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Verweyen - Ratzinger
Verweyen - Ratzinger
www.primusverlag.de
ISBN 9 7 8 -3 -8 9 6 7 8 -5 8 7 -9
Inhalt
Dank ........................................................................................................................... 8
E in fü h ru n g ................................................................................................................. 9
Teil I:
Lehr- und W anderjahre (von Traunstein bis Regensburg)
Teil II:
Nachfolger der Apostel (von M ünchen nach Rom )
A nm erkungen . . . .
Literaturverzeichnis .
Person enregister . . .
Dank
Nie zuvor hat es einen Papst gegeben, dessen Denkweg sich schon anhand von
ihm selbst verfaßter Schriften so genau verfolgen läßt wie der B ene
dikts XVI. D araus ergibt sich eine verantwortungsvolle Aufgabe für Historiker,
die ein m öglichst getreues Bild der Theologie- und Kirchengeschichte seit der
M itte des 20. Jah rh u n d erts verm itteln m öch ten . Diese Aufgabe übersteigt bei
w eitem den R ah m en dieses kleinen B uchs wie auch die Fähigkeiten seines
A utors. D en n o ch k ö n n ten die folgenden Seiten einen w ertvollen A nstoß zu
solcher A rbeit darstellen - allein aus dem einfachen G rund, daß es in wenigen
Jahren keinen Schü ler, F re u n d u n d K ritiker Joseph R atzingers m eh r geben
w ird, der wie dieser die Z eit des Zw eiten W eltkriegs und unm ittelbar danach
m iterlebt hat und ihn seit fast fünfzig Jahren persönlich kennt und schätzt.
Schon wegen des vorg eseh en en U m fan gs galt es, u nter den vielen Perspek
tiven, die sich im B lick a u f d en lan gen u nd ereignisreich en W eg Joseph R a t
zingers an bieten , eine stren g e W ah l zu treffen. D a es in der m ir vorgeschlage-
nen A rbeit allein u m die E n tw ick lu n g seines D en k en s gehen sollte, b in ich au f
b iograp h isch e D etails n u r in d e m m ir d afü r n otw en d ig erscheinenden M aße
ein gegan gen . B io g ra p h is c h e D a rste llu n g e n gib t es oh n eh in b ereits in Fülle.
D ie fü r m ein e T h e m a tik e in sch lä g ig e n S ch riften R atzin gers h abe ich m ö g
lich st v o llstä n d ig zu R a te g e z o g e n , d ie S e k u n d ä rlite ra tu r je d o ch u n b e rü ck
sich tigt gelassen. E in e n o tw e n d ig k n ap p e Ausw ahl aus der uferlosen D iskus
sion ü b er Josep h R atzin g er, b e so n d e rs in den letzten Jah rzeh n ten , h ätte d o ch
n u r n ach m e h r o d e r w en ig er w illk ü rlich en E ntsch eid un gen erfolgen k ö n n en .
B ei d er in h a ltlich en A u sw a h l b in ich v o n zw ei G esich tsp u n k ten au sg eg an
gen. S ch w erp u n k tm äß ig so llten , ersten s, solch e Problem felder b eh an d elt w e r
d en , die Josep h R a tz in g e r v o m B e g in n seines S tu d iu m s an k o n tin u ierlich b e
sch äftigt h ab en u n d z en tra l fü r sein L eb en u n d D enken geblieben sind. Zw ei
te n s w o llte ich m ic h n u r an s o lc h e T h e m e n h e ra n w a g e n , d ie zu m e in e m
A u fg a b e n b e re ich als F u n d a m e n ta lth e o lo g e g e h ö re n . D as lag a u c h d esw egen
n ah e, w eil m e in e e rste n B e g e g n u n g e n m it R a tz in g er in seine Z e it als O rd in a
riu s fü r F u n d a m e n ta lth e o lo g ie in B o n n fallen . Ic h w a r e rs ta u n t, in w e lch e m
M a ß e b ei d e r U n te r s u c h u n g d e r E in z e lfra g e n ein e K o n g ru e n z d ie se r b e id e n
P ersp ek tiven zu ta g e tra t.
Im ersten Teil des B u ch s v e rsu ch e ich , d e m D en k w eg Jo se p h R a tz in g e rs v o n
s e in e r G y m n a s ia lz e it b is z u s e in e r B is c h o fs w e ih e n a c h z u g e h e n : T ra u n s te in ,
10
Einführung
Denkweg kann man nur dann gerecht werden, wenn man die Grundfragen
im Blick behält, die sich in seiner, von großen Umwälzungen gezeichneten ge
schichtlichen Situation erhoben. Bevor wir uns dem jeweiligen Kontext seiner
theologischen Entwicklung zuwenden, erscheint es mir ratsam, zunächst auf
den weiteren politischen Hintergrund dieses geschichtlichen Umfelds im
engeren S in n e auszugreifen.
und seiner A nhänger entzündete sich der Funke für den Streit, der in den fol
genden Jahrzehnten m der katholischen Theologie Deutschlands ausgetragen
w ur e. ie ersten e rb itterten G egner erw uchsen den „H erm esianern“ im
B istu m M ain z das n ich t zu Preußen gehörte und streng die im Vatikan ver
foch ten e neu scholastische T heologie im Priestersem inar, dem für Theologen
einzig zuständigen A usbildungsort, vertrat. In dem Kölner Erzbischof Droste
zu V ischerm g gewann der M ainzer Kreis 1836 seinen mächtigsten Verbünde
ten. Um der R einerhaltun g des Glaubens willen suchte dieser kampfeslustige
K irch en fü rst den K onflikt m it dem preußischen Staat selbst. Von diesem in
haftiert, wuchs er zum „M ärtyrer em por und konnte in der Mischehenfrage
die R egieru n g s ch lie ß lich zum E in lenken zwingen. D er Streit zwischen den
„ U ltra m o n ta n e n “, d. h. den T h eo log en , die „jenseits der Berge“ unm ittelbar
beim Papst Schutz suchten, und solchen, die für eine Überwindung der allen
N euerungen gegenüber verschlossenen D ogm atik eintraten, spaltete die deut
schen Bischöfe in zwei Lager.
D u rch den von B ism a rck h erau sg eford erten Krieg zwischen Frankreich
und D eu tsch lan d (1 8 7 0 - 1 8 7 1 ) fü h rte dieser zunächst nur in Deutschland
(bzw. zw ischen R o m und einer „avantgardistischen“ Gruppe von deutschen
T h eo lo g en ) ausgetragene K onflik t zu weltweiten Konsequenzen. Weil das zu
d ieser Z eit m it dem P apst p ak tieren d e Fran kreich keine Truppen gegen die
italienischen R epu blikaner entsenden konnte, wurde 1871 der einst so m äch
tige K irchenstaat a u f das enge Terrain des Vatikan„staats“ begrenzt. Einen Tag
vor dem A u sbru ch des K rieges b e sch lo ß das Erste Vatikanische Konzil das
D ogm a d er p äp stlich en U n feh lb ark eit und vertagte sich dann au f unbe
stim m te Zeit. Das rü cksichtslose Vorgehen Bism arcks im „K ulturkam pf“ von
1871 bis 1887 sch ien d er kath o lisch en W elt einm al m ehr zu bestätigen, daß
alles, was aus dem p re u ß isch e n P rotestantism us hervorgegangen war, von
Ü bel sein m u ßte. D ie „G eg en refo rm atio n “ hatte damit eine neue Dim ension
bek o m m en . Es ging n ic h t m eh r n u r um die Erhaltung bzw. W iederherstel
lung des rech ten G lau ben s, son d ern um ein kulturell angemessenes F o rt
bestehen der rö m isch e n K irche - dies vor allem im H inblick au f die Gestalt
päpstlicher A utorität selbst, kaum weniger aber auch au f die nach dem Sturz
des „A ncien rég im e“ o h n eh in als B ürger m inderer Qualität abgestempelten
K atholiken Frankreichs, der „ältesten Tochter Rom s“. Ohne Berücksichtigung
dieses A spekts wird m an den „M odern ism u sstreit“ zu Beginn des 20. Jah r
hu n d erts und die bis heu te spürbaren Folgen der damals unbewältigt ab
geb roch en en Fragen n ich t w irklich verstehen können. Diesen ungelösten
P ro b lem en begegnen w ir jed en falls a u f dem gesam ten Denkweg Joseph
Ratzingers.
Geschichtlicher Hintergrund
16
Die Eigendynamik litu rgisch er B ew eg u n g en
des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts setzte eine Entwicklung ein, die
zu einer komplexen Verschmelzung von ursprünglich verschiedenen Ansät
zen führte.
1872 hatten die Benediktiner von Beuron die Abtei Maredsous im walloni
schen Teil Belgiens gegründet. Hier wurde 1882 das erste lateinisch-französi
sche Volksm eßbuch herausgegeben. Anselm Schott, der sich während der
zeitweiligen Aufhebung Beurons im Kulturkampf (!) in Maredsous aufhielt,
schuf au f diese Anregung hin 1884 das erste analoge Meßbuch für Deutsch
land, den „S ch o tt“, der - in verschiedenen Versionen immer wieder aufge
legt - ein halbes Jahrhundert lang zu einer der wichtigsten Stützen der litur
gischen Erneuerung in Deutschland wurde.
Aus dem französischen G hetto-K atholizism us, dessen größter Erfolg im
Streit der „Royalisten“ gegen die „Republikaner“ 1891 die Vollendung der Ba
silika von S acré-C œ u r gleichsam auf dem höchsten Thron von Paris war, gin
gen ab 1881 zu n äch st au ch die Eucharistischen Kongresse als Zurschaustel
lungen des Allerheiligsten Sakram ents hervor. Pius X ., der schon seit Beginn
seines Pontifikats ( 1 9 0 3 - 1 9 1 4 ) für die aktive Teilnahme der Gläubigen an der
M eßfeier u nd ihre häufige, ja tägliche K om m union eingetreten war, gab
ihnen eine völlig andere A usrichtung. Eine wirklich aktive Teilnahme hat zu
nächst aber das Verstehen dessen zur Voraussetzung, was in der Eucharistie
feier in W o rt u nd R itu s v o r sich geht. Diese Erkenntnis und entsprechende
Forderung w ar G rundlage d er „Liturgischen Bewegung“, die 1909 auf einem
Kongreß der katholischen Vereine im flämischen Mechelen ins Leben gerufen
wurde. In D eutschland blieb sie zunächst eine Angelegenheit für Akademiker
kreise in Abteien wie M aria Laach. E rst nach dem Ersten Weltkrieg begann sie
sich im Zuge der Jugendbewegung allgemein durchzusetzen. Damit wurde sie
allerdings von A nfang an in den Konflikt zwischen ideologisierten „Bünden“
hineingerissen, d er ein K ennzeichen der W eim arer Zeit war. In diesem Kon
text fand auch die frühe religiöse Prägung Joseph Ratzingers statt, der wir uns
im folgenden Kapitel zunächst zuwenden wollen.
Zweites Kapitel:
Glauben angesichts des Ernstfalls (1 9 2 7 -1 9 4 5 )
In den autobiograp hischen N otizen von 1998 „Aus m einem Leben. E rinne
rungen (1 9 2 7 -1 9 7 7 )“ hat Joseph Ratzinger die vielfältigen U nruhen geschil
dert, denen er m it seiner Fam ilie in der Zeit der N azidiktatur ausgesetzt war.
Erst die 1937 erfolgte Ü bersiedelung nach Traunstein kam ihm wie eine An
ku nft in seiner w irklichen H eim at vor (1 9 9 8 a , 2 5 ). In den Jahren zwischen
1927 und 1937 war die Fam ilie im m er wieder zu einem Ortswechsel gezwun
gen, weil der Vater, der wegen seiner beruflichen Tätigkeit als Gendarm häufig
genug „bei V ersam m lungen gegen die Gew alttätigkeit der Nazis einschreiten
[m u ß te ]“ (ebd ., 15), seine A nsichten über die brau nen H orden nie für sich
behalten hat. Das Leben in diesem etwas abgelegenen W inkel des „Dritten
R eich s“ blieb zunächst zwar n o ch w eitgehend vom Rhythm us des K irchen
jahres bestim m t. A ber gerade die Fam ilie Ratzinger m ußte wegen ihrer kon
sequenten A blehnung der natio n also zialistisch en D o ktrin am ehesten mit
Spitzeln rechnen.
W ährend der Vater m it der Frage nach der Tragfähigkeit seines Glaubens in
den alltäglichen Bedrohungen durch eine au f die W urzeln m enschlichen Zu
sam m enlebens zielende Gewalt konfrontiert war, reflektierte Joseph Ratzinger
selbst schon sehr früh den Sin n dieses den Einsatz alles Eigenen einford ern
den Glaubens in seiner Begegnung m it G o tt bei der Feier des M eßopfers. Ein
Exem plar des im ersten Kapitel erw ähnten „S ch o tt“ hatte seine Eltern schon
seit ihrem H ochzeitstag begleitet. D ie Kinder erhielten jeweils neu eine ihrer
A ltersstufe entsprechend e Ausgabe dieses B uchs. Joseph R atzinger bem erkt
dazu, daß au f diese Weise sein „Weg m it der Liturgie ( ...) ein kontinuierlicher
Prozeß eines H ineinwachsens in eine alle Individualitäten und G enerationen
übersteigende große Realität [w ar], die zu im m er neu em Staunen und E n t
decken A nlaß wurde“ (ebd., 23). Bereits zu Ende seiner Gym nasialzeit finden
wir ihn m it dem Versuch beschäftigt, die liturgischen Texte „besser und leben
diger aus den U rtexten zu übertragen“ (ebd., 32).
W er nach dem Zweiten W eltkrieg geboren ist, wird kaum a u f den G ed an
ken k o m m en , daß diese H inw eise ein en Schlüssel zum K ern der T h eo log ie
Ratzingers an die H and geben k ö n n ten . D en n in der zw eiten H älfte des
20. Jah rh u n d erts hat n ich t n u r die akad em ische T h eo lo g ie in ein em n ich t
vorauszusehenden M aße neue Wege betreten. Vor allem vollzog sich ein tief-
Glauben angesichts des Ernstfalls (1927-1945) 19
„Jede Tat echter christlicher Liebe, jedes Werk des Erbarmens ist in einem wahren und
eigentlichen Sinn Opfer, Setzung des einen einzigen sacrificium christianorum [ ...] .
Es gibt nicht auf der einen Seite ein uneigentliches m oralisches oder persönliches
O pfer und daneben ein eigentliches kultisches, sondern das erste ist die res des letz
tem , in dem dieses erst seine eigenüiche W irklichkeit hat. W ir stehen hier vor dem,
was man die Meßopfertheorie Augustins nennen könnte“ (1 9 5 4 ,2 1 3 f.). „Der G ötter
kult des Erdenstaates ist nicht nur überflüssig, sondern verkehrt und schädlich [8].
Allein die civitas, die dem einen Gott opfert, ist im Recht. Ihr O pfer besteht in dem
Einssein in Christus. Das Opfer, das sie darbringt, ist sie selbst. Opferpriester und O p
fergabe fallen hier zusammen. Das Feuer, das die Opfergabe in den Besitz der Gottheit
Glauben angesichts des Ernstfalls (1927-1945) 21
überführt, ist die von oben kommende Caritas [9], der Altar, auf dem sich dies ereig
net, unser Herz“ (ebd. 214 f.).
Die hier zitierten Sätze werden natürlich erst aus dem Kontext der ganzen
Doktorarbeit voll verständlich. Auf dem Hintergrund von Ratzingers Notizen
über das Eindringen einer heidnischen Pseudo-Theokratie schon in die ver
traute Welt seiner Kindheit ergibt sich allerdings Klarheit über eine erste, und
zwar die wohl wichtigste Konstante in der Entwicklung seines Denkens, die
man nicht aus dem Auge verlieren darf: das alles andere als ritualistisch-litur-
gische Verständnis des „Meßopfers“. Hier feiert das gesamte Volk Gottes öf
fentlich, wozu es berufen ist: sich im Dienst an den Menschen von Gott ver
zehren zu lassen. Auch Ratzingers spätere Aussagen über das Verhältnis von
Kirche und Politik (vgl. unten Kap. 11) sind im Blick auf diese doppelte Prä
gung seines Glaubens und Denkens zu lesen: durch seine Erfahrung der Nazi
herrschaff und die fast gleichzeitig einsetzende theologische Reflexion der re
ligiösen bzw. pseudoreligiösen Wurzeln des Hohns auf menschenwürdiges
Leben, die er in Augustins „Gottesstaat“ offengelegt fand.
Drittes Kapitel:
Die Jahre in Freising und M ünchen (1 9 4 5 -1 9 5 9 )
Vor allem zu Beginn des Pontifikats von Benedikt X V I. konnte man gelegent
lich die Bem erkung hören, selbst als Papst könne „der Professor“ in seinen an
die W eltöffentlichkeit gerichteten Reden seine H erkunft nicht ganz verleug
nen. D iese Feststellung lä ß t sich auch in entgegengesetzter Richtung verfol
gen: Bei Joseph Ratzinger haben sich von Anfang an ein intensives M ühen um
w issenschaftliche E xaktheit und das Ringen um eine glaubwürdige priester-
liche E xistenz so eng m itein an d er verschränkt, wie m an es sonst sehr selten
find et. D ies lä ß t sich etwa an den vielen Rückverw eisen a u f Fried rich W il
helm M aier zeigen, den Professor für n eu testam entlich e Exegese in der Zeit
seines T heo log iestu d iu m s. D iesem durch hierarchische M aßn ahm en gegen
seine w issenschaftliche Tätig keit h art geprüften und b itter gewordenen Ge
lehrten attestiert Ratzinger, daß er „ein tiefgläubiger M ann und ein Priester
(w ar), der sich Sorge m ach te um die p riesterlich e G esinnung der ju ngen
M enschen, die ihm anvertraut w aren“ (1998 a, 5 7 10). Ratzinger hat sein Urteil
über die w issenschaftliche Q ualität von M enschen, denen er begegnete, nie in
A bstrak tio n von den „raisons du coeur“ gefällt. So n im m t es n ich t W under,
daß aufgrund je n e r ersten K onfrontation m it den ungelösten Problem en des
Verhältnisses zw ischen G lauben und h isto risch -k ritisch er Exegese ihn diese
Fragen bis in die M itte sein er p riesterlich en E xistenz hinein für im m er in
Bann gehalten haben.
1951 em pfing Joseph Ratzinger die Priesterw eihe. „W ir waren über vierzig
K andidaten, die a u f den A u fru f h in ‘A dsum ’ sagten: Ich b in da - an einem
strahlenden Som m ertag, der als H öhepun kt des Lebens unvergeßlich b leib t“
(ebd. 71). Nur selten m ache ich vom Fernsehen G ebrauch, und so wurde ich
eher zufällig über dieses M edium Zeuge des zweiten „A dsum “, das Ratzinger
sprach - bei seiner B ischofsw eihe11. D ie A rt und W eise, wie er sich d ann am
19. April 2005 m it einer etwas hilflosen G estik erstm als den G läubigen zeigte,
die au f den neuen Papst w arteten, erschien m ir wie ein drittes „A dsum “: „Ich
bin da - in einem Gewand, das viel zu groß ist für m ich .“ Schon Benedikt XV.
war es so ergangen: Keines der vorbereiteten päpstlichen G ew änder war klein
genug für den N eugew ählten. Ü b er ein en Z eitrau m von fast ein em halben
„Volk und Haus Gottes in Augustins Lehre von der Kirche“ 23
Jahrhundert habe ich beobachtet, wie Joseph Ratzinger das Gedächtnis des
Todes und der Auferstehung Jesu Christi feierte. Stets habe ich etwas von der
doppelten „K on-sekration“ an ihm erlebt, der Verwandlung, die Jesu Worte
bei seinem Gang in die äußerste Armut - „Das ist mein Leib (für euch)“ - in
dem auslösen sollen, der sie spricht.
