu einem
»Schlüsselbegriff des modernen Lebens geworden« (ebd.), wie Hans-Ernst Schiller
resümiert. In der Ethik, die das Konzept seit geraumer Zeit adoptiert hat, versteht
man unter Verantwortung eine »sozialethische Verpflichtung« Funiok 2002: 43),
die mit Max Weber (1919) wie folgt definiert wird: Jeder Akteur muss für die vor-
aussehbaren Folgen des eigenen Handelns aufkommen können.
In der philosophischen Ethik wird die Frage nach der Verantwortung heute
facettenreich formuliert (siehe Bayertz 1995). Christoph Hubig (1993: 71 f. [mit
leicht veränderter Interpunktion zitiert]) unterscheidet fünf Aspekte: »Ich über-
nehme Verantwortung für etwas (Handlungsfolgen, Handlungen, Personen,
Güter), in meiner Eigenschaft/Funktion als (als bestimmtes Handlungssubjekt),
vor jemandem (Instanz der Verantwortung: Personen, Natur, Gott, Gesellschaft,
Staat), unter bestimmten Kriterien (Werten, Prinzipien, Maßstäben), im Blick auf
(Schaden/Nutzen), Pflichterfüllung, Haftung etc.)«. Schiller nennt sechs Aspekte.
Er beschreibt Verantwortung als »eine zumindest vierstellige Relation. Ein Subjekt,
›jemand‹ (1) ist verantwortlich für sein Tun und Lassen (2) vor einer Instanz (3) nach
einer Norm (einem praktischen Gesetz, einer Vorschrift) (4)« (Schiller 2011: 162).
Hinzu kämen noch der Faktor »Zeit« und die Frage nach den aktuell »Betroffenen«;
denn es ist relevant, ob die Verantwortlichkeit für eine Handlung vorher oder nach
ihrer Ausführung geltend gemacht wird, und es ist ebenso relevant, ob die von der
Handlung Betroffenen mit der Instanz identisch sind, vor der sich das handelnde
Subjekt verantworten muss, oder ob sie nicht mit dieser Instanz identisch sind. Die
beiden Modelle ergänzen einander. Während Hubig jeden Aspekt noch einmal im
Detail auffächert, fügt Schiller den Zeitfaktor und die mögliche Differenz zwischen
Betroffenen und Verantwortungsinstanz hinzu.
204 Zur Kritik der Medienethik

In der Medienethik empfiehlt Funiok (2002: 44), die Frage entsprechend dem
neueren philosophischen Verantwortungsdiskurs zu differenzieren: Wer trägt
Verantwortung? Was muss verantwortet werden? Was sind die Folgen, wofür trägt
der Handelnde Verantwortung? Wer sind die Betroffenen, wem gegenüber trägt er
Verantwortung? Wovor muss er sich verantworten, oder: Welche Instanzen sind
zuständig? Das Gewissen, die Öffentlichkeit? Weswegen muss sich der Handelnde
verantworten, was sind jeweils die Kriterien, Normen und Werte?
Bei aller Diversität ihrer Positionen im Einzelnen steht für die Vertreter der
Medienethik eines außer Frage: Der oberste Wert, aus dem heraus der Verantwor-
tungsbegriff seinen spezifischen Sinn erhält, ist die demokratische Öffentlichkeit.
Sie ist der Wert schlechthin, die letzte Instanz normativer Orientierung und Kri-
tik. Das halte ich für problematisch. Doch bevor ich ausführe, inwiefern, soll das
Konzept der Verantwortung noch etwas genauer betrachtet werden.
In den Massenmedien, sagen die meisten Medienethiker, ist es nicht immer
leicht, einzelne Akteure mit Verantwortung zu benennen. Herstellung, Verteilung
und Nutzung sind arbeitsteilig und unübersichtlich. Wenn man zunächst bei der
Herstellung und Distribution bleibt, stelle sich die Frage, wem ein Medien-Angebot
letztlich zuzurechnen ist. Den Journalisten, die Nachrichten und Berichte verfassen?
Den Drehbuchautoren und Regisseuren im Bereich der Unterhaltung? Oder den
Mitarbeitern einer Werbe- oder PR-Agentur? Und gibt es nicht auch die »struk-
turellen Akteure« im Mediensystem, also Sender, Verlage, Firmen und Konzerne?
Um all dies zu berücksichtigen, unterscheiden Medienethiker analytisch zwischen
individueller und korporativer Verantwortung; und sie legen Wert darauf, auch das
Problem der »geteilten Verantwortung« zu beachten (Funiok 2002: 45 f.).

Massenmediale Akteure

Das kann man sich anhand von drei Beispielen klarmachen. Ein Fernsehsender
verlangt von Mitarbeitern reißerische Berichterstattung, um die Zuschauerquote
zu heben, und dies hat zur Folge, dass ein Journalist unseriös mit den Informa-
tionsquellen umgeht und die Zuschauer manipuliert. Dies ist insofern ethisch
problematisch, als er damit gegen die Verpflichtung verstößt, bei der demokra-
tischen Urteilsbildung zu helfen. Oder nehmen wir an, der Fernsehsender will
sensationelle, moralisch bedenkliche Unterhaltung bringen; sein ökonomisches
Ziel ist die Erhaltung von Marktmacht, Unternehmensgewinn und Arbeitsplät-
zen, und das Mittel dazu ist Aufmerksamkeit. Wenn daraufhin ein Bild von der
Welt produziert wird, das gegen das verbreitete moralische Empfinden verstößt,
Zur Kritik der Medienethik 205

weil es menschenverachtend und frauenfeindlich ist, Gewalt verherrlicht und


die Weltsicht der Zuschauer, besonders der jugendlichen, negativ beeinflusst, ist
das ebenfalls ethisch problematisch. Es hindert Menschen daran, andere in ihrer
Andersheit zu respektieren und friedliche Konfliktlösungen anzustreben. Drittes
Beispiel: das Foto des verletzten und gedemütigten Jan-Philipp Reemtsma (1997),
das seine Entführer im Kellerverlies aufgenommen hatten. Es wurde gegen seinen
ausdrücklichen Willen in einer Boulevardzeitung veröffentlicht. Das Interesse des
Publikums an schauerlichen Details stand gegen den Wunsch des Opfers eines
Verbrechens, seine Privatsphäre zu schützen und selbst zu bestimmen, welche
Bilder die Öffentlichkeit von ihm kennt.
In allen Beispielen wird man weder das Unternehmen, dem der Sender oder das
Blatt gehört, noch die angestellten Macher von Verantwortung freisprechen können;
ganz zu schweigen von den Ermittlungsbeamten, die sich bestechen ließen und das
Foto herausgaben. Aber ihre Verantwortlichkeit liegt offenbar auf unterschiedlichen
Ebenen. Entscheidungs- und Handlungsfreiheit eines »Großakteurs« unterscheidet
sich erheblich von der, die »Kleinakteure« besitzen, und ihre Macht ist, aufgrund
unterschiedlicher Reichweite, nicht gleich groß.

