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Texte zur Tiertheorie

Herausgegeben von
Roland Borgards, Esther Köhring
und Alexander Kling

Ruhr- Uni'l1e~'s~HH r;nchum


Institut für Medienwissenschaft

Reclam
Inhalt

RECLAMS UNIVERSAL-BIBLIOTHEK Nr.19178 Einführung 7


Alle Rechte vorbehalten
ARISTOTELES
© 2015 Philipp Reclarnjun. GmbH &. Co. KG, Stuttgart
Gestaltung: Cornelia Feyll, Friedrich Forssman Politik (um 335 v. Chr.) 25
Gesarntherstellung: Iteclarn, Dit2ingen. Printed in Germany 2015
MICHEL DE MONTAIGNE
RECLAM, UNIVERSAL-BIBLIOTHBK und
Apologie für Raymond Sebond (1580) 38
RBCLAMS UNIVBRSAL-BIBLIOTHBK sind eingetragene Marken
der Philipp Reclamjun. GmbH &. Co. KG, Stuttgart RENE DESCARTES
ISBN 978-3-15-019178-1 Bericht über die Methode (1637) 55
www.reclam.de
JEREMY BENTHAM

Eine Einführung in die Prinzipien der Moral


und der Gesetzgebung (1789) 63

IMMANUEL KANT
Metaphysik der Sitten (1797) 68

ARTHURSCHOPENHAUER
Preisschrift über die Grundlage der Moral (1841) 74

WALTER BENJAMIN
Franz Kafka (1934) 86

NORBERT ELIAS
Über das Essen von Fleisch (1939) 95

MAX HORKHEIMER / THEODOR W. ADORNO


Mensch und Tier (1944) 104

GEORGES BATAILLE
Die Animalität (1948/1973) 119

Inhalt 5
EMMANUEL LEVINAS Einführung
Nom d'un chien oder das Naturrecht (1963) 129

MICHEL FOUCAULT
Die Ordnung der Dinge (1966) 136 Von Roland Borgards, Alexander Kling
und Esther Köhring
JEAN BAUDRILLARD
I
Die Todesstrafe (1976) 146
Was ist Tiertheorie? Um sich dieser Frage anzunähern, ist es
SARAH KOFMAN
hilfreich, die Tiertheorie mit der Tierethik und der Tierphilo-
Katze und Schrift (1976) 153 sophie in Beziehung zu setzen. Die Tierethik fragt danach, wie
wir als Menschen gegenüber und mit Tieren handeln sollen.'
JOHN BERGER Die Tierphilosophie erweitert diesen Fragehorizont: Können
Warum sehen wir Tiere an? (1977) 163 Tiere denken (Geist der Tiere)? Besteht ein grundlegender Un-
terschied zwischen Tieren und Menschen (anthropologische
GILLES DELEUZE / FELIX GUATTARI Differenz)? Und dann erst: Welche Maximen sollen unseren
Intensiv-Werden, Tier-Werden, Unwahrnehmbar- Umgang mit Tieren bestimmen (Tierethik)?' Die Tiertheorie,
Werden (1980) 191 wie sie in der vorliegenden Anthologie Gestalt annimmt,
zeichnet sich gegenüber der Tierethik und der Tierphilosophie
BRUNO LATOUR durch eine leichte Verschiebung der Perspektive aus. Sie be-
Das Parlament der Dinge. Für eine politische Ökologie denkt grundsätzlich die Voraussetzungen, die den wissen-
(1999) 218 schaftlichen wie den praktischen, den fiktionalen wie den fak-
tischen, den philosophischen wie den politischen Zugriffen
GIORGIO AGAMBEN
aufTiere zugrunde liegen.
Das Offene. Der Mensch und das Tier (:woz) 240
Im Zuge dieser Perspektivverschiebung bleiben zunächst
einmal all jene Texte, die um tierphilosophische und tierethi-
JACQUES DERRIDA
sche Probleme kreisen, auch für die Tiertheorie von Interesse,
Das Tier, das ich also bin (zo06) 262
etwa Descartes' Discours de la Methode (Bericht über die Me-
DONNA HARAWAY thode) oder Schopenhauers Preisschrift über die Grundlage der
Die Begegnung der Arten (2009) 290
1 Vgl. z.B. Ursula Wolf, Ethik der Mensch-Tier-Beziehung, Frankfun
Zitierte Literatur 327 a.M.zo12.
Z Vgl. zu diesen .drei Feldern der Tierphilosophie. Markus Wild, Tier-
philosophie zur Einführung, Hamburg zo08, S. 19-31.

6 Inhalt Einführung 7
Bruno Latour wird von ihm also dort positioniert, wo der von menschlichen
und nicht-menschlichen Wesen artikulierte Ruf nach einer
Der Soziologe Bruno Latour (*1947) ist einer der Begründer der neuen Verfassung sich nicht mehr llbereinigen« lässt.
Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT). Die ANT kritisiert wissen- Als zentralen Aspekt der neuen Verfassung benennt Latour
schafrliche top down-Verfahren, die bereits im voraus den on- eine Erweiterung der Bürgerrechte: Menschliche und nicht-
tologischen Status ihrer Untersuchungsgegenstände - z. B. menschliche Wesen sind gleichermaßen als handelnde Ak-
Menschen, Tiere, Dinge - fesrlegen. Dem setzt die ANT ein teure eines Kollektivs oder Netzwerks anzuerkennen; die asym-
bottom up-Verfahren entgegen, das Vor-Urteile über die zu metrische Verteilung von Handlungspotentialen muss aufge-
untersuchenden Gegenstände vermeidet und auf diese Weise geben werden. Dass diese Asymmetrie ohnehin nicht der
deren ontologischen Status nicht als Ausgangs-, sondern als Wirklichkeit entspricht, belegt er am Beispiel von Kröten, die
Zielpunkt wissenschaftlicher Praxis versteht. Die Tiere stehen sich in ihrem Laichverhalten an veränderte Umweltbedingun-
damit auf einer Ebene mit den übrigen Untersuchungsgegen- gen gewöhnen - Handeln geschieht in Netzwerken, neue Ver-
ständen; sie erhalten (wie auch die Dinge) einen Stellenwert, netzungen produzieren neues Handeln. Von diesem Punkt
der in der traditionellen Soziologie ausschließlich dem Men- ausgehend kann Latour ein 11 kollektives Experimentieren« for-
schen vorbehalten war. Diese Aufwertung erklärt, warum La- dern, das die »Kompatibilität« der Akteure erprobt und dem-
tours Konzepte von den Cultural Animal 5tudies umfangreich entsprechend die Organisation der Netzwerke gestaltet. Fern-
rezipiert wurden, obwohl sie nicht dezidiert auf Tiere ausge- ab einer anti-fortschrittlichen Haltung der Ökologie plädiert
richtet sind. er somit für eine Herstellung von Zukunft: IIGaia ist nicht
Politiques de la nature ist das Manifest einer gegen die »gro- Mutter Erde [00'], sondern bestenfalls unsere ferne Ur-Ur-
ße Trennung« gerichteten 11 politischen Ökologie«(, Die Ilgroße Nichte«.'
Trennung« beruht nach Latour auf einer Reihe von Opposi- Latours Manifest leistet Spracharbeit auf zwei Ebenen: Zum
tionspaaren, die in nahezu allen Tiertheorien in irgendei- einen werden Begriffe der modernen Verfassung auf ihren
ner Form eine Rolle spielen: Subjekt vs. Objekt, Freiheit vs. Ausschlusscharakter befragt und anschließend entweder neu
Notwendigkeit, Handeln vs. Kausalität, Kulturpluralismus vs. definiert oder durch andere ersetzt. Zum anderen ist der Text
Naturmonismus. Die Genealogie der Ilgroßen Trennung« ver- durchzogen von einer massiven Rhetorik, die mit politischen
knüpft Latour einerseits mit der abendländischen Metaphysik, Metaphern ihre theoretische Überzeugungskraft zu entfalten
so dass sich ihre Anfange bis in die Antike (Sokrates, Platon, sucht. Mit dieser zweiten, nicht offen reflektierten Ebene
Aristoteles) zurückverfolgen lassen. Andererseits gewinnt sie, zeigt sich indes ein in der Tiertheorie häufig diskutiertes
so Latour, ab der frühen Neuzeit (Descartes, Hobbes, Boyle) methodisches Problem: Konfrontiert man Latours Konzepte
ihre volle Geltungskraft und wird dadurch zum Kern der »mo- mit sprachorientierten Ansätzen (wie Foucault oder Derrida),
dernen Verfassung«. In der Tatsache, dass sich mit der ANT ein stellt sich die Frage, inwieweit etwa der Akteur-Status von
Gegenmodell zur »großen Trennung« etabliert hat, sieht er ei-
nen Beleg für die Abschwächung ihrer Geltungskraft. Die ANT 1 Latour 2010, S. 251.

