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Franco M Impellizzeri
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All content following this page was uploaded by Nicola Maffiuletti on 04 April 2015.
Biomechanische Aspekte
in der Rehabilitation des
Patellofemoralgelenks
Die Biomechanik des Patellofemoral- Funktion der Patella la gegen das Femur. Der M. vastus medi-
gelenks (PFG) ist komplex [1]. Die pa- alis obliquus (VMO) hat eine leicht abge-
tellofemoralen und tibiofemoralen Die primäre Funktion der Patella ist die winkelte Insertion und kann eher media-
Gelenke agieren in Synergie und sor- Unterstützung der Quadrizepsarbeit, in- lisierend wirken. Hehne [13] konnte in ei-
gen für reibungslose Bewegungsab- dem sie den Abstand des Extensorenap- ner biomechanischen Studie zeigen, wie
läufe. Die retropatellare Gelenkflä- parats zur Kniegelenkachse erhöht. Wäh- komplex die Kraftvektoren der Quadri-
che erfährt teilweise enorme Scher- rend ihrem ganzen Bewegungsumfang zepsanteile interagieren. Im Optimalfall
und Kompressionskräfte (wie beim kann die Patella die Kraft des Streckappa- können sich die resultierenden Kräfte in
Treppensteigen oder bei der Knie- rats um bis zu 50% erhöhen [22]. In vol- der Femur- und Tibiaachse halten und ga-
beuge), welche normalerweise durch ler Flexion (die Kniescheibe ist in der Tro- rantieren damit die Zentrierung der Patel-
die ossären und Weichteilstruktu- chlea eingebettet) ist der Beitrag der Pa- la. In diesem Zusammenhang sind auch
ren absorbiert und kontrolliert wer- tella zur Länge des Quadrizepshebelarms das mediale patellofemorale Ligament
den. Jegliche, auch nur eine kleine minimal (10%). Richtung Extension wird (MPFL) und die Retinacula (medial/late-
Störung (z. B. eine Knorpelläsion) dieser Beitrag größer (um ca. 30% bei 45° ral) von Bedeutung: diese Strukturen wer-
in diesem System führt zur Dekom- Flexion), wobei er aber in voller Streckung den von den Mm. vastii dynamisiert und
pensation dieser fein abgestimm- wieder abnimmt [17]. helfen bei der Stabilisierung und Führung
ten Belastungstoleranz [7]. Patello- Die Patella ist auch im Zusammen- der Patella (neben der Trochlea als wich-
femorale Schmerzen und Symptome hang mit der Quadrizeps- und Patellar- tigster Faktor) [1].
werden typischerweise durch belas- sehne wichtig: sie hilft in der „Zentralisie- Einige Erkenntnisse aus den letzten
tende Aktivitäten (Alltag, Sport) aus- rung“ aller Kräfte, die aus den verschie- Jahren sind für das Verständnis der Qua-
löst. Die umliegenden Weichteilstruk- denen Anteilen der vorderen Oberschen- drizepsfunktion von Bedeutung. Hubbard
turen (u. a. reich an freien Nerven- kelmuskulatur entstehen (auch die kapsu-
Tab. 1 Schwerpunkte in der Rehabilita-
endigungen) werden dabei entspre- läre Spannung wird dadurch kontrolliert). tion des patellofemoralen Gelenks.
chend deformiert/gereizt und kön- Die Gelenkfläche der Patella ist reich an (Mod. nach [29])
nen (wenn die Belastung supraphysi- hyalinem Knorpel und weist die dickste 1 Reduktion der Schwellung
ologisch ist) für den Patienten symp- Schicht im menschlichen Körper auf. Ei-
2 Reduktion des Schmerzes
tomatisch werden [3]. ne intakte Knorpelstruktur erlaubt so ei-
3 Verbesserung der Muskelaktivierung
ne optimale Übertragung der Scher- und
4 Berücksichtigung von biomechanischen
Bei einer konservativen oder postope- Kompressionskräfte in den subchond- Aspekten in der Übungsauswahl
rativen Behandlung versucht man die ralen Knochen und garantiert optimale 5 Kräftigung der Knieextensoren
Schmerzen/Symptome zu reduzieren und Bewegungsabläufe. 6 Verbesserung der Flexibilität (Weich
die Funktion wiederherzustellen. Beson- teile/Gelenk)
ders in der Frührehabilitation ist die Wahl Funktion des Quadrizeps 7 Verbesserung der Mobilität (Weichteile/
der Übungen, die mit minimaler Gelenk- Gelenk)
belastung verbunden sind, von Bedeu- Die verschiedenen Anteile der Quadri- 8 Verbesserung der neuromuskulären
tung. Um dieses Ziel zu realisieren, sind zepsmuskulatur stellen eine besonde- Kontrolle
spezifische Kenntnisse der Funktion und re Einheit dar: alle haben verschiedene 9 Normalisierung des Gangbildes
Biomechanik des PFG eminent wichtig Querschnitte und Insertionswinkel. Die 10 Korrektur von abnormaler Biomechanik
(. Tab. 1). Mm. vastii lateralis (VL) und vastii medi- der unteren Extremität
alis (VM) komprimieren wegen ihren dor- 11 Funktionelle Progression (Aktivitäten/
salen Lage zur Verlaufsrichtung die Patel- Übungen)
et al. [14] zeigten in einer Leichenstudie, turen sind. Im Gegensatz zur verbreite- us (VI, bei niedriger Intensität) und der
dass sowohl der VMO als auch der VML ten Meinung bezüglich der VM-Funkti- VL (bei hoher Intensität) die 2 Hauptmus-
(M. vastus medialis longus) keine signifi- on (aktiv während der letzten 30° der Ex- keln der Knieextension dar [30]. Außer-
kant abgrenzbaren anatomischen Struk- tension) stellen der M. vastus intermedi- dem zeigten Toumi et al. [24], wie der VM
Patellofemorale Kontaktflächen
Tab. 2 Frührehabilitation des patellofemoralen Gelenks. Übungssituationen mit den kann. Im Gegensatz dazu vergrößert sich
sicheren Bewegungsamplituden und anderen Charakteristiken. (Mod. nach [28]) die Kontaktfläche bei GK-Übungen mit
Übungs Offene vs. Ausführung: Sichere Muskuläre Aktivität: zunehmender Flexion (z. B. „squat“ zwi-
situation geschlossene statisch vs. dyna- Bewegungs Verhältnis Quadrizeps: schen 0° und 60°), was zu einer Verteilung
Kette (OK/GK) misch (stat/dyn) amplitude [°] Hamstrings der GRK auf ein größeres Areal führt. Sol-
Extension I OK Stat 0 10:1 che Übungen können somit von Patienten
Extension II OK Dyn 90–40 6:1 mit symptomatischem PFG besser tole-
Flexion OK Dyn 0–90 1:10 riert werden.
Fahrrad Mix OK-GK Dyn Verkürzte Pedal- “1:1”
ergometer kurbel, Biomechanische Aspekte
hoher Sattel
von Übungen
Kniebeuge I GK Stat/dyn 0–30 1:1
(squat)
Die Verbesserung oder Wiederherstellung
Kniebeuge II GK Stat/dyn 0–60 2:1
(squat) der Quadrizepskraft ist einer der Schwer-
Beinpresse I GK Stat/dyn 0–30 2:1 punkte in der Rehabilitation von patello-
(leg press) femoralen Problemen [5, 29]. Die ver-
Beinpresse II GK Stat/dyn 0–60 3:1 schiedenen Übungen können verschie-
(leg press) dene GRK auslösen und sollten dement-
Stat statisch, dyn dynamisch. sprechend differenziert betrachtet werden
[19]. Die Übungen können in 2 Gruppen
kategorisiert werden: Übungen in der of-
der mittlere Teil der Patella in Kontakt wirkt eine Dorsalisierung des Körper- fenen Kette (OK, z. B. Beinstrecken aus
mit dem unteren/vorderen Teil der Tro- schwerpunktes eine Erhöhung des Hebel- dem Sitzen) und in der geschlossenen
chlea und die Kontaktfläche vergrößert arms und somit eine größere GRK. Kette (GK, z. B. Kniebeuge aus dem Ste-
sich auf ca. 2,5–3,5 cm2. In ca. 90° Flexion Reilly u. Martens [21] untersuchten die hen [22]). Übungen in der GK werden als
liegt die Kontaktzone im oberen Teil der GRK während verschiedenen Aktivitäten „funktioneller“ betrachtet, weil sie Alltags-
Patella und die Kontaktfläche beträgt ca. und fanden eine GRK von 0,5×Körperge- situationen (wie: Treppe auf-/abwärtsge-
3,5–6,0 cm2 [16]. Bei zunehmender Flexi- wicht (KG) beim flachen Gehen, 3,3×KG hen) besser simulieren, währendem klas-
on (ca. 135°) ändert sich die Situation: die beim Treppensteigen und bis zu 7- bis 8- sischerweise OK-Übungen als isolierte
Kontaktzonen der Patella (lateral und me- mal KG bei tiefen Kniebeugen (squats). Kräftigungsübungen (z. B. Knieextension
dial) sind lateral größer als medial [1] und Huberti u. Hayes [15] untersuchten in für Quadrizepsschwäche) gelten.
die Kontaktfläche ist kleiner als in 90° Fle- einer Kadaverstudie u. a. die Kontakt- Einige Autoren haben sich mit den bio-
xion. Gleichzeitig steht die Quadrizeps- flächen und die GRK in verschiedenen mechanischen Aspekten der verschie-
sehne ab 90° Flexion in Kontakt mit der Flexionswinkeln: die Kontaktfläche er- denen Übungen befasst [6, 9, 10, 23, 28].
Trochlea, wodurch die Kompressionskräf- höhte sich dabei progressiv bis 90° Flexi- Besonders interessant ist die Arbeit von
te zwischen der Sehne und der Patella ver- on, während die größte GRK zwischen 60° Steinkamp et al. [23]. Sie untersuchten die
teilt werden [11]. und 90° Flexion (und signifikant kleiner Biomechanik des PFG während Beinpress-
bei 20–30°) dokumentiert wurde. (leg press; GK) und Beinstreckübungen
Patellofemorale Gelenkreakti- (leg extension; OK) bei 20 gesunden Pro-
onskräfte (Kompressionskräfte) E Tiefe Kniebeugen können GRK banden. Dabei wurden das Kniegelenk-
am PFG vom 7- bis 8fachen drehmoment, die GRK und der Druck
Die patellofemorale Gelenkreaktionskraft Körpergewicht verursachen. (die 3 Parameter mit einer klinischen Be-
(GRK) ist die resultierende Kraft aus den deutung) in verschiedenen Winkeln be-
Quadrizeps- und Patellarsehnenkräf- rechnet. Im Vergleich waren alle 3 Para-
ten [1]. Die GRK erhöht sich mit zuneh- Patellofemoraler Druck meter in der „Leg-extension-Situation“
mender Flexion. Quadrizeps- und Patel- bei 0° und 30° Flexion signifikant höher.
larsehnenkraft sind nicht gleich und ihr Der patellofemorale Druck (Kontakt- Bei 60° und 90° Flexion waren alle 3 Pa-
Verhältnis ist während der ganzen Be- stress) wird mit der GRK geteilt durch rameter in der „Leg-press-Situation“ deut-
wegungsamplitude nie 1:1. In der Analy- die Kontaktfläche berechnet [1]. In den lich höher. Der patellofemorale Druck
se der GRK müssen auch das Femur und Winkelbereichen mit kleinen Kontaktflä- kreuzt sich für diese 2 Übungssituationen
das Hüftgelenk berücksichtigt werden [2]. chen (d. h. extensionsnah) kann ein ho- bei 48° Flexionswinkel. Auch die anderen
Wenn der Körperschwerpunkt (z. B. mit her retropatellarer Druck entstehen (z. B. 2 Parameter kreuzen sich in einem ähn-
einer Hüftflexion) nach vorne verlagert mit Quadrizepsübungen in der OK ge- lichen Flexionswinkel von ±2°.
wird, reduziert sich das Flexionsmoment: gen Widerstand zwischen 40° und 0°), Diese Intersektionspunkte sind inso-
eine kleinere Quadrizepskraft bedeutet welcher die Symptomatik (bei vorhande- fern wichtig, weil sie aufzeigen, in welcher
auch eine kleinere GRK. Anderseits be- nem Problem) potentiell verschlimmern Situation und in welchen Winkeln diese
Übungsauswahl
Biomechanische Dysfunktionen
der unteren Extremität
Abb. 8 8 Kniebeugevariante „Lateral-step-up-
Übungssituation“: dynamische Arbeit (Fokus: Intrinsische strukturelle Faktoren (wie
eher konzentrische Quadrizepsarbeit) mit suk- z. B. eine Trochleadysplasie) und extrin-
zessiver Anpassung der Kastenhöhe an die in-
sische strukturelle Dysfunktionen (wie
dividuelle Kontrollfähigkeit. Die Stöcke sollten
als Hilfe in der Gleichgewichterhaltung und z. B. eine vermehrte Pronation oder ei-
nicht als Stützen dienen Abb. 10 8 Destabilisierte Körperstellung ne insuffiziente neuromuskuläre Kontrol-
(„medialer Kollaps“) in der Einbeinbelastung le der unteren Extremität) sollten in der
als Zeichen der ungenügenden neuromusku- Rehabilitation berücksichtigt werden. Sol-
lären Kontrolle und insuffizientem Kraftpoten- che Problematiken beeinflussen ebenfalls
tial der Rumpf-Becken-Beinmuskulatur
die Biomechanik des PFG [29]. Bei den
intrinischen Faktoren ist die Kommuni-
kation zwischen Spezialist und Physiothe-
rapeut entscheidend: die genaue Kenntnis
von anatomischen Varianten ermöglichen