Individualethische und sozialethische Ansätze

Berufsethische Instanzen setzen meist individualethisch an und fokussieren die


korrekte Gesinnung der Einzelnen in Relation zu ihrer Ausbildung, Berufserfahrung
usw. Der Ethikkodex des Deutschen Presserats zum Beispiel sieht in der »Pflicht,
im Rahmen der Verfassung und der verfassungskonformen Gesetze das Ansehen
der Presse zu wahren«, die vornehmste Aufgabe einer »Berufsethik der Presse«2.
Aber das geschieht in einem strikt individualethischen Rahmen. Das Ergebnis sind
aus der Sicht von Rüdiger Funiok unzureichende ›individualethische Verantwor-
tungsappelle‹. Sie müssten durch eine sozialethische Perspektive erweitert werden.
Denn soviel ist Funiok (2002: 47) klar: »Bedingungen und Entscheidungsspielraum
der Einzelakteure« sind »entscheidend vom strukturellen und organisatorischen
Kontext bestimmt«3.

2 http://www.presserat.de/pressekodex/pressekodex/ (16.8.2018).
3 Die vielfach als unbefriedigend betrachtete, dichotomische Beschreibung von Indivi-
dual- und Sozialethik könnte durch Christoph Hubigs Modell einer »Umwegethik« als
Vermittlungsinstanz erweitert werden (Hubig 1993: 110). Dieses im Kontext der Techni-
kethik entwickelte Modell »appelliert daran, daß Individuen nicht ihre Verantwortung
206 Zur Kritik der Medienethik

Aber auch die Verantwortung des Publikums der traditionellen Massenmedien


ist aus Sicht einiger Medienethiker ebensowenig als Individual-Verantwortung zu
verstehen wie die Verantwortung der Nutzer der neuen online-Medien. Medien-
nutzung erfolgt ja stets »in einem sozialen Kontext« (Funiok 2002: 48): Familie, die
Gruppe der Gleichaltrigen, Schule, Hochschule usw. Alle, die mit der Herstellung,
Verbreitung und Nutzung von Medien zu tun haben, tragen daher Verantwortung:
Journalisten, Rundfunk- und Fernsehleute, Mitarbeiter der Werbe- und PR-Branche,
Kommunikationsgestalter – auch im Webdesign –, Berufsverbände, Unternehmen,
Konzerne – also die »Besitzer und Betreiber von Massenmedien« (ebd.: 49) – ebenso
wie das Publikum und alle einzelnen Nutzer. Und auch die sozialen Instanzen, die
für die Rahmung und Kritik der Medien zuständig sind, nämlich (in erster Linie)
Gesetzgeber und eben die vielbeschworene Öffentlichkeit, seien Verantwortungs-
träger; zumal dann, wenn sie als »Leserräte«, als »Media-Watch-Initiativen« (ebd.:
48) oder als Ethik-Kommissionen institutionalisiert sind. Ob es um gesetzliche
Kontrolle geht, um freiwillige Selbstkontrolle der Medienmacher oder um ein
medienkritisches öffentliches Bewusstsein der Mediennutzer: Immer müsse das
Ziel eine weitgehende »korporative Selbstverpflichtung« sein (Debatin, zit. nach
Funiok 2002: 49). Diese soll, wie gesagt, in sozialethisch haltbare Verantwortung
münden, weil im Zentrum der medienethischen Begründung ja nicht mehr der
Begriff der Pflicht steht. Nur ein solchermaßen gerechtfertigtes Handeln könne
das nachhaltige Vertrauen schaffen, welches für soziales Handeln unabdingbar ist.
»Damit Institutionen sich das Vertrauen ihrer Mitglieder und der Öffentlichkeit

abschieben, sondern auf dem Umweg über Institutionen wahrnehmen und ihr dadurch
zu Geltung verhelfen – über das bloße ›sich verantwortlich fühlen‹ hinaus« (Hubig 1991:
108). Der Appell ergeht an entsprechende Institutionen, die in der Lage sein müssten,
aufzuklären, den betroffenen Individuen bei Bedarf »wirtschaftliche und finanzielle
Entlastung« zu bieten und »Unternehmer, Forscher und Konsumenten« zu ermutigen,
sich nicht vermeintlichen Sach- und Marktzwängen zu unterwerfen (ebd.). Letztlich geht
es darum, »Empfehlungen zur ›ethischen Optimierung‹ der Handlungsbedingungen zu
erarbeiten« (Bausch 2000: 235), die dem einzelnen Akteur z. B. dabei helfen, bei einem
ethischen Konflikt die moralischen Kriterien, die er mit guten Gründen für richtig hält,
mit den Erfordernissen der Firma oder sonstigen Einrichtungen zu vermitteln, die jenen
Kriterien im Wege stehen. Hubig erläutert dies am Beispiel eines Doktoranden, der
feststellt, dass die Kläranlage des Betriebs, in dem er angestellt ist, defekt ist: Wenn er es
meldet, droht ihm seitens der Firma Publikationsverbot. Wenn er es deshalb nicht meldet,
droht Umweltschaden zu entstehen. Sofern der Doktorand Mitglied eines Berufbandes
wäre und dieser Verband einen entsprechenden Ethikkodex hätte, könnte er sich in
dieser Lage anonym an den Verband wenden (siehe Conrady 2001). Die »umwegethi-
sche« Institution ist in diesem Modell sozusagen das handlungsermöglichende Medium
oder besser gesagt: die Vermittlungsinstanz, die es dem Individuum möglich macht,
handlungsfähig zu bleiben, ohne (seine) moralische(n) Standards aufgeben zu müssen.
Zur Kritik der Medienethik 207

erhalten, müssen sie ihre korporative Verantwortung wirklich ernst nehmen«,


schreibt Funiok (2011: 77), »z. B. dadurch, dass im Leitbild und in Strategiekonzepten
Wertprioritäten formuliert werden, dass neben unternehmensstrategischer auch
gemeinwohlorientierte Zielsetzungen Gültigkeit besitzen und klare Verantwortungs­
begrenzungen getroffen werden.«

Mediales Handeln ist der Warenform unterworfen

Der ›strukturelle und organisatorische Kontext‹ medialen Handelns basiert freilich


auf ökonomischen Bedingungen; über deren Vorhandensein ist sich Funiok zwar
völlig im Klaren, aber er stellt sie ebensowenig infrage wie andere Medienethiker.
Diese Grenze kann eine normativistische Handlungsreflexion offenbar nicht über-
schreiten – auch nicht als sozialethische.
Ökonomische Bedingungen, die subjektübergreifende Zwänge schaffen, sind
sowohl durch konfligierende Interessen der Akteure gekennzeichnet als auch
durch systemische Imperative. Der Markt als Ort konkurrierender Angebote
zwingt zur Konzentration und Zusammenballung von Macht, zur Oligopol- und
Monopolbildung.
Funioks Fachkollege Christian Schicha (2010: 29) konstatiert an diesem Punkt,
dass »die Imperative der Ökonomie im Medienwettbewerb eine zentrale Rolle«
spielen und »ggf. konträr zu den medienethischen Idealnormen stehen« können.
Idealnormen könnten aber »keine praktische Hilfe bei konkreten Handlungs-
entscheidungen liefern«, weil sie »zu allgemein, zu unbestimmt und zu rigide«
(ebd.) sind. Deshalb müsse man näher an die »Lebenspraxis« herankommen und
einen »Kompromiss« finden »zwischen den idealen Ansprüchen und der legiti-
men Anpassung an die faktischen Gegebenheiten« (ebd.). Dazu weicht Schicha
(2010: 30) auf die »anthropologischen und psychologischen Realitäten« aus, die
man berücksichtigen müsse, um nicht zu rigide und jenseits des Zumutbaren zu
argumentieren. Niemand solle überfordert werden, aber andererseits dürfe man
sich auch nicht »zu stark an opportunistischen Gepflogenheiten in der Praxis […]
orientieren« (ebd.: 29). So geht Schicha den Imperativen der Ökonomie sogleich
wieder aus dem Wege, die er zuvor benannt hatte.4

