Entdecken Sie eBooks
Kategorien
Entdecken Sie Hörbücher
Kategorien
Entdecken Sie Zeitschriften
Kategorien
Entdecken Sie Dokumente
Kategorien
Fokusthema
Als Katharina Rutschky 1977 eine 600-seitige Text- von Pedanterie, Sadismus oder Erziehungsorgien
sammlung zur Pädagogik im 18. und 19. Jahrhun- entladen.
dert unter dem Titel Schwarze Pädagogik heraus- Zur körperlichen Züchtigung entwickelt die
gab, ahnte sie wohl nicht, dass dieser Titel künftig bürgerliche Pädagogik dieser Zeit ein ambivalen-
stellvertretend für beinahe alles stehen wird, was tes Verhältnis: Mit weiser Beschränkung soll man
die Pädagogik an Abgründigem zu bieten hat. Da- sie anwenden, denn Prügel «sollen vorbereitend
bei ging es Rutschky um die Darlegung und Auf- dienen», um «die Tore des Herzens zu sprengen»,
arbeitung einer ganz bestimmten historischen zumal «wahrhaft pädagogische Schläge» es gut
Phase mit den in jener Zeit trotz Aufklärung ver- meinen (Rutschky 1977, S. 430–437).
breiteten und allgemein legitimierten pädagogi- Religiöse Weltbilder spielen dabei eine wich-
schen Praktiken. Gewiss wollte sie als Vertreterin tige Rolle: Das Böse wird in der kindlichen Natur
der 68er-Generation mit ihrer historischen Antho- verortet, weshalb es nur durch Erziehung erlöst
logie auch in die damals (1977) aktuelle erzie- und zum Guten geführt werden kann. Und gera-
hungswissenschaftliche Diskussion eingreifen und dezu obsessiv ist «der sexuellen Neugier der Kin-
die eben erst vergangene menschenverachtende der» zu begegnen.
NS-Erziehungsideologie der Vätergeneration indi- Schliesslich gilt es, den totalitären Erziehungs-
rekt ins Visier nehmen. Heute, knapp 50 Jahre anspruch hervorzuheben: Der Erzieher sieht im
später, haben wir es allerdings in Bezug auf den Kind den potenziellen Feind, weshalb er seine
pädagogischen Zeitgeist mit einer ganz anderen Aktivitäten dauernd kontrollieren muss. Am bes-
Stimmungslage zu tun: Während die pädagogi- ten lässt sich diese Kontrolle und zugleich der An-
sche Aufbruchstimmung der 1970er-Jahre ganz im spruch, aus den Kindern bessere Menschen zu
Zeichen der Reformpädagogik gegen autoritäre machen, in geschlossenen «pädagogischen Son-
Praktiken stand, taucht der Begriff heute eher im derwelten» für die besonders «gefährdeten»
Zusammenhang mit dem Wiederherstellen von Kinder realisieren und legitimieren. In den zahl-
Autorität angesichts eines generell diagnostizier- reichen im 19. Jahrhundert gegründeten Rettungs-
ten Erziehungsnotstandes auf. häusern zeigt sich besonders deutlich die pädago-
Es lohnt sich durchaus, einige Kerngedanken gische Ambivalenz eines zugleich utopischen und
der von Rutschky unter dem Leitbegriff Schwarze totalitären Erziehungsanspruchs, der oft an ideo-
Pädagogik zusammengestellten bürgerlichen Er- logisch-religiöser Überfrachtung wie auch an prak-
ziehungsliteratur aus dem 18. und 19. Jahrhundert tischer Überforderung scheiterte. Gerade in der
zu rekapitulieren. Eher überraschend geht es da- Heimerziehung setzte sich dieses problematische,
bei zunächst und sehr zentral um die Abkehr von paternalistisch-autoritäre Erziehungsverständnis
den brutalen Züchtigungen und Zwangsmassnah- trotz erschütternden Selbstzeugnissen eines C. A.
men, wie sie in der vorbürgerlichen Gesellschaft Loosli2 oder der literarischen Aufarbeitung in «Die
gang und gäbe waren. Dort wurde der Kindheit Fertigmacher» von Arthur Honegger3 bis in die
generell kein besonderer Status zugesprochen, 70er-Jahre des 20. Jahrhunderts fort. Erst mit der
wie vom Historiker Philippe Ariès in seinen For- Heimkampagne, einer vorwiegend von jugendli-
schungen über die Geschichte der Kindheit hin- chen Heiminsassen angestossenen und von pro-
länglich belegt worden ist. gressiven Politiker*innen und Expert*innen unter-
stützte Bewegung, erfolgte die nötige Zäsur. Aber
Unterwerfung des Kindes es dauerte nochmals Jahre, bis ein tiefer greifen-
Zwei in dieser Zeit geradezu obsessiv verfolgte des Umdenken zu effektiven Reformen führte.