Die Prom otion Joseph Ratzingers zum „Doktor der Theologie“ mit 23 Jahren
ist schon von ihren äußeren Umständen her merkwürdig genug. Die schrift
liche Arbeit bestand in der —innerhalb von neun Monaten zu erbringenden —
Lösung einer Preisaufgabe, die jedes Jahr in der Theologischen Fakultät ge
stellt wurde und für den Gewinner automatisch die Annahme auch als Dis
sertation m it der Note „Summa cum laude“ bedeutete. Gottlieb Söhngen teil
te Ratzinger unm ittelbar nach dem Schlußexamen in Theologie im Sommer
1950 m it, daß dieses Jahr er selbst das Thema stellen würde. Man möchte an
nehm en, daß er es geradezu auf die Fähigkeiten seines Lieblingsschülers zuge
schnitten hat (vgl. 1998a, 68). Damit ergibt sich aber eine zweite Merkwürdig
keit. Die Fakultät hatte Ratzingers unter dem Titel „Volk und Haus Gottes
verfaßte Arbeit m it der Höchstnote ausgezeichnet. Dem eigenen Lehrer erteilt
er darin aber im Grunde die Note „Themenstellung verfehlt“12. Seine Ausfüh
rungen zusam m enfassend, betont Ratzinger am Ende: „‘Haus Gottes’ be
zeichnet selbst kein eigenes Gedankenzentrum in der ‘Ekklesiologie’ des
Bischofs von H ippo, sondern ist Verdeutlichungsmittel, das letztlich nicht
hinauskom m t über den Rang eines beliebten, vielleicht des beliebtesten Bild
wortes für die Sache, die uns in anderen Begriffen [13] greifbarer wird“ (1954,
32 4 ). Etwas kom plexer stellt sich die Lage bei der Behandlung des Terminus
„Volk G ottes“ dar. Augustinus diskutiert ihn zum einen auf dem Hintergrund
der einschlägigen alttestam entlichen Aussagen. Zum anderen aber verbindet
er den B eg riff „Volk G ottes“ m it dem vom „Gottesstaat“, den er dem heidni
schen G ö tter-(D äm o n en -)staat entgegenhält. Das, was den eigentlichen U n
terschied des „G ottesstaats“ gegenüber dem „Erdenstaat ausmacht, liegt je
doch wiederum im Leib-Christi-Begriff beschlossen. „Die Kirche ist eben das
als Leib Christi bestehende Volk Gottes“ (ebd. 324).
Im plizit bezieht Ratzinger hier bereits Stellung zu viel späteren Ereignissen.
In den D ebatten um die „Dogm atische Konstitution über die Kirche, Lumen
gentium “ des Zweiten Vatikanums wurde der Frage besonderes Gewicht bei
gem essen, wie das W esen der Kirche term inologisch angemessen zu um
schreiben sei. Im H intergrund standen Engführungen des Begriffs „Leib
24 Die Jahrein Freising und München (1945 1959)
Die 1959 publizierte H abilitationsschrift R atzin gers aus dem Jah re 1 9 5 7 ist
der (überarbeitete) dritte Teil einer um fangreicheren U n tersuchu n g, die 1955
der Fakultät vorgelegt wurde, wegen des erb itterten W id erstan d es in sb eson
dere von Michael Schm aus jed och zu r V erbesserung zu rü ck gegeb en w orden
war. In der ursprünglichen Fassung waren die A usfü h ru n gen zu B on aven tu -
ras G eschichtstheologie v o r allem als H inw eis a u f eine A lte rn a tiv e zu dem
neuscholastisch verengten, im G runde aber sch o n bei T h o m a s v o n A quin zu
findenden Offenbarungsbegriff konzipiert.
Zu den damals n ich t an gen o m m en en Teilen d er u rsp rü n g lic h e n Fassu ng
bem erkt Ratzinger in seinen „ E rin n e ru n g e n “: „ [D ie ] bei d e r L e k tü re B o n a -
venturas gew onnenen Ein sich ten sind m ir sp äter, b eim k o n z ilia re n D isp u t
über O ffenbarung, Schrift, Ü b erlieferu n g seh r w ich tig g e w o rd e n “ ( 1 9 9 8 a,
8 4 ). Z u n äch st h atte er n o ch eine P ub lik atio n d ieser U n te rs u c h u n g e n ge
p lan t.16 Aufgrund der In an sp ru ch n ah m e R atzin gers d u rch das K o n z il17 ist es
bei der Veröffentlichung von Teüergebnissen geblieben. T rotz seines fra g m e n
tarisch en C h arak ters läß t ab er a u ch d e r als H a b ilita tio n s s c h rift p u b liz ie rte
„Die Geschichtstheologie des heiligen Bonaventura“ 25
Teil des u rsp rü n g lic h e n W erkes e rk en n e n , daß h ier erstm als m it B lick au f
einen an g eseh en en T h e o lo g e n d er Scholastik der D u rch bru ch durch eine pe-
trifiz ie rte O ffe n b a ru n g sk o n z e p tio n gewagt wurde, die m an für die scholasti
sche h ielt. D ie R atzin g er dazu erm u tigen d en A rbeiten aus dem französischen
S p rach rau m - in sb eso n d e re H en ri de Lubacs - und H ans Urs von Balthasars,
des g r o ß e n V e rm ittle rs u n d „W an d erers zw ischen den W elten “, h atte n sich
w e itg e h e n d a u f e in e n e u e S ic h t d er P atristik k o n z en triert. Selbst a u f diese
W eise w ar m a n n o c h h in r e ic h e n d G e fa h re n ausgesetzt, w ie die B io g rap h ie
H e n ri de L u b a c s u n d d ie E n z y k lik a „H u m an is g en eris“ P iu s’ X I I. aus dem
Jahre 1950 b e w e ise n . E s ist e in tra u rig e s K u rio su m des 20. Jahrhu n d erts, daß
a u s g e r e c h n e t Jo s e p h R a tz in g e r, d essen (z u m in d e st in d en A ugen von
S c h m a u s ) g e fä h r lic h e s M a c h w e rk n ic h t e in m a l das L ic h t d er th eo lo g isch en
Ö ffe n tlic h k e it e r b lic k e n d u rfte , b a ld d a ra u f als an g eseh en er V ertreter der
th e o lo g isc h e n „ A v a n tg a rd e “ a u f d e m Z w eiten V atikan isch en K onzil b ek an n t,
w en ig e Ja h r e d a n a c h a b e r s c h o n d e r S ch a r d er sch lim m ste n R e ak tio n äre
zu g eo rd n et w u rd e.
Anlaß des von B onaven tu ra vorgelegten Entwurfs von Heilsgeschichte war
die Begeisterung, m it der die eschatologisch-apokalyptische Deutung der Tri
nitätslehre des Jo ach im von F io re (1 T 2 0 2 ) von „radikal-franziskanischen“
Theologen aufgegriffen w orden war. In seinem letzten Buch über das „Sechs
tagew erk“ (1 2 7 3 ) en tfaltet B o n av en tu ra eine Theologie der Geschichte, an
deren Ende - u n m ittelb ar vor der W iederkunft des Herrn - auch er selbst ein
innergeschichtliches Zeitalter gottgeschenkter Sabbatruhe erhofft, wenn auch
in ein er an d eren Persp ektive als Jo ach im von Fiore. Das Gottesvolk dieser
Endzeit w ird eine „kontem plative Kirche“ sein, die unter einer „neuen Offen
barung“ steht.
B onaventura kennt keinen alle M anifestationen Gottes zusammenfassenden
Begriff von O ffenbarung. E r handelt stets nur von je gesondert zu betrachten
den O ffen b a ru n g en , die er, d em Sinn des lateinischen W ortes re-velatio en t
sp rech en d , als „E n th ü llu n g en v o n V erborgenem “ versteht. Dazu rechnet er
auch - und das steht hier im M ittelpunkt von Ratzingers Interesse - das allego
rische V erstehen der heiligen Schrift. D er Vorgang dieser „O ffenbarung“, der
d urch In sp iration gesch ieh t, w ird als eine visio intellectualis aufgefaßt, als ein
H in d u rch sch au en d u rch alles V ordergründige au f den geistlichen K ern, und
hat so letztlich m ystischen R ang (vgl. 1 9 5 9 ,6 7 ). N icht die Schrift selbst gilt als
O ffenbarung, son d ern das Erfassen ihres eigentlichen, geistigen Sinns.
R atzin g er b e to n t, d aß a u f diese W eise n ich t „die O bjek tivität der O ffen
b arungsgegebenheit zu gunsten eines subjektivistischen Aktualismus aufgeho
ben ist“ (vgl. eb d . 6 8 ) . D er T iefen sin n d er H eiligen S chrift, in dem sie ü ber
h a u p t e rst „ O ffe n b a ru n g “ u n d G lau b en sin h alt ist, „steh t n ich t im Belieben
26 Die Jahre in Freising und München (1 9 4 5 -1 9 5 9 )
des Einzelnen, sondern ist in den Lehren der Väter und der Theoloeip ,
• /* o*'" ^urn
liat d Teil objektiviert und so in den G ru n d lin ien ein fach durch A nnah m e des k ,
E n iv tholischen Glaubens zugänglich ( IS), der ja in seiner Zusammenfassung in
te s d Symbolum Prinzip der Schrifterklärung ist“ (ebd. 68 f.). Das „die Schrift
erst zur ‘Offenbarung’ erhebende Verständnis (trägt sich allein) im lebendigen
g eist
Schriffverständnis der Kirche zu [ . . . ] “ (ebd. 69).
ben Wie schätzt bei dieser Sicht der Dinge Bonaventura den W ert theologisch
m it I wissenschaftlicher Schriffauslegung ein? Hier lä ß t sich im Laufe der Zeit ein
den Perspektivenwechsel bei ihm beobachten. G ru nd sätzlich gilt ihm das wissen
luna schaftliche Eindringen in die Schrift als eine höhere W eise der „O ffenbarung“
ihres Sinns, weil er in dem Aufschwung der Wissenschaft, den er um die Mitte
H an
des 13. Jahrhunderts gerade in den beiden B ettelo rd en b eo b ach tet, „ein G o t
w ie
teszeichen an die der Endzeit sich nähernde Kirche“ e rb lic k t (vgl. ebd 71)
Pap Vor allem gegen Ende seines Lebens empfindet er ab er ein tiefes Ungenügen
ent\ an aller Schulweisheit, die ihm als Beweis für eine noch nicht ans Ziel gelang
E re te Geschichte gilt. Die eigentliche Weisheit zeige sich in d er d em ütigen H al
tung des hl. Franz. „Was an ihm sichtbar wird, ist die Ü b erw in d u n g des dis
zur
kursiven Denkens der gegenwärtigen Exegese zugunsten e in e r ein fach en in
aahH neren Erfassung“, die gerade den Kleinen, und nicht d en W eisen und Klugen
d e rH zuteil wird (vgl. ebd. 73). Bonaventura sieht eine Zeit k o m m e n , da die A rgu
\uM mente nichts m ehr gelten werden und es keine G lau b en sv erteid ig u n g durch
a ie ■ ! die Vernunft m ehr geben wird, sondern nur noch durch A u to rität. D iese aus
1If
' H
einer Zukunffsvision gewonnene Kritik gilt nicht nur Aristoteles, sondern
auch Augustin. Geschichtstheologisch gesehen ist Ratzinger zufolge der A b
stand gegenüber Augustin sogar noch größer. Dessen W erk „Vom Gottes
S o l i staat“ schloß m it den W orten: „Und dann wird Friede sein.“ Dam it war aber
d e « „jener nie m ehr endende Friede in Gottes Ewigkeit [gem eint], der dem Ab
bruch dieser Welt folgen w ird“. Bei Bonaventura ist es „ein Friede, den Gott
f '® !
au f dieser Erde selbst errichten wird, die soviel Blut und Tränen gesehen
hat [ . . . ] “ (vgl. ebd., 161 f.).
Es ist schade, daß bislang nur diese im m anente Darstellung von Bonaven-
turas Geschichtstheologie und deren Auswirkung auf das Verständnis von Of-
fenbarung/Schrift/Tradition zur Veröffentlichung kam . Bis - vielleicht in
einer Gesamtausgabe von Ratzingers Werken - ein Einblick in die ganze u r
sprünglich zur Habilitation eingereichte Schrift gewonnen werden kann, muß
es bei Vermutungen darüber bleiben, welche systematische Bedeutung er dem
herm eneutischen Ansatz des großen Scholastikers dam als beigemessen hat
(vgl. dazu Kap. 9).
Viertes Kapitel:
Lehrtätigkeit in Bonn ( 1 9 5 9 - 1 9 6 3 )
Der unter diesem Titel als „Ein Beitrag zum Problem der theologia naturalis“
am 24. Juni 1959 gehaltenen Bonner Antrittsvorlesung hat Ratzinger offenbar
noch bis in die jüngste Zeit hinein größere Bedeutung beigemessen. Zu dem
2004 erschienenen zweiten, unveränderten Nachdruck betont Ratzinger in
einem neuen Vorwort, „wie sehr die damals gestellten Fragen bis heute sozu
sagen der Leitfaden [seines] Denkens geblieben sind“ (1960c, 7). Es empfiehlt
sich also, von diesem Text auszugehen.
Bei seinem einleitenden Versuch, die „Vorgeschichte der Frage“ zu umrei
ßen, bezieht sich Ratzinger zunächst auf den „esprit de finesse“, den Pascal
der zeitgenössischen, insbesondere von Descartes vertretenen „Philosophie
aus dem esprit de géométrie [sic!]“ entgegensetzte. „Erst die Zertrümmerung
der spekulativen Metaphysik durch Kant und die Verlagerung des Religiösen
„Der Gott des Glaubens und der Gott der Philosophen“
29
„dem Gottesbegriff der Bibel [das philosophische Element] in dem Maß zugewachsen,
in dem er sich genötigt fand, sein Eigenes und Besonderes gegenüber der Völkerwelt
30 Lehrtätigkeit in Bonn (1 9 5 9 -1 9 6 3 )
die Apologeten geleistet wurde, war nichts anderes als die notwendige Kornpl Urc^
funktion zu dem äußeren Vorgang der m issionarischen Verkündigung des Ev
liums an die Völkerwelt. [...] Der wahre Anspruch des christlichen Glaubens k '
seiner Größe und in seinem Ernst immer wieder nur sichtbar gemacht werden d** *n
den Bindestrich zu dem hinüber, was der Mensch schon zuvor in irgendeiner F
das Absolute begriffen hat“ (ebd. 32 f.). m
„Die Philosophie bleibt [...] als solche das andere und eigene, worauf der Glaube sich
bezieht, um sich an ihm als dem anderen auszusprechen und verständlich zu machen“
(ebd. 33). Die christlichen Apologeten und Väter haben, auch Ratzinger zufolge die
„philosophischen Aussagen [...] vielfach unbesehen übernommen und nicht der nöti
gen kritischen Läuterung und Verwandlung unterworfen“ (ebd. 34). Die Erkenntnis
daß „Gott Person ist, Ich, das dem Du begegnet, [... ] erfordert zweifellos auf der gan
zen Linie eine neue Überprüfung und Durchdenkung der philosophischen Aussagen
die noch nicht genügend geleistet ist“ (ebd. 35).
Noch heute läßt sich etwas von der Faszination nachvollziehen, die damals
dieses knappe „M anifest“ zum Verhältnis von Glauben und philosophischer
Vernunft hervorrief. In diesem Vortrag m ußten natürlich viele Fragen offen
bleiben. H ierauf wird in Kap. 10 n äher einzugehen sein. Zwei Probleme
m öchte ich jedoch schon hier anreißen, weil sie, zum einen, in den späteren
Ä ußerungen Ratzingers zu dieser T hem atik im m er w ieder greifbar werden
und, zum anderen, ansatzweise schon in seinen frühesten Schriften zutage
treten. Ein genauerer Hinblick zeigt, daß beide Problem e im Grunde dieselbe
Wurzel haben.
(1 ) R atzingers Skizze der „Vorgeschichte der F rag e“ erw eckt den Eindruck,
daß sich in seiner Sicht die gesam te G eschichte des neuzeitlichen Verhältnis
ses von Philosophie und T heologie als eine Sackgasse darstellt. A m Anfang
steht das, „was die m athem atische Philosophie etwa eines Descartes über Gott
zu sagen wußte“ (1 9 6 0 c, 12). Dem dagegen vom Glauben her erhobenen Ein
spruch Pascals m ißt Ratzinger offenbar einiges Gewicht bei. Dieser Einspruch
k om m e wirkungsgeschichtlich aber erst nach der „Z ertrü m m eru n g der spe
kulativen M etaphysik d urch K an t“ zum Tragen: Religion wird nun zu einer
Ein verkürzter Augustinus
sere unüberw indbare Bedingtheit setzt das W irken eines Begriffs des
übef jungten in unserer V ernunft voraus. Im plizit meldet sich hier Anselms
Unb Gottes als „das, w orüber hinaus G rößeres nicht gedacht werden kann“,
stik in Frage stellte, indem er näm lich das geschichtlich ausgerichtete Denk
Bonaventuras, des alten Bundesgenossen und W iderparts des Aquinaten ^
volle Licht rückte. Dies wirkte sich allerdings nicht nur a u f das Philosoph;118
Verständnis Ratzingers, sondern m ehr noch a u f seinen O ffenbarunesbe f
aus, der uns besonders im nächsten Kapitel beschäftigen wird. 8 1
Fünftes Kapitel:
Im Zeichen des Konzils - die Zeit in Münster
(1963-1966)
Aus zwei verschiedenen Perspektiven soll in diesem Kapitel ein Zugang zum
Verstehen von Ratzingers späterem Denkweg vorbereitet werden, ln einem
ersten Abschnitt versuche ich, seine damalige Sicht des Verhältnisses von
Schrift und Tradition anhand seines Kommentars zum zweiten Kapitel der
„Dogmatischen Konstitution über die göttliche Offenbarung Dei Verbum'-'
nachzuzeichnen. Im darauffolgenden Abschnitt möchte ich im Blick auf den
Verlauf des Zweiten Vatikanischen Konzils selbst und dessen unmittelbare
Nachgeschichte einige Gründe für jene gefährliche Polarisierung benennen,
die die katholische Theologie in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts
wie schließlich auch die öffentliche Diskussion um Joseph Ratzinger in dieser
Zeit bestimmt hat.
Spätestens seit der Reformation ist die Frage nach dem rechten Verhältnis von
Heiliger Schrift und Tradition zum Grundproblem der Kirche(n) geworden.
Diese Tatsache spiegelt sich auch in der Entstehung der „Dogmatischen Kon
stitution über die göttliche Offenbarung Dei Verbum ‘ (abgekürzt: DV) wider.
Vom Anfang bis zum Ende des Konzils wurde hart um die Gestaltung be
sonders der ersten drei Kapitel gerungen. Einen Monat nach Beginn (11. Ok
tober 1962) zog Papst Johannes XXIII. den äußerst restaurativ gehaltenen
und von einer großen Mehrheit der Konzilsväter zurückgewiesenen Textent
wurf „Über die Quellen der Offenbarung [nämlich Schrift und Tradition]“
nach einer Abstimmungspanne persönlich zwecks Neubearbeitung zurück.
Knapp zwei Monate vor Abschluß des Konzils (8. Dezember 1965) wurde auf
Intervention Papst Pauls VI. ein Satz in den Schlußabschnitt von Artikel 9
aufgenommen, der dem gesamten Text eine zumindest leichte Rückwendung
in Richtung auf den ersten Entwurf gibt.
In seinen „Erinnerungen“ von 1998 hat Ratzinger selbst unterstrichen, mit
welchem Engagement (im Endeffekt aber doch geringem Erfolg) er sich auf
36 Im Zeichen des Konzils - die Zeit in M ünster (1963-1 9 6 6 )
D ei V erbum aus der Sicht Joseph Ratzingers 3?
dem Konzil um eine ausgewogene Formulierung der ersten Kapitel bemüj.
hatte (vgl. 1998a, 106. 128-132). Hier geht es vor allem um ein Problem H ' ch e id e n tifiz ie rt und so d e fin ie rt“ (vgl. ebd. 519)28. Ratzinger bedauert, daß
Ratzinger schon seit seinem Theologiestudium bewegt hat: Wie läßt sich m an n ich t d em v o r allem d urch den U S-am erikanischen Kardinal [Albert G 1
hermeneutische Basis für die Beziehung zwischen Schrift (bzw. S chrifta^ fvleyer v o rg e b ra c h te n E in w an d R au m gegeben habe, „Tradition müsse [ ]
legung) und Tradition näher bestimmen? Für diese Frage ist das zweite Ka S nich t nu r affirm ativ, so n d ern auch kritisch betrachtet werden; für diese uner
tel von Dei Verbum, „Die Weitergabe der göttlichen Offenbarung“, von beso!' läß lich e T ra d itio n sk ritik steh e als M aßstab die Heilige Schrift zur Verfügung,
derem Gewicht. Ich konzentriere mich im folgenden auf einige im Kommen a u f d ie d a h e r T ra d itio n im m e r w ied er zurückzubeziehen und an der sie zu
m essen se i“ (ebd . 519f.). Z usam m enfassend stellt er fest:
tar Ratzingers zu diesem Kapitel betonte Sachprobleme und übergehe dab '
die Angaben zum Verlauf der Diskussion während des Konzils, soweit dies' „Das Vaticanum II hat in diesem Punkt bedauerlicherweise keinen Fortschritt ge
nicht zur Klärung seiner eigenen Position wichtig sind. bracht, sondern das traditionskritische Moment so gut wie völlig übergangen. Es hat
Ratzinger betont, daß bei der Abfassung des zweiten Kapitels die Gedan sich damit einer wichtigen Chance des ökumenischen Gesprächs begeben; in der Tat
kenführung fortgesetzt wurde, die schon im ersten Kapitel, „Die Offen wäre die Herausarbeitung einer positiven Möglichkeit und Notwendigkeit innerkirch
licher T rad itionskritik ökum enisch fruchtbarer gewesen als der durchaus fiktiv zu
barung“, den Neuaufbruch gegenüber dem Ersten Vatikanischen Konzil er
nennende Streit um die quantitative Vollständigkeit der Schrift“ (ebd. 520).
kennen ließ: Offenbarung ist Selbstmitteilung Gottes im lebendigen Dialog
mit den Menschen, keine bloße Promulgation von Lehren und Vorschriften (2) Auf der anderen Seite verteidigt Ratzinger den bereits von den Konzils
denen gegenüber der Glaube zu einem bloßen Fürwahrhalten von Gesetztem vätern heiß diskutierten zweiten Absatz von Artikel 8, in dem der dynamische
verkümmert. Charakter der Tradition herausgestellt wird29. Er streicht heraus, „daß das
Voranschreiten des Wortes in der Zeit der Kirche nicht einfach als eine Funk
„Für die Frage der Überlieferung ist damit ein wesentlich neuer Ansatzpunkt geschaf
tion der Hierarchie angesehen wird. [...] In diesem Verstehensvorgang, der
fen, denn wenn der Ursprung der Überheferung, das, was am Anfang steht und weiter
die konkrete Vollzugsweise der Überlieferung in der Kirche darstellt, bildet
gegeben werden muß, nicht ein promulgiertes Gesetz ist, sondern die Kommunikation
der Dienst des Lehramtes eine Komponente (und zwar, von seinem Sinn her,
in der geschenkten Fülle Gottes, dann muß auch Weitergabe etwas anderes bedeuten
als vorher“ (1967,516). eine kritische, nicht eine produktive); aber er ist nicht das Ganze“ (ebd. 520).
Mit bemerkenswerter Schärfe wendet sich Ratzinger gegen die nach dem
Im Hinblick auf das Verhältnis von Schrift und Tradition ergibt sich aus Konzil insbesondere von dem protestantischen Theologen Oskar Cullmann
dieser neuen Sicht, daß Offenbarung ein Gesagtes und Ungesagtes umfassen erhobene Kritik. Dem von Cullmann betonten Gegenüber von Schrift und
des Geschehen ist, „das die Apostel [ ... ] nicht völlig ins W ort zu bringen ver Kirche hält er den „heutigen Stand der hermeneutischen Frage“ entgegen
mögen, sondern das sich in der gesamten von ihnen gesetzten Wirklichkeit (vgl. ebd. 5 2 2 ). Im Hinblick auf die geäußerten Bedenken wichtig sei auch,
christlicher Existenz niederschlägt, die abermals den Rahmen des zu aus daß die Schlußpassage von Artikel 8 „die Funktion der Tradition ganz auf die
drücklicher Rede Gewordenen weit überschreitet“ (ebd.). Es geht - anders als Schrift rückbezogen sieht [ ...] . Des weiteren ist Tradition beschrieben als der
auf dem Konzil von Trient - nicht m ehr um Traditionen im Plural, um das Vorgang, kraft dessen ‘Litterae’ [die Schriften] ‘Colloquium’ sind. Diese Dop
Festhalten an bestimmten kirchlichen Riten und G ebräuchen, sondern um pelbeschreibung der Tradition zeigt sie gänzlich in Funktion zur Schrift hin,
Tradition als einen lebendigen Prozeß der Bezeugung eines Ursprungs, der sie weist freilich zugleich die Schrift in den Raum von Überlieferung ein
sich nicht in einer ein für allemal niedergelegten Gestalt fixieren läßt. Das (ebd. 523). Dieselbe Interpretationslinie wird auch in dem ausführlichen
Zweite Vatikanum hat zu diesem Verständnis zurückgefunden, „aber die satz Kommentar zu Artikel 9 verfolgt (ebd. 523-526).
hafte Auffassung von Überlieferung und die daraus folgende quantitative Be- Fraglich bleibt allerdings, ob Ratzingers mehrfach betonte Position, Tradi
^ C)htungsweise blieben bis zuletzt daneben als Sprengstoff bestehen“ (ebd. tion werde auf diesem Konzil „gänzlich in Funktion zur Schrift hin verstan
den, wirklich aufrechterhalten werden kann. De facto hat sich besonders in
A uf dieser Grundlage übt Ratzinger bei der K om m entierung des achten Artikel 9 die Fraktion derer durchgesetzt, die ihre Behauptung eines materia
len Nebeneinanders von Schrift und Tradition nicht aufzugeben bereit waren.
Artikels scharfe Kritik in zwei Richtungen. (1) Am Ende des ersten Absatzes
Gewiß, die Erwähnung von den zwei „fontes“ (Quellen) der Offenbarung
dieses Artikels „wird (Tradition) mit dem Sein und m it dem Glauben der Kir-
38 Im Zeichen des Konzils - die Zeit in Münster (1963-1966)
wurde vermieden. Wenn „die Heilige Überlieferung und die Heilige Schrift“
„demselben göttlichen Quell (scaturigo) entspringend“, wie zwei Ströme ,,„c '
wissermaßen in eins zusammenfließen und demselben Ziel zustreben“, so jsj
hier von einer bloß funktionalen Rolle der Tradition jedoch nichts mehr Zu
bemerken. Im Blick auf den folgenden Satz bemerkt Ratzinger, es sei wichti,
„daß nur über die Schrift eine eigentliche Tst’-Defmition gegeben wird: V0n
ihr wird gesagt, daß sie schriftlich festgehaltenes Sprechen Gottes ist. Die Tra
dition wird dagegen nur funktional beschrieben, von dem her, was sie tut- Sie
vermittelt Wort Gottes, ‘ist’ es aber nicht“ (ebd. 525).
Von einer „Ist“-Definition vermag ich im Text nichts zu erkennen Vor
allem aber läßt doch der (vom Trienter Konzil übernommene) Schlußsatz an
einem materialen Nebeneinander von Schrift und Tradition eigentlich keinen
Zweifel: Beide sollen „mit gleicher Liebe und Achtung angenommen und ver
ehrt werden“. Der aufgrund einer Intervention Papst Pauls VI. davor einge
fügte Satz - „nicht aus der Heiligen Schrift allein schöpft (die Kirche ihre Ge
wißheit über alles Geoffenbarte)“ - greift das Bild von zwei Gewässern, über
die sich die Kirche bei der Suche nach Argumenten für ihre Dogmen gleich
sam beugt, noch einmal auf und verstärkt somit den Eindruck von einer
zweifachen materialen (Vor-)Gegebenheit. In Ratzingers Oberseminar zu der
noch „taufrischen“ Offenbarungskonstitution (WS 1965/1966, das letzte, das
er vor seinem Wechsel von Münster nach Tübingen gehalten hat) konnte ich
nach hartem Kampf meinem Doktorvater nur das Zugeständnis abringen,
daß, wenn man den Schlußsatz von Artikel 9 noch im Gesamtduktus einer
funktionalen Interpretation der Tradition verstehen wolle, man „dann nicht
so genau auf den Wortlaut hinsehen“30 dürfe. - Im übrigen legt doch auch,
unmittelbar daran anschließend, der erste Satz von Artikel 10 ein materiales
Verständnis der Tradition nahe: „Die Heilige Überlieferung und die Heilige
Schrift bilden den einen der Kirche überlassenen heiligen Schatz (sacrum
depositum) des Wortes Gottes [...] .“
Die spätere lehramtliche Entwicklung schien mir recht zu geben. Im „Kate
chismus der Katholischen Kirche“ von 1993 war durch die Art der Darstel
lung von Einzelaussagen des Zweiten Kapitels der Konstitution über die gött
liche Offenbarung die dort verbleibende Möglichkeit einer materialen Inter
pretation des Traditionsbegriffs eher verstärkt als ausgeschlossen worden31.
Ich war freudig überrascht, daß in dem von Papst Benedikt XVI. (zwei Mona
te nac seiner Wahl) veröffentlichten „Kompendium“ dieses Katechismus
t nur eine Bestätigung der sich dort andeutenden restaurativen Tendenz
wurden633 ^ V*e^me^r so®ar Mehrdeutigkeiten im Konzilstext selbst beseitigt
Der Mythos der großen Wende
39
D er M ythos der großen Wende
Zu Beginn seiner T übin ger Lehrtätigkeit hat Ratzinger in einer Rede auf dem
Bam berger K ath olik en tag vom Juli 1966 eine erste, von scharfer Kritik ge
ragte Bilanz des nachkonziliaren Katholizismus gezogen33. Unter den Katho
liken in D eutschland herrsche „ein gewisses Unbehagen, eine Stimme der Er
nü chterung und au ch d er E nttäu sch u n g, wie sie Augenblicken der Freude
und der festlichen Erhebung zu folgen pflegt, in denen mit einemmal die Welt
verwandelt schien [ . . . ] und nach denen uns nur um so schmerzlicher fühlbar
wird, wie seh r die G e w ö h n lich k eit unser Los und wie sehr der Alltag Alltag
geblieben ist“ (1 9 6 6 b , 1 3 0). M ir scheint, daß dieser Versuch, die dem Zweiten
Vatikanum folgend e „ E rn ü ch teru n g “ einem allgem einen Genus „Stimmung
nach dem Fest“ u n terzuord nen , der sehr spezifischen Enttäuschung nach die
sem K onzil n ich t gerech t w ird. E her k ön n te m an von einer „Sternstunde der
M en sch heit“ (S te fa n Zweig) sprechen - vor deren Ablauf die Jünger Jesu lei
der w ieder einm al eingeschlafen w aren (vgl. M t 26,40).
Aber auch in d ieser Sich t d er D inge bliebe das mythische Element verdeckt,
das gerade in sein er h in terg rü n d ig en W irk k raft der „Sternstunde“ eine recht
dunkle Z e it fo lg e n lie ß . Ich z itiere zu n äch st eine längere Passage aus dem
Standardw erk des p ro te sta n tisch e n H isto rik ers Sidney E. Ahlstrom, „A Reli-
gious H isto ry o f th e A m erican People“ ( 1 9 7 2 ,1079f.):
„Den Beginn einer großen puritanischen Epoche [in der nordamerikanischen Ge
schichte der Religionen] kann man 1558 mit dem Tode von Maria Tudor ansetzen, der
letzten Monarchin, die über ein offiziell römisch-katholisches England herrschen soll
te, und deren Ende 1960 m it der Wahl von John Fitzgerald Kennedy, des ersten rö
m isch-katholischen Präsidenten der Vereinigten Staaten. Um denselben Punkt zu
unterstreichen, könnte man bemerken, daß die Zeit der Gegenreformation 1563 mit
dem Ende des Trienter Konzils begann und 1965 mit dem Abschluß des Zweiten Vati
kanischen Konzils endete. [ ...] Ein römischer Katholik wurde zum Präsidenten der
Vereinigten Staaten gewählt - und wurde dann auf dem Gipfel seiner allgemeinen Be
liebtheit niedergeschossen und beerdigt, während die Nation und die Welt, halb be
täubt von der Folge der Ereignisse, sich zu einer gemeinsamen Trauerklage vereinte,
wie sie menschliche Technologie nie zuvor hätte möglich machen können. Unterdes
war ein hochbetagter Kardinal, 1958 zum Papst erhoben, dabei, eine Revolution in der
römisch-katholischen Kirche durchzuführen, deren Widerhall hin und her durch die
christliche Welt rollte, m it Im plikationen für die Zukunft, die sich menschlicher Vor
ausberechnung entziehen.“
Dies alles klingt uns heute wie ein Märchen aus uralter Zeit - sowohl was
US-amerikanische Präsidenten als auch die katholische Kirche und „die
christliche Welt“ angeht. Daß Ahlstroms elegische Sätze auch die damalige
40 Im Zeichen des Konzils - die Zeit in Münster (1 9 6 3 -1 9 6 6 )
erheblichen Druck, als unter Paul VI. jene Traditionalisten mehr und
unter e gewannen und in Reaktion darauf aus der buntgemischten
IIiehr '"rdistischen Fraktion“ eine Front von Theologen ins Rampenlicht der
„avantga^^ ^ jhre zieje auch unter Inkaufnahme ausbleibender Kompro-
NlCdiedurchzusetzen bereit war35. In welcher Richtung sich Ratzinger ent-
rnisse, _ unci welchen Platz in der nachkonziliaren Geschichte ihm infol-
sch|“; n die Öffentlichkeit zuweisen würde läßt sich bereits aus seinen
Rückblicken auf die einzelnen Sitzungsperioden des Zweiten Vatikanums
Der Abschluß seiner Bem erkungen läßt dann aber keinem Anflug von
Skepsis m ehr Platz: „Die Vorgänge, von denen wir reden, haben gezeigt, daß
Geduld vonnöten ist. Aber sie haben in keiner Weise jene Hoffnung zerstört,
ohne welche die Geduld ihre Seele verlöre. Das Konzil und mit ihm die Kir
che ist auf dem Weg. Es gibt keinen Grund zur Skepsis und zur Resignation.
Aber wir haben allen Grund zur Hoffnung, zur Frohgemutheit, zur Geduld
(ebd. 50).
Das Klima an der Theologischen Fakultät zu Münster war zu dieser Zeit
bereits von einer H offnung anderer A rt bestim m t. In dem schon zitierten
Vortrag vor der Studentengem einde weist Ratzinger auf zwei Beispiele hin,
wo in der K irchengeschichte nach einem revolutionären Schritt nach vorn
schließlich eine Scheidung der Geister nötig wurde. N icht nur der Apostel
Paulus m it seiner G em einde in K orinth, sondern auch M artin Luther habe
42 Im Zeichen des Konzils - die Zeit in
Münster (1963-1966)
„Aus diesem Grunde muß einerseits die Frage geweckt werden und m u ß anderseits
die christliche Botschaft sich immer wieder von dem tatsächlichen Fragen der Men
schen zu sich selbst hin erwecken lassen, sich vom Hören auf dieses Fragen aus je neu
zur Antwort formen“ (1966c, 121). „Weil es im Kerygma immer auch das gibt, was in
Wahrheit kein Kerygma, sondern menschliche Umdenkung ist, deshalb ist das gedul
dige Hören auf das wirkliche Wissen der Menschheit jederzeit wieder vonnöten. [...]
(Es gibt) auf der einen Seite die Verdunklungen der christlichen Schuld, auf der ande
ren Seite den verborgenen christlichen Reichtum derer, die ja gleichfalls unter dem
Zeichen des Erlösers stehen. Das gilt, wie die Konstitution über die Kirche in der heu
tigen Welt zu zeigen sich mühte, auch [ ...] für das Verhältnis von Christen und
Atheisten; auch der Atheist hat ein Zeugnis zu verwalten, das den Christen angeht, ihn
zum Hören und Nachdenken zwingt“ (ebd. 122).
Was den Stellenwert öffentlich -ration aler G laubensverantw ortung für die
ses „H ören und N achdenken“ angeht, bem erkt Ratzinger: „ [ . . . ] die kirchliche
A utorität (kann) nicht den wissenschaftlichen Sachverstand der Theologie er
setzen, sondern m u ß ihn n och einm al als solchen anerkennen und vorausset
zen und kann n u r a u f ihm aufbauend, n ich t gegen ihn die Verkündigung des
W ortes und das G eltendm achen seines Anspruchs vollziehen“ (ebd. 125).
Sechstes Kapitel:
Zenit und W egscheide - die Tübinger Jahre
(1 9 6 6 - 1 9 6 9 )
a..c P a tz in s e r s
Rat hin war J. B. Metz auf den Münsteraner Lehrstuhl für
eologie berufen worden. Seine eigene, von Hans Küng mit
u , , . nnterstützte Berufung auf den neu errichteten zweiten Lehrstuhl
N ach d ru „ . _______ u : — a ; 0 _______
schalthcne r o is u .u .* 5 — ------------- 0 —J
Konzil nur in sehr begrenztem Um fang zugelassen hatten. Ratzinger hat ein
drücklich geschildert, wie bald sich diesen Plänen Ereignisse entgegenstellten,
die zu einer ganz neuen H erausforderung für ihn wurden (vgl. 1998 a, 137—
151) schon die von ihm selbst in diesem Zusam menhang gegebenen Hin
weise auf sein früheres Verhältnis zu Metz und Küng lassen durchblicken, daß
die sich jetzt (unter eifriger Unterstützung durch die öffentlichen Medien) er
heblich verschärfende nachkonziliare Polarisierung nicht nur die katholische
Kirche allgemein bis ins H erz d er O rtsgem einden hinein erschütterte. Im
Zentrum dieser m it im m er härteren Bandagen ausgetragenen Kämpfe spiel
ten sich zwischen führenden T heologen wie Karl Rahner und Hans Urs von
Balthasar und schließlich n o ch m eh r zwischen den Hoffnungsträgern der
ihnen folgenden G en eration auch bis ins Persönliche gehende Konflikte ab.
Wenn es nicht gelingt, die verborgene Tragik hinter diesen Animositäten auf
zudecken, wird m an sich wohl kaum ein zuverlässiges Bild von der Kirchen
geschichte der letzten fünfzig Jahre m achen können.
suchen, daß dieses Buch ein zwar nicht lautstarkes, aber doch d
nehm bares Echo hervorrief, ohne daß sein Autor zuvor als übe CUtlicl1 'Br
üche Tabus erhaben gefeiert worden war? r arr**skirch_
Eine naheliegende Erklärung bietet sicher Ratzingers Beitrag z
Vatikanischen Konzil. Hier war er vor allem als Berater eines ap™ ^We'ten
konservativ geltenden, nun aber beherzt progressiv auftretenden F 8^mäßigt
m it beträchtlicher H ausm acht aufgefallen. Nicht zu übersehen istF, SChofs
die Sympathie, die sich dieser bescheidene, ja, ein wenig schüchtern'1 ^ ^
Theologe bei Korrespondenten einflußreicher Blätter mit höhere W?,kende
aufgrund seiner präzisen und dennoch publizistisch gut verwertbar" j1Veau
mationen erworben hatte. Die Welt wartete förmlich auf ein auch
gischen Amateuren nachvollziehbares Werk, in dem er eine G e s a m t lc h '0'
christlichen Glaubens aus seiner innovativen und doch kirchlich an^i des
Sicht geben würde. anerkannten
Diese Erklärung verm ag aber nur dann zu überzeugen, wenn das Buch v
seinem Inhalt her solche Erw artungen auch tatsächlich erfüllte. In einender'
sten U nterabschnitt versuche ich d aher aufzuzeigen, in welchem Maße die
„Einführung in das C h risten tu m “ ein er w eitgestreuten, nicht nur katholi
schen Leserschaft bei aller wissenschaftlichen Genauigkeit verständliche und
zugleich m ehr als bloß den Verstand berührende Antw orten auf ihre Fragen
b o t.37 In den darauffolgenden Ü berlegungen m öch te ich mich dann einigen
m ethodischen Problem en zuwenden, die im M ittelpunkt eines recht lebhaf
ten Disputs über diese N euerscheinung zwischen W alter Kasper und Joseph
Ratzinger standen.
Das B uch „Einführung in das C h riste n tu m “ ist aus Vorlesungen für Hörer
aller Fakultäten h ervorgegangen, die Joseph R atzinger im Sommersemester
1967 in Tübingen gehalten hat. Im V orw ort verweist er au f Karl Adams Vor
träge (von 1 9 2 3 /2 4 ) über das „Wesen des K atholizism us“. Vom umfassenden
Ziel seines U n tern eh m en s her h ätte er auch an A d olf H arnacks berühmte
V orlesungen von 1 8 9 9 /1 9 0 0 über das „W esen des C h risten tu m s“ erinnern
k ö n n en . V orausblickend d a rf m an wohl sagen, daß R atzinger m it diesen
„V orlesungen über das Apostolische Glaubensbekenntnis“ (so der Untertitel)
einen w ichtigen Schritt a u f den theologischen Einführungskurs hin getan hat,
d er - a u f A nregung vor allem Karl R ahners - 1978 als Pflichtvorlesung in die
„R ah m en o rd n u n g für die Priesterausbildung“ aufgenom m en wurde.
Bei d er Ü b erarb eitu n g seiner „C hristologie“ für die 1 9 6 6 /6 7 - nun in un
m itte lb a re r N äh e von E rn st K äsem ann, dem wohl bekanntesten Schüler Ru-
45
„Einführung in das Christentum
indem sie es verehrt, und die Zusage zu dem einen Gott des Himmelfl ' ' f ’
alles bergenden Macht“ (1968 a, 80). a s er
„Das Bekenntnis ‘Es gibt nur einen G ott’ ist in diesem Sinn, gerade weil es selbst k '
politischen Absichten ausdrückt, ein Program m von einschneidender p olitisch er Be'
deutung: D urch die A bsolutheit, die es dem einzelnen von seinem Gott her verleiht
und durch die Relativierung, in die es alle politischen Gemeinschaften von der Einheit
des sie alle um spannenden G ottes rückt, ist es der einzige definitive Schutz gegen die
M acht des Kollektivs und zugleich die grundsätzliche Aufhebung jedes Ausschließlich
keitsdenkens in der M enschheit überhaupt“ (ebd., 81 ft).
Überzeugend, wenn auch durch immer wieder neue Ansätze nicht leicht zu
erkennen, ist dann die Grundlinie, die von bibeltheologischen Ausführungen
zum Jahwe-Namen bis zur Interpretation der Dreifaltigkeit als innerstes
Wesen des einen Gottes führt (ebd. 8 4 -1 5 0 ). Gott offenbart sich Israel schon
von den Anfängen her „auf der Ebene von Ich und Du“ (ebd. 91). Die Ver
mählung dieses Glaubens m it der griechischen Ontologie muß daher als
skandalös erscheinen (vgl. ebd. 86). Indem die frühe Kirche beim Eintritt in
den griechisch-röm ischen Raum für den Logos der Philosophie und gegen
jede Art von Mythos optierte, schob sie aber den ganzen Kosmos der antiken
Religionen in einer ähnlichen Weise beiseite wie Israel seinerzeit in seiner
Entscheidung gegen Moloch und Baal (vgl. ebd. 103 f.). Die Titel „Vater“ und
„Allherrscher“ im Apostolischen Glaubensbekenntnis bringen „genau das
zum Ausdruck, worum es im christlichen Gottesbild geht: die Spannung von
absoluter Macht und absoluter Liebe, [ ...] von Sein schlechthin und von un
m ittelbarer Zugewandtheit zum Menschlichsten des Menschen“ (ebd. 113)-
Erst im Ringen um die Form ulierung des Trinitätsglaubens wird aber die
M acht des Statischen überwunden, die dem griechischen Seinsbegriff mit sei
ner unüberwindbar scheinenden Kluft zwischen Einheit und Vielheit anhaftet-
„Einführung in das Christentum
In dem D isput, den W alter Kasper durch seine Rezension der „Einführung in
das C h risten tu m “ m it Joseph Ratzinger ausgelöst hatte41, ging es weniger um
inhaltliche als u m m e th o d isch e P roblem e, insbesondere (1 ) um die Frage
nach dem Verhältnis der historisch-kritischen Exegese zur Dogmatik und (2)
das Problem der Relation zwischen Philosophie und Theologie.
(1 ) Die Position W . Kaspers zur ersten Frage ist relativ leicht zu umreißen.
Der d am als n o ch in M ü n ster lehrende O rdinarius für Dogm atik gehörte zu
dem groß en U m feld katholischer Theologen, die sich der durch E. Käsemann
eingeleiteten „N euen Suche nach dem historischen Jesus“ angeschlossen h at
ten. Die Sprengkraft d er ersten, im Zeichen der Aufklärung verlaufene Phase
einer (an tid o g m atisch e n ) L eben -Jesu -Forsch u ng war bereits zur Zeit des E r
sten W eltkriegs erloschen . A usgerechnet R udolf B ultm ann, der wie kaum ein
50 Zenit und W egscheide - die Tübinger Jahre ( 1966- 1969 )
sich zu wandeln beginnt in die neuerliche Flucht von Christus zu Jesus“ (1968a, 158.
meine Hervorh.).
Joseph Ratzinger hat sich damals wohl zu Recht als einsamer Kämpfer zwi
schen allen Fronten gefühlt. Auf der einen Seite wuchs die Schar auch katholi
scher Exegeten und Systematiker, die sich zur Aufnahm e der „neuen Suche“
n ach dem „historischen Jesus“ verpflichtet hielten. Auf der anderen Seite
standen weiterhin Denker wie Karl Barth, den nicht nur die Suche nach dem
„historischen Jesus“, sondern im Gegensatz zu Bultm ann die historisch-kriti
sche Exegese generell nie sonderlich b erührt hat. Bei Karl Rahner ist die Be
schäftigung m it exegetischen Fragen stets ein Stiefkind seiner Theologie ge
blieben. Hans Urs von Balthasars Leben und Denken ist zwar zutiefst von der
H eiligen Schrift geprägt. Was die historisch e Kritik an geht, hielt er es aber
eher m it Karl B arth. R atzinger hingegen w ar sch on seit dem Beginn seines
Theologiestudium s bei F. W. M aier (s. S. 2 2 ) von der Einsicht geprägt, daß
die system atische Theologie n ich t an den Ergebnissen der h istorisch -k riti
schen Exegese Vorbeigehen darf. Die ganze Schärfe des Problems von „Histo
rie und D ogm a“ (B lon d el), vom „garstigen breiten G raben “ (Lessing), wird
ihm aber erst w ährend der Konzilsjahre und v o r allem d urch den innerhalb
der B ultm an n -S ch ule selbst au sgeb roch en en Z w ist aufgegangen sein. Auf
jeden Fall bildet der vielschichtige P ro b le m h o riz o n t, wie ihn R atzinger im
U nterschied zu vielen an deren in d er K onzilszeit und u n m ittelb ar danach
w ahrnahm , einen wichtigen H intergrund für das Verständnis seiner weiteren
Suche nach einem angem essenen Verhältnis von Exegese und Dogm atik (vgl.
hierzu Kap. 9).
(2 ) Im Gegensatz zu der b em erk en sw erten E n tw ick lu n g, die Ratzingers
D enken seit dem Beginn seiner L eh rtätig k eit in B o n n h in sich tlich des Ver
hältnisses von Schrift und T rad ition bzw. von E xegese und system atisch er
T h eologie aufweist, lassen sich bei ih m in dieser Z eit k au m F o rts c h ritte im
Blick au f die Frage nach der Beziehung zw ischen Philosophie und Theologie
feststellen. Eher wird m an sagen m üssen, daß R atzinger nun n och häufiger als
z u v o r Philosop hen bzw. Philosop hien k ritisch ins Spiel b rin g t, m it denen er
sich n ich t n äher vertrau t gem acht hat.
S ch o n in seinen ersten Stu dien jah ren w aren ih m p h ilo so p h isch e A nsätze
b eson d ers interessant erschienen, in denen au fgru n d jü n g erer Ergebnisse der
N atu rw issen sch a fte n a u f eine n eue O ffen heit des m o d e rn e n D en k ens für
G o tt geschlossen w urde (vgl. 1998 a, 4 8 f ) . W egen des darin im plizierten Fehl
sch lu sse s, den in aller S ch ärfe v o r allem M a u rice B lon d el h erau sg earb eitet
h a t45, w a r ich in B o n n m it R a tz in g e r h a rt a n e in a n d e rg e ra te n , als er im A n
sch lu ß a n A lb ert M itterer und Pius X II. (1 9 5 1 ) über die physikalische Theorie
der E n t r o p i e d en bei T h o m a s von A quin zu find en den G ottesbew eis aus der
Die „Zeichen der Zeit'
53
In d er Zeit von Lessing bis Hegel (u n d F eu erb ach ) w aren in e in e r In ten sität
wie
zu vor W orte zu r B ezeichnung eines den M e n sch e n in A n s p ru c h n eh -
Die „Zeichen der Zeit“ 55
nienden Unbedingten geprägt, bedacht, dem deutschen Volk ins Herz gesun
ken w orden. Die M ach th ab er des D ritten Reiches hatten all diese hohen
W orte so radikal verschlissen, daß sie nach dem Zusam m enbruch für den
Umgang der M enschen m iteinander untauglich geworden waren. Welche O p
tionen blieben übrig für den Aufbau eines neuen gesellschaftlichen Z u
sam m enschlusses u nter A nerkennung von W erten, die zumindest m ehrheit
lich bejaht wurden? Im G runde nur drei, die sich öffentlich als „Partei4* zu be
kennen wagen konn ten , und eine vierte, schweigend gewählte Alternative, die
mehr und m ehr zur stärksten M acht im Staate wurde. Alle diese Gruppierun
gen durften sich als unter der Naziherrschaft „politisch Verfolgte“ verstehen.
Ich beginne m it der letztgenannten „über- oder, besser, „unter-konfessio
nellen“ Partei. Ihr P ro g ra m m hat M a x Stirner 1844 formuliert46:
Wie steht es mit der Menschheit, deren Sache wir zu der unsrigen machen sollen?
[ ] die Menschheit sieht nur auf sich [ ...] . Damit sie sich entwickle, läßt sie Völker
und Individuen in ihrem Dienste sich abquälen, [am Ende aber] werden sie von ihr
aus Dankbarkeit auf den Mist der Geschichte geworfen. [...] Die Patrioten fallen im
blutigen Kampfe oder im Kampfe mit Hunger und Not; was fragt das Volk danach?
Das Volk wird durch den Dünger ihrer Leichen ein‘blühendes Volk! [...] Meine Sache
ist weder das Göttliche noch das Menschliche, ist nicht das Wahre, Gute, Rechte, Freie
u.s.w., sondern allein das M einige, und sie ist keine allgemeine, sondern ist - einzig,
wie Ich einzig bin. Mir geht nichts über Mich!“ (M. Stirner 1969, 35-37).
sident von 1959 bis 1969, eröffnete 1966 gleichsam als Repräsentant der Stim
me des Volkes das neue Springer-Verlagshaus in Berlin.
R udolf A ugstein, 1923 in H annover geboren, war aus anderem Holz ee
schnitzt als der 1912 in Ham burg-Altona geborene Axel Springer. Wie Ratzin-
ger schon von seinem Vater darüber belehrt, daß mit Hitler das Unheil über
Deutschland hereinbrechen würde, hatte auch er klare Prinzipien, allerdings
solche, die sein em Zeitgenossen aus den bayrischen Bergen nicht weniger
fremd waren als der Geist Preußens. Sein Programm stellte in ähnlicher Weise
eine Variante zum „D ictionnaire philosophique“ Voltaires dar, wie das christ
liche W eltbild im N achkriegsdeutschland an Novalis’ „Die Christenheit oder
E u rop a“ erin n erte. Allerdings w ar Augsteins beißende Ironie so radikal wie
das soeben zu sam m en geb roch ene System totalitär war. Und vor allem: Unter
dem Schutz d er alliierten Befreier konnte er seinen Sarkasmus so ungeniert
verbreiten wie n o ch kein Verleger zuvor. Schon die Besatzungsmächte selbst
bekam en das in D IE S E W O C H E , der Vorgängerin des ab Anfang 1947
erscheinenden D ER SPIEG EL, zu spüren.
A ugsteins H au p tziel d ü rfte gewesen sein, jeden Anflug von angemaßter
Autorität und jedes au ch n o ch so zarte Gewächs sich konzentrierender Macht
bereits im Keim e zu ersticken. D adurch, daß er die Dubiosität jedes auf Wah
res, Gutes und S ch ön es g erichteten Redens und Handelns herausstrich, noch
bevor es ganz a u sg e sp ro ch e n o d er vollzogen war, trug er jedoch auf seine
Weise zu d er „ D ä m o n ie des gru n dsätzlich en M ißtrauens“ (Th. S. Eliot) bei,
au f die d er S p rin ger-V erlag u n te r anderen Vorzeichen hinsteuerte. Wo jedes
entschieden w erto rien tie rte E ngagem ent in politischen, religiösen oder kultu
rellen In s titu tio n e n ü b e rh a u p t v o n vorn h erein dem Verdacht auf falschen
Schein au sgesetzt ist, w ird Scheinheiligkeit schließlich auch de facto zum in
tegrierenden Teil d u rch sch n ittlich en öffentlichen Handelns.
Vor allem d er n eu en „U n io n von T h ro n und Altar“ in der „Adenauer-Ära“
hatte Augstein d en K a m p f angesagt. Schwieriger nachzuvollziehen ist, warum
er au ch n o ch in d en Ja h rz e h n te n d an ach fast zu jedem Hauptfest der C hri
stenheit einen A rtikel h erau sb rach te, der au f die Unterminierung alles Christ
lichen zielte. Im m e r w ied er h a t Augstein selbst bzw. W erner Harenberg, sein
F a ch m a n n fü r d iese F ra g e n , d etailliert darzulegen versucht, wie wenig der
C h ristu s des G lau b en s m it d em gem ein h at, was sich historisch über einen
gewissen Jesus v o n N azaret au sm ach en läßt. Sah m an von dem üblichen jour
nalistischen Beiw erk ab, so k onn te m an diesen Ausführungen im allgemeinen
jed och ein gewisses w issenschaftliches Niveau nicht absprechen.
Z u r B lü tezeit d er D ialektischen Theologie (und während der Fortdauer des
A n tim o d e rn ism u s im k a th o lisch en L ag er) h ätte diese Neuauflage der bereits
v on A lb e rt S ch w eitz e r k a rik ie rte n L e b e n -Je su -F o rsch u n g wenig Aufsehen
lit und Wegscheide - d 'e Tübinger Jahre ( ‘ 9 6 6 - ! 9 6 9 )
Zenit
/y C I» “ -- ------
58
• , n Christen erregt. Nun schien der evangelischen
unter kirchlich ^ ^ k a t h o l i s c h e n Theologie seit dem 1954 vollzogenen
und zunehmend auch ae ßultmann die öffentlich-rationale Ver-
Bruch Käsemanns n u t s e i n e ^ ^ j ^ H g ^ wieder an dje in traditioneller
tretbarkeit der christlichen> Rückfrage nach dem „historischen Jesus“
methodischer Manier e ^ ^ rn ^ St£mgen bewehrte Suche“ (K B anh
rSSZZ*
Geschichte
* Theologie Augstein aber das R echt a u t E inrede in ih r,
und sjch selbst zur A u seinandersetzung m it jedem
genug w ahrnahm .
In seiner 1 9 6 4 erschienenen „Theologie der Hoffnung“ zitiert ]ürgen Molt
mann den letzten Text der „M inim a moralia. Reflexionen aus dem beschädig
ten L eben“, die T h . W . A d orn o 1 9 4 4 -1 9 4 7 verfaßt und dann 1951, bald nach
seiner R ü ck k eh r aus d em E xil (1 9 4 9 ), veröffentlicht hatte: „Philosophie, wie
sie im A n gesich t d er V erzw eiflung einzig noch zu verantworten ist, wäre der
V ersuch, alle D in g e so zu b e tra c h te n , wie sie vom Standpunkt der Erlösung
aus sich d a rste llte n . [ . . . ] P erspektiven m üßten hergestellt werden, in denen
die W elt äh n lich sich v ersetzt, verfrem det, ihre Risse und Schrunde offenbart,
wie sie e in m a l als b e d ü rftig u n d entstellt im Messianischen Lichte daliegen
wird [ . . . ] “ (M o ltm a n n 1 9 8 5 , 2 6 7 f.). In solchen Sätzen ist dem Entsetzen über
die V erb o rg en h eit G o tte s z u m T ro tz eine neue Form von Hoffnung auch für
diese W elt k a u m w e n ig e r s p ü rb a r als in den Aufzeichnungen Dietrich Bon-
h oeffers w ä h re n d se in e r H a ft, die in den Arbeiten von M oltmann und Metz
ebenfalls zu W o r t k a m e n .
N o c h s tä rk e r b e e in flu ß t w a re n diese A utoren allerdings von der Philoso
phie E r n s t B lo c h s , d ie b e i allen A nklängen an jüdisch-christliche Messianis
m en bzw . h u m a n is tis c h e U to p ie n d o ch unverkennbar atheistisch ist. Der in
der je su itisch e n M e ta p h y sik w ie ü ber deren Verm ittlung dann auch im Leib-
n iz -W o lffsch e n R a tio n a lis m u s ü b lich gew ordene Schluß von der „Realmög
lich k eit“ a u f d ie w irk lic h e E x is te n z absoluten Seins, den trotz der Kantschen
K ritik d ie In n s b r u c k e r L e h re r v o n Jo h . B. M etz n och im m er vertraten49,k a m
im G e w ä n d e e in e r O n to lo g ie des „ N o ch -n ich t-S e in s , das E rn st B loch im
tie fste n G r u n d e d e r M a te r ie als „ P rin z ip H o ffn u n g w alten sah, zu neuen
E h r e n . D ie se V a r ia n te v o n „ R e a lm ö g lich k e it ersetzte die „dialektischen
S p rü n g e “ in d e r E v o lu tio n s le h re des o rth o d o x e n M arxism u s, w ar aber n ich t
w e n ig e r m y t h i s c h als d ie se . D ie p o e tis c h e R h e to rik des Eriedenspreisträgers
des D e u ts c h e n B u c h h a n d e ls v o n 1 9 6 7 k la n g a n g en eh m in den O h ren von
T h e o lo g e n , d ie s ic h z u d ie s e r Z e it m it d er in d en U S A seit 1 9 6 5 Aufsehen er
re g e n d e n „ D e a t h o f G o d T h e o lo g y “ b e fa ß te n .50 E s lä ß t sich nachvollziehen,
, Hp die Tübinger Jahre ( 1 9 6 6 -1 9 6 9 )
60 Zenit und Wegsche.de- d r e i
unter'ftirt-G eorg Kiesinger gekom m en, dem seine M itg lied sch aft in der
NSDAP und Tätigkeit im Reichsaußenm inisterium vorgew orfen wurden. In
der damals gegründeten A (u ß e r)P (a rla m e n ta ris c h e n )0 (p p o s itio n ) ü ber
nahm Rudi Dutschke, der „Cheftheoretiker“ der deutschen Studentenrevolte,
die Führung Am 2. Juni 1967 wurde der Student B en n o O h n eso rg bei einer
Demonstration gegen den Besuch des persischen Schahs ersch ossen . Anfang
Februar 1968 lernten sich Ernst Bloch und Rudi D utschke a u f ein er Tagung
der Evangelischen Akademie Bad Boll in der N ähe von T üb in gen persönlich
kennen. Schon bald entwickelte sich eine enge V erbu n d enh eit zw ischen bei
den. Blochs Privatwohnung glich einer W erkstatt, in d er A rtikel verfaßt, M a
nuskripte redigiert und Vertreter der öffentlichen M ed ien em p fan g en w u r
den. Am 11. April 1968 wurde Dutschke von ein em H ilfsa rb e ite r n ied erge
schossen und lebensgefährlich verletzt, dem m an z u m in d est Sym p ath ien für
den Springer-Verlag nachweisen konnte. U n te r A u sn u tz u n g d e r H itze der
darauf folgenden Protestkundgebungen beschloß d er B u n d estag am 3 0 . Mai
1968 (trotz einer erheblichen Zahl von G eg en stim m en a u ch aus d e r K oali
tion) die „Notstandsgesetze“.
Joseph Ratzinger wird sich angesichts des radikalen V orgehens von Studie
renden daran erinnert haben, welche M ü he sein V ater als G e n d a rm Anfang
der dreißiger Jahre hatte, der von Nazis ausgeübten G ew alttätigkeiten H err zu
werden. Die nicht vorwiegend u topisch A u fgelad en en , s o n d e r n v o r allem
politisch Engagierten unter den revoltierenden S tu d ieren d en d a c h te n in der
Mehrzahl wohl ebenfalls - wenn auch u n ter a n d eren V o rz e ich e n — an jene
Zeit vor der M achtübernahm e durch Hitler, als die p a rla m e n ta ris c h e D e m o
kratie versagt hatte. Bei aller K om plexität ih rer M o tiv e d ü rfte ih r H a u p tziel
darin bestanden haben, diesmal n och rechtzeitig v o r ein em zw eiten „ 2 0 . Juli“
den drohenden Gefahren eines „Vierten Reiches“ zu b egegnen .
In dieser überreizten Situation w ar es für die „ K o m b a tta n te n “ n a h e z u un-
Die „Zeichen der Zeit“
61
ZU bellen
Stellen. D as V o rg eh en d eerr U SA in V ietnam führte weltweit zu Pro Protesten,
(a u ß e rh a lb d
aber (autoernaiu u ecir nuuuuuiuouowu
k o m m u n istisch ‘regierten oder beeinflußten
" 6 ,UIU1 ^UC1 uccuiuuwen Länder)
Lanaer)
m W. n u r in d er B u n d esrep u b lik zu dem Kurzschluß, daß der Vietcong
Vietcons zum
Heile Indochinas berufen sei.
W enn sch o n fü tu r died ie R K ev
evo o ltieren
itierendaenen selbst
seiost die
aie eigenen Motive undurch undurch
schaubar„ „gew
m .fp rä c T i w aa rre
orden e nn , d an
ann k a n n m an
n kann a n erst
e rst recht
re c h t Pauschalisierungen
P an srh alisip ru n o p n au
auf
Seiten d erer versteh en , die hier die totale Anarchie auf sich zukommen sahen.
Die F ro n te n , d ie sich d a m a ls bild eten , blieben vor allem in der katholischen
Theologie w irk sam - u n d w u rd en d urch innerkirchliche Polarisierungen aus
Gründen v erstärk t, a u f die im nächsten Kapitel einzugehen ist.
Siebtes Kapitel:
Ein Versuch, Atem zu holen - Regensburg
(1 9 6 9 -1 9 7 7 )
„Unfehlbar?“
Hans Küng hatte seine die Unfehlbarkeit des Papstes betreffende „Anfrage“
unmittelbar mit der am 25. Juli 1968 promulgierten Enzyklika Pauls VI. „Hu-
manae vitae“ verbunden. Mit diesem wohlüberlegten Frontalangriff auf ver
krustete Strukturen der „Amtskirche“ konnte er auf den brausenden Applaus
einer breiten Öffentlichkeit rechnen. Auch zahlreiche andere Theologen und
viele Bischöfe waren unzufrieden mit dem Verhalten Pauls VI. auf dem Konzil
und nun entsetzt über die Art und Weise, wie dieser Papst, das Votum der von
ihm selbst eingesetzten Beratungskommission und die gereizte Atmosphäre
in der westlichen Welt mißachtend, zur komplexen Frage der Geburtenkon
trolle Stellung nahm . Einen M onat nach Erscheinen der Enzyklika hatten die
deutschen Bischöfe in ihrer „Königsteiner Erklärung“ vom 30. August 1968 die
Sachfragen vorläufig au f Eis gelegt, weitere Gespräche darüber aber in Aus
sicht gestellt. Was die sich nun neu erhebenden seelsorglichen Schwierigkei
ten anging, bezogen sie jedoch eine klare Stellung: „Wer glaubt, in seiner pri
vaten T heorie und Praxis von einer nicht unfehlbaren Lehre des kirchlichen
Am tes abweichen zu dürfen - ein solcher Fall ist grundsätzlich denkbar - ,
muß sich nüch tern und selbstkritisch in seinem Gewissen fragen, ob er dies
vor G ott verantw orten kann“ (Nr. 3). W arum verknüpfte Küng ein nicht als
unfehlbar ausgegebenes W ort des Papstes mit der Frage nach der päpstlichen
Unfehlbarkeit? Inwieweit hätte er die Folgen seines Schritts voraussehen kön
nen?
Man wird Küng zugute halten müssen, daß er nach neunjährigem Studium
an der G regoriană und intim er Kenntnis römischer Taktiken und Praktiken
eine R ückkehr zu vorkonziliaren Zuständen befürchtete. Vielleicht hielt er
nun den Augenblick für gekommen, keine devoten Verbeugungen vor den
„alten H erren im Vatikan“ m ehr zu machen, sondern mit Macht auf eine die
K onzilsarbeit w eiterführende Lösung der anstehenden Fragen zu drängen,
nötigenfalls am Papst vorbei - etwa im Sinne einer gemäßigten konziliaristi
sehen Theorie, die er schon in „Strukturen der Kirche (1962) und dann wie
der in „Die K irche“ (1 9 6 7 ) vertreten hatte. War ihm aber wirklich nicht be-
wußt, daß er m it zunehmender Inanspruchnahme der ihn bald wie e^ne^ *ar
hofierenden M edien aus dem von ihm in Frage gestellten Umfeld geistlicher
holen - Regensburg (1 9 6 9 -1 9 7 7 )
Ein Versuch, Atem zu
64
• noch weitaus gefährlicheren M achtbereich hinüberwech-
Macht nur in einen hristlichen Glauben, sondern dem Fragen nach
selte, der nicht nur fremder gegenüberstand als n och so hartge-
sottene J
n irh t ahnen, daß er damit drängende Fragen der Kirche vor
der Kontrove™ Fernsehen auslieferte, das differenzierten Beiträgen zu
Natur aus abgeneigt ist und angesichts des rückläufR
e„ nteressesfü,den Streit um d ie,,68er nun geradezu „ach etnetn neuen
Schlachtfeld lechzte - und dank proftlierungssucht tger T heologen » o „ Unk,
und rechts auch fand? Nachdem die N eurotisierung der Ö ffentlichkeit h in
sichtlich einer „bis ins Schafzimmer anständiger C hristin n en und C hristen
ausgreifenden päpstlichen Autorität“ einmal in Gang gesetzt war, ist es nicht
verwunderlich, daß nun in Rom die Tür für dringend n otw endige klärende
Gespräche zufiel, und bis zu einem gewissen Grade auch verständlich, warum
unter einem Papst von der Statur Johannes Pauls II. die „Pillenfrage“ gerade
zu einen Spitzenplatz in der „Hierarchie der W ahrheiten“ erob erte52.
Ratzingers Kritik an Küngs Buch „Unfehlbar?“ findet sich in einer von Karl
Rahner herausgegebenen „Quaestio disputata“, die schon im Titel zum Aus
druck bringt, daß Küng ein in der Tat bestehendes P rob lem an gesprochen
hatte. Dies bestätigen auch alle Beiträge der angesehenen T heologen, die hier
das Wort ergreifen, während sie, was die Schärfe ihrer Stellungnahm en Küng
gegenüber angeht, erheblich voneinander abweichen. Ratzinger selbst bem än
gelt in seinem Aufsatz - neben der „m ilitan te(n ) S p rach e, die a u f weite
Strecken hin eher das Klima des Klassenkampfes als d er w issensch aftlich en
Analyse oder gar des ‘Fühlens m it der K irche’ a tm e t“ (1 9 7 1 , 9 8 ) - v o r allem
die vielen Widersprüche in Küngs Buch, die er recht detailliert behandelt.
Der Regensburger Dogmatiker räum t zwar zunäch st ein: „K ü n g zeigt hier
durchaus überzeugend, daß von dem au sgesprochen ‘rö m is c h e n ’ Typ von
Theologie her [ ...] die Aussagen der Enzyklika [H u m a n a e vitae] als sachlich
unfehlbar und einem Dogma gleichrangig zu betrach ten sind. M an m u ß ihm
auch noch zustimmen, wenn er fortfäh rt, dies sei ‘die rö m is c h e , w en n v iel
leicht auch nicht ohne weiteres katholische Lehre [ . . . ] ’“ (e b d . 1 0 2 f .) . „Aus
em Gefängnis des römischen Schultypus h erau szu k o m m en , ist ein e A ufga-
F b °n uu aUC na^ l me‘ner Überzeugung die Ü berleben sch an ce des K atho-
abf “ S' (ebd; ,05>- Mi. N achdruck b e to n . R a tz in g e r d a n n je d o ch ,
da« t a g trotz setner Versicherung, ein „überzeugte, k a ,h o l,sch e r T h e o lo g e “
imbew t D “T A rgu m en t«™ außerhalb des Rahmens der Katholi-
se“ s a h T i“ T U° ! *“ der F' d« Fachkollegen, der erst
den wird, wirkt befandend"“' beS0”derer klrChlKhcr Mirvollmacht beklei-
Die Auseinandersetzung m it Hans Küng
65
Einen zentralen - und von fast allen Teilnehmern an der von Rahner her
ausgegebenen „Q uaestio disputata“ reflektierten - Punkt stellt die von Küng
in den Vordergrund gerückte Problematik der geschichtlichen Relativität der
Wahrheit v o n Sätzen für die Behauptung der Unfehlbarkeit von Dogmen dar.
Ratzinger b e to n t die „Beständigkeit und [ ...] wesentliche Unüberholbarkeit“
des D o g m a s . D a s bedeute zwar nicht, „daß das Dogma außerhalb der
m e n s c h lic h e n S prache, ihrer notwendigen Vermitteltheit und Begrenztheit
steht [u n d ] n ic h t etw a erw eiterungsfähig, tiefer verstehbar und so auch
s p r a c h lic h besser zu fassen ist. Aber es bedeutet, daß das Dogma in seiner
d u rch alle D e fe k te der m enschlichen Sprache hindurch erkennbaren Grund
a u sric h tu n g w a h r ist, weil au f die W ahrheit - Jesus Christus - verweisend und
d aß es d a h e r an der Beständigkeit der W ahrheit teilhat“ (ebd. 115).
Diese Feststellu n g greift zu kurz. Den „Verweis auf die Wahrheit - Jesus
C hristu s“ h at eine o rth o d o x e Aussage doch m it jeder Häresie gemeinsam.
Ratzinger präzisiert dann zwar am Schluß seines Beitrags: Kein Dogma ist ein
isolierter Satz. „Vielm ehr ist jedes D ogm a bezogen auf die Sinneinheit des Be
kenntnisses, als A uslegung u nd Präzisieru ng dieses Ganzen [ . . . ] . Das Be
kenntnis sein erseits ist b ezogen a u f den Akt des Bekennens als lebendigen
m enschlichen Vollzug, d urch den sich der Mensch ins Ganze der Glaubensge
m einschaft u nd m it ih r a u f den W eg zu G ott begibt“ (ebd. 116). Auch diese
doppelte „B ezogenh eit“ untersch eid et ein katholisches Dogma aber nicht von
(als h äretisch g elten d en ) Lehraussagen anderer Kirchen und kirchlicher Ge
m ein sch aften , die das G lau b en sb ek en n tn is von N icäa und Konstantinopel
ebenfalls als verbindlich ansehen.
Die B e to n u n g des Z u sa m m e n h a n g s zw ischen dem (wie das Dogm a satz-
h a ft-p ro p o sitio n a l) fo rm u lie rte n B ekenntnis und dem lebendig vollzogenen
B ekennen (in sein em „sp rach p rag m atisch en “ Charakter) ist zwar ein wertvol
ler W egw eiser fü r die In a n g riffn a h m e der auch nach Ratzinger „notwendi
g e ^ ) u nd n o ch w eith in o ffe n e (n ) Aufgabe“, die „doppelte Relation der ein
zelnen F o rm e l a u f das G an ze des Bekenntnisses und des Bekenntnisses als
Akt zu a n a ly sie re n “ (e b d . 1 1 6 ): K irch lich es Reden ist solange überzeugend,
wie es im E in klan g steh t m it der K raft des Zeugnisses, in dem Kirche als „Leib
C h risti“ tra n s p a re n t w ird . V on sein em Verhältnis zu dieser die W ahrheit Jesu
C h risti z u r b e stä n d ig e n G eg en w art b rin g en d en traditio ist der eigentliche
Sinn d er in L eh rsätzen festg eh alten en T rad ition im m er wieder neu zu erfra
gen. D iese A u fgab e k a n n ab er d o ch n u r in ein em geduldigen G espräch m it
ein an d er b ew ältigt w erd en . G erad e im Blick d arau f w irkt der Schlußsatz von
R atzin g ers B e itra g b e d e n k lich : „D ie stark en W o rte u n d die k äm p ferischen
G eb ärd en von K ü n gs B u ch m ö g e n dazu eine H erausford eru ng sein, sie selber
ersch ein en b ei w a ch e m Z u h ö re n d o ch n u r wie ein D on n er, dessen H au p tstär-
„ Ein Versuch, Atem zu holen - « eg en sb u re (1 9 S 9 - 1 9 7 7 )
00
beitrug?
Hans Küng beginnt seinen 1974 publizierten Versuch, das „Wesen des C hri
stentums“ auf eine völlig neue Weise darzustellen, m it ein er U m schreibung
des Adressatenkreises: „Dieses Buch ist geschrieben für alle, die sich, aus wel
chen Gründen auch immer, ehrlich und au frichtig in fo rm ieren w ollen, um
was es im Christentum, im Christsein eigentlich geht. [ . . . ] Es ist also ge
schrieben für Christen und Atheisten, G nostiker und A gn ostiker, Pietisten
und Positivisten, laue und eifrige Katholiken, P ro testan ten und O rth o d o xe“
(H. Küng 1974, 11). Der Autor verfaßt dieses W erk also n ich t p rim ä r als
Zeuge für den Glauben an Jesus C hristus, so n d ern als In fo rm a n t eines sehr
weit gefaßten Leserkreises.
Joseph Ratzinger hatte 1975 zunächst in ein er R ezension zu Küngs Buch
Stellung genommen, ergriff ein Jah r später ab er n o ch ein m al das W o rt in
einem von elf Theologen verfaßten Sam m elban d ( 1 9 7 6 , 7 - 1 8 ) . In den von
diesem Sammelband ausgelösten Reaktionen kam der öffentliche D isput um
Hans Küng zu einem ersten Siedepunkt.53 Ich m ö ch te im F o lg en d en erstens
Ratzingers Frage nach dem eigentlichen A d ressaten des B u ch s d a m it ver
gleichbaren Äußerungen Karl Lehm anns (1 9 7 6 , 1 1 2 - 1 2 1 ) gegenüberstellen
und zweitens ausführlicher a u f seine sch arfe K ritik am m e th o d is c h e n V or
gehen Küngs eingehen.
(1) Karl Lehmann hebt ausdrücklich die positive A u sstrah lu n g von Küngs
Werk auf eine breite Leserschaft h erv o r: „Es b esteh t kein Zw eifel, daß
H. Küng mit diesem Buch viele M enschen aus ih rer R eserve z u m ü b e rk o m
menen Christentum herauslocken und vielleicht n ach vielen Jah ren d er E n t
fremdung zum erstenmal wieder dem Geist des C h riste n tu m s n äh erb rin g en
konnte. Jeder Buchhändler einer m ittleren o d e r g rö ß e re n S ta d t k a n n d afü r
etc t einzelne Beispiele erzählen. [ . . . ] M it dieser A b sich t h a t H . K ü n g auch
^ H]6 u enSC^en erre'cht> die sich für den ch ristlichen G laub en interessie
ren als herkommhcherweise unter dem Stichw ort ö k u m e n is c h ’ e rfa ß t wird.
das C b ristb r^ ' ° r^ ° n|’ dem H ' Kün8 in seinem B u ch an setzt, verd ich tet
w /h r t a f t k „i c i f üergJ h 1“ d len kO "fe “ i°n e!len E n g stirn ig k e ite n , die ja
w ahrhaft,g n ,e h , alle aus Ltebe zu r W ah rh eit g e b o re n s in d “ (K . L eh tn an n
Die Auseinandersetzung mit Hans Küng 67
Lehm anns Ausführungen zufolge sind (an „Christ sein" gut verdienende)
Buchhändler in der Lage festzustellen, daß Küng dem überkommenen Chri
stentum entfrem dete Menschen dem „Geist des Christentums“ wieder „nä
herbringen konnte . Der ökumenische Erfolg lasse sich daran erkennen, daß
Küng viele M enschen, die sich für den christlichen Glauben interessieren, er
reicht hat. Der weite H orizont des Buchs „verdichte das Christliche“. Ratzin-
ger setzt andere Akzente. Ihn befremdet „das Gefühl der Bestätigung, das der
Leser am Ende des Buches empfinden wird. Ihm wird nichts zugemutet, was
die Plausibilität seiner Lebens- und Denkgewohnheiten stören würde“
( 1 9 7 5 a, 335). Am Ende seines zweiten Beitrags fragt Ratzinger sich selbst: „Ist
es eigentlich recht, m it vollen Breitseiten auf ein Buch zu schießen, das in sei
ner Anlage so positiv ist und so vielen Menschen wieder Zugang zu christ
licher Wirklichkeit ersch ließt?“ (1976,17). „Sollte man nicht [ ...] froh sein
über die Präkatechese[54], die hier in den weiten Raum der kirchlich nahezu
unerreichbaren Pagani [Heiden] der Gegenwart ausstrahlt? Kann man in die
sem Bereich überhaupt m eh r als zunächst einmal Sympathie für den M en
schen Jesus wecken, an sein tieferes Geheimnis vorsichtig heranfuhren und so
Bereitschaft zum C hristsein in einer zunächst noch sehr weiträumigen Form
schaffen [ . . . ] ? “ (ebd. 17 f.). R atzinger räu m t ein, daß Küngs Buch in der Tat
„eine großartige P räk atech ese in der guten Tradition der alten ‘Apologeten’
sein { k ö n n t e ) “ (ebd. 18). Aber das W erk sei ja eben nicht nur als eine „Summe |
für die H eid en “ in ten d iert, sondern solle zugleich eine „Summe der Theolo
gie“ sein. „M it an deren W o rten : Das, was m an den ‘Heiden nicht sagen kann,)
das kann man diesem A nsatz nach überhaupt nicht sagen. Wo aber die Sag-
b arkeit zu den ‘H eid en ’ (die ‘Plausibilität’) zum Leitm aß der Theologie und
des G laub en s ü b e rh a u p t w ird, da sagt m an auch den ‘Heiden’ nicht mehr^
genug u n d n ich t m e h r das R ich tige“ (ebd. 1 8). Erst wenn - wie in der alten
Kirche — sch on in der Phase einer vorläufigen Hinführung klar würde, daß sie
nur die V orbereitung au f den Zeitpunkt einer endgültigen, im Taufbekenntnis
zu bekräftigenden Entscheidung darstellt, hätte die „Präkatechese ihr Ziel er
reich t u n d w äre der W eg zum eigentlichen Sinn von „Christ sein nicht ver
sp errt.
(2 ) D a m it k o m m t nun die zw eite, w ichtigere Frage nach dem m eth o d i
sch en V orgeh en K üngs ins Spiel. Bereits in den vorigen Kapiteln habe ich zu
zeigen versu ch t, wie R atzinger in jeder Phase seines Schaffens die Frage nach
d em Verhältnis von E xegese u n d D ogm a m it je neuem Elan angeht. Im Disput
m it W a lte r K asp er k o n n te er sich n o ch d arau f b esch rän ken , die seit dem
W ied erau fg reifen d er R ückfrage n ach dem „historischen ]esus d urch Käse
m an n en tstan d en e n eue Problem lage in groben U m rissen zu skizzieren. Nun
ab er h a tte H an s K ü n g diese R ückfrage zu r entscheidenden Grundlage seiner
holen - Regensburg ( 1 9 6 9 - 1 9 7 7 )
Ein Versuch, Atem zu
68
, • rht Auch er wollte zwar nicht m ehr wie die „Leben-Jesu-F0 r_
The° ! ° gle gT d e s letzten Jahrhunderts eine Jesu s-B iograph ie an die
scher bis zum g gmas setzen, sondern nur die Kontinuität zwi-
Stelle des chns und ^ in d er K irch e zu verkünde
sehen
sehen dem his on ^ kritischer W issenschaft verantw orten. De facto
Christus ______________ ___________ _
dabri aber doch die gesamte christliche Tradition in das Prokrustesbett
r t t o r ä « » Fakten“
™ " gezwängt,
S ' « ü dien Küng n ta ü p & n g an
g (in A nknüpfung an die
die zur
zur Zeit
z *
d o n S r e n d e n Lehrmeinungen) rek o m tn u erte nnd (n , M enschen von heute
^ K to T sta n d m it dem von ihm gew ählten V erfah ren n ic h t allein , sondern
schrieb in einem sich schnell erw eiternden U m feld , in d em z u n ä ch st in den
Niederlanden dozierende T heologen wie E d w ard S ch illeb eeck x u nd Piet
Schoonenberg den Ton angaben. A ber er ging rad ik aler v o r als die anderen -
und keiner sonst hatte so deutlich gesagt, d aß alle v o n d e r offiziellen Kirche
proklam ierten „Lehrsätze“ ein er stän d igen k ritisch e n Ü b e rp rü fu n g offen
stehen. Von daher wird zu einem guten Teil die S chärfe v e rstä n d lich , m it der
Ratzinger gerade gegen Küng vorgeht: „D en K ern des B uch es bildet seine aus
führliche Darstellung der Gestalt Jesu. Die K ehre des th e o lo g isch e n Denkens,
e r h ™ dem Holländischen K atech ism u s[55] zu g ru n d e lag, ist h ier nun mit
aller Entschiedenheit vollzogen: A lles, w as seit S ch w eitzer, B a rth u n d B u lt
m ann gegen den ‘historisch en Jesu s’ als th e o lo g is c h e In sta n z g esagt w orden
war, ist radikal entschw unden“ (1 9 7 5 , 3 5 5 ) . „W eil K ü n g das P rin z ip ‘D ogm a’
ablehnt, m uß er n atü rlich a u ch das U rm o d e ll v o n D o g m a , n ä m lich den
Kanon als Kanon im th eo lo g isch en S in n , a b le h n e n u n d k a n n ih n n u r n o ch
[ ...] als die Gruppe von Schriften, die sich h isto risch u n d in ih rer erbaulichen
W irkung als die beste erwiesen h at (a n e rk e n n e n ) ( 1 9 7 6 a , 1 0 ). „D as bedeutet,
daß im inhaltlichen Bereich des G laubens d er G e le h rte an d ie Stelle des P rie
sters tritt und zur alleinigen V ergew isseru n gsin stan z w ird ; sein e A u to ritä t ist
es, die das Gesagte deckt. [ . . . ] D e r h is to ris c h e Jesu s - e in e ‘R e k o n stru k tio n
also [ . . . ] - wird zum eigentlichen M aß stab des C h ristse in s [ . . . ] ; zu ih m aber
h ält d er H isto rik er (o d e r w er sich d a fü r a n s ie h t) d e n S ch lü sse l in H ä n d e n
(ebd., 1 0 f . ) . 56
M it seiner Andeutung der aus Küngs A nsatz folgen d en K o n seq u en z, daß
die „Schlüsselgewalt“ über den M aßstab für w ahres C h ristse in n u n in die
H ände des den wirklichen Jesus der G eschichte rek onstruieren d en Gelehrten
übergehe, sollte Ratzinger leider in einer Weise recht b ek om m en , die weder er
n och Küng selbst vorausgeahnt haben d ü rften . In sein er „G e sch ich te der
Leben-Jesu-Forschung schreibt Albert Schweitzer über das v on E rn est Renan
1 8 6 3 verfaßte „Leben Jesu“: „Das erste L eb en -Jesu fü r die k a th o lisch e W elt!
[ . . . ] U n d es w ar n ich t bloß ein Ereignis fü r die k a th o lisch e W elt: Renans
Die Auseinandersetzung mit Hans Küng
zism us sch arte, so w urde auch Hans Küng sehr bald zum obersten Hirten
einer G em einde von Intellektuellen, dte nach einer zuverlässigeren Auskunft
über Jesus und seine Botschaft suchten, als das dogmatische Petrefakt Christ
licher Glaubenslehre zu bieten schien.
ner --------------
Aber im laizistisch gewordenen Frankreich zur Zeit Renans hatte es keinen
R ud olf A ugstein gegeben. Die Gebildeten und Halbgebildeten, die sich für
Küngs In te rp re ta tio n ch ristlich er Existenz begeisterten, zählten großenteils
, zu den trpiipsten
auch treu esten K K onsum
onsum enten
enten des
des „SnWpl“ j.
„Spiegel“. Augstein dürfte in Küngs
C h rist sein “ eine w illk om m en e C hance für sein von ihm schon lange ver
folgtes an tik irch lich es P rojek t erkannt haben. Was er als Wahrheit über den
historischen Jesus in pseudowissenschaftlicher Manier ausbreitete, war unver
ein b ar m it d e m , w as K ü n g im Einklang m it der dominierenden neutesta-
m entlichen F o rsch u n g b ehauptete. W em sollte man Glauben schenken? Oder
besser: W essen M e in u n g sollte m an in einer Sache teilen, in der sich nur die
Spezialisten d er Schriftexegese auskannten?
K aum ein Jah rz e h n t n ach „C hrist sein“ war auch die Frage nach dem wah
ren Jesus d er h is to ris c h e n K ritik für die Randsiedler der Kirche obsolet ge
w o rd en . D ie T o re A u g stein s öffneten sich weit für einen neuen Hirten, der
sow ohl d en C h ris tu s des D o g m as wie auch das klägliche Skelett des „histori
sch en Jesu s“ b e ise ite sch o b u n d in der Heiligen Schrift den besten Beweis
d afür fan d , w ie re c h t die alten M ythen der verschiedensten Religionen schon
im m er geh abt h a tte n . W e m au ch Eugen Drewermann, dem heiß umschwärm
ten G u ru w a h re r L ie b e 57, n o c h zu wenig Seelenspeise bot, der fand auf dem
im m e r ü p p ig e r g e d eck ten T isch n euer religiöser Bewegungen ein reiches An
geb ot a ttra k tiv e r S p iritu a litä t. A ber auch die Leben-Jesu-Literatur erlebt seit
d em E n d e des 2 0 . Jah rh u n d erts einen neuen Boom . Phantasiebegabte Forscher
p ro fitie re n je tz t z w a r v o n d en m ethod isch en Vorgaben der durch Käsemann
e in g eleiteten „ N e u e n S u c h e “. R adikaler n och als die ersten, an Reimarus an
k n ü p fe n d e n P r o ta g o n is te n lassen sie jed och auch (aus wissensc a ic e
R e d lich k e it u n d /o d e r m a rk tw irtsch a ftlich e n Gründen?) den a p o 'ry p en
S ch riften gleich es R e c h t an gedeihen wie den für den kirchlichen anon „aus
Z um in dest von diesem T ext her wird m an sagen müssen, daß Ratzinger die
th eologischen E n tw ü rfe von H offnung im Anschluß an Moltmann und Metz
zu wenig d ifferenziert darstellt. Eine weitere Beobachtung drängt sich auf Die
G em ein sam e S ynod e von 1971 bis 1975 stand unter dem Präsidium es
sitzenden d er D eu tsch en Bischofskonferenz, Julius Kardinal Döp er, ess
N ach folger als E rz b isch o f von M ü n ch en und Freising Ratzinger 197
In d er A rt u n d W eise, w ie R atzin g er 1 9 7 7 als Professor in Regens ^ 8
diese Synode Bezug nimmt, deuten sich bereits erste Anzeic en jen
zu ein em n ich t u n erh eb lich en Teil des deutschen Episkopats an, ie
1981 b ei d e m P rä fe k te n d e r G lau b en sk ongregation im m er star er
tr a t .63
Ein Versuch, Atem zu holen - Regensburg (1 9 6 9 -1 9 7 7 )
72
Tod - Unsterblichkeit - Auferstehung
„[...] wer auf die Gerechtigkeit setzt, setzt auf das eigentlich Wirkliche. [...] Die Ge
wißheit, daß die Hingabe an die Wahrheit Hingabe an die Wirklichkeit und nicht ein
Schritt ins Nichts ist, ist die Voraussetzung der Gerechtigkeit, die ihrerseits die Lebens
voraussetzung der Polis und so zuletzt auch die Bedingung für das biologische Über
leben des Menschen ist“ (ebd. 73 f).
(ebd. 82 f-)-
entkommen, die Frage nach der Vollendung von S chöp fu n g und G eschichte
zugunsten des schon im Tode erreichten Endziels des In d ivid u um s v e r g e h
lässigt und damit der M ißachtung w ichtiger tra d itio n e lle r T h em en der
Eschatologie durch die au f das „Prinzip H offnung und eine m arxistisch in
spirierte revolutionäre Praxis setzenden Theologien weitere N ah ru n g gegeben
werde.
Die entscheidende Gegeninstanz, die Ratzinger ins Feld fü h rt, ist die gleiche
wie in seinen Ausführungen zum „Jenseitsglauben“ im Alten B und. In der Tat
sei es unbiblisch, von einer im Wesen der Seele selbst g rü n d e n d e n U n sterb
lichkeit zu sprechen. Seele ist vielm ehr der von G o tt g esetzte A nknüpfungs
punkt für die von ihm schon seit dem Beginn d er S ch ö p fu n g gestiftete Ge
meinschaft mit den M enschen. N icht ein b ezieh un gsloses Seibersein macht
den Menschen unsterblich, sondern gerade seine Beziehungsfähigkeit au f eine
Gemeinschaft m it Gott hin, die dieser v o rb eh altlo s u nd m it sein em ganzen
Wesen will. Aus diesem Gesichtswinkel geht R atzin g er au ch die H au p tzeu g
nisse in Schrift und Tradition für die E in zelp ro b lem e des T rak tats „Ü b er die
letzten Dinge“ durch, w orau f hier n u r u n te r ein igen z e n tra le n Stichw orten
eingegangen werden kann.
Die systematische Mitte von Ratzingers T heologie bleibt in d er gesam ten Ent
wicklung seines Denkens der B egriff v o m „Leib C h ris ti“. D ies lä ß t sich nicht
nur anhand seiner Aussagen zur C hristologie, zu r S a k ra m e n te n le h re und vor
allem zur Ekklesiologie aufweisen, sondern gilt ebenso für seine Eschatologie.
Die von Gott gestiftete G em einschaft m it den M e n sch e n h a t bei d e r Vollen
dung der Proexistenz Jesu im äußersten A kt seines „ S e in s-fü r“ ihre letztgülti
ge Gestalt gewonnen. W ie Paulus selbst, so n u tzt au ch R atzin g er die sym b oli
sche Tiefe dieses Leib-Begriffs: An die Stelle d er p erso n ifiziert als C h ao su n g e
heuer und Urschlange vorgestellten, die M en sch en im T ode v ersch lin gen d en
Scheol ist nun der durch seine Selbsthingabe die M ä ch te des T odes v ersch lin
gende C hristus als neuer S tam m vater aller V ö lk e r u n d H e ils ra u m fü r alle
M enschen getreten (vgl. 1 Kor 1 5 ,5 4 f.). A u f dieser G ru n d lag e k an n R atzinger
as er ä tnis zwischen dem im Tode sch o n d efin itiv g e w o rd e n e n neuen
Leben d er C hristu s N achfolgenden und ih re r n o c h a u s s te h e n d e n A u fe rste
h un g bei der Vollendung der Welt klären (vgl. z .B . 1 9 7 7 a , 1 0 1 f, 1 0 8 - 1 1 0 ) und
nie t zuletzt die eigentliche Basis der Lehre v o m „ F e g e fe u e r“ a u fw eisen : D er
„ ieim gungsort i s t - i m schon bergenden R au m „des C h ris tu s “ (vgl. 1 Thess
, 1 6 ) . , d * S Z u - Ende- Le'den unserer irdischen H in terlassen sch aft (von der
wir nicht durch eine „Auferstehung im Tode“ gleichsam abgehoben w erden),
„ E sch ato lo g ie - Tod und ewiges Leben“ 75
„Alles Deuteln nützt nichts: Der Gedanke ewiger Verdammnis, der sich im Judentum
der beiden letzten vorchristlichen Jahrhunderte zunehmend ausgebildet hatte [ ...] ,
hat seinen festen Platz in der Lehre Jesu [ ...] wie in den Schriften der Apostel [...] . In
sofern steht das D ogm a auf festem G rund, wenn es von der Existenz der Hölle [...]
und von der Ewigkeit ihrer Strafen [ ... ] spricht“ (ebd. 176). „Die großkirchliche Tra
dition hat einen anderen Weg genom m en [als Origenes und eine stattliche Reihe ihm
folgender früher T heologen]; sie m ußte zugeben, daß die Erwartung der Allversöh
nung aus dem System folgt, aber nicht aus dem biblischen Zeugnis“ (ebd. 177).
„Darin liegt der Unterschied zwischen dem schönen Traum vom Bodhisattva [...] und
seiner Verwirklichung: Der wahre Bodhisattva, Christus, geht in die Hölle und leidet
sie leer; aber er behandelt die M enschen nicht als unmündige Wesen, die letztlich ihr
eigenes Geschick nicht veran tw orten können, sondern sein Himmel beruht auf der
Freiheit, die auch dem Verdam mten das Recht läßt, seine Verdammnis zu wollen. Das
Besondere des C hristlichen zeigt sich hier in seiner Überzeugung von der Größe des
Menschen: Sein Leben ist ein Ernstfall; es wird nicht alles durch die List der Idee zu
letzt zu einem M om ent von G ottes Plänen um gebaut; es gibt das Unwiderrufliche,
auch die unwiderrufliche Zerstörung“ (ebd. 1 7 7 f.).
Ein Versuch, Atem zu holen - Regensburg (1 9 6 9 -1 9 7 7 )
Verglichen mit der Eschatologie von Balthasars klingen solche Sätze eigen
tümlich. Hätte es nicht näher gelegen, au f der G rundlage des D ogm as vom
wahren Gott- und Menschsein Jesu Christi in A nknüpfung an die schönen
Worte des Origenes über das wartende „H au p t des Leibes“ w eiterzufragen
nach dem Wesen Gottes selbst? Wird ein Jota von dessen G erechtigkeit weg
genommen, wenn man sie von dem ewigen Entsch lu ß seiner Liebe her ver
steht, die Freiheit des Menschen auch dann in sich auszuleiden, wenn sie sich
zu einem endgültigen Nein versteifen möchte? Der wirklich endgültigen Un
endlichkeit Gottes steht die menschliche Freiheit zwar in ein er unabschließ
baren Unendlichkeit möglichen N ein-Sagens gegenüber. D ieses kann sich
aber von sich her nie zur Endgültigkeit vollenden, so n d ern sp rich t u nau s
weichlich in den Raum des Ja-W ortes G ottes hin ein , von d em alles Reden
und Tun seiner Geschöpfe im m er schon und a u f ewig u n te rw a n d e rt und
getragen ist. 66
Ratzinger argumentiert in seiner „Eschatologie“ m it überzeugenden G rün
den gegen die Theorie von einer „Auferstehung im Tode“. Diese erlaubt nicht,
die Frage nach dem Heil der Individuen in ein an gem essen es V erhältnis zu
bringen zu der Frage nach der Vollendung von S chöp fu n g u nd G esch ich te:
„Der Mensch, der stirbt, tritt selbst aus der Geschichte heraus - sie ist für ihn
(vorläufig!) abgeschlossen; aber er verliert n ich t die B ezieh u n g a u f die Ge-
„Eschatologie - Tod und ewiges Leben“
77
schichte, weil das Netz der menschlichen R elation alst zu seinem Wesen ee
hört“ (ebd. 152). Der Behauptung Greshakes: „Die Materie ‘an sich’ Tst
unvollendbar“ hält Ratzmger entgegen:
„Es ist nicht einzusehen, warum die Christen, die im Credo die Auferstehung des Flei
sches bekennen, hier hinter marxistischen Denkern wie Bloch und Marcuse zurück
bleiben sollten, die ganz entschieden von einer neuen Welt auch einen neuen Status
der Materie erwarten; dies folgt für sie aus der Einsicht, daß nur so die geschichtlichen
Entfremdungen wirklich überwindbar sind“ (ebd. 159). „Es gibt keine Vorstellbarkeit
der neuen Welt. [ ... ] Aber es gibt die Gewißheit, daß die Dynamik des Kosmos auf ein
Ziel z u fü h rt, auf eine Situation, in der Materie und Geist einander neu und endgültig
zugeeignet sein werden“ (ebd. 160).
„ [...] nicht etwa eine höchste geschichtliche Reife (bereitet) den Übergang ins Ende
vor ( ...) , sondern [ ... ] gerade der innere Zerfall der Geschichte, ihre Unfähigkeit gegen
das Göttliche, ihr Widerstand (verweisen) paradoxerweise au f das Ja Gottes [ ...] “ (ebd.
163, meine H ervorh.). „ [ ...] die Welt ist im m erfort von Kriegen und von Katastro
phen zerrissen worden und nichts läßt erhoffen, daß etwa ‘Friedensforschung’ diese
Signatur des M enschlichen grundlegend aufheben könnte“ (ebd.). „Wenn Martin
Heidegger [ ... ] m eint, angesichts der Lage, in die die Menschheit sich verfahren hat,
könne nur noch ein G ott uns retten, und wenn er folglich als die einzige uns bleibende
Möglichkeit ansieht, ‘eine Bereitschaft vorzubereiten für die Erscheinung des Gottes’,
dann kann in einer solch nachchristlich-heidnischen Äußerung vielleicht etwas von
dem sichtbar werden, worum es in der Tat geht. [...] Die Bereitschaft ist [...] anders,
je nachdem ob sie ins Leere hinausw artet oder ob sie dem entgegensieht, den sie in
seinen Zeichen erkennt, so daß sie gerade im Zerfall ihrer eigenen Möglichkeiten seiner
Nähe gewiß w ird ‘ (ebd. 165, meine Hervorh.).
Der einzige Bereich, in dem „in dieser Welt die Berührungsstelle mit Gott
aus(ge)drückt (w erden) d a r f 1, ist Ratzinger zufolge die Liturgie: „Die Parusie
ist höchste Steigerung und Erfüllung der Liturgie; die Liturgie aber ist Paru
sie, parusiales G eschehen m itten unter uns.“ „ [ ...] eben diese Kirche, die in
der Liturgie ganz nach innen zu blicken scheint, (stößt) damit in die tragende
M itte des K osm os v o r ( . . . ) , und (w irkt) auf seine befreiende Verwandlung
hin ( . . . ) “ (vgl. ebd. 16 7 ). In „der Liturgie soll die Kirche gleichsam im Gehen-
m it-ihm ihm W ohnungen bereiten in der Welt“ (ebd. 168).
In Verbindung m it seiner h arten Kritik an nachkonziliaren Theologien, in
denen die Frage nach der Zukunft der Geschichte m it der nach angemessener
p olitischer P raxis v ersch rän k t w ird, wirken solche Aussagen tatsächlich wie
ein Rückzug in den Blick der Kirche „ganz nach innen“ und scheint sich auch
78 Ein Versuch, Atem zu holen - Regensburg ( 1 9 6 9 - 1 9 7 7 )
Am 25. März 1977 wurde Joseph Ratzinger von Papst Paul VI. zum Erzbischof
von München und Freising, am 25. Novem ber 1981 von Papst Johannes
Paul II. zum Präfekten der Kongregation für die Glaubenslehre ernannt. Der
Versuch, seinen Denkweg in diesen 28 Lebensjahren bis zur Annahm e der
Papstwahl am 19. April 2005 zu verfolgen, stöß t au f Schwierigkeiten, die bei
der Darstellung seiner vierzig „Lehr- und W anderjahre“, von der Gymnasial
zeit in Traunstein bis zur Beendigung seiner Lehrtätigkeit an der Universität
Regensburg, nicht gegeben waren.
Schwierigkeiten bereitet vor allem die komplexere Gestalt des Lehrens, die
sich aus der Übernahme des bischöflichen Dienstes ergab. Joseph Ratzinger
hat als Apostelnachfolger sein Engagem ent in der akadem ischen Forschung
und Lehre ebensowenig aufgegeben, wie er als aktiver Universitätsprofessor
davon Abstand genommen hatte, für alle Kirchenbesucher verständliche Pre
digten zu halten. Die Leidenschaft, m it der er auch im bischöflichen Am t als
Wissenschaftler an die Öffentlichkeit getreten ist, m ach t geradezu ein Spezifi
kum seiner Theologie aus, erklärt zum Teil aber auch die erh öh te Spannung
zur „akademischen Szene“, der sich Ratzinger in M ü nch en und erst recht in
Rom ausgesetzt sah. Ich versuche, diese B eobach tu n g zu näch st durch einige
geschichtliche Rückblicke zu verdeudichen.
Seit der Emanzipation der Philosophie beim A ufblühen d er m ittelalter
lichen Kathedralschulen ist das christliche Abendland m it Spannungen ver
traut, die sich aus dem Gegenüber von „Dialektikern“, die ihre „akadem ische
Freiheit“ betonen, und der für die Einheit im Glauben verantw ortlichen Hie
rarchie unausweichlich ergeben. Nach der Reform ation ist eine analoge Span
nung der katholischen Theologie erst wieder infolge der Säkularisation in
Deutschland aufgetreten. Dazu trug vor allem bei, daß von n un an au ch die
Ausbildung der katholischen Theologen an staatlichen U niversitäten zu erfol-
gen hatte, man in einigen Bistümern jedoch energisch die a u f dem KonzÜ von
P Wie läßt sich angesichts dieser hier nur grob skizzierten Situation die Frage
nach der Entwicklung von Ratzingers Denken in den nächsten Kapiteln me
thodisch angemessen weiterfuhren? Ich werde mich für die Darstellung seines
Denkwegs grundsätzlich auf kein offizielles Dokument stützen das von ihm
als Präfekt der Glaubenskongregation herausgegeben wurde Uber die Frage,
inwieweit man den Kardinal selbst als Autor solcher Schriftstücke ansehen
darf, kann man nur Spekulationen anstellen. Dam it ist das Problem aber
noch nicht gelöst. Selbst hinsichtlich persönlicher Äußerungen des Theolo
gen Joseph Ratzinger während dieser Zeit wird man annehmen dürfen, daß er
eigene Gedanken, die nicht in Übereinstimmung m it offiziellen Äußerungen
des Vatikans standen, zu Recht in noch höherem M aße für sich behalten hat,
als dies für ihn als Erzbischof von München zutraf. Auch von dieser Seite er
scheint es schwierig, den Weg, den sein Denken nach 1981 genom m en hat,
unverkürzt in den Blick zu bekommen.
Bei der Frage nach einer Lösung dieses Problem s ist allerdings die Beo
achtung einer bemerkenswerten Kontinuität in Ratzingers Denken hilfreich.
Im Unterschied zu manch anderem theologischen Zeitgenossen m achte er
sich schon vom Beginn seiner Lehrtätigkeit an den Grundsatz zu eigen, nichts
an die Öffentlichkeit zu bringen, was zur Verwirrung über die von der katho
lischen Kirche als allgemein verpflichtend verkündete Lehre beitragen könn
te. Er hat sich durch seine Leidenschaft für das wissenschaftliche Hinterfragen
von geltenden Lehrmeinungen nicht dazu verführen lassen, sein H irten am t
zu vernachlässigen, in das er sich bereits durch die W eihe zum „einfachen
Priester“ gestellt sah. Ich habe mich off genug an dieser prinzipiellen Haltung
gestoßen, die m ir zuweilen positivistisch vorkam . N ur zu gut erin n ere ich
m ich z.B ., wie m ir Ratzinger in einem D oktorandensem inar in M ü n ster an
dem Punkt, wo wir im Disput über die Frage nach der Begründung von D og
men zu keinem befriedigenden Ergebnis kamen, schlicht entgegenhielt: „Und
was fangen Sie m it den beiden letzten M ariendogm en an?“ M ein eigener
Vorbemerkungen zum zweiten Teil 83
, anders verlaufen als der seinige. Ich bin auch weiterhin der
1)cn gu Ung, daß eine Religionsgemeinschaft, die das sokratische Fragen
t ^ b i s ins Äußerste hinein ertragen kann, irgendwann in Fundamenta-
n' C erstarrt - und froh, daß Joseph Ratzinger mich persönlich zumindest
Jisrnus seines Wirkens in dieser Eigenheit ertragen hat. Die „Kunst,
'n a c , 7U bleiben“, beruht wohl nicht zuletzt auf dem immer wieder
katno ^ustarjeren zwischen dem „akademisch-wissenschaftlichen“ Element
neuen uncj j er Verantwortung des Lehramts, auch unbequeme Fragen
*^er Maße auszuhalten, wie sie nicht die Rücksichtnahme auf alle Glieder
in dem c h r isti verletzen. Ich selbst habe inzwischen aber gelernt, das, was
des Lei es „positivistisch“ einschätzte, differenzierter zu sehen
ich früher anzu 5.----- „ , , .........v -» ■7UI01t o n Teil 7n c i
darum dieses Buch, gerade auch seinen zweiten Teil, zu schreiben
und nur
Neuntes Kapitel:
„Schriftauslegung im W iderstreit“
Wie wohl kein anderer katholischer Theologe des 20. Jahrhunderts hat Joseph
Ratzinger schon vom Beginn seines Theologiestudiums an (1 9 4 7 ) das zen
trale Dilemma der historisch-kritischen Exegese klar erkannt. Wenn er anläß
lich des hundertjährigen Bestehens der Päpstlichen Bibelkommission vom
10. Mai 2003 sagt: „Das Thema meines Referats [„Die Beziehung zwischen
Lehramt der Kirche und Exegese“] ... gehört sozusagen auch zu den Proble
men meiner Autobiographie“ (2003 a, 5) und in diesem Zusam m enhang
nachdrücklich auf seinen von kirchlichen M aßnahm en zutiefst verletzten
Lehrer Friedrich Wilhelm Maier verweist (s. S. 2 2 ), so benennt er recht genau
den Ursprung seines spannungsvollen Verhältnisses zur Exegese. Was ihn von
Theologen wie Karl Barth und Hans Urs von Balthasar unterscheidet, ist die
Einsicht, daß die systematische Theologie trotz aller Problem atik im ein
zelnen nicht auf eine ernsthafte Auseinandersetzung m it der historischen
Kritik verzichten darf. Wo hingegen nach dem Konzil die grundsätzliche An
erkennung der historischen Kritik unter zumindest partieller Aufnahm e der
„neuen Suche nach dem historischen Jesus“ geradezu als eine selbstverständ
liche Sache angesehen wurde, ging oft zugleich die Spannung nach der ande
ren Seite hin verloren: Dogmatik m utierte dann allzu leicht zur D ogm enge
schichte; die unerschütterliche Treue zur kirchlichen Tradition, die Ratzinger
m it der Generation seiner Lehrer teilt, geriet sozusagen a p rio ri, oh ne daß
m an näher hinzusehen brauchte, unter den Verdacht des Fundamentalismus.
Zunächst hatte auch Ratzinger — gestützt vor allem a u f im Lager B ult
m an n s und seines Schülerkreises kaum beachtete, aber in tern atio n al ange
sehene Autoren wie Joachim Jeremias - die Frage nach „authentischen Jesus
w o rten im Rückgang hinter die kirchlich anerkannten Z eugen in seine
C h risto lo g ie zu integrieren versucht . 68 In der T übinger Phase w ar er dann,
wie b ereits in Kap. 6 angemerkt, auch in exegetischer Hinsicht von einer Krise
b e t r o f fe n . Das ihm vor Augen stehende Problem v erm och te e r zu näch st nur
in n e g a t iv e r H insicht zu m eistern, näm lich d urch eine klare A bgrenzung
Zur Interpretation der Konzilsaussagen g5
Nach langem Ringen hatte das Zweite Vatikanische Konzil in Kap. III, Art. 12
der „D ogm atisch en K onstitution über die göttliche Offenbarung Dei Ver
bum 69“ das Verhältnis zwischen wissenschaftlicher Auslegung der Heiligen
Schrift und deren Aufnahm e als Gotteswort im Glauben der Kirche folgen
derm aßen bestim m t:
„Da Gott in der Heiligen Schrift durch Menschen nach Menschenart gesprochen hat
[...], muß der Schrifterklärer, um zu erfassen, was Gott uns mitteilen wollte, sorgfältig
erforschen, was die heiligen Schriftsteller wirklich zu sagen beabsichtigten un
Gott mit ihren Worten kundtun wollte. ,.
Um die Aussageabsicht der Hagiographen zu ermitteln, ist neben an ere
literarischen Gattungen zu achten. Denn die Wahrheit wird je an ers arge eg
ausgedrückt in Texten von in verschiedenem Sinn geschichtlicher, prop etisc er o
dichterischer Art, oder in anderen Redegattungen. Weiterhin hat tr ‘
dem Sinn zu forschen, wie ihn aus einer gegebenen Situation heraus der Hagiograph
„Schriftauslegung im W iderstreit
86
D a die H eilige S ch rift in dem G eist gelesen und a u sg eleg t w erd en m u ß , in d em sie
geschrieben wurde [ . . . ] , erford ert die rech te E rm ittlu n g d es S in n e s d e r h e ilig e n Texte,
d aß m an m it n ich t g erin g erer S o rg fa lt a u f d en In h a lt u n d d ie E in h e it d e r g an zen
S ch rift achtet, un ter B erü ck sichtig u ng d er leb en d ig en Ü b e r lie fe ru n g d e r G e sa m tk irc h e
und d er A n alo gie des G lau ben s. A u fg ab e d er E x e g e te n is t es, n a c h d ie s e n R e g e ln a u f
e in e tiefere E rfassu n g und A u sleg u ng d es S in n e s d e r H e ilig e n S c h r if t h in z u a r b e ite n ,
d am it so gleichsam a u f G ru n d w issen sch a ftlich er V o ra rb e it d as U rte il d e r K irc h e reift!
A lle s , was die A rt d er S ch rifte rk Järu n g b e trifft, u n te rs te h t le tz tlic h d e m U rte il d e r K ir
ch e, deren g otterg eb en er A uftrag und D ie n st es ist, d as W o r t G o tte s z u b e w a h re n und
auszulegen
Am 27. Januar 1988 hielt R atzin ger in N ew Y ork die jä h rlic h stattfin d en d e
„Erasm us lecture“, die diesmal u n ter den Titel „B iblical In te rp re ta tio n in C ri-
sis: On the Question o f the F o u n d a tio n s an d A p p ro a ch e s o f E xeg esis T oday“
gestellt war und in einem zweitägigen W o rk sh o p m it G eleh rten v ersch ied en er
christlicher Konfessionen weiter d isk u tiert w u rd e. S ein en V o rtra g h a t R a tz in
ger 1989 zusam m en m it R eferaten von G eo rg e L in d b e ck , R a y m u n d E. B row n
und W illiam H . L azareth - d u rch ein V o rw o rt e rg ä n z t - a u f D e u ts c h als
„Q uaestio d isp u tata“ u n ter d em T itel „ S ch rifta u sle g u n g im W id e rs tre it“ h e r
ausgegeben. In diesem V ortrag faß t e r d en o b e n z itie rte n A rtik e l (D V 1 2 ) wie
folgt zusam m en:
„Die Konstitution über die göttliche Offenbarung hat versucht, die beiden Seiten der
Interpretation, das historische ‘Erklären’ und das ganzheitliche ‘V erstehen’ in einen
ausgewogenen Zusammenhang zu bringen. Sie hat zum einen das R echt, ja die N ot
wendigkeit der historischen Methode betont, die sie au f drei wesentliche Elem ente zu
rückführt: au f das Beachten der literarischen G attungen, a u f die E rfo rsch u n g des hi
storischen (kulturellen, religiösen usw.) Umfelds und a u f die U n tersu ch u n g dessen,
was m an Sitz im Leben zu nennen pflegt. [Zu A rt. 12, Abs. 3 :] G leichzeitig hat aber
das Konzilsdokument auch am theologischen Charakter der Exegese festgehalten und
die Schwerpunkte der theologischen M ethode in der A uslegung des Textes benan n t:
D ie Grundvoraussetzung, a u f der theologisches Verstehen d er Bibel b e ru h t, sei die
Einheit der SchriÜ; dieser Voraussetzung entspreche als m eth od isch er W eg die ‘an alo
gia fidei, d.h. das Verstehen der Einzeltexte aus dem G anzen h erau s. D azu k o m m en
zwei weitere methodische Hinweise. Die Schrift ist eins von ih rem d u rchgeh en d en ge
schichtlichen Träger her, von dem einen Volk Gottes. Sie als Einheit lesen, h eiß t daher,
ste von d er Kirche als von ihrem Existenzort her lesen und den Glauben der Kirche als
Zur Interpretation der Konzils;»aussaeen
„V erschiedene K onzilsväter h aben [in DV 12] die sogenannte rationale und die
eigentlich ‘theologische’ Exegese unterschieden. Diese Unterscheidung ist nicht g üc
lieh. Da es in jed em Fall u m den sensus divinus [die Aussageintention Gottes] im sen-
sus h u m a n u s [in der m enschlichen Aussageintention] geht, handelt es sich immer um
th eologisch e Exegese. D a die Schrift im m er in der Kirche gelesen werden mu ,
„Schriftauslegung im Widerstreit
Man darf wohl vermuten, daß Ratzinger zu jener Gruppe von Theologen
gehörte die Grillmeier hier als „verschiedene Konz.lsväter bezeichnet. Dafür
spricht z B sein Beitrag „Die Bedeutung der Väter für die gegenwärtige Theo
logie“ Hier bemerkt Ratzinger, in dem doppelten Ja des Zweiten Vatikanums
- zur historisch-kritischen Methode und zur Auslegung von der Überliefe
rung, vom Glauben der Kirche her - verberge sich der
Insbesondere der Hinweis auf das D ilem m a zwischen auctoritas und ratio
legt nahe, auf die Arbeit(en) zu Bonaventura zurü ckzu greifen , d er geradezu
„Pate für Ratzingers Position in dieser Frage gestan d en zu h aben scheint.
Das deutete sich schon in der H abilitationsschrift an (s. S. 2 6 ) , n o ch klarer
aber in dem Vortrag „Wesen und Weisen der au cto ritas im W erk des heiligen
Bonaventura“ von 1959. Hier heißt es:
„Die Apostel sind die eigentlichen Träger hierarchischer Gewalt, die Evangelister
übermitteln dagegen bloß den Inhalt der rechten Lehre. Die Zweiheit dieser Prinzipier
urc zieht in der Form der Zweiheit von fides - scriptura [Glaube - Schrift] das ganze
er onaventuras. Dabei ist unter fides zunächst das Symbolum fidei, das apostoli-
f n 3U ,enS e enntn‘s ZU verste*len>das (so glaubt Bonaventura mit seiner Zeit
[ J) von den zwölf Aposteln geschaffen wurde [...] . Das von den Aposteln geschaffe-
«bende N f ^ f
aUt0ritativen Einsetzung und ist daher die richtung
gebende Norm des Glaubens; die Schrift hat demgegenüber bloß erzählenden Charak-
„Kanonische Exegese”
ter und ist nach der apostolischen Norm zu interpretieren. [.. 1 Nur nebonK»' u
hier darauf hingewiesen werden, daß mit dieser Überordnung der fides übe T
Schrift der wesentliche Kern dessen gegeben ist, was man späterhin als das kathol sche
Traditionsprinzip bezeichnen wird - nicht die Schrift ist ‘die’ auctoritas, sonde n die
fides, in der die aposto ische auctoritas selber gegenwärtig ist. [...] [D]as Symb^
kann ex auctontate eccles.ae [aufgrund der Autorität der Kirche] auch erweitert we7
den, d.h. die K irche hat das Recht zu Dogmatisierungen, die eine genauere Bestim
mung der fides mit sich bringen. So ist aber [...] die fides keine völlig abgeschlossene
Buchstabenautontat, sondern ist mit der lebendigen Kirche untrennbar verschmolzen
und nur eben als solche, die in der Kirche lebendig ist, ist sie die wahre auctoritas“
( 1960b, 6 2 f.).73
„Kanonische Exegese“
spektive die Heilsgeschichte Israels als Teil eines weit umfassenderen Plans
Gottes mit den Menschen anzusehen ist, bekam damit zugleich die schwierige
Frage ein neues Gewicht, wie das „Alte Testam ent“ au f Christus hin gelesen
werden kann, ohne im gleichen Atemzug das besondere Verhältnis Jahwes zu
seiner „Braut Israel“ an den Rand zu drücken. Diese Frage kann hier nicht
weiter verfolgt werden.
Für die Einschätzung des Werts der „kanonischen Exegese“ im Blick auf
das Neue Testament speziell ist allerdings von großem Gewicht, ob die Beto
nung der „Einheit“ und „Ganzheit“ des sich in der apostolischen Tradition
ausfaltenden Lebens nicht zu Lasten der Tatsache geht, daß m it dem Kanon
neutestamentlicher Schriften im entschiedenen Nein zu gnostisierender Re
duktion und zügellos-poetischer Ausfaltung der Botschaft Jesu vor allem fest
gelegt wurde, daß das Evangelium Jesu Christi nur durch das Prism a von vier
Evangelien hindurch (keinem weniger und keinem m eh r) erk an nt werden
kann. Hiermit ist ein zentraler Punkt in der Position Ratzingers zum Verhält
nis von „Historie und D ogm a“ angesprochen. Dies trat deutlich in dem span
nungsvollen Dialog zwischen ihm und zu m indest einem Teil der M itglieder
der Päpstlichen Bibelkommission zutage.
M it Bezug au f die Diskussion seines New Y orker V ortrags von 1988 n otiert
Ratzinger seine Verwunderung über die nahezu vollständige Zustim m ung der
evangelischen Kollegen. „Bei den katholischen Teilnehm ern w ar - wenigstens
anfangs - noch eher ein Zögern zu versp ü ren “ (1 9 8 9 a , V o rw o rt 12). Was die
beiden protestantischen Gelehrten Lindbeck und L azareth an geht, w ar v o r
auszusehen, daß es kaum einen Dissens in der für R atzinger zentralen Frage
stellung geben würde. Lazareth geht in seinem B eitrag gar n ich t a u f Problem e
ein, die sich von der historischen K ritik h er für den G lauben ergeb en . Lin d
beck bem üht sich um eine an die p o stm o d ern e Situ ation an gepaß te W ied er
belebung der klassischen H erm en eu tik bzw. p rä m o d e rn e n B ib elau slegu n g,
die ihm eine n arrative Bibelauslegung m öglich zu m ach en sch ein t. W ie R at
zin ger weist auch er eine in d er N achfolge d er A u fk lärun g b e trie b e n e R ü ck
frage nach dem „wahrhaft H istorischen“ h inter die in einer In terp retatio n sg e
m einsch aff gewachsene Bibellektüre ab. In m an ch en Passagen seines V ortrags
w ird m a n an R atzin gers K ritik der von H an s K ü n g v erfo lg te n M e th o d e
e rin n e rt . 75
Fragwürdig erschien Ratzinger hingegen die A rt und Weise, wie von der
durch Martin Dibelius und Rudolf Bultmann in d.e neutestamentliche Exege.
se eingeführten formgeschichtlichen Methode Gebrauch gemacht wurde. Diese
Methode verleitet dazu, den Sinn einzelner Textstucke - etwa bestim mter
Wunder„geschichten“ oder Jesus zugeschriebener Reden - aus dem „Sitz im
Leben“ der frühen Ortsgemeinden, in denen sie geprägt wurden, zu rekon
struieren, um diesen „ursprünglichen Sinn“ der Bedeutung, die sie dann im
Endtext angenommen haben, besserwisserisch gegenüberzustellen. Seit der
mit Käsemann einsetzenden „neuen Rückfrage nach dem historischen Jesus
(s. S. 4 9 f.) wurde dieses problematische Vorgehen dadurch erheblich ver
schärft, daß man im eklatanten Gegensatz zu Bultmann nun doch wieder den
von Lessing aufgewiesenen „garstigen breiten Graben“ m ißachtete. Die Resul
tate der form- und traditionsgeschichtlichen Analyse sollten zwar nicht mehr
dazu dienen, eine Jesus-Biographie zu erstellen. Aber rek on stru ierte Frag
mente der „authentischen Stim m e“ (ip sis sim a v o x ) und der „wirklichen
Taten“ (ipsissima facta) Jesu von Nazaret wurden zu m indest als wertvolle
Orientierungspunkte für eine rational zu verantw ortende Christusverkündi
gung angesehen.
Der Kritik Ratzingers an diesen Entw icklungen hatten die M itglieder der
Päpstlichen Bibelkommission schon deswegen nichts W esentliches entgegen
zusetzen, weil es sich hier im Grunde um Folgerungen der system atischen
Theologie handelt, die über die Zuständigkeit d er E xegeten hinausgehen.
Aber sie brachten in einigen Punkten ihres D ok u m en ts von 1993 doch ent
schieden andere Akzente ein, vor allem durch Betonung des p o sitiv en Beitrags
der formgeschichtlichen Forschung für ein genaueres Verständnis der kanoni
schen Texte:
„(An und für sich führte diese Methode] zum Ergebnis, daß deutlich wurde, wie die
neutestamentliche Überlieferung ihre Herkunft]79] in der christlichen Gemeinschaft
hatte, und ihre Form von der Urkirche empfing [...]. Zur Formgeschichte gesellte sich
die Redaktionsgeschichte [...]. Diese versuchte, den persönlichen Beitrag jedes Evan
gelisten und die theologische Ausrichtung, die seiner Redaktionsarbeit zugrunde lag,
hervorzuheben. Durch die Anwendung dieser letzten Methode wurde die Reihe der
verschiedenen Schritte der historisch-kritischen Methode vollständiger: von der Text
kritik kommt man zur Literarkritik, die die Texte zerlegt (Quellenforschung), dann zu
einer kritischen Erforschung der Formen und schließlich zu einer redaktionsge-
sc ichtlichen Analyse, die dem Text als ganzem ihre Aufmerksamkeit schenkt. So
wurde ein klareres Verständnis der Absicht der Verfasser und der Redaktoren der Bibel
möglich, und dadurch auch der Botschaft, die sie den ersten Empfängern vermitteln
wollten (ebd. 32). „Als analytische Methode [hilft die historisch-kritische Methode]
dem Exegeten, vor allem in der Erforschung der Redaktion der Texte, den Inhalt der in
der Bibel enthaltenen göttlichen Offenbarung besser zu erfassen“ (ebd. 33). „Während
Normen der Schriftausleigung
93
m an in den früheren S e h n t en versucht hat, den Text in seinem Werden in einer dia
ch ron en Perspektive zu erklären, so schließt dieser letzte Schritt [sc. die Redaktion,"
kritik] m it ein er syn chron en U ntersuchung: man erläutert nun den Text als solche"
- und betrachtet ihn unter dem Gesichtspunkt einer Botschaft, die der Verfasser J
nen Z eitgenossen verm .tteln w ill“ (ebd. 34). „Denn der Text in seiner Endgestalt und
nichtt in irgendeiner früheren Fassung ist der Ausdruck von Gottes Wort“ (ebd 35)
Hier spielen die Verfasser des Dokuments wahrscheinlich auf die Enzyklika
D ivino a ffla n te Spiritu von 1943 bzw. auf Kap. III, Art. 12, der Offenbarungs
konstitution D ei V erbum an. Mit der Betonung, daß die Redaktionskritik als
letzte Stufe historisch-kritischer Exegese dem „Ausdruck von Gottes Wort“
auf der Spur ist, wird der theologische Charakter dieser wissenschaftlichen Ar
beit unterstrichen. D am it steht das Dokument der Päpstlichen Bibelkommis
sion in einer kaum zu übersehenden Spannung zu dem ein Jahr zuvor veröf
fentlichten „Katechismus der Katholischen Kirche“, in dem von den Früchten
der historisch-kritischen Exegese kaum noch etwas aufzufinden ist.80
„Schrift kann gehabt werden, ohne daß O ffen barun g gehabt w ird. [ . . . ] O ffenbarung
ist vielmehr erst da angekomm en, wo außer den sie bezeugenden m aterialen Aussagen
auch ihre innere W irklichkeit selbst in der Weise des G laubens w irksam geworden ist.
Insofern gehört in die Offenbarung bis zu einem gewissen G rad auch das em pfangen
de Subjekt hinein, ohne das sie nicht existiert. [ ...] Sie ist eine lebendige W irklichkeit,
die den lebendigen M enschen als O rt ihrer Anw esenheit verlangt“ (1 9 6 5 a, 35).«3
Um das Verhältnis von Schrift und Tradition näher zu bestim m en, unter
scheidet Ratzinger zwischen einer „neutestam enthchen“ und einer „kirch
lichen Theologie des Neuen Testaments, die wir D ogm atik heißen. [ ...] Das
eigentümliche ‘M ehr’, das [ ...] die D ogm atik von der biblischen Theologie
unterscheidet, nennen wir in einem präzisen Sinn die Tradition“ (ebd. 43). Er
betont, daß die kirchliche Theologie des Neuen Testaments, obgleich sie über
die innere historisch erfaßbare neutestamentliche Theologie hinausgreiff, die
ser dennoch „nichts bloß Äußerliches ist. Denn auch hier beginnt schon mit
ten im Neuen Testament selber der Vorgang der kirchlichen Auslegung des
Überlieferten; die kirchliche Theologie des Neuen Testaments reicht als Pro
zeß mitten in das Neue Testam ent selbst hinein, wie sich etwa an der Ge
schichte der synoptischen Ü berlieferung aufs deutliche zeigen ließe“ (ebd.
43 f.).
Diese knappen Ausführungen sind im H inblick a u f die weitere Entw ick
lung von Ratzingers Denken h ö ch st b em erkensw ert. Schon hier m öch te er,
wie weiter unten zu zeigen sein wird, einen V orrang des D ogm as bzw. der re-
gula fid ei (N orm des G laubens) gegen üb er dem bloßen B uchstaben der
Schrift heraussteilen. Dabei m iß t er, zum einen, in diesem Z usam m enhang
der historischen Exegese in sich aber noch einen theologischen Stellenwert bei.
Zum anderen - und dies ist ein w irklich erstau n lich es F ak tu m - bewegt er
sich allem Anschein nach im U m kreis ein er th eo lo g isch überbew erteten
form - bzw. traditionsgeschichtlichen F o rsch u n g , die er sp äter äu ß erst skep
tisch betrachten wird. „Das Neue T estam en t“ k ennen w ir d o ch erst seit der
kanonischen Festlegung b estim m ter S ch riften , die „in n eu testam en tlich er
Z eit“ entstanden sind. Das vielfältige M aterial der frühen T radition (en ) über
Jesus von Nazaret - in dem von Ratzinger anvisierten Beispiel die „Geschichte
d er synoptischen Ü b erlieferun g“ - g e h ö rt n ich t d azu. A u f dieses M aterial
h aben M arkus und dann, v o r allem a u f sein E vangeliu m g estü tzt, M atth äu s
und Lukas zw ar zurückgegriffen. Sie haben d arau s m it k ritisch em B lick eine
A usw ahl g etroffen , es ü b erarb eitet und k o m m e n tie re n d e rg ä n z t. Jene den
Evangelien vorausgehende, d urch h isto risch -k ritisch e A nalyse in ein em sehr
b egren zten U m fan g rek on stru ierbare Jesu s-T rad ition d a rf ab er n ich t als Teil
des Prozesses verstanden w erden, den R atzin ger h ier als „T rad itio n im p räzi
sen Sinn , d .h . die „kirchliche Theologie des N euen T estam en ts, die w ir D og-
Normen der Schriftauslegung
95
matik heißen“, begreift. Diese hat es allein mit den Zeuen
selbst als authentische Verkündigung allgemein-kirchlich ak ü T ^
kannt hat, nicht mit dem apokryphen Schrifttum das h aner“
lieh“ entstanden, oder „vor-neutestamentlichen“ Übe’r l i e f e r J t?” ent’
weise wohl auch in hohem Grade als „apokryph“ einsestuft „ ^ ^ ^
wie etwa die kritische Behandlung bereits vorliegender W u n d " ^ ™ SSm'
lu rch die Evangelisten zeig t.- ^ Wund«geschichten
Ratzinger kom m t mit der skizzierten Unscharfe im Traditionsbegriff dem
theologischen G rundfehler der zweiten, von Käsemann eingeleiteten PhaTe
der Rückfrage nach dem historischen Jesus nahe (s. S. 49f.). Um den Nach-
weis einer Kontinuität zwischen dem „historischen Jesus“ und dem verkün
digten C hristus“ bem üht, haben Käsemann und die ihm folgenden Theolo
gen zu wenig die Kluft berücksichtigt, die vom Historiker rekonstruierte frühe
Jesus- T ra d itio n en von für den Glauben verbindlichen Zeugnissen über Jesus
von Nazaret scheidet . 85 Allein aus dem Zusammenhang dieser Zeugnisse her
aus (Tradition im umfassenden Sinn authentischer Überlieferung) vermochte
sich eine b estim m te G em einschaft als Kirche Jesu Christi zu erkennen und
den Kanon des N euen Testaments als allgemein verpflichtend, gleichsam als
am besten id en tifizierbare Selbstobjektivation des Zeugnisses von Jesus
C hristus, zu b estim m en . Diesen Sachverhalt hat Ratzinger selbst treffend im
R ückgriff au f die m eh rfach e Bedeutung des neutestamentlichen Terminus
p a r a d o s is ltr a d itio um schrieben. Traditio meint zunächst das zentrale Gesche
hen der „A uslieferung“ u nd „Selbsthingabe“ des Sohnes, ein Geschehen, das
sich d an n als „Ü b erlieferun g“ in die Kirche als Leib Christi fortzeugt. Diese
„G esam tw irklichkeit, die in der Überlieferung überliefert wird, (ist) die ent
scheidende G rundw irklichkeit, die allen Einzelexplikationen, auch denen der
S chrift, jew eils v o rau s ist und das eigentlich zu Überliefernde darstellt“
(1 9 6 5 a , 4 5 ).
1963 u n tersch eid et R atzinger zu wenig zwischen der Jesus-Überlieferung,
die d urch die Festlegung des Kanons als authentisches Zeugnis der ursprüng
lichen Z eugen bezeugt w urde, und der wissenschaftlich-hypothetischen Re
k o n stru k tio n der den n eutestam entlichen Schriften vorausliegenden „ur
sp rü n glich eren “ T rad ition. Ist hier ein Grund dafür zu suchen, daß er später
die fo rm - und traditionsgeschichtliche Arbeit als solche negativ bewertet und
ihren N u tzen fü r die redaktionskritische Ermittlung der je spezifischen Theo
logie (in sb eso n d ere) der vier Evangelisten kaum beachtet hat? Für diese An
n äh m e gibt es in d er Tat einige Anhaltspunkte. In den Studienjahren und der
kurzen Z eit d an ach , als R atzinger n och nicht durch seine Arbeit für das Kon
zil ü b erlastet w ar, galt als „redaktionskritische bzw. „redaktionsgesc ic
liehe“ A rb eit das, was B u ltm an n in seinem Kommentar des Johannes Evange
96 .Schriftauslegung im Widerstreit'
liums (1941) durchgeführt hatte. Von ihm stam m t auch Ratzingers oben
zitierte Formulierung „[Die] Geschichte der synoptischen Iradition (1921).
In seiner „Theologie des Neuen Testaments (1948—1953) ließ Bultmann kei
nen Zweifel daran, daß ihm an der Frage nach der Theologie der einzelnen
Synoptiker selbst wenig gelegen war. Die „Redaktionskritik , die er am Johan
nes-Evangelium vornahm, bestand vor allem in dem entschiedenen Rück
gang hinter den „kirchlichen“ auf den „wahren“ Evangelisten. In Bultmanns
Fahrwasser stand auch Ernst Käsemann mit seiner Interpretation des vierten
Evangelisten als eines Doketisten . 86 Beiden gemeinsam war in ihrer wissen
schaftlichen A rbeit die Suche nach einem „Kanon im Kanon“, so sehr sie auch
den G lauben nur in der lebendigen Predigt der Kirche verankert sahen.
Die eigentliche redaktionsgeschichtliche Forschung, auf die das oben zitierte
Dokument der Päpstlichen Bibelkommission im Einklang mit dem heutigen
Sprachgebrauch hinweist, konzentriert sich demgegenüber gerade darauf, die
analytischen Rückfragen nach „ursprünglicherem Traditionsgut“ einzubin
den in die Suche nach der Aussage der neutestam entlichen Autoren selbst.
Diese (exegetisch wie systematisch anspruchsvolle) Suche kam merkwürdi
gerweise erst zeitlich parallel zu der von Käsem ann betriebenen „Neuen
Suche“ nach „dem historischen Jesus“ wirklich in Gang und wird bis heute in
der systematischen Theologie eher stiefm ütterlich behandelt. Daß Ratzinger
mit ihr nur wenig vertraut war und daher wohl lange Zeit ihr positives Poten
tial unterschätzte, ist bei dieser Lage der Dinge nur zu verständlich . 87
Zum zentralen Them a seiner Vorlesung von 1963 k om m t Ratzinger mit
der Aussage: „Überlieferung existiert [ ... ] als schon ausgedrückte in dem, was
aus der Vollmacht des Glaubens heraus schon Glaubensregel (Sym bolum ,
fides quae) geworden ist“ (1965 a, 4 6 ). Der Sinn dieser These wird deutlicher
aus einer wenig später veröffentlichten Schrift. Als „der eigentliche Kanon der
Kirche, der den Kanon für den ‘Kanon’ bildet“, gilt den dortigen Ausführun
gen zufolge „das Taufbekenntnis (d .h . das zum trin itarisch en Symbol er
weiterte christologische Bekenntnis) bzw. die m it ihm verbundene regula
fidei“. „Dieser Kanonbegriff, die Vorstellung also, Schrift sei nach dem Glau
ben auszulegen, stellt die altchristliche F o rm des D ogm enbegriffs d ar“
(1 9 6 6 a , 2 0 ). Die hier vertretene These - die Ratzinger auch in späteren Äuße
rungen zum Verhältnis von „historischer“ und „dogm atischer“ Auslegung der
S chrift bei aller Variation im einzelnen beibehalten h a t 88 — ersch ein t m ir zu
wenig differenziert.
In der Tat gab es schon vor allen Schriften, die dann im K anon des Neuen
Testam ents Aufnahm e fanden, in den frühen christlichen G em einden form u
lierte Taufbekenntnisse, in denen die zu Taufenden ihr Ja zu dem im R aum e
dieses „ W ir“ G eglaubten bekundeten. H ier h and elt es sich aber u m von O rt
Normen der Schriftauslegung
97
Ort vielfältig variierende „Glaubensregeln“ (regul fa
„o vor Ausleaungsnorm über d e n & ae idei)
A utoren ih r G eb äu d e e r n c h K j h a b ^ r , z u n e h m e n d e m M a ß e in den
hen sind.
Hier [bei Franz von Baader] wird mit Schärfe der Denkansatz Descartes’ abgelehnt,
dessen Gründung der Philosophie im Selbstbewußtsein [...] bis in die gegenwärtigen
Formen der Transzendentalphilosophie das Schicksal des neuzeitlichen Geistes be
stimmt hat. So wie die Selbstliebe nicht die Urgestalt der Liebe, sondern höchstens
eine abgeleitete Weise davon ist [...], so ist auch menschliches Erkennen nur als Er
kanntwerden, als zum Erkennen-gebracht-Werden und so wiederum‘vom anderen
her’ Wirklichkeit“ (1968 a, 200).
stellte.
Eine positivere Sicht der Aufklärung tritt m eist dort z u t a g e , wo Ratzing
sich politischen Themen, insbesondere der Frage nach der Z un u p
zuwendet. So kann er z. B. mit Berufung auf Kants berühm te Frage „ as i
Aufklärung?“ sagen:
»[D er M ensch] u n terw irft sich nicht m ehr einfach der Autorität und de
rung, sondern geb rau ch t seine Vernunft selbst. Freiheit zeigt sic
Theologie und Philosophie
102
de Frem dbestim m ung ablösen will, t s scn eim nu r w«-ul.6> , u uais aa m it kei
neswegs einfach Bindungslosigkeit an die Stelle von B in d u n g gesetzt w erden sollte
Vielmehr ging es darum, die Frem dbindung abzuschütteln und sie durch die vernünf
tige Bindung zu ersetzen, näm lich durch die Bindung, die aus E in sicht folgt: D aß Ra_
tio n alität bindet und Irratio n alität keine A lternative zu ih r d arstellt, ersch ien als
Selbstverständlichkeit. Insofern kann m an im Sin ne d er A ufklärung d urchaus sagen,
daß Freiheit Bindung ist, näm lich die Verbindlichkeit d er verstandenen W ahrheit; mit
Beliebigkeit hat sie nichts zu tu n “ ( 1 9 8 1 ,1 6 7 " ) .
pie Spannungen zwischen Joseph Ratzinger (und Hans Urs von Balthasar)
uf der einen Seite und Karl Rahner auf der anderen spiegeln in einem hohen
Maße die Polarisierungen wider, die nach dem Zweiten Vatikanum die katho
lisch e W e lt v e r w ir r t haben. W ir sind, so scheint mir, noch immer weit von
einer z u fr ie d e n s te lle n d e n Klärung der hier zutage getretenen Antagonismen
e n tfe rn t. M it d en fo lg e n d e n Bem erkungen können allenfalls einige Stolper-
stein e m a r k ie r t w e rd e n , die der Aufarbeitung dieser Problematik im Wege
stehen.
In seinen „Erinnerungen“ erw ähnt Ratzