Sie sind auf Seite 1von 3

16 T I T E LT H E M A

Schreien und Flüstern


Eine historische Analyse der Beziehung zwischen
Sprechstimme und Gesang
von Nicholas Isherwood

Im Kapitel 1 meines Buches „Die Techniken des Gesangs“ (Bärenreiter Verlag, 2014) werden die drei Ausdrucksebenen
Sprechen, Singen und Schreien beschrieben. Doch woher kommen diese Effekte und wie gelangten sie in die Vokalkunst?
Wurden sie etwa von zeitgenössischen Komponisten erfunden? Oder haben sie historische Wurzeln? Wenn das der Fall
sein sollte: Welche Verbindungen gibt es zwischen Vergangenheit und Gegenwart?

Schreien zart ein grida forte (schreit laut) vor. Es wäre unlogisch,
Mit Schreien meine ich eine unkontrollierte, freie, ge- wenn der Bariton diesen Satz rufen würde, aber den
steigerte Lautäußerung, wie sie das Wort scream auf letzten hohen Ton auf „Ah!“ normal sänge, bevor er zur
Englisch sehr schön lautmalerisch erfasst. Es ist meis- Hölle fährt. Die Aufführungspraxis bestätigt das auch.
tens sehr hoch. Schauspieler schreien, seit es Theater Desgleichen bringen extreme Emotionen Wozzeck zu
gibt. Es ist schwer sich vorzustellen, wie die Griechen höchster stimmlicher Ekstase, als er „Mörder“ auf dem
ohne Schreien ihre gewaltigen Tragödien interpretieren hohen F ruft. In Borodins „Boris Godunov“ ruft der
konnten. Zanni, der Diener der commedia dell’arte hat Bassist in der Uhrszene immer „Tschur!“, als er das blu-
bestimmt geschrien, als er geschlagen wurde mit einem tige Kind sieht. Im 20. Jahrhundert ist es Charles Ives,
battoccio. Aus der commedia dell’arte ist die komische der das Rufen in seine Werke hineinkomponiert. In
Oper hervorgegangen. Die Walküren wiederum ma- seinem Lied „They are there“ schreibt er auf das Wort
chen eine Art Geschrei, als sie „Hojotoho“ kreischen shout die Aufführungsanweisung yell vor, auf hohem G.
in Wagners „Die Walküre“. Auch wenn es nicht no- Es gibt eine Aufnahme, wo Ives das Lied selbst singt
tiert ist, so schreit Cavaradossi meistens in der Folter- und spielt – wobei er fast das ganze Lied hindurch ruft.
kammerszene in Puccinis Oper „Tosca“. Bei Bellini (Il Und schließlich schreibt selbst der korrekte Boulez
Pirata) findet man con grido und con un grido. In der quasi crié in seiner Komposition „Le Marteau sans Maî-
neuen Musik hingegen ist das Schreien oft ausnotiert. tre“ vor, ein Glissando vom hohen G bis zum tiefen E.
Zum Beispiel in Ligetis Oper „Le Grand Macabre“ -
von den nach dem zweiten Weltkrieg komponierten Bel Canto
Opern die am häufigsten aufgeführte. Hier findet Das Bindeglied zwischen Sprechgesang und Rufen bil-
man 74 Anweisungen für Schreien und Rufen, bei- det das Singen. Belcanto heißt bekanntlich „schöner Ge-
spielsweise: „schreien“; „schreien, doch die Tonhöhe sang“ und beschreibt zunächst lediglich eine ästhetische
beibehaltend“; „unartikulierter Schrei“; „hysterischer Kategorie des Gesanges. Der Wunsch schön zu singen,
Todesschrei“; „kreischen“; laut jammern“; „heulen“; mit einem vibrierenden Klang, der vom Timbre her aus-
„grölen“; schreien wie ein Feldwebel“; „wie ein Hah- geglichen ist von den tiefsten bis zu den höchsten Tö-
nenschrei“; „ekstatisches Brüllen“; „im Sprechgesang nen, beherrscht seit Jahrhunderten die Vokalkunst und
rufend“; „im Befehlston schrill frei schreiend“; „sehr gilt auch heute noch als ästhetische Norm. Dieser schlie-
hohe, schrille Schreie wie von merkwürdigen Raub- ßen sich jedoch bei weitem nicht alle Komponisten an.
vögeln oder einer phantastischen Möwenart“. Scelsi’s Iannis Xenakis zum Beispiel hat schönen Gesang immer
unnotiertes Geschrei in „Maknongan“ (einer von meh- gehasst - er wollte einen rauen Klang, ohne vibrato.
reren Fehlern in der Partitur von Salabert) „wie einer,
der erschrocken ist im Dschungel oder ein Geschrei aus Presque parlé (Fast gesprochen)
eine andere Welt“ wie der Komponist es beschrieb, ist In „Trei II“ (1983) schreibt Michael Jarrell presque parlé,
auch merkwürdig. In Xenakis „Aïs“ wiederum gibt es genau wie Meyerbeer (siehe unten), um eine Ausdruck-
ein „cri horrible“ (entsetzlicher Schrei). sebene zu beschreiben, die zwischen Sprechgesang und
Singen liegt. Er beschreibt den Sprechgesang als „auf
Rufen notierte Tonhöhen sprechen“, ebenso wie Dallapiccola
Mit Rufen meine ich ein kontrolliertes Schreien. Ru- (siehe unten). Jarrells Sprechgesang ist mit Kreuzen auf
fen kann man auf notierten Tonhöhen oder ganz frei. den Notenknöpfen notiert. „Fast gesprochen“ notiert
Die ganze Schluss-Szene zwischen Don Giovanni und er mit normalen Notenköpfen und ein Kreuz auf dem
Komtur sollte gerufen sein. Für den Moment, als der Notenstiel.
Komtur Giovanni an die Hand nimmt, schreibt Mo-