216 Bruno Latour Bruno Latour 217


Tieren selbst Effekt einer diskursiven, dezidiert menschlichen doch wer ist auf das Gegenteil aus? Wer wollte diese Defini-
Praxis ist. tion umstoßen? Wer wollte ihre Grundlage zerstören? Wir
(AK) ordnen uns gerne in die lange und verehrungswürdige Tradi-
tion dieser Grundsätze ein, in der ständig erweitert wurde, was
Bruno Latour: Das Parlament der Dinge. Für eine politische Ökologie. menschlich, Bürgerrecht, Freiheit, Rede und Zugehörigkeit
Aus dem Frz. itbers. von Gustav Roßler. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, zum Gemeinwesen hieß. Und noch ist die Geschichte nicht zu
2010. S.103-110, 11,6-119, 122, 248-250. - © der deutschen Ausgabe Ende. Denn mit ihrer gleichzeitigen Erfindung von Wissen-
Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2009. - Mit Genehmigung von schaft und Demokratie haben uns die Griechen ein Problem
Editions la Decouverte, Paris. vermacht, das bisher ungelöst blieb. Die Erkundung neuer
(Orig.-Ausg.: Politiques de la Nature. Paris 1999.)
Stimmapparate zur Berücksichtigung aller nicht-menschlichen
Wesen untersagen zu wollen, obwohl wir diese so oder so
schon auf tausenderlei Art und Weise sprechen lassen, würde
im Gegenteil bedeuten, die altehrwürdige Tradition aufLuge-
BRUNO LATOUR ben und wirklich wild zu werden. Denn nach der Definition
von Aristoteles ist der Barbar derjenige, der die repräsenta-
Das Parlament der Dinge. Für eine tiven Versammlungen nicht kennt oder ihre Bedeutung und
politische Ökologie (1999) Umfang durch Vorurteil einschränkt; durch eine unanzweifel-
bare Macht glaubt er die langsame Arbeit der Repräsentation
[ ... ) abkürzen zu können. Wir wollen also keineswegs das Erreich-
Leicht ließe sich einwenden, daß trotz aller unserer Verren- te rückgängig machen, sondern werden im Gegenteil die Aus-
kungen es immer noch der Wissenschaftler ist, der spricht. weitung der Rede auf nicht-menschliche Wesen als Zivilisa-
Mag man auch bereit sein, wissenschaftliche Kontroverse und tion bezeichnen und endlich das Problem der Repräsentation
polirische Diskussion in einer einzigen Arena zusammenzu- lösen, durch das die Demokratie, kaum war sie erfunden, auf-
bringen, so dürfte einer wilden Ausweitung der Rede auf die grund der gleichzeitigen Gegen-Erfindung »den Wissenschaft
Dinge doch eher mit Mißtrauen begegnet werden. Es ist ihrer Macht beraubt wurde.
schließlich immer noch der Mensch, der palavert. Darin liegt Wir sind uns gleichwohl der Schwierigkeit bewußt: Indem
nicht nur eine in der, Praxis unüberwindliche Asymmetrie, wir die Rede, die Sprachverlegenheiten, neu verteilen, haben
sondern auch eine Asymmetrie dejure, wenn die herausragen- wir einen ersten Gegensatz entdramatisiert, den zwischen
de Stellung der Menschen aufrechterhalten und jene wunder- stummen Entitäten und sprechenden Subjekten. Dem zivilen
bare Definition vom "politischen Tier« bewahrt werden soll, Leben zurückgegeben, können die demobilisierten Menschen
die seit der Antike dem öffentlichen Leben als Grundlage und nicht-menschlichen Wesen ihre Objekt- und Subjekt-
dient: Weil er frei auf der Agora spricht, hat der Mensch - an- Uniformen ablegen und sich gemeinsam an der Republik be-
fangs nur der männliche Stadtbürger - Bürgerrecht. Nun gut, teiligen. Noch sind wir jedoch nicht am Ende unserer Mühen,