4 Angesichts der Frage, ob wirtschaftsethische Überlegungen zwangsläufig auf eine bloß


moralisierende Kritik hinauslaufen müsse, die stets personalisierend ist und insofern
den Gegenstand verfehlen muss, hat Gunzelin Schmid Noerr folgende wichtige Diffe-
renzierung formuliert: »Erstens haben Entscheidungsträger auch innerhalb objektiver
208 Zur Kritik der Medienethik

Funiok wiederum argumentiert traditionell philosophisch – er verlässt sich


auf den inneren Zusammenhang von Macht, Verantwortlichkeit und Freiheit. Er
meint: Auch wenn die »freie Konkurrenz des Marktes« durch »die hochgradigen
Konzentrationsprozesse« weitgehend stillgestellt ist, hätten »Medienunternehmer
[…] Handlungsfreiheit und […] politische Macht, wirtschaftliche, kulturelle und
technologische Macht über die physische Umwelt wie über Individuen.« (Funiok
2002: 51) Und weil man sich für Macht ja immer verantworten muss, gilt nach
Funiok die Formel: »Je mehr Macht, desto größer sind die Freiheitsgrade.« (Ebd.)
Daher muss man sich für seine Macht nicht nur verantworten, sondern man kann
es auch, weil man ja frei ist. Folgt aus dem Konzept einer Verantwortung aus
Freiheit, dass sie in der Realität wirkmächtig ist? Nun ja, gemeint ist natürlich:
Wirkmächtig ist die Idee der Verantwortung als handlungsleitendes Motiv, das
durchaus kontrafaktisch sein kann. Einverstanden – die Frage ist dann nur: Wie
weit kommt man, wenn man sich auf das normative Leitbild der demokratischen
Öffentlichkeit, die Grundlage des medienethischen Ansatzes, verlässt?

Kommunikative Legitimierung und Ideologie

Die systemische Rationalität der Medien-Marktwirtschaft (die freilich hinter ei-


nen unverkürzten Begriff der Vernunft zurückfällt, weil sie instrumentell auf den
Zweck der Vermehrung des warenförmigen Reichtums fixiert ist und im Hinblick
auf die Zwecke wirtschaftlichen Handelns bewertungsabstinent bleibt) lässt den
medienethischen Normativismus als zu harmlos erscheinen. Wenn man aber be-
denkt, dass die Konzentrationstendenz von Märkten kein Naturgesetz ist, sondern
ein gesellschaftliches Bewegungsgesetz, dann rückt die Sache in ein anderes Licht:
Was schlichte, normfreie Faktizität zu sein scheint, ein soziales Subsystem, welche
die Wissenschaft mit ethischen Begriffen allenfalls beschreiben kann, das erweist
sich als implizit normatives Konstrukt mit ideologischem Charakter.
Doch was genau heißt »Ideologie«? In der kritischen Sozialphilosophie der
Gegenwart werden Ideologien als Theorien verstanden, die normative Aussagen
als deskriptive präsentieren und sich selbst als solche missverstehen. Ideologien

Strukturvorgaben noch erhebliche Handlungsspielräume, und zweitens ist der politische


Rahmen des Wirtschaftshandelns selbst nicht der ethischen Beurteilung entzogen. Wenn
moralische Orientierungen und ethische Gründe überhaupt einen Sinn haben, dann
müssen sie sich in erster Linie auf die Humanisierung dieser Bedingungen und Folgen
der globalisierten Ökonomie beziehen.« (Schmid Noerr 2006 b)
Zur Kritik der Medienethik 209

treten auf, als würden sie nur beschreiben, aber faktisch konstituieren sie soziale
und kulturelle Praktiken. Denn Ideologien legen Auffassungen davon nahe, was
die Welt ist und wie in ihr gehandelt werden kann (Jaeggi 2009: 281). Kritische
Theorie erklärt diesen falschen Schein aus seiner Verbindung mit dem falschen
gesellschaftlichen Sein.5
Statthalterin der Freiheit ist im medienethischen Konstrukt der demokratische
Staat – und zwar nicht nur sein Spielbein, die plurale Meinungsbildung, sondern
auch sein Standbein, die Zwangsgewalt. Wenn »die kommunikative Legitimierung
von politischer Autorität« als wichtigste Aufgabe der Medien angesehen wird und
deren sozialmoralische Normierung als wichtigste Aufgabe der Medienethik, dann
ist Öffentlichkeit der Prüfstein für ihre kritische Reichweite.
Funiok (2011: 93) hebt ausdrücklich hervor, dass diese Vorstellung von Öffentlich-
keit ein »Leitbild« sei, ein »normatives Konzept«, und er betont: »Die Medienethik
kann […] auf diesen normativen Öffentlichkeitsbegriff nicht verzichten.« Unschwer
sind hier Ähnlichkeiten mit der anthropologischen Theorie der Öffentlichkeit von
Hannah Arendt (2006: 33–97) und der diskurstheoretischen von Jürgen Habermas
zu erkennen. Nach Arendt sind wir als Privatexistenzen zunächst fremdbestimmte
Natur- und Arbeits-Wesen; erst durch die gemeinsame Praxis des Redens und
Handelns in einem republikanischen, öffentlichen Raum werden wir zu freien
Menschen. Nach Habermas (1990) wird der literarische bourgeois in den öffent-
lichen Räumen, welche die parlamentarischen Demokratien sicherstellen, durch
aufgeklärte Meinungsbildung zum politischen citoyen, im Idealfall zum Mitglied
einer weltweiten Zivilgesellschaft. Solche Vorstellungen unterzieht die dialektische
Theorie der bürgerlichen Öffentlichkeit einer – immanent ansetzenden – Ideolo-
giekritik, was ich nun in einem kurzen historischen Rückblick skizzieren möchte,
der Dieter Prokop (2001: 170–237) folgt.

5 Nach Marx steht der Ideologiebegriff bekanntlich für Gestalten eines ›notwendig fal-
schen Bewusstseins‹ oder auch eines ›richtigen Bewusstseins von falschen Zuständen‹
– jedoch in legitimatorischer Absicht (siehe Lenk 1984: 26 ff.). Eine Ideologie versucht,
Widersprüche zu glätten, die darauf zurückzuführen sind, dass in der Sache, die sie
legitimieren soll, Gegensätze stecken, welche sich durch Theorie allein nicht auflösen
lassen. Ideologiekritik ist demgemäß der Versuch, aufzuzeigen, dass eine Theorie vor-
gibt, ihre Gegenstände zu beschreiben, in Wahrheit aber implizit normativ ist, weil sie
bestimmte Welt- und Handlungsorientierungen suggeriert.
210 Zur Kritik der Medienethik