Kerngedanken beinhalten die Unterwerfung des
Kindes unter den Willen des Erziehers1 und das Schädlicher Umgang
nunmehr erzieherisch legitimierte Strafen bei Un- Inwiefern können wir heute noch von Schwar-
gehorsam – und zwar beides zum Guten des Kin- zer Pädagogik als Metapher für einen fehlgeleite-
des. Es soll mithin den Sinn der Strafe einsehen ten, in der Wirkung negativen und schädlichen
und diese innerlich befürworten. Alles, was ihm Umgang mit Kindern und Jugendlichen sprechen?
weh tut, geschieht ja zu seinem Besten, und es ist Sicher, es gibt nach wie vor auch im Feld der pro-
eigentlich der Erzieher, der am meisten darunter fessionellen Erziehung Auswüchse und «Unkultu-
leidet. Dazu gehört die Maxime, dass sich der stra- ren» (Dörr und Herz 2010), vor allem, wenn es um
fende Erzieher zu keinen spontanen affektiven schwierige oder gar «systemsprengende» Kinder
Ausbrüchen hinreissen lässt, gleichzeitig aber und Jugendliche geht. Auch die nach wie vor in
auch nicht aus Mitleid auf strenges Strafen verzich- gewissen Fachkreisen hochgeschätzte Konfronta-
tet. So wird denn auch vom Erzieher Selbstbeherr- tive Pädagogik muss sich kritische Fragen in Bezug
schung und die Abwehr eigener Gefühle verlangt, auf demütigende und intrusive Praktiken gefallen
die sich allerdings nicht selten umso mehr in Form lassen.
Fokusthema 14 SozialAktuell | April 2021
Während direkte körperliche Gewalt inzwi- einer simplen schwarz-weissen Pädagogik ist
schen delegitimiert ist und höchstens insgeheim den Anforderungen nicht beizukommen.
oder in Situationen vollkommener Überforde-
rung zur Anwendung kommt, ist gewaltförmiges Not und Angst der Kinder begreifen
Handeln in schwierigen Erziehungssituationen Es macht aber einen grossen Unterschied, ob
keineswegs verschwunden. Anstelle von Strafen man davon ausgeht, mit scheinbar geeigneten
ist allerdings unter Beizug objektivierender Techniken und Programmen eine äussere Ver-
Sprachcodes eher von «notwendigen Sanktio- haltensänderung herbeiführen zu können und
nen» und «konsequentem Handeln» die Rede, sich damit zufrieden gibt, oder ob man sich auf
werden Time-out-Räume angeordnet oder ein die Ursachen und Gründe für das unerwünschte
zusätzliches Verhaltensprogramm gestartet. Verhalten von Kindern und Jugendlichen ein-
Kennzeichnend ist, dass dem adressierten Kind lässt. Zum Letzteren gehört, im Erleben der
wenig Raum zum Widerspruch bleibt und damit eigenen Grenzen, Enttäuschungen und Ohn-
auch sein Subjektstatus zur Disposition steht. machtsgefühle etwas von der Not und Angst der
Damit wird nach wie vor ein einseitiger Machtan- betreffenden Kinder und Jugendlichen zu be-
spruch postuliert. greifen – und damit auf elementare Weise die
Sicher wird auch heute niemand immer auf Erfahrung von Anerkennung zu ermöglichen
Zwang verzichten können, müssen Machtkämp- und wo irgend möglich Gelegenheiten zu Neu-
fe mit Kindern und Jugendlichen ausgetragen anfängen zu geben.
werden, braucht es ein erwachsenes Gegenüber, Das alles bedingt aber auch ein geschärftes
das Grenzen setzen und gegenwirken kann. Mit Bewusstsein darüber, wie wichtig es ist, sich auf
15 SozialAktuell | April 2021
Fussnoten
1 Die männliche Form steht in Einklang mit dem Quellenmaterial.
2 Der Schweizer Schriftsteller und Journalist wurde 1877 unehelich geboren und ver-
brachte mehrere Jahre in Jugendanstalten. In seinem Werk prangerte er das Anstalts-
wesen an und setzte sich für die Schaffung eines Jugendstrafrechts ein.
3 Mit seinem Buch «Die Fertigmacher» hat Arthur Honegger in der Schweiz die Ver-
dingkinder-Justiz mit in Gang gebracht.
4 Am 1. und 2. Dezember 1970 fand im Gottlieb-Duttweiler-Institut in Rüschlikon eine
legendäre Tagung mit ca. 500 Teilnehmenden unter dem Titel «Erziehungsanstalten
unter Beschuss» statt.