218 Bruno Latour Das Parlament der Dinge 219


denn wir müssen weiterhin sehr viele andere Merkmale dieser sein verbunden oder durch eine dialektische Bewegung »aufge-
Kriegsindustrie auf zivile Zwecke umstellen, bevor wir über hoben« werden müßten, sondern haben einzig den Zweck,
annähernd vorzeigbare »Bürgen< verfügen. Nicht nur mit Spra- den Ball jeweils ins andere Lager zurückzuschlagen und dieses
che müssen sie begabt sein, sondern auch in der Lage, zu han- ständig auf dem »Quivive« zu halten. über die Subjekte läßt
deln und sich zu Assoziationen zu formieren; und schließlich sich nichts sagen, das nicht zur Erniedrigung des Objekts bei-
müssen wir im folgenden Unterkapitel noch einen Körper für trägt; nichts über die Objekte, das nicht das Subjekt beschämt.
sie finden. Stützte sich die politische Ökologie auf diese Begriffe, sie gin-
Um die Natur dieser zu sammelnden Wesen zu begreifen, ge auf der Stelle an dem Widerstreit zugrunde, auf den sie
müssen wir uns vollständig vom Gegensatz zwischen zwei ihre Sache gestellt hat. Wollte sie den »Widerspruch« durch
Versammlungstypen frei machen. Nur so läßt sich das gemein- eine wundersame Verschmelzung aufheben, sie stürbe noch
same Metier von Ökologie und Politik bestimmen. Man wird schneller, vergiftet durch eine ihrer Physiologie widerspre-
vielleicht einwenden, daß es trotz allem )IDinge« und »Leute« chende Gewalt.' Um es noch einmal anders zu sagen: Subjekte
gibt, denn auch wir verwenden noch die Ausdrücke Menschen
1 Ich habe bemerkt, daß eine Diskussion über den Verzicht auf die Un-
und nicht-menschliche Wesen. Selbst wenn wir die Aufmerk-
terscheidung zwischen Objekt und Subjekt offenbar nie Anklang fin-
samkeit auf die ihnen gemeinsamen Stirnrnapparate verschie- den kann, denn die meisten Leser, die in die deutsche Philosophie
ben, selbst wenn wir, um sie zusammenzurufen, die Verfahren hineingerochen haben, glauben, die Aufgabe sei bereits - mit der dia-
verschmelzen, von denen die einen dem Laboratorium ent- lektischen Bewegung - von Hegel und seinen Nachkommen erledigt
stammen, die anderen den repräsentativen Versammlungen, worden. Nicht nur löst die Dialektik das Problem nicht, sie macht es
so wendet sich unser Blick doch wie in einem Tennisinatch sogar unlösbar, denn aus dem Widerspruch zwischen Subjekt und
bald zur einen Seite, den Objekten, dann wieder zur anderen, Objekt wird der Motor der Geschichte oder gar des Kosmos. Damit
den Subjekten. Es gibt demnach noch kein gemeinsames Ge- werden die Artefakte modernistischen Denkens auf die Welt selbst
biet von Wissenschaften und Politik. Jeder kümmere sich um ausgeweitet. Kein Anthropomorphismus ist so absolut wie jener, de.r
seine Angelegenheiten, und es wird dem Ganzen zum Besten das gesamte Universum die kategorialen Irrtümer einiger Wissen-
schaftsphilosophen teilen läßt. Das Vorgehen läßt sich gut erkennen
gereichen! Wie sollte man je dahin gelangen zu glauben, diese
in einem Absatz von Hegels Enzyklopädie, in dem er Kam dafür kri-
beiden Begriffe müßten verschmolzen werden, wo doch ihr tisiert, den Widerspruch auf das Denken beschränkt zu haben, an-
Gemenge stets nur ein abscheulicher meltingpot sein wird, ein statt iIm in die Dinge hineinzuverlegen: »Das weltliche Wesen soll
Monster, noch merkwürdiger als die eben inszenierte Rede der es nicht sein, welches den Makel des Widerspruchs an ihm habe,
nicht-menschlichen Wesen! Worin sollte denn dieser gemein- sondern derselbe nur der denke'nden Vernunft, dem Wesen des Geis-
same Grundstock bestehen, mit dem es der Beruf des Wissen- tes, zukommen ... Aber wenn nun das weltliche Wesen mit dem
schaftlers wie der Beruf des Politikers zu tun hat? geistigen Wesen verglichen wird, so kann man sich wundern, mit
Das Bild vom Tennisspiel ist so schlecht nicht. Die Begriffe welcher Unbefangenheit die demütige Behauptung aufgestellt und
Subjekt und Objekt verweisen gerade nicht aufisolierte Reali- nachgesprochen wurde, daß nicht das weltliche Wesen, sondern
tätsbereiche, die anschließend durch ein überlegenes Bewußt- das denkende Wesen, die Vernunft, das in sich widersprechende sei.

~~o Bruno Latour Das Parlament der Dinge Ul


und Objekte gehören nicht zum Pluriversum, das eine neue Positionen, eine tieferliegende Ungewißheit, so verweist auch
Metaphysik erhalten soll. »Subjekt« und »Objekt« sind Be- das Paar menschlich/nicht-menschlich nicht auf eine Eintei-
zeichnungen für repräsentative Versammlungen, die sich nie- lung von Wesen im Pluriversum, sondern auf eine Ungewiß-
mals im selben Raum versammeln dürfen, damit sie nicht ge- heit, einen tieferliegenden Zweifel an der Natur der Handlung,
meinsam zum gleichen Ballhausschwur schreiten können. auf ein ganzes Spektrum von Positionen in Versuchen, durch
Nicht wir werfen diese Begriffe in die politische Diskussion. die ein Akteur definiert werden kann.
Sie sind es scho~ seit jeher. Sie sind dazu geschaffen worden, Beginnen wir mit der Evidenz des gesunden Menschenver-
sich gegenseitig Angst einzujagen. Als einzige Frage bleibt standes, von dem wir uns dann nach und nach zu entfernen
dann, ob dieser gegenseitige Ekel beendet werden kann und versuchen werden. Traditionellerweise unterscheidet man auf
um sie herum sich ein anderes öffentliches Leben aufbauen der einen Seite den sozialen Akteur, der mit Bewußtsein, Spra-
läßt. che, Willen und Intention begabt ist, und auf der anderen das
An diesem Wendepunkt können wir den gewaltigen Unter- Ding, das kausalen Determinationen unterliegt. Auch wenn
schied zwischen dem Bürgerkrieg des Gegensatzes Subjekt/ ein Akteur oft bedingt, ja determiniert ist, wird man sagen,
Objekt und der Zusammenarbeit des Begriffspaars mensch- daß er sich dennoch durch seine Freiheit definiert, während
lich/nicht-menschlich verstehen. Wie schon der Begriff der ein Ding nur Kausalketten gehorcht.' Von einem Ding läßt sich
Rede im vorigen Unterkapitel nicht jemand bezeichnen sollte, nicht sagen, es sei Akteur, jedenfalls nicht sozialer Akteur,
der über ein stummes Ding sprach, sondern eine Sprachver- denn im eigentlichen Wortsinn handelt es nicht. Es wird ver-
legenheit, eine Redeschwierigkeit, ein Spektrum möglicher ursacht.
Diese Definitionen paralysieren verständlicherweise die
(G. W. F. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften politische Ökologie. Denn sie verpflichten dazu, zwischen
[1830], Hamburg 1991, 8. erw. Aufl., S.73. § 48). Kant hat vielleicht zwei katastrophischen Lösungen zu früh zu wählen, von de-
den Fehler begangen, einen Widerspruch, der [... J von der Unfahig- nen beide das Vokabular der beiden unzulässigen Versamm-
keit der Modernen herrührt, die politische Ordnung zu denken, in lungen verwenden: Naturalisierung auf der einen Seite, Verge-
das Denken hineinzuverlegen, doch zumindest hat er die Weisheit
sellschaftung auf der anderen [...]. Entweder wird, um die Pro-
besessen, die Welt nicht mit ihm zusammen phantasieren zu lassen.
Diese Zurückhaltung kennt Hegel leider nicht, und so beginnt bei
bleme des Planeten zu regeln, das Ding als Modell aufdie ganze
ihm das ganze Universum sich in den völlig unwahrscheinlichen For- Biosphäre einschließlich des Menschen ausgeweitet, doch
men der Objektivität, der Subjektivität und der Geschichte des Geis- dann gibt es keine menschlichen Akteure mehr, die mit Frei-
tes zu bewegen. Wer ist naiver? Wir sollten die Höflichkeit besitzen, heit und Willen begabt sind, um auszuwählen und zu ent-
die Assoziationen von Menschen und nicht-menschlichen Wesen 2 Harry Collins und Martin Kusch sind innerhalb der science studies in
nicht in diese Kriege hineinzuziehen. Ein großer Teil der Philosophie der Analyse dieser Dichotomie am weitesten gegangen und bieten
der Ökologie bewahrt leider in vulgarisierter Form immer noch den die gründlichste Argumentation dazu: Harry Collins / Martin Kusch,
Ehrgeiz, .den Widerspruch zwischen Mensch und Natur« aufzu- The Shape of Actions. What Humans and Machines Can Do, Cam-
heben [... J. bridge, Mass. 1998.