Öffentlichkeit und Medienerfahrung

Im 18. Jahrhundert etablierten mündige Bürger eine Medienstruktur für aristo-


kratisch und klerikal unkontrollierte Diskurse über Wissenschaft, Wirtschaft,
Politik und Gesellschaft. Bücher, Zeitungspresse und Theater wurden die privat-
wirtschaftlichen Medien einer »räsonierenden« Öffentlichkeit im Sinne von Kant.
Ihr Schlachtschiff war die Enzyklopädie, die mit modernen Marketingmethoden
(nämlich mit Subskription und Haustürverkauf) in ganz Europa verbreitet wurde.
Kaum war sie auf dem Markt, sprach der königliche Rat auch schon ein Publikati-
onsverbot aus: Diderot hatte in seinem Artikel über »politische Autorität« dargelegt,
dass politische Herrschaft ohne Zustimmung der Untertanen in einem rationalen
Unterwerfungsvertrag nicht legitimierbar sei. Im Zuge der Französischen Revolution
wurden politische Streit­schriften und Pamphlete Bestseller. Von der Schrift Was
ist der Dritte Stand? des Abbé Sieyès wurden 300.000 Drucke verkauft; dort ging
es um Toleranz, Steuergerechtigkeit, Menschenrechte und gerechte Behandlung
der Landarbeiter. Inspiriert von der Unabhängigkeitserklärung der USA rief die
Nationalversammlung in Paris die Menschenrechte aus: das Recht mündiger, männ-
licher Bürger auf Eigentum und freie Ausübung der Religion sowie die Presse- und
Meinungsfreiheit. Als zensurfreie Zone war Öffentlichkeit der zivilgesellschaftliche
Überbau der Gewerbefreiheit. Zwei Jahre nach der großen Revolution wurde in
Frankreich die Theaterzensur abgeschafft. »Jeder Bürger«, hieß es nun, »darf ein
öffentliches Theater errichten und dort Stücke aller Art spielen lassen« (zit. nach
Prokop 2001: 172). Gab es Anfang 1791 in Paris neun Theater, so waren es Ende
des Jahres bereits 70.
Die moderne, mediengestützte Öffentlichkeit hatte von Anfang an zwei Aspekte:
Sie galt der Verbreitung revolutionärer wissenschaftlicher und politischer Ideen,
und sie war zugleich ein wirtschaftliches Projekt zur Vermehrung der Profite derer,
die ihr Kapital auf dem neuen Markt investierten, der ebenso vielversprechend wie
riskant war. Ohne kapitalistischen Unternehmergeist hätten sich die aufklärerischen,
demokratischen Ideen nicht entfalten können; aber sie konnten sich nur in einer
medialen Sphäre verbreiten, in der es primär gar nicht um Inhalte ging, sondern
um die mediale Warenform.
In Europa und in den USA florierte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts
die Massenproduktion; der Handel musste mit Anzeigen, Werbung und Design
angekurbelt werden, und medientechnologischer Fortschritt ebnete den Weg zu
deren Medium, der Massen­presse. Ein neues technisches Medium, die elektrische
Telegrafie, war die Basis der drei großen kommerziellen Nachrichtenagenturen Hava,
Reuters und Wolff’s, die in Paris, London und Berlin gegründet wurden und sich
1870 zu einem Weltkartell zusammenschlossen (Prokop 2001: 198). Zuvor hatten
Zur Kritik der Medienethik 211

die Mitarbeiter der Nachrichtenagenturen am Hafen von New York auf einlaufende
Schiffe gewartet, um Nachrichten einzukaufen. Nachdem Telegrafen­kabel durch
den Atlantischen Ozean verlegt worden waren, war das nicht mehr nötig. Rota-
tionspresse und Zeilendruckmaschine steigerten den Erfolg der kommerziellen
Massenpresse weiter. Wichtige bürgerliche Ziele waren nun erreicht; der Handel
dehnte sich nahezu schrankenlos aus. Der Diskurs über Menschenrechte wurde
vom Diskurs über zeitgemäße Außenpolitik als Motor des Exports und Imports
verdrängt.
Habermas hat den Übergang zur Massenpresse als Refeudalisierung des öf-
fentlichen Raumes interpretiert. Ihm zufolge sind der »Waren- und der Nachrich-
tenverkehr« die wesentlichen »Elemente des frühkapitalistischen Verkehrszusam-
menhangs« (Habermas 1990: 73) gewesen, in dem es noch keine öffentliche Sphäre
im bürgerlichen Sinne gab; in der postmerkantilistischen Phase des Kapitalismus
habe diese Sphäre dann zunächst Autonomie erlangt und später wieder eingebüßt.
Im Spätkapitalismus sei das Publikum kein »kulturräsonierendes« mehr, sondern
nur noch ein »kulturkonsumierendes« (ebd.: 248). »Wenn die Gesetze des Marktes,
die die Sphäre des Warenverkehrs und der gesellschaftlichen Arbeit beherrschen,
auch in die den Privatleuten als Publikum vorbehaltene Sphäre eindringen, wandelt
sich Räsonnement tendenziell in Konsum, und der Zusammenhang öffentlicher
Kommunikation zerfällt in die wie immer gleichförmig geprägten Akte verein-
zelter Kommunikation.« (ebd.: 249). Doch diese Beschreibung trifft es nicht ganz.
Falsch ist daran die Vorstellung, dass die Gesetze des Marktes in die Sphäre des
Publikums »eindringen« würden. Sie gehörten vielmehr von Anfang an dazu: als
gleichursprüngliche Gegenkraft zur autonomen Kommunikation über Inhalte und
Sachfragen. Raisonnement und Konsum sind nicht Stufen des Verfalls, sondern
eine widersprüchliche Einheit von Identität und Differenz im Begriff bürgerlicher
Öffentlichkeit.
Deren innerer Widerspruch bestand darin, dass sich – mit den Worten von
Arnold Künzli (1988: 25) – »ein partikulares Interesse – das des aufstrebenden
Bürgertums – mit dem Nimbus der Universalität umgab.« Weiter heißt es bei
Künzli: »Das Entrébillet zu dieser ursprünglichen liberalen ›Oeffentlichkeit‹ war
das private Eigentum, und damit wurde Oeffentlichkeit zu einem Klassenbegriff des
Bürgertums«, denn: »Was öffentliche Meinung genannt wurde, war die interessierte
Meinung dieses Bürgertums, die sich als universelle gerierte und als Gemeinwohl
deklarierte.« (Ebd.)
Die Verwandlung von Informationen in reine Waren – die technisch reproduzier-
bar und telekommunikativ sind – setzte sich tendenziell gegen den Regulationswillen
der Politik durch. Bismarck versuchte in Deutschland, politische Pressezensur
durchzusetzen, hatte damit aber auf lange Sicht keinen Erfolg. Er erließ 1863 »die
212 Zur Kritik der Medienethik

