Beruflich Dokumente
Kultur Dokumente
Herausgegeben von
Roland Borgards, Esther Köhring
und Alexander Kling
Reclam
Inhalt
IMMANUEL KANT
Metaphysik der Sitten (1797) 68
ARTHURSCHOPENHAUER
Preisschrift über die Grundlage der Moral (1841) 74
WALTER BENJAMIN
Franz Kafka (1934) 86
NORBERT ELIAS
Über das Essen von Fleisch (1939) 95
GEORGES BATAILLE
Die Animalität (1948/1973) 119
Inhalt 5
EMMANUEL LEVINAS Einführung
Nom d'un chien oder das Naturrecht (1963) 129
MICHEL FOUCAULT
Die Ordnung der Dinge (1966) 136 Von Roland Borgards, Alexander Kling
und Esther Köhring
JEAN BAUDRILLARD
I
Die Todesstrafe (1976) 146
Was ist Tiertheorie? Um sich dieser Frage anzunähern, ist es
SARAH KOFMAN
hilfreich, die Tiertheorie mit der Tierethik und der Tierphilo-
Katze und Schrift (1976) 153 sophie in Beziehung zu setzen. Die Tierethik fragt danach, wie
wir als Menschen gegenüber und mit Tieren handeln sollen.'
JOHN BERGER Die Tierphilosophie erweitert diesen Fragehorizont: Können
Warum sehen wir Tiere an? (1977) 163 Tiere denken (Geist der Tiere)? Besteht ein grundlegender Un-
terschied zwischen Tieren und Menschen (anthropologische
GILLES DELEUZE / FELIX GUATTARI Differenz)? Und dann erst: Welche Maximen sollen unseren
Intensiv-Werden, Tier-Werden, Unwahrnehmbar- Umgang mit Tieren bestimmen (Tierethik)?' Die Tiertheorie,
Werden (1980) 191 wie sie in der vorliegenden Anthologie Gestalt annimmt,
zeichnet sich gegenüber der Tierethik und der Tierphilosophie
BRUNO LATOUR durch eine leichte Verschiebung der Perspektive aus. Sie be-
Das Parlament der Dinge. Für eine politische Ökologie denkt grundsätzlich die Voraussetzungen, die den wissen-
(1999) 218 schaftlichen wie den praktischen, den fiktionalen wie den fak-
tischen, den philosophischen wie den politischen Zugriffen
GIORGIO AGAMBEN
aufTiere zugrunde liegen.
Das Offene. Der Mensch und das Tier (:woz) 240
Im Zuge dieser Perspektivverschiebung bleiben zunächst
einmal all jene Texte, die um tierphilosophische und tierethi-
JACQUES DERRIDA
sche Probleme kreisen, auch für die Tiertheorie von Interesse,
Das Tier, das ich also bin (zo06) 262
etwa Descartes' Discours de la Methode (Bericht über die Me-
DONNA HARAWAY thode) oder Schopenhauers Preisschrift über die Grundlage der
Die Begegnung der Arten (2009) 290
1 Vgl. z.B. Ursula Wolf, Ethik der Mensch-Tier-Beziehung, Frankfun
Zitierte Literatur 327 a.M.zo12.
Z Vgl. zu diesen .drei Feldern der Tierphilosophie. Markus Wild, Tier-
philosophie zur Einführung, Hamburg zo08, S. 19-31.
6 Inhalt Einführung 7
Bruno Latour wird von ihm also dort positioniert, wo der von menschlichen
und nicht-menschlichen Wesen artikulierte Ruf nach einer
Der Soziologe Bruno Latour (*1947) ist einer der Begründer der neuen Verfassung sich nicht mehr llbereinigen« lässt.
Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT). Die ANT kritisiert wissen- Als zentralen Aspekt der neuen Verfassung benennt Latour
schafrliche top down-Verfahren, die bereits im voraus den on- eine Erweiterung der Bürgerrechte: Menschliche und nicht-
tologischen Status ihrer Untersuchungsgegenstände - z. B. menschliche Wesen sind gleichermaßen als handelnde Ak-
Menschen, Tiere, Dinge - fesrlegen. Dem setzt die ANT ein teure eines Kollektivs oder Netzwerks anzuerkennen; die asym-
bottom up-Verfahren entgegen, das Vor-Urteile über die zu metrische Verteilung von Handlungspotentialen muss aufge-
untersuchenden Gegenstände vermeidet und auf diese Weise geben werden. Dass diese Asymmetrie ohnehin nicht der
deren ontologischen Status nicht als Ausgangs-, sondern als Wirklichkeit entspricht, belegt er am Beispiel von Kröten, die
Zielpunkt wissenschaftlicher Praxis versteht. Die Tiere stehen sich in ihrem Laichverhalten an veränderte Umweltbedingun-
damit auf einer Ebene mit den übrigen Untersuchungsgegen- gen gewöhnen - Handeln geschieht in Netzwerken, neue Ver-
ständen; sie erhalten (wie auch die Dinge) einen Stellenwert, netzungen produzieren neues Handeln. Von diesem Punkt
der in der traditionellen Soziologie ausschließlich dem Men- ausgehend kann Latour ein 11 kollektives Experimentieren« for-
schen vorbehalten war. Diese Aufwertung erklärt, warum La- dern, das die »Kompatibilität« der Akteure erprobt und dem-
tours Konzepte von den Cultural Animal 5tudies umfangreich entsprechend die Organisation der Netzwerke gestaltet. Fern-
rezipiert wurden, obwohl sie nicht dezidiert auf Tiere ausge- ab einer anti-fortschrittlichen Haltung der Ökologie plädiert
richtet sind. er somit für eine Herstellung von Zukunft: IIGaia ist nicht
Politiques de la nature ist das Manifest einer gegen die »gro- Mutter Erde [00'], sondern bestenfalls unsere ferne Ur-Ur-
ße Trennung« gerichteten 11 politischen Ökologie«(, Die Ilgroße Nichte«.'
Trennung« beruht nach Latour auf einer Reihe von Opposi- Latours Manifest leistet Spracharbeit auf zwei Ebenen: Zum
tionspaaren, die in nahezu allen Tiertheorien in irgendei- einen werden Begriffe der modernen Verfassung auf ihren
ner Form eine Rolle spielen: Subjekt vs. Objekt, Freiheit vs. Ausschlusscharakter befragt und anschließend entweder neu
Notwendigkeit, Handeln vs. Kausalität, Kulturpluralismus vs. definiert oder durch andere ersetzt. Zum anderen ist der Text
Naturmonismus. Die Genealogie der Ilgroßen Trennung« ver- durchzogen von einer massiven Rhetorik, die mit politischen
knüpft Latour einerseits mit der abendländischen Metaphysik, Metaphern ihre theoretische Überzeugungskraft zu entfalten
so dass sich ihre Anfange bis in die Antike (Sokrates, Platon, sucht. Mit dieser zweiten, nicht offen reflektierten Ebene
Aristoteles) zurückverfolgen lassen. Andererseits gewinnt sie, zeigt sich indes ein in der Tiertheorie häufig diskutiertes
so Latour, ab der frühen Neuzeit (Descartes, Hobbes, Boyle) methodisches Problem: Konfrontiert man Latours Konzepte
ihre volle Geltungskraft und wird dadurch zum Kern der »mo- mit sprachorientierten Ansätzen (wie Foucault oder Derrida),
dernen Verfassung«. In der Tatsache, dass sich mit der ANT ein stellt sich die Frage, inwieweit etwa der Akteur-Status von
Gegenmodell zur »großen Trennung« etabliert hat, sieht er ei-
nen Beleg für die Abschwächung ihrer Geltungskraft. Die ANT 1 Latour 2010, S. 251.