222 Bruno Latour Das Parlament der Dinge 223


scheiden, was zu tun und was zu lassen ist. Oder es wird um- wurmstichig und hat nur Bestand durch die Polemik, für die
gekehrt das Modell des Willens auf alles ausgeweitet, ein- sie sich noch eine Zeitlang gebrauchen läßt. Losgelöst vom An-
schließlich des Planeten, doch dann gibt es nicht mehr die spruch, Realitätsbereiche zu beschreiben, reduzieren sich »Ob-
rohen, unanfechtbaren nicht-menschlichen Tatsachen, durch jekt« und »Subjekt« auf einander widerstreitende Rollen, die
die sich die Vielfalt der Gesichtspunkte zum Schweigen brin- sich der unterstellten Monstrosität ihres Gegenübers entge-
gen läßt, die sich alle im Namen ihrer jeweiligen Interessen genstemmen sollen. Was ist ein Subjekt? Was der Naturalisie-
gleichermaßen 7;um Ausdruck bringen. Man sollte nicht davon rung widersteht. Ein Objekt? Was der Subjektivierung wi-
ausgehen, für die politische Ökologie gäbe es einen goldenen dersteht. Wie die kriegerischen Zwillinge der Mythologie sind
Mittelweg und sie könne ein wenig Naturalisierung mit etwas beide die Erben der Aufteilung in zwei ohnmächtige Ver-
Vergesellschaftung mischen, denn dann müßte sie eine Gren- sammlungen, die wir weiter oben aufgegeben haben. Wenn
ze zwischen der unausweichlichen Notwendigkeit der Dinge wir die Verfassung ändern, werden wir entdecken, wie wir uns
und den Freiheitsansprüchen der sozialen Akteure ziehen. Da- ebenfalls vom ermüdenden Widerstreit der Objekte und Sub-
mit würde das Problem als gelöst vorausgesetzt, denn die poli- jekte befreien können.
tische Ökologie wüßte nun, was die Akteure sind, was sie wol- Wenn Sie Ihre Freiheit betonen, und man erzählt Ihnen mit
len, was sie können und was die Dinge und ihre Kausalitäts- einer gewissen Arroganz, daß Sie in Wirklichkeit nur ein Sack
ketten sind. Durch welches Wunder sollte sie die Dichotomie Aminosäuren und Proteine sind, so werden Sie sich dieser Re-
beherrschen? Von woher sollte sie diese absolute Macht bezie- duktion selbstverständlich empört widersetzen und sehr ver-
hen? Entweder aus der Natur oder aus der Gesellschaft. Doch nehmlich die unveräußerlichen Rechte des Subjekts hervorhe-
um dieses absolute Wissen hervorzubringen, das die Grenze ben. »Der Mensch ist kein Ding!~~ werden Sie ausrufen und mit
zwischen »)Dingen« und »Menschen« zieht, hätte die politische der Faust auf den Tisch hauen. Und Sie haben recht. Sollten Sie
Ökologie schon zwischen Naturalisierung und Vergesellschaf- dann wiederum die unbestreitbare Gegebenheit einer Tatsache
tung, zwischen Ökologie und Politik wählen müssen. Ohne in betonen, und man hält Ihnen mit einer gewissen Arroganz
einen Widerspruch zu geraten, kann sie nicht beides gleichzei- vor, daß Sie die Tatsache durch Ihre Vorurteile konstruiert ha-
tig tun. Dadurch ist sie seit ihrem Auftauchen dermaßen insta- ben und diese angebliche Tatsache eine »bloße soziale Kon-
bil und schwankt unvermittelt zwischen totaler Macht und struktion« darstellt, so werden Sie sich dieser Reduktion heftig
ebenso totaler Ohnmacht hin und her. Unserer Ansicht nach widersetzen und sehr deutlich die Autonomie der Wissen-
befindet sich die politische Ökologie nicht mehr im Wider- schaft gegenüber allen Pressionen der Subjektivität hervorhe-
spruch mit sich selbst, wenn sie nicht länger glaubt, sie habe es ben. »Das sind die Tatsachen, daran läßt sich nicht rütteln!«
mit ))Dingen« zu tun oder mit »Menschen« oder mit beiden werden Sie sagen und abermals mit der Faust auf den Tisch
gleichzeitig. hauen. Und wieder haben Sie recht. Um einem Monstrum
Glücklicherweise hat diese ehrwürdige Unterscheidung auszuweichen, sind Sie jeweils bereit, ein anderes zu verteidi-
nicht die Solidität, die ihr die Patina der Jahrhunderte zu ver- gen, doch dieser doppelte Widerstand ist eine Notlösung. Um
leihen scheint. Um es ganz deutlich zu sagen: Sie ist reichlich sich in solche Schlachten zu werfen und seine Faust durch das

224 Bruno Latour Das Parlament der Dinge 225


dauernde Auf-den-Tisch-Hauen zu ermüden, muß das zivile Wirkungen, die sich keineswegs auf das bislang unter dem
Leben schon ganz schön heruntergekommen sein; man muß Subjektbegriff vorgesehene Handlungsspektrum reduzieren
eingewilligt haben, in die Höhle hinabzusteigen und sich dort lassen. Wir erkennen hier die riskanten Verwicklungen [...)
anzuketten. wieder, deren rasche Vermehrung vom Ausmaß der ökologi-
Nehmen wir nun einmal an, wir sähen uns einer Assoziati- schen Krisen zeugt, wie wir gesagt haben.
on von Menschen und nicht-menschlichen Wesen gegenüber, Anstatt daß Ihnen also ein Objekt oder Subjekt an den Kopf
deren genaue Zusammensetzung noch unbekannt ist. Nach geworfen wird, auf das Sie reagieren müssen, werden Ihnen in
einer Reihe von Versuchen läßt sich von ihr sagen, daß sie han- ziviler Weise Assoziationen von Menschen und nicht-mensch-
delt, d. h. ganz einfach, daß sie durch eine Folge von elemen- lichen Wesen im Zustand der Ungewißheit präsentiert - kein
taren Transformationen, die in einem Versuchsprotokoll aus- Grund mehr, sich zu empören und einer der beiden Formen
führbar sind, andere Akteure modifiziert. Dies ist die minimale, von Realismus folgend mit der Faust auf den Tisch zu hauen. 4
weltliche, nicht mit widerstreitenden Kategorien behaftete Keine unbestreitbare Rede kann Sie mehr auf den Zustand ei-
Definition für etwas, das handelt. 3 nes Dings reduzieren. Der Mechanismus der Rede ist im Ge-
Haben wir es hier mit Objekten zu tun? Keineswegs. Jedes genteil sehr sichtbar und an vollständig explizite Kontroversen
nicht-menschliche Wesen, das ein Kandidat auf Existenz ist, gebunden. Es geht nicht mehr darum, ein traditionellerweise
wird begleitet von einem Gefolge von Weißkitteln und vielen mit dem Subjekt assoziiertes Handlungsspektrum durch ein
anderen Professionellen, die mit dem Zeigefinger auf Instru- engeres Handlungsspektrum zu ersetzen, auf das ersteres sich
mente, Situationen, Protokolle deuten, ohne daß schon zu un- reduzieren ließe. Im Gegenteil, mit den sich uns präsentieren-
terscheiden wäre, wer da spricht und mit welcher Autorität. Es den Assoziationen soll die erste Liste durch eine längere Liste
gibt wohl Akteure, oder zumindest, um diesem Wort jede von Handlungskandidaten ersetzt werden. Schmälert die Sicht-
Spur von Anthropomorphismus zu nehmen, Aktanten, Agie- barkeit des Redemechanismus die Qualität der vorgebrachten
rende, Interferierende. Handelt es sich um Subjekte? Eben- Äußerungen? Werden diese aufeine soziale Konstruktion, auf
sowenig. Denn da sind Laboratorien, Stätten, Situationen, Vorurteile, Leidenschaften, Meinungen reduziert, so daß wir
gezwungen wären, uns gegen eine dominierende Subjektivität
3 Diese minimale Definition der Handlung hat schon vor langer Zeit zu empören? Nicht im geringsten, denn auch hier wieder sol-
Greimas in seiner Semiotik vorgeschlagen. Sie hat sich als sehr nütz- len die sich uns präsentierenden Assoziationen nicht die Liste
lich für die Emergenz neuer Akteure erwiesen, deren PerEormanzen der Handlungen auf die bereits registrierten Vorurteile, Inter-
(was sie in den Versuchen tun) immer ihren Kompetenzen (was sie
essen und sozialen Leidenschaften einschränken; sie schlagen
sind) vorausgehen. Siehe die zahlreichen Beispiele in: Latour, La sei-
ence en action, Paris 1995. Als bemerkenswerte Analyse der Ontolo-
gien, die für die neuen Akteure im Laboratorium charakteristisch 4 Für eine Anthropologie des Mit-der-Faust-auf-den-Tisch-Hauens
sind, siehe Hans-Jörg Rheinberger, Experimentalsysteme und episte- siehe den amüsanten Artikel von Malcolrn Ashrnore, Derek Edwards
mische Dinge. Eine Geschichte der Proteinsynthese im Reagenzglas, und Jonathan Potter, »The Bottom Line: the Rhetoric oE Reality De-
Göttingen 2.001. monstrations«, in: Configurations 1(1994) S.I-14.

2.2.6 Bruno Latour Das Parlament der Dinge 2.2.7


uns ganz einfach und sehr höflich vor, das Handlungsreper- nicht festumrissener Entitäten, die zögern, beben, perplex
toire durch eine längere Liste als die bisherige zu erweitern. machen, können wir ihnen ohne weiteres die Bezeichnung
Wir behaupten, daß der sehr harmlose Begriff einer kürze- Akteure zugestehen. Und wenn man den Begriff Assoziation
ren oder längeren Liste elementarer Aktionen oder Handlun- wörtlich nimmt, gibt es auch keinen Grund, ihnen die Be-
gen ausreicht, um die Karten zwischen Menschen und nicht- zeichnung sozialer Aleteure vorzuenthalten. Die Tradition ver-
menschlichen Wesen neu zu verteilen und diesem Begriffs- sagte ihnen diesen Begriff und beschränkte ihn auf Subjekte,
paar die endlo~e Schlacht zu ersparen, die sich Objekte und deren Handeln sich in der Welt entfaltete, in einem Rahmen,
Subjekte mit lautem Getöse liefern, erstere unter dem Banner einer Umgebung von Dingen. Wie wir jetzt sehen, hatte diese
der Natur, letztere als Gesellschaft gruppiert. Das Konzept ei- Restriktion jedoch keinen anderen Grund als die panische
ner längeren oder kürzeren Liste hat vor allem den bemerkens- Furcht, den Menschen auf ein Ding reduziert oder, umgekehrt,
werten Vorteil der Banalität. Es führt ein ziviles, bescheidenes, den Zugang zu den Dingen eingeschränlet zu sehen durch die
gewöhnliches Leben, fern des gewaltigen Aufsehens, das der Vorurteile sozialer Akteure. Um Verdinglichung wie soziale
nicht enden wollende kalte Krieg zwischen Objekt und Subjekt Konstruktion zu vermeiden, mußte nämlich die Grenze zwi-
erregt - und des noch erbitterteren Krieges, den die angebli- schen sozialen Akteuren und Objekten durch ständige Pa-
chen I/Überwinden des Gegensatzes zwischen Objekt und trouillen bewacht werden: Dies war die dürftige Triebkraft al-
Subjekt gegen alle anderen führen. ler der Höhle entstammenden Horrorfilme.
Jetzt wird deutlich, daß durch die Erweiterung des Kollek- Diese Ängste sind nicht mehr angebracht, wenn das, was an
tivs eine ganz andere Präsentation von Menschen und nicht- die Türe klopft, nicht länger die widerstreitende Fonn des
menschlichen Wesen möglich ist, als jener kalte Krieg zwi- stummen Objekts, sondern die ökologische Form 6 des per-
schen Objekten und Subjekten verlangt. 5 Dort wurde ein Null-
summenspiel gespielt: Was der eine verlor, gewann der andere,
6 Isabelle Stengers hat zur Charakterisierung ihres Projekts den Aus-
und umgekehrt. Menschliche und nicht-menschliche Wesen druck .Ökologie der Praktikem vorgeschlagen: siehe Stengers 1996
können sich hingegen summieren, ohne daß ihr Gegenüber [Isabelle Stengers, Cosmopolitiques I. La guerre des sciences, Paris
verschwinden müßte. Noch einmal anders formuliert: Objelete 1996]; siehe auch Isabelle Stengers, Die Erfindung der modernen Wis-
und Subjelete können sich nie assoziieren, Menschen und nicht- senschaften, [übers. von Eva Brückne.r-Thckwiller und Brigina
menschliche Wesen dagegen wohl. Sobald wir aufhören, die Restorff,] Frankfurt a.M. 1997. Doch man kann ebenso von Risiko
nicht-menschlichen Wesen für Objekte zu halten, wir ihnen sprechen wie Beck 1986 [Ulrich Beck, Risikogesellschaft. Auf dem
also Zugang gewähren zum Kollektiv in Form neuer, noch Weg in eine andere Moderne, Frankfurt a.M. 1986] oder von der Öf-
fentlichkeit wie Dewey 1996 [John Dewey, Die Öffentlichkeit und ih-
5 Der Begriffder Präsentation starrunt von Isabelle Stengers, Cosmopo- re Probleme (1927), übers. von Wolf-Dietrich Junghanns, Bodenheinr
litiques I- La guerre des sciences, Paris 1996. Er wird eine wesentliche 1996], der diese folgendermaßen definiert: .Die indirekt und ernst-
Rolle [...] spielen, um vermineis der Rolle der Diplomatie aus der lich - zum Guten oder zum Schlechten - Beeinflußten [Affizierten]
mononaturalistischen und multikulturalistischen Lösung hinauszu- bilden eine Gruppe, die hinreichend unterschieden ist, um Anerken-
finden. • nung und einen Namen zu fordern« (S. 44).