Presseordonanzen, die die gesetzlich ohnehin beschränkte Pressefreiheit weiter


einschränkten: Wegen ›regierungsfeindlicher Handlungen‹ konnten Zeitungen nach
zweimaliger Verwarnung verboten werden. […] Die Presseordonanzen mussten
im gleichen Jahr wegen des Einspruchs des Abgeordnetenhauses zurückgezogen
werden, doch führte Bismarck seinen Vernichtungskampf gegen die oppositionelle
Presse fort« (Prokop 2001: 233). Die ökonomische Eigenlogik der Verwertung des
investierten Werts hat ihre eigenen Gesetze. Eines ist die bereits erwähnte Zusam-
menballung der ökonomisch Mächtigsten auf dem Markt, die die schwächeren
Konkurrenten verdrängen. Die Verwandlung von Informationen in reine Waren
brachte es auch mit sich, dass die Konzentrationstendenzen der Marktwirtschaft
auf dem Zeitungssektor überall voll durchgriffen.6
Auch im 20. Jahrhundert, unter den Produktionsbedingungen des Fordismus,
war die massen­mediale Öffentlichkeit noch privi­legierter Ort der Urteilsbildung
freier und gebildeter Bürger. Skandal­e und Sensationen in Zeitung, Radio und
Fernsehen waren alltagskulturelle Aufputschmittel für die arbeitsfreie Zeit, ein-
lullende Unterhaltung fungierte als Beruhigungsmittel. Andererseits hörte die
Beschäftigung mit politischen, sozialen und kulturellen Fragen aber nicht einfach
auf, denn nun fing auch die Klasse der Nichteigentümer der Produktionsmittel
an, öffentlich zu »räsonieren«. Ihre Angehörigen hatten ein Interesse daran, über
ihre Lebenslage in der Industriegesellschaft zu kommunizieren und über die Aus-
sichten, sie zu verbessern. Wenn sie in kommerziellen Zeitungen Berichte über
Skandale und Verbrechen verfolgten und anschließend darüber diskutierten, war
das zumindest ein Teil davon (Prokop 2001: 195). Dies wäre ohne das in sich wider-
sprüchliche, bürgerliche Konzept der Öffentlichkeit nicht möglich gewesen. Noch
einmal mit den Worten von Künzli (1988: 25): »Indem das Bürgertum in seinem
Emanzipationskampf gegen Feudalismus und monarchistische Staatsautorität für
sich Oeffentlichkeit konstituierte und im freien Diskurs eine öffentliche Meinung
herausbildete, leistete es, auch wenn es noch nicht Oeffentlichkeit an sich war,
einen revolutionären Beitrag zur Emanzipa­tion überhaupt.« Und es gab auf der
anderen Seite bekanntlich auch das staatliche Rundfunkwesen Großbritanniens
und das öffentlich-rechtliche System in der Bundesrepublik, die man als Bastionen
der Medien-Domestizierung durch, teilweise steuerfinanzierte, Aufklärung und
Bildung der Bevölkerung bezeichnen kann.
Wenn das Ideal einer Sphäre aufgeklärter Bürger, die im räsonierenden Diskurs
politische und soziale Meinungsbildung betreiben, aus der heutigen Medienland-
schaft (Zeitungen, Rundfunk, Fernsehen und Internet) verschwindet, handelt

6 In Berlin zum Beispiel entstanden nach 1870 die drei großen Zeitungsverlage von Rudolf
Mosse, Leopold Ullstein und August Scherl.
Zur Kritik der Medienethik 213

sich es aber nicht um Fehlverhalten oder Anzeichen von moralischem Verfall.


Medienakteure auf einem globalen Markt sehen sich kaum noch in der Pflicht,
mündige Bürger zu erziehen. Sie müssen sich in einem Betrieb erhalten, der – über
die mediale Warenform – dabei hilft, aus Geld mehr Geld zu machen. Im Blick auf
diesen ›Realgrund‹ haben sie sich zu verantworten – alles andere ist nachrangig.
Bei verschärfter Kon­kurrenz um die Anteile an den Restprofiten einer (offenbar
permanenten) Überakkumulationskrise wird dem Appell an die Verantwortung
die Geschäftsgrundlage entzogen. Sensationalismus, Pornografie und Reklame sind
Überlebensstrategien in einer Epoche, die geprägt ist durch das »Zeitungssterben«
und durch eine umkämpfte Neuverteilung der legalen Zugänge zur Ausbeutung
der ›Ressource Aufmerksamkeit‹ (Türcke 2002: 52 ff.). So setzt sich die Kapitallogik
durch – auch dort, wo sie partiell suspendiert war: in den öffentlich-rechtlichen
Funkhäusern, deren Funktionäre auf hohe Publikumsquoten fixiert sind. Die
Massenmedien kehren gleichsam in ihren Grund zurück – Zeitungen waren im
Europa der frühen Neuzeit Werbeprospekte der Buchdrucker und das Radio in
seinen Anfängen in den USA ein Reklameorgan der Konsum­g üter­industrie. Im
Italienischen ist pubblicitá heute das Wort für Werbung. Und in den sogenannten
social media wird überwiegend Privates ausgetauscht. Es spricht Einiges dafür, dass
Slavoj Žižek (2012) Recht hat, wenn er mit Blick auf das Internet feststellt: »Der
öffentliche Raum verschwindet.«
Gegen die marktwirtschaftliche Orientierung des Handelns, das an Selbsterhal-
tung, Selbststeigerung und Überwältigung der Konkurrenten orientiert ist, bringt
die Medienethik ihr normatives Bild von Öffentlichkeit in Stellung. Funiok (2011:
94) zentriert es um ein Diskursmodell, das von der Ambivalenz der Öffentlichkeit
absieht. In diesem Modell gibt es vier Typen öffentlicher Äußerungen: 1. autoritäre,
monologische Kundgaben, 2. Agitation und Propaganda, 3. die Befeuerung kollektiver
Erregungszustände und 4. advokatorische Statements zugunsten von Benachteiligten
oder zugunsten des Gemeinwohls (ebd.: 94 f.). Die Sympathien sind klar verteilt:
Autoritäre Verlautbarungen und agitato­rische Hetze in den Medien gefährden die
Demokratie; zivilgesellschaftliches Engagement für soziale Gerechtigkeit fördert
sie, sofern sie nicht parteiisch auf die Ziele einzelner sozialer Bewegungen fixiert
ist. Und wenn öffentliche Erregungsz­ustände aufgegriffen oder angeheizt werden,
bis hin zur Formierung als Gegenmacht, könne das sowohl negative Wirkung
haben als auch positive (wie im Vorfeld des Untergangs der DDR). Idealerweise
zeichne sich der öffentliche Diskurs durch eine Auseinandersetzung aus, die nicht
strategisch ist, sondern verständigungsorientiert und argumentativ. Im Diskurs-
modell der Öffentlichkeit ist Wahrheit der Maßstab für deskriptive Sachaussagen,
und normative Richtigkeit, das heißt Gerechtigkeit, ist der Maßstab für praktische
214 Zur Kritik der Medienethik

Aussagen. »Es kommt zur Revision der eigenen Beiträge, zum Fallenlassen falscher
Behauptungen und zum Ausscheiden unhaltbarer Argumente.« (Ebd.: 94)
Gleichberechtigter, sach- und inhaltsorientierter Diskurs, Mündigkeit und Frei-
heit: Das sind die Werte, die sich in dem medienethischen Postulat manifestieren,
nach dem sich Individuen und Instanzen im Prozess der Produktion und Rezeption
von Massenmedien einer »korporative[n] Selbstverpflichtung« unterwerfen sollen
– in der sie der puren Marktlogik politische Normativität entgegensetzen sollen,
um ihrer demokratischen Verantwortung gerecht zu werden.
Die Argumentationsstruktur der Medienethik ist also insofern zirkulär, als die
Kategorie der Verantwortung auf den Wert der demokratischen Freiheit zurück-
geführt wird und demokratische Freiheit nicht nur als Idealgrund, sondern auch
als Realgrund der Verantwortung beschrieben wird.
Heikler als die logische Unstimmigkeit ist die moralische: Mit dem Rekurs auf
Verantwortung lässt sich so gut wie jedes Handeln irgendwie rechtfertigen, wenn
man nicht präzise auf die Handlungszwecke eingeht und die Mittel bewertet,
die dazu eingesetzt werden. »Verantwortung übernehmen« kann in der Politik
heißen, dass jemand Wirtschaftsminister wird und den Waffenexport fördert;
es kann aber auch heißen, dass ein Minister zurücktritt, weil unter seiner Ägide
Waffenhandel gefördert wurde.7 Im oben angeführten Beispiel wurde manipulativer
Journalismus mit der sozialen Verantwortung der Besitzer der Produktionsmittel
für Arbeitsplätze gerechtfertigt, die man ohne hinreichend hohe Zuschauerzahlen
und entsprechende Aufträge der Werbewirtschaft gefährden würde. »Die Presse
verzichtet auf eine unangemessen sensationelle Darstellung von Gewalt, Brutalität
und Leid«8, proklamiert der Ethikkodex des Presserats. Doch was hat man sich
unter einer »angemessen sensationelle[n] Darstellung« vorzustellen?
Im Übrigen enthält nicht nur der Begriff der Öffentlichkeit eine innere Ambiva-
lenz, sondern auch der ihm zugehörige Begriff der Mündigkeit. Darauf hat Adorno
(1970: 133) hingewiesen: Einerseits sei Mündigkeit die Bedingung dafür, dass
eine Gesellschaft sich in Freiheit selbst bestimmen könne, ohne dass das Resultat
mehrheitsdemokratischer politischer Entscheidungen am Ende die »Unvernunft«
sei. Andererseits sei es in den bestehenden, naturwüchsigen Gesellschaften dem
blinden Zufall und der Ungerechtigkeit unterworfen, ob Menschen zur Mündig-

7 »Früher hieß ›die Verantwortung übernehmen‹ seinen Rücktritt von einem politischen
Amt erklären, in dem etwas schief gegangen war. Heute heißt ›Verantwortung über-
nehmen‹ aktiv in die Politik einsteigen, und ist man erst einmal drin, dann nimmt
man seine Verantwortung wahr, indem man im Amt bleibt und daselbst alle Mögliche
verantwortet: Waffenlieferungen in Krisengebiete, krumme Wege der Parteienfinan-
zierung oder Ganovenstreiche bei der Terrorismusbekämpfung.« (Türcke 1989: 86).
8 http://www.presserat.de/pressekodex/pressekodex/ (16.8.2018).
Zur Kritik der Medienethik 215

keit fähig werden, das heißt, ob und wie sie sprechen, denken und urteilen lernen.
Daher gelte es zu begreifen, »daß schon die Voraussetzung der Mündigkeit, von der
eine freie Gesellschaft abhängt, von der Unfreiheit der Gesellschaft determiniert
ist« (ebd.: 142).

Instrumentalisierungsverbot

Ich denke, die ethische Reflexion der Medienpraxis würde Kontur gewinnen, wenn
stattdessen das Verbot, Menschen zu instrumentalisieren, zum Begründungsargu-
ment wird. Denn das ist letztlich der normative Kern des Diskursmodells, auf das
sich die Medienethik in der hier diskutierten Gestalt bezieht.
Nach Kant sollte jeder, wenn es moralisch darauf ankommt, so handeln, dass
die Maxime, also der Handlungsgrundsatz, »jederzeit zugleich als Prinzip einer
allgemeinen Gesetzgebung gelten könnte« (Kant 1788: A 54). Dann würde er »die
Menschheit« in sich selbst und allen anderen »niemals bloß als Mittel«, sondern
»jederzeit zugleich als Zweck« (Kant 1785: BA 66 f.; siehe Kant 1788: 155 f.) auffassen.
Kant antizipiert ein vernunftbestimmtes Allgemeines; erst als Teil davon wären wir
imstande, moralisch zu handeln. Kein vernünftiger Mensch kann leugnen, dass der
Endzweck moralischen Handelns die allgemeine Humanität ist. Nach Adorno (1957,
zit. nach Schweppenhäuser 2016: 111) liegt die Pointe von Kants Moralphilosophie
darin, dass sie »eine Gesellschaft« kritisiert, »in der alles zum Mittel wird und in
der nichts mehr Zweck ist.« Wenn die Menschheit nicht nur als Idee, sondern auch
in Wirklichkeit »Zweck an sich selbst« wäre, müssten die besonderen Interessen
und das allgemeine nicht mehr auseinanderfallen. Das ist aber bis heute nicht der
Fall. Der wirtschaftsliberalistische Interessenbegriff 9 bleibt auf das Eigeninteresse
konkurrierender Wirtschaftssubjekte beschränkt.
Verantwortungsethik soll den Interessenantagonismus in Schach halten, bleibt
aber gleichsam zahnlos, weil Verantwortung funktional in eine Vielzahl geschäft-
licher Rücksichten und Verbindlichkeiten aufgelöst wird. Als Unterscheidungscode
sollte daher statt »verantwortlich oder verantwortungslos« ein anderer angesetzt
werden, nämlich: »richtig oder falsch« bzw. »gerecht oder ungerecht«.

9 Noch Mitte des 19. Jahrhunderts wurde der Begriff des Interesses oder der Interessen
ganz selbstverständlich als Synonym für Zinsen verwendet. (So zum Beispiel in Gustav
Freytags Erfolgsroman Soll und Haben, dessen Apologie des deutschen Bürgertums nicht
nur auf der Folie einer Kritik des Adels erfolgt, sondern untrennbar aus antisemitischen
und nationalistisch-antipolnischen Denkmustern hervorgeht.)
216 Zur Kritik der Medienethik

Verständigung und Verweigerung

Zwei Möglichkeiten bieten sich an: Statt »Verantwortung« könnte Medienethik


entweder auf das Konzept »Verständigung« zurückgreifen oder auf das Konzept
»Verweigerung«. Sie hat also die Wahl zwischen Habermas und Adorno; und ver-
mutlich werden sich auch Perspektiven ergeben, diese Modelle zu einem dritten
zu verbinden.
Verständigung ist der Diskursethik zufolge das implizite Telos jeder Kommu-
nikation. Diskursethik ist gewissermaßen eine »universalistische Minimalmoral
aller Vernunftwesen« (Kettner 2004: 238). Sie leitet die Differenz zwischen Fak-
tischem und Möglichem aus den Verständigungsmöglichkeiten in der verbalen
Kommunikation ab. Weil in der Struktur des Sprechens die Idee konsensueller
Verständigung als normative Zielvorstellung eingelassen sei, werde »in der realen
Kommunikationsgemeinschaft zugleich deren ideale Gestalt angebahnt« (Paetzold
1990: 15), also eine gerechte Gesellschaft.
Im Diskurs über Medien, so könnte man hier anschließen, dürfen nur solche
Normen Geltung beanspruchen, denen alle Beteiligten rational zustimmen könn-
ten. Sämtliche Folgen und Nebenfolgen geltender Mediennormen müssen von
allen Betroffenen ohne Zwang akzeptiert werden können.10 Alle, die irgendwie
beteiligt sind, müssen das Recht und die Möglichkeit haben, am Diskurs über
das Mediengeschehen teilzunehmen. Nicht nur als Rezipienten, sondern auch als
Produzenten. Wenn die Zusammenballung kulturindustrieller Medienmacht dies
verhindert, ist sie moralisch nicht zu rechtfertigen. Der Verweis auf die Verantwor-
tung für Arbeitsplätze und die Fortsetzung der Geschäfte kann als unzureichend
zurückgewiesen werden.
Wer mediale Botschaften in den öffentlichen Raum stellt, muss Vernunft und
Menschenwürde der Adressaten achten und bereit sein, über die Grundlagen des

10 Damit eine mediale Handlungsnorm gelten darf, »müssen« – mit den Worten von
Habermas (1991: 12) – die »Ergebnisse und Nebenfolgen, die sich voraussichtlich aus
[ihrer] allgemeinen Befolgung für die Befriedigung der Interessen eines jeden ergeben,
von allen zwanglos akzeptiert werden können. – Gegen diese Übertragung von Motiven
aus der Diskursethik in den medienethischen Diskurs könnten zwei Argumente ins Feld
geführt werden: zum einen Habermas’ Ableitung des normativen Geltungsanspruchs aus
sprach- und transzendentalpragmatischen Prämissen und zum anderen seine Neufassung
des Modells einer deliberativen Öffentlichkeit als staatlicher Integrations- und Legimit-
ationsinstanz aus den 1990er Jahren (siehe dazu Hütig 2003 sowie Schultz 2003). Mein
Versuch, diskursethische Motive in eine kritische Reflexion affirmativer Medienethik
einzubeziehen, scheint mir dennoch gerechtfertigt, weil er an die Spurenelemente der
kritischen Theorie anschließt, die das Ethikkonzept von Habermas jenseits akademischer
Selbstbeschäftigung mit philosophischen Ethikdebatten weiterhin interessant machen.
Zur Kritik der Medienethik 217

gemeinsamen Handelns nachzudenken. In medialen Diskursvorgaben müssen die


gerechtfertigten Bedürfnisse aller Teilnehmer angemessen berücksichtigt werden.
Um Verständigung zu gewährleisten, darf nie nur strategisch gehandelt werden;
alle anderen müssen immer auch als gleichberechtigte Kommunikationspartner
anerkannt werden.
Mediale Kommunikation hat das Potenzial gleichberechtigter Verständigung.
Aber ihre Rahmenbedingungen werden aufgrund der »Kolonialisierung der Le-
benswelt durch die Imperative eines ungesteuerten ökonomischen Wachstums«
verzerrt, um es mit Habermas (1981: 400) zu sagen. Funiok möchte »unterneh-
mensstrategische« und »gemeinwohlorientierte Zielsetzungen« harmonisiert sehen,
doch sie lassen sich kaum versöhnen. Das »Vertrauen« in die Medieninstitutionen
ist als Fundament für »Wertprioritäten« auf Sand gebaut. Strategische Ziele blo-
ckieren kommunikative Ziele, partikulare Interessen blockieren das vernünftige
Allgemeininteresse. Soziale Machtstrukturen und Profitorientierung behindern
die Sprache und die intersubjektiven Beziehungen; sie hemmen Erziehung, de-
mokratische Öffentlichkeit und mediale Kultur in ihrer Entfaltung. Dagegen ist
Widerstand zu leisten.
Adorno verstand unter Widerstand eine Haltung, die der Idee richtiger Praxis
verpflichtet bleibt, solange diese blockiert ist, weil die Vergesellschaftung mit der
Macht von Naturverhältnissen ausgestattet erscheint (siehe Jepsen 2012: 151 ff.).
Widerstand wäre heute die Stellvertretung für »ein richtiges Leben« (Adorno 1963:
250). Diese wäre nicht zuletzt auch »Widerstand gegen die konkrete Gestalt der
Heteronomie«, »also gegen die ungezählten von außen auferlegten Formen der
Moralität«, die nicht mehr in Beziehung zum humanen und freiheitlichen Gehalt
der Moralphilosophie stehen, sondern als Repressionsinstrumente »den Charakter
des Bösen« (ebd.: 252) annehmen, wie Adorno es formulierte. Als bloße Beschwich-
tigungsformel kann auch das legitime Verantwortungsprinzip zur heteronomen
Gestalt von Moralität werden – zum »guten Gewissen des Opportunismus«, um
es mit einer Formulierung von Christoph Türcke zu sagen.
Dies gilt aber auch für das Prinzip der Diskursethik. Zumal, wenn man – wie
Matthias Kettner (2004: 238) – die Auffassung vertritt, dass Diskursethik »die in-
dividuelle wie kollektive Verantwortung […] von Argumentationsgemeinschaften
für die vernünftige […] Ausübung diskursiver Macht« zur normativen Grundlage
mache. Wer so argumentiert, setzt auf die moralisch integre Kraft der »guten
Gründe«, an denen man sich im Handeln orientieren kann. Mit einem Wort: auf die
Macht der Vernunft, die zeigt, dass es Gründe gibt, die von allen vernunftbegabten
Wesen als »gute Gründe« akzeptiert werden.
Eine affirmative Diskursethik tritt das aporetische Erbe idealistischer Moral-
philosophie an. Nur wenn man ihre Ambivalenz nicht übersieht, kommt ihre
218 Zur Kritik der Medienethik

Bedeutung als Einspruchsinstanz kritischer Normativität zum Tragen. Es gilt, den


Universalismus der Diskursethik durch kritische Theorie zu relativieren. Gunzelin
Schmid Noerr (2006 b) hat deutlich gemacht, dass »die diskursive Vernunft allein
weder Quelle noch Motiv der Moralität [ist]. Der positive Universalismus eines
kommunikativen Minimalkonsenses hat seine Basis im negativen Universalismus,
auf den die Ethik der älteren Kritischen Theorie hingewiesen hat. Das die Men-
schen Verbindende ist demnach ihre Verletzbarkeit und Sterblichkeit, die Beein-
trächtigung ihres Selbstwertgefühls. Adorno geht nicht, wie Habermas, von einer
idealen Sprechsituation aus, sondern von den Menschen im Stand ihrer faktischen
Unfreiheit, und in der wird die moralische Orientierung erfahrbar an ›Auschwitz‹
als einem Paradigma für die äußerste Verletzung der Menschen.«11
Adorno (1963: 251 f.) zufolge ist Moralphilosophie nur zu retten als Differenz-
bestimmung zu dem, was der Fall ist, und als kritischer Maßstab dessen, was sein
könnte oder sollte. Sie muss die Frage nach der Rechtfertigung des Bestehenden
aufwerfen. Ist die kritische Dimension erst einmal entbunden, dann ist die der
ursprünglichen »sozialen Funktion der Moral« entgegengesetzt, die darin besteht,
»die gesellschaftlichen Normen zu verinnerlichen« (Adorno 1956/57, zit. nach
Schweppenhäuser 2016: 34). Erst dann ist Raum für die Autonomie des einzelnen.
Aus der Ambivalenz der Moral würde nach Adorno nur herrschaftsfreie Praxis
herausführen. Ihre Stellvertretung mit Blick auf die Medien wäre eine Mischung
aus Verweigerung und Umnutzung, also sowohl Boykott als auch Infiltrierung der
Kanäle. Zu diesen überlieferten Optionen der klassischen und neueren Moderne
könnte heute der Entwurf einer autonomen Politik der Medien hinzutreten. Dieser
hätte Formen des medialen Handelns zu beschreiben und zu erproben, in denen
Medienpolitik nicht als Herrschaftsmittel oder als staatliche Geschäftsführung
der medialen Produktionsmittel im Privatbesitz, sondern als selbstorganisierte
Praxis verstanden wird.
Der Verantwortungsbegriff der Medienethik ist als normatives Korrektiv des
Medienbetriebs gedacht. Aber weil er so unbestimmt ist, eignet er sich vortreff-
lich, um dem Betrieb ein gutes Gewisses zu geben – besonders in Verbindung mit
dem Öffentlichkeits-Optimismus und dem moralisch überhöhten Konzept der
Demokratie. Demokratie ist eine Form politischer, sozialer und wirtschaftlicher
Verwaltung und Herrschaft; sie ist per se moralisch neutral, »gleichermaßen bereit,

11 Dennoch, betont Schmid Noerr, hat »die diskursethische Maxime, nach der nur solche
konkreten Normen Geltung beanspruchen dürfen, die die Zustimmung aller Betroffenen
finden können, ihre notwendige Funktion, insofern in der Moderne alle moralischen
Erfahrungen sich der vernünftigen Argumentation und Kritik aussetzen können müssen.
Die Erfahrungen gelingenden Lebens müssen sich, um ethisch verbindlich zu sein, auch
kommunikativ bewähren.« (Schmid Noerr 2006 b)
Zur Kritik der Medienethik 219

Gutes wie Böses in sich aufzunehmen« (Türcke 1998: 90)12. Solange die öffentliche
Sphäre der Medien die ideologischen Geschäfte der ökonomischen Privat-Sphäre
betreibt, heißt »demokratische Verantwortung wahrnehmen« nicht viel mehr als:
demokratische Herrschaft legitimieren, indem man die Zustimmung seitens der
Unterworfenen sicherstellt, die kein Konzept von Widerstand entwickeln können,
weil Kritik auf »Meinung« reduziert bleibt (siehe Held 1999, § 10). Wie weit die
Medienerziehung in Familie und Schule weiterhelfen kann, die Rüdiger Funiok
(2011: 242) fordert, um das Publikum durch »demokratische[] Medienpolitik« an
seine »Mitverantwortung für die Qualitätssicherung der Medienkommunikation«
zu erinnern und »die Beteiligung des Publikums […] zu verbessern«, steht dahin.
Im Zuge der ökonomistischen Beschreibung sämtlicher Lebensbereiche kann
Verantwortung sogar zur Geißel werden. Als Instrument der Psychologisierung
sozialer Phänomene und Strukturprobleme hilft der Verweis auf die Verantwort-
lichkeit des Individuums dabei, ein auf Dauer gestelltes schlechtes Gewissen, sei es
individuell oder kulturell, zu installieren. Auf dem harten Weg, der von Sozialstaat
und öffentlicher Gesundheitsfürsorge zu Verhältnissen führt, in denen sich jeder
allein darum kümmern muss, wo er bleibt und was im schutzlosen Konkurrenzkampf
um den Lebensunterhalt aus ihm wird, ist »Eigenverantwortung« ein zentraler
ideologischer Kampfbegriff geworden (Schiller 2011: 183–187).
Gleichwohl kann eine kritische Theorie der Medien von der Medienethik lernen:
vor allem, dass sie nicht ohne Handlungstheorie auskommt. Denn eine kritische
Medientheorie sollte auch eine Kritik der systemtheoretischen Beschreibung sein,
derzufolge die Steuerungsmechanismen des Systems der Massenmedien allein für
die Prozesse der Produktion, Distribution und Rezeption von Medien zuständig
sind und normativ-ethische Ansätze als überflüssig gelten. Kritische Medientheorie
hat zu rekonstruieren, wie das selbst- oder fremdbestimmte Handeln der sozialen

12 Demokratie ist »weit davon entfernt […], status pacis, Friedensstaat zu sein«. Sie stellt
»in den verschiedenen Phasen ihres Bestehens verschiedene Phasen des Kampfes von
Mächten, Parteien, Interessen miteinander und gegen­einander dar […]: des Kampfes
um den Erweis der Souveränität, der freien Willkür, der Durchsetzung der Ansprü-
che« (Schweppenhäuser 2013: 183). Zwischen der Idee und der konflikthaften Realität
der Demokratie besteht ein Widerspruch: Aus »dem Postulat der Gleichbehandlung
und Gleichberechtigung aller« folgt normativ »die gesellschaftliche Einrichtung der
Demokratie und Republik, der gesellschaftliche Zustand der Menschen, in dem sie als
Vernünftige, Freihandelnde, selbstregierte Wesen auch tatsächlich existieren. Wo immer
also Menschen existie­ren, deren Selbstbestimmung, freies Vernunfthandeln, blockiert
wird, dort ist nicht Demokratie und Republik, und wenn es hundertmal so heißt. Selbst-
bestimmung oder Selbstregieren – damit ist der Zentralpunkt von Herrschaft, Macht,
Regime berührt« (ebd.: 182).
220 Zur Kritik der Medienethik

Akteure jene Prozesse formt.13 »Verantwortung« könnte insofern zu einem Schlüs-


selbegriff einer gesellschaftstheoretisch und historisch reflektierten Ethik werden.

Literatur

Adorno, Theodor W. (1957): Probleme der Moralphilosophie, Vorlesung an der Universität


Frankfurt im Wintersemester 1956/57, Vorlesung vom 27. Januar 1957; zit. nach Schwep-
penhäuser 2016.
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Abt. IV, Bd. 10, hrsg. v. T. Schröter, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1996.
Adorno, Theodor W. (1970): Erziehung zur Mündigkeit. Vorträge und Gespräche mit Hellmut
Becker 1959–1969, hrsg. v. G. Kadelbach, Frankfurt/M.: Suhrkamp.
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Bayertz, Kurt, Hg. (1995): Verantwortung. Prinzip oder Problem?, Darmstadt: Wissenschaft-
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[http://www.ingenieur.de/Panorama/Am-Rande/Die-Bringpflicht-Ingenieure (letzter
Abruf: 16.8.2018).
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unverzichtbar«, in: Medien und Ethik, hrsg. v. M. Karmasin, Stuttgart: Reclam, S. 37–58.
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Brosda, Wiesbaden: VS, S. 232–243.
Funiok, Rüdiger (2011): Medienethik. Verantwortung in der Mediengesellschaft, Stuttgart:
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Habermas, Jürgen (1981): Philosophisch-politische Profile. Dritte erweiterte Auflage, Frank-
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16.8.2018]).
Hubig, Christoph (1991): »Probleme und Perspektiven der Wissenschaftsethik an Fach-
hochschulen«, in: Aufgaben des Ingenieurs und ethische Verantwortung, hrsg. v. V. Liebig,
Karlsruhe: Fachhochschule Karlsruhe (Ethik 1, Report 31), S. 99–109.

13 Wer die Sphäre bürgerlicher Öffentlichkeit allerdings ›ableitungsmarxistisch‹ aus der


Herrschaftsfunktion des bürgerlichen Staates deduziert (wie z. B. Held 1999), betreibt
damit auch die abstrakte Negation kritischer Moralphilosophie.
Zur Kritik der Medienethik 221

Hubig, Christoph (1993): Technik- und Wissenschaftsethik. Ein Leitfaden, Berlin, Heidelberg:
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Hütig, Andreas (2003): »Konventionen und Delibarationen. Die Diskursethik und die mas-
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Debatin u. Rüdiger Funiok, Konstanz: UVK, S. 111–125.
Jaeggi, Rahel (2009): »Was ist Ideologiekritik?«, in: Was ist Kritik?, hrsg. v. R. Jaeggi u. T.
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Bänden, hrsg. v. W. Weischedel, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1983,
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