VOX HUMANA 12.1 | 02.2016


T I T E LT H E M A 17

Sprechgesang Rhythmisch sprechen


Arnold Schönberg hat Sprechgesang nicht als Erster Im Frankreich des 18. Jahrhunderts war es durchaus
komponiert, sondern es war Humperdinck in der Erst- üblich, die Kantaten nicht nur zu singen, sondern
fassung seiner Oper „Königskinder“ (1897). Doch er rhythmisch zu sprechen. Die französische Musik die-
strich diese Notation in einer späteren Fassung und ver- ser Epoche kommt direkt von der Rhetorik her (siehe
wendete den Begriff „Sprechgesang“ nicht. Woher also Patricia Ranums Standardwerk zu diesem Thema „The
kommt „Sprechgesang“? Harmonic Orator“). Die Begleitung blieb gleich, aber
Die opera seria, wie jeder weiß, entstand in Florenz der Interpret hatte zu sprechen. Ähnlich ist es bei den
Anfang des 17. Jahrhunderts. Um altgriechisches The- „Melodrammen“ des 19. und 20. Jahrhunderts. Auch
ater zu imitieren, sollten die Sänger recitar cantando hier tendiert die Stimmtechnik in Richtung Gesang,
(singend spielen). Wir werden nie genau wissen, wie doch sie muss projiziert werden, vor allem bei Orches-
das klang, aber wahrscheinlich doch mehr nach „Pi- terbegleitung und unverstärkter Stimme. Das heißt,
errot Lunaire“ als nach „Tristan“. Textverständlich- es wird dieselbe Stütze und Positur wie beim Gesang
keit war hier sehr wichtig. Auch das recitativo secco des angewendet. „L’Histoire du Soldat“ von Stravinsky
18. Jahrhunderts lebt vom Sprechgesang. Wenn man ist ein gutes Beispiel von komponiertem „rhythmisch
Bruno Walters Liveaufnahme aus Salzburg (1937) Sprechen“.
mit Virgilio Lazzari (Leporello) und Ezio Pinza (Don
Giovanni) hört, erlebt man die beste Aufnahme die- Sprechen
ser Oper - auch wegen der hervorragenden Kunst, re- Sprecherziehung ist für Sänger sehr wichtig Lehrer da-
citativi secchi zu interpretieren, ein fabelhaftes Beispiel für gibt es leider nur in deutschsprachigen Ländern,
von Sprechgesang. Luigi Dallapiccola (1904-1975) hat aber jeder Gesangslehrer weiß, wie wichtig es ist, mit
Sprechgesang einfach und deutlich so definiert: „Spre- der Sprechstimme zu arbeiten. Vor 1700 war die Gren-
chen Sie auf den angegebenen Tonhöhen.“ Schönbergs ze zwischen Sänger und Schauspieler nicht sehr deut-
Bemerkungen in einem Brief an Jemnitz Sándor sind lich. Alle Schauspieler sollten singen können, alle Sän-
ebenso deutlich: „Nur eines muß ich sofort und mit ger schauspielern. Die Darsteller der commedia dell’arte
aller Entschiedenheit sagen: Pierrot Lunaire ist nicht zu zum Beispiel konnten alle singen. Man sprach, aber
singen! Gesangsmelodien müssen in einer ganz anderen nicht ausschließlich. Sprechpartien tauchen haupt-
Weise ausgewogen und gestaltet werden als Sprechme- sächlich in komischen Werken auf, opéra comique und
lodien. Sie würden das Werk vollkommen entstellen, Singspiel sind anders als Oper, gerade weil es Sprechan-
wenn Sie es singen ließen, und jeder hätte recht, der teile gibt. Berühmte Repertoire-Opern wie „Carmen“
sagte: so schreibt man nicht für Gesang!“ Das gilt auch (in der Urfassung) und „Die Zauberflöte“ haben lange
für recitativi secchi. gesprochene Passagen, und die Partie von „Bassa Selim“
in „Die Entführung aus dem Serail“ wird von einem
Schauspieler gesprochen. Von 1806-1934 hieß das
Conservatoire National Supérieur de Paris „Conserva-
toire de Musique et de Déclamation“ (Hochschule für
„Nichts Neues unter der Sonne“ Musik und Deklamation).
Ekklesiastes 1:9
Nach 1912 (Uraufführung der Oper „Pierrot Lu-
naire“), sind die Grenzen zwischen Sänger und Schau-
spieler erneut nicht deutlich. Es gibt zahlreiche Werke
für Sprecher: ein Darsteller, der weder Sänger noch
Die Sprechstimme hat ein bestimmtes Timbre, und Schauspieler ist. Der ideale Sprecher soll entweder ein
wir sprechen ohnehin immer auf Tonhöhen, deren Sänger sein, der auch Schauspieler oder ein Schauspie-
Frequenzen man leicht mit einem Rechner messen ler, der ein hervorragender Musiker ist. Ansonsten wür-
kann. Vor dem 20. Jahrhundert haben viele Sänger de man entweder einen Sänger hören, der eine lächerli-
dieses Timbre auf bestimmten Tonhöhen benutzt, che, „singende“, opernmäßige Bühnensprache benutzt
ohne das es notiert wurde. Ein gutes Beispiel dafür ist oder einen Schauspieler, der nicht im richtigen Takt
Fyodor Chaliapins Aufnahme der Uhrszene aus Boris spricht oder nicht hörbar ist. Das Sprechen ist auch nö-
Godunov oder auch „Boris Tod“. Es ist kein Wunder, tig für Werke wie Berios „Sequenza III“, in der alle in
dass wir im Zusammenhang mit Sprechgesang auf diesem Aufsatz beschriebenen Techniken vorkommen.
Chaliapin kommen, der seine Stimmkunst auch im Es ist wichtig, „normal“ zu sprechen und richtig auf
Theater in Sankt Petersburg lernte, indem er Schau- belcanto-Art zu singen, damit die verschiedenen Farben
spieler beobachtete und imitierte. Manchmal haben gut durchkommen.
auch Komponisten von romantischer Musik Sprech-
gesang mehr oder weniger notiert, zum Beispiel Flüsternd singen
Meyerbeer in „Robert le Diable“ (1831) und „Les Der von Karlheinz Stockhausen mit „flüsternd singen“
Huguenots“, (1836) wo er presque parlé vorschreibt. notierte Effekt ist ein behauchtes Singen. Auch wenn
Das bedeutete wahrscheinlich ein Klang, ähnlich dem es nie notiert ist, so benutzen viele Barockexperten Luft
„Sprechgesang“.
VOX HUMANA 12.1 | 02.2016
18 T I T E LT H E M A

im Stimmklang, um Texte über Seufzen, Sterben oder berühmten Passage seiner Oper „Pierrot Lunaire“ („mit
auch Vergnügen zu interpretieren. Auch Liedsänger einem phantastischen Mondstrahl“).
verwenden manchmal einen behauchten Stimmklang.
Sogar in der Oper, bei der Darstellung des Sterbens Bei Puccini denkt man selten an einen Komponisten der
zum Beispiel kommt etwas Luft in den Ton. Avantgarde. Mit seiner Oper „La Fanciulla del West“ ist er
Wie bei vielen anderen Effekten in diesem Aufsatz liegt es aber, überraschenderweise. Diese Oper wurde zwei Jah-
der Unterschied in der Notation. Früher wurde „flüs- re früher als „Pierrot Lunaire“ (La Fanciulla della Luna?)
ternd singen“ nicht notiert. Die Sänger konnten es nach komponiert (1910), und man findet darin fast alle Effekte
freiem Ermessen in ihre Interpretationen einbinden. Im notiert, die in diesem Aufsatz vorkommen:
20. Und 21. Jahrhundert hingegen ist es häufig notiert.
S chreien: con un grido strozzato (ersticktes Schreien)
Bühnenflüstern o brutalmente gridando (gewaltig schreien)
Alle Schauspieler flüstern leicht stimmhaft, um das Rufen: gridando (viele Beispiele)
Flüstern bis in die letzte Reihe des Saales hörbar zu Rufen auf Tonhöhen: chiamando (Rufen) auf no-
machen. Auf diese Weise wird auch in der Oper geflüs- tierten Tönen
tert oder noch häufiger in der commedia dell’arte, wo es Bel Canto: selbstverständlich bei Puccini
oft Szenen gibt, in denen die Figuren mit dem Publi- Sprechgesang: quasi parlato (fast gesprochen) mit
kum oder zu sich selbst reden – auch dort flüstert man notierten Tonhöhen, viele Beispiele
stimmhaft. In der neuen Musik ist diese Vortragstech- Presque Parlé wie bei Meyerbeer (siehe oben)
nik häufig beschrieben mit „stimmhaftes Flüstern“, Rhythmisches Sprechen: parlato (ohne Tonhöhen
„Gemurmel“ oder, wie Luciano Berio in sein „Sequen- aber mit Rhythmen)
za III“: „hauchiger Klang, fast geflüstert“. Sprechen: parlato (nur mit Text)
Flüsternd Singen: quasi parlato, sottovoce (fast ge-
Flüstern auf Tonhöhen sprochen, sottovoce) auf notierten Tonhöhen.
Wenn nur Luft vorkommt, aber auf genauen Ton- Bühnenflüstern: mormorato sommesso (nur Text)
höhen, handelt es sich um „flüstern auf Tonhöhen“. Stimmloses Rufen: a voce bassa aber forte
Wenn man versucht, eine Skala auf „sch“ zu flüstern,
kann man die Tonhöhen deutlich hören, auch wenn Auch wenn es nicht direkt mit diesem Aufsatz zu tun
keine Stimme dabei ist. Schon in Alban Bergs Oper hat, lohnt es sich zu bemerken, dass Puccini ähnliche
„Wozzeck“ wird das auf diese Weise notiert. Berg no- Aufführungsanweisungen benutzt wie später Berio in
tiert ein hohes D als Sprechgesang (Kreuz) „laut geflüs- seiner Sequenza III: imbarazzato, provocante, ironico,
tert“. Es gibt auch ein crescendo! con indifferenza, ridendo, ostile, sorridendo, confuso,
sommesso, risoluta, malinconica, con grande passione,
Stimmloses Rufen riflettendo, sdegnosa sind nur einige Beispiele davon.
Man ruft genau wie beim weiter oben beschriebenen
Rufen, aber stimmlos (geflüstert). Die Intensität soll Nur wenn man die Kunst der Übergänge von Schreien
so groß sein wie beim Rufen, auch wenn es natürlich auf Flüstern gut beherrscht, kann man von den viel-
nicht so laut sein kann. Bei all diesen Flüstereffekten ist fältigen Klangmöglichkeiten der menschliche Sprech-
eine Mikrofonverstärkung sehr zu empfehlen. stimme und Singstimme gleichermaßen profitieren.
Solche Farben existieren, seit die Menschen mit der
Flüstern Stimme musizieren. In der neuen Musik werden die-
In kleinen Sälen haben die Schauspieler immer ge- se meistens nicht nur als Interpretationswahl gelassen,
flüstert. Die Kunst darin besteht in der Dosierung der sondern ausnotiert.
Luft (ebenso wie beim „flüsternd singen“). Richtig zu
flüstern bedeutet klanglos, nur mit Luft zu artikulie-
ren. „Tonlos geflüstert“ schreibt Schönberg in einer

Nicholas Isherwood
Nach seinem Debüt als “Lucifer” in Stockhausens Donnerstag aus Licht in Covent Garden
hat Nicholas Isherwood ein breites Repertoire in zahlreichen Theatern auf vier Kontinenten
gesungen. Sein Schwerpunkt liegt in der neuen Musik, wo er mit Sylvano Bussotti, Elliott
Carter, George Crumb, Hans Werner Henze, Mauricio Kagel, György Kurtág, Steve Lacy,
Olivier Messiaen, Giacinto Scelsi und Iannis Xenakis gearbeitet hat. Innerhalb dieser Zu-
sammenarbeit entstanden 60 CD- Einspielungen. Sein Buch “Die Techniken des Gesangs”
erschien 2014 im Bärenreiter Verlag. Er ist Professor für Gesang in der Conservatoire Nati-
onal Supérieur de Lyon. www.nicholasisherwood.com

VOX HUMANA 12.1 | 02.2016

Das könnte Ihnen auch gefallen