228 Bruno Latour Das Parlament der Dinge 229


plexen nicht-menschlichen Wesens aufweist, das mit dem lich geworden ist, was einst durch die Spaltung in zwei Kam-
Kollektiv in Beziehung tritt und von der komplexen Ausrüs- mern verboten war. Geben wir uns keiner Illusion hin: Die
tung der Laboratorien nach und nach sozialisiert wird. Nichts politische Ökologie wird nicht einfacher, sympathischer, länd-
ist einfacher, als die Listen der Aktanten zu verlängern, wäh- licher, bukolischer sein als die alte Politik mit ihren zwei Ver-
rend zwischen Objekten und sozialen Akteuren niemals Be- sammlungsorten. Sie wird gleichzeitig einfacher und kom-
ziehungen eingegangen werden konnten, ganz gleich, welche plizierter sein: einfacher, denn sie wird nicht mehr unter der
dialektischen I'<irouetten man sich abverlangte. Soziale Ak- ständigen Drohung einer doppelten Kurzsch1ießung durch
teure anderen sozialen Akteuren zu assoziieren ist hingegen Wissenschaft oder Gewalt leben. Aber auch sehr viel kompli-
eine Aufgabe, die scho~ sehr viel machbarer erscheint, die gut zierter, und aus demselben Grund: da diese Abkürzungen
zu bewerkstelligen und jedenfalls nicht mehr verboten ist. nicht mehr möglich sind, wird sie wieder damit anfangen müs-
I···) sen, nach und nach die gemeinsame Welt zusammenzusetzen,
Indem wir die Kompetenzen der Rede, Assoziation und d. h., Politik zu machen, eine Aktivität, die man sich zuletzt ein
Realität unter Menschen und nicht-menschlichen Wesen ver- wenig abgewöhnt hatte, dermaßen ließen sich durch das Ver-
teilt haben, haben wir dem Anthropomorphismus der 0 bjekt/ trauen in )}die« Wissenschaft die Verbindlichkeiten endlos vor
Subjekt-Dichotomie ein Ende gesetzt, durch den alle Entitäten sich her schieben, im Glauben, die gemeinsame Welt sei unter
zu einem Kampf um die Kontrolle der gemeinsamen Welt an- den Auspizien der Natur bereits im wesentlichen konstituiert.
gehalten waren. Eine alternative, großzügigere, umfassendere Wie sollen wir die Assoziationen von Menschen und nicht-
Metaphysik haben wir gar nicht vorgeschlagen, sondern nur menschlichen Wesen bezeichnen, die auf dem Wege sind, sich
vermieden, die Metaphysik der Natur zum Ausgangspunkt für zu versammeln? Der Begriff des )}Bürgers«, den wir bislang
die einzige mögliche politische Organisation zu nehmen. In verwendet haben, war wirklich ungeschickt, denn niemand
unserer Einberufung des Kollektivs sind wir demnach weiter- kann sich vorstellen, ein schwarzes Loch, einen Elefanten, eine
gekommen, denn wir wissen nun, welchen Riten sich die ehe- mathematische Gleichung oder einen Flugzeugmotor mit ei-
maligen Subjekte und Objekte künftig unterziehen müssen, nem wohltönenden )}Bürgenc zu begrüßen! Wir brauchen ei-
um ihre Waffen abzugeben und die Fähigkeit wiederzuerlan- nen neuen Ausdruck, der nicht nach Ancien Regime riecht und
gen, sich gemeinsam zu versammeln. Nachdem wir Rede, As- mit dem wir in einem die Sprachverlegenheiten, die Ungewiß-
soziierung und Widerständigkeit neu unter ihnen verteilt ha- heiten über die Handlungsträgerschaft sowie die variablen
ben, werden sie langsam ihre Sprache wiederfinden können. Realitätsgrade zusammenfassen können, die von nun an das
Im übrigen garantiert nichts, daß die Versammlung einen Zivilleben definieren. Wir haben hierfür das Wort Propositio-
guten Verlauf nehmen wird, daß alle sich in einem ökume- nen gewählt; wir werden dementsprechend sagen, daß ein
nischen Woodstock zu Ehren Gaias wiederfinden werden. Fluß, eine Elefantenherde, ein Klima, EI Niiio, ein Bürgermeis-
Noch haben wir nicht die geringste Vorstellung von den Kon- ter, eine Kommune, ein Park dem Kollektiv Propositionen un-
sequenzen einer solchen Zusammenkunft und Ingangsetzung terbreiten (oder Vorschläge machen). Das Wort hat den Vor-
der Arbeit des Sammelns. Wir wissen bloß, daß wieder mög- teil, die Bedeutung der vier vorangegangenen Unterkapitel in

230 Bruno Latour Das Parlament der Dinge 231


sich zu vereinen: »Ich möchte Ihnen einen Vorschlag machen« der nur durch die dünne Brücke der Referenz überwunden
weist auf Unsicherheit und nicht auf Arroganz hin, auf das werden konnte - was jedoch nie so ganz gelang. Wir erwarten
Friedensangebot, das dem Krieg ein Ende setzt; Proposition nicht, daß das Wort Proposition uns auf Anhieb eine unmögli-
gehört zum Bereich der Rede, die inzwischen von Menschen che übereinkunft über eine alternative Philosophie der Er-
und nicht-menschlichen Wesen geteilt wird; der Ausdruck kenntrris liefert. Wir möchten einfach nur verhindern, daß die
kennzeichnet vortrefflich, daß es sich um eine neue und un- Wissenschaft heimlich die Hälfte des Geschäfts der politi-
vorhergesehene Assoziation handelt, die sich komplizieren schen Philosophie erledigt. Damit der logos ins Zentrum der
und erweitern wird; und schließlich, auch wenn er der Lingu- Stadt zurückkehrt, darf es nicht auf der einen Seite die Sprache
istik entstammt, ist er nicht allein auf die Sprache beschränkt und auf der anderen die Welt geben, während die Referenz
und kann dazu dienen, die Widerständigkeit von »Positionen« zwischen den beiden inkommensurablen Bereichen eine mehr
anzuzeigen, die man einnimmt und nicht aufgibt, wobei der oder weniger exakte Korrespondenz herzustellen versucht.
Wirklichkeit die eigensinnige Form der unbestreitbaren nack- Mit dieser dem Anschein nach harmlosen Lösung würde näm-
ten Tatsachen erspart bleibt. Wir gehen gar nicht so weit, zu lich der HöWenmythos nur in das Gebiet der Sprachphiloso-
behaupten, daß das Pluriversum aus Propositionen besteht, phie übertragen, zusammen mit seiner Dichotomie zwischen
sondern sagen nur, daß die Republik, um mit ihrer zivilen Ar- zwei unmöglich zu vereinbarenden Universen. Für die politi-
beit des Sammelns zu beginnen, anstelle der ehemaligen Sub- sche Ökologie gibt es keine Welt auf der einen und Sprachen
jekte und Objekte nur Propositionen berücksichtigen wird. auf der anderen Seite - genausowenig wie eine Natur und
Noch einmal: Es handelt sich hier weder um Ontologie noch mehrere Kulturen: Es gibt Propositionen, die darauf dringen,
gar um Metaphysik, sondern allein um politische Ökologie? Bestandteil desselben Kollektivs nach einem Verfahren zu
Mit dem Wort Proposition soll bloß das alte Regime der Aus- werden, das Gegenstand von Kapitel 3sein wird.
sage umgangen werden, d. h. die Rede der Menschen über eine [... ]
Außenwelt, von der sie durch einen Abgrund getrennt waren, Noch ein letztes Requisit fehlt, damit die Mitglieder dieses
neu einberufenen Kollektivs vollständig ausgerüstet sind. Die
7 Zur eigentlich metaphysischen Bedeutung der Propositionen siehe artikulierten Propositionen sollten eher Gewohnheiten als We-
Alfred North Whitehead, Prozeß und Realität. Entwurf einer Kos- senheiten haben. 8 Wenn das Kollektiv nämlich von unbestreit-
mologie [1929], [übers. von Hans Günter Holl,] Frankfurt a. M. 1984
(2. überarb. Aufl.). (Dort sind die ~propositions. allerdings mit ~Aus­ 8 Wunderbar kommentiert in Fran~ois Zourabichvili, Deleuze. Une
sagen« übersetzt. In de.r philosophischen Literatur zu Whitehead ist philosophie de l'evenement, Paris 1994, sofern Deleuze es nicht von
ebenfalls von ~Propositionen« die Rede. Traditionellerweise würde Gabriel Tarde hat: ~Seit Tausenden von Jahren katalogisiert man die
man ~proposition. im philosophischen Sprachgebrauch mit ~Urteil, verschiedenen Arten des Seins, die verschiedenen Grade des Seins,
Satz, propositio. übersetzen, in der Linguistik, Sprechakttheorie als ohne jemals auf die Idee gekommen zu sein, die verschiedenen Ar-
~Inhalt, Aussagegehalt eines Satzes•. Im Französischen klingt natür- ten, die verschiedenen Grade deI Besitznahme zu klassifizieren. Die
lich die Bedeutng .vorschlag« durch [u.], doch es durchgängig so zu Besitznahme ist jedoch die universale Tatsache, und es gibt keinen
übersetzen wäre zu gewollt. [...] Anm. d. Ü.) besseren Begriffals den des Erwerbs, um die Bildung und das Wachs-

232 Bruno Latour Das Parlament der Dinge 233


baren und festumrissenen Wesenheiten heimgesucht würde- der frontale Konflikt zwischen Froschlurchen und Autobah-
gleich ob von Naturkausalitäten oder menschlichen Interes- nen hatte seine Gestalt verändert ... Wie wir weiter unten se-
sen -, könnte keinerlei Verhandlung zu einem Ergebnis füh- hen werden, wird der Aufbau einer gemeinsamen Welt durch
ren: von den Propositionen ließe sich dann nichts anderes er- Experiment und Diskussion erst dann möglich, wenn die Mit-
warten, als daß sie bis zur Erschöpfung des Gegners beharrten. glieder akzeptieren, von einem Streit der Wesenheiten zu ei-
Alles ändert sich, wenn die Propositionen Gewohnheiten an- ner Vermittlung zwischen Gewohnheiten überzugehen.
genommen haben. Gewohnheiten kommt zwar das gleiche [... ]
Gewicht wie Wesenheiten zu, im Unterschied zu diesen kön- Die Dynamik des Kollektivs ist leichter zu charakterisieren,
nen sie jedoch, wenn es wirklich der Mühe wert ist, im Laufe wenn wir akzeptieren, sie an der Elle des kollektiven Experi-
des Verfahrens revidiert werden. Man erzählt zum Beispiel, mentierens zu messen als an der im Prinzip besseren, doch in
daß die auf Kröten spezialisierten Verhaltensforscher deren der Praxis nicht anwendbaren des Ancien Regime.
Lebensgewohnheiten in unbestreitbare Wesenheiten verwan- Als erstes stoßen wir wieder auf die Ökologie, die am Ur-
delt hatten, weshalb in die Autobahnböschungen kostspielige sprung dieses Buchs steht, ganz gleich, ob der wissenschaftli-
llKrötentunnel« eingebaut werden mußten, damit die Tiere chen oder politischen, der gelehrten oder populären, der fun-
zum Laichen an den Ort ihrer Geburt zurückkehren konnten. damentalistischen oder der oberflächlichen Ökologie. Wir
Es scheint, daß die Kröten, den Interpretationen Freuds un- müssen nicht mehr, wir haben häufig darauf hingewiesen, ein
treu, nicht wie die Menschen in ihre Geburtsgewässer zurück- für allemal sämtliche Bindungen definieren, durch die sich die
kehren wollten. Wenn sie nämlich einen Teich oder Ersatzwei- Beziehungen von Menschen und Dingen regulieren. Vor allem
her am Grunde der Böschung fanden, glaubten sie sich an ihre müssen wir nicht die angeblich llpolitischem und llanthropo-
Geburtsstätte zurückgekehrt, legten ihre unzähligen Eier und zentrischem Bande durch eine Ordnung der Dinge ersetzen,
sahen fortan davon ab, die kostspieligen und gefahrlichen Tun- durch eine natürliche Hierarchie, in der die Entitäten der
nel zu benutzen. Nach dem Experiment hatte sich der Ort der Wichtigkeit nach geordnet sind: von der größten - Gaia, Mut-
Laichstelle also von einer Wesenheit in eine Gewohnheit ver- ter Erde - bis zur kleinsten - der von seiner Hybris zur Weiß-
wandelt: Was nicht aushandelbar war, wurde aushandelbar; glut gebrachte Mensch. Wir können im Gegenteil Nutzen aus
der fundamentalen Entdeckung der ökologischen Bewegung
turn eines beliebigen Wesens zum Ausdruck zu bringen. Die Aus-
ziehen: niemand weiß, was eine Umwelt vermag; niemand
drücke Übereinstimmung und Anpassung, die von Darwin und Spen-
kann im vorhinein definieren, was der Mensch ist, losgelöst
cer in Mode gebracht worden sind, sind vager, mehrdeutiger, und mit
ihnen wird die universale Tatsache nur von außen erfaßt« (Tarde von dem, was ihn sein läßt. 9 Von Natur aus hat keine Macht das
1999 [Gabriel Tarde, Monadologie et sociologie, Paris 1999], S. 89). Das 9 Lovelock, der Erfinder der Gaia-Hypothese, hütet sich im übrigen
Argument verdankt sich keinem anti-essentialistischen Reflex: es wohl, aus Gaia eine bereits konstituierte Totalität zu machen. Seine
gibt sehr wohl Wesenheiten und Eigenschaften, doch nachher, nach- Bücher entfalten eher die allmähliche Zusammensetzung von Ver-
träglich, nachdem die Arbeit der Institutionen in aller Form erledigt bindungen zwischen wissenschaftlichen Disziplinen, von denen ei-
ist. ne jede mit einem Bezirk des Planeten befaßt ist und welche nach

234 Bruno Latour Das Parlament der Dinge 235


Recht, über die jeweilige Wichtigkeit und relative Hierarchie einen weiteren Versuch herausgefunden werden, wie die Zu-
der Entitäten zu entscheiden, aus denen sich zu einem gegebe- sammensetzung sich verhalten wird, wenn ein einziges ihrer
nen Zeitpunkt die gemeinsame Welt zusammensetzt. Doch Mitglieder nach außen verstoßen wird. Was wird beispiels-
was niemand weiß, können alle erproben, experimentieren, weise aus dem Mercantour ohne Wolf? Was ist ein Fisch ohne
sofern sie damit einverstanden sind, dem Pfad der Versuche zu Wasser? Was ein Maiserzeuger ohne geschützten Markt? Soll-
folgen und die Verfahren zu respektieren, die ja die bekannten ten uns dagegen Entitäten fehlen, so muß wieder mit der Ar-
Abkürzungen ausschließen. beit des Sammelns angefangen werden. Die Moral hat die
Aus dem gleichen Grund können wir wieder von Moral Richtung gewechselt: sie verpflichtet nicht zur Definition mo-
sprechen, ohne uns durch die Frage nach den Grundlagen para- ralischer Gründe, sondern dazu, die Zusammensetzung wie-
lysieren zu lassen. In wessen Namen soll im Mercantour der deraufzunehmen und so schnell wie möglich zur folgenden
Wolf dem Lamm vorgezogen werden? Im Namen welchen Runde überzugehen. Die Gründe befinden sich nicht hinter
Prinzips soll dem Schaf Dolly verboten werden, sich in Tau- uns, unter uns, über uns, sondern vor uns: unsere Zukunft be-
sende geklonte Kopien zu vervielfältigen? Durch welche steht darin, sie einzuholen. Dazu müssen wir das Kollektiv in
pflicht sind wir gehalten, das Wasser der Dröme eher den Fi- Alarmbereitschaft versetzen, um so schnell wie möglich die
schen vorzubehalten als der Bewässerung der von der Europä- Berufung der Ausgeschlossenen zu registrieren, die sich nicht
ischen Union subventionierten Maisfelder? Wir müssen nicht mehr definitiv ausschließen lassen, auch nicht durch irgendeine
mehr hin- und herschwanken zwischen dem unabweislichen Moral autorisiert. Jedes Experiment produziert Zurückgelasse-
Recht der Menschen - bis in ihre künftigen Generationen hin- ne, für die man eines Tages zahlen muß. Nie werden wir quitt
ein verlängert oder auch nicht - und dem unbestreitbaren sein. Es wird eine Sünde sein, den Lernprozeß ernstlich anzu-
Recht der .)Dinge selbst«, sich der Existenz zu erfreuen. Damit halten, auch wenn es im Namen unantastbarer moralischer
ändert sich die Fragestellung und lautet: Haben wir die Ge- Prinzipien geschehen sollte, die den Menschen unwiderruflich
samtheit dieser Wesen mit unseren Fangnetzen erwischt - und ohne ordentliches Verfahren definieren.'o Auch der Hu-
Lämmer, Bauern, Wölfe, Forellen, Subventionen und Fluß- manismus muß experimentell werden.
windungen? Wenn ja, muß jetzt die Kompatibilität all dieser [H']
Propositionen experimentell ausprobiert werden und durch
und nach mit Erstaunen entdecken, daß sie sich gegenseitig definie-
ren können: James Lovelock, Das Gaia-Prinzip: die Biographie unse- 10 Die Unterschiede zwischen einer am Gegenstand, an Verfahrens-
res Planeten, [übers. von Peter Gillhofer und Barbara Müller] Zürich/ weisen und an Handlungsfolgen orientierten Moral werden weni-
München 1991; James Lovelock, Unsere Erde wird überleben: Gaia, ger wichtig, wenn man das Kollektiv in seiner experimentellen Dy-
eine optimistische Ökologie, [übers. von Constanze lfantis-He=l namik betrachtet. Genauer besehen stehen die verschiedenen Schu-
München u. a. 1982.. Überspitzt gesagt ist die Gaia von Lovelock das len der Moralphilosophie weniger zueinander im Gegensatz, als daß
genaue Gegenteil der Natur und gleicht eher einem Parlament der sie verschiedene Segmente dieses Lernprozesses herausgreifen und
Disziplinen. jeweils deren Thgend charakterisieren.

2.36 Bruno Latour Das Parlament der Dinge 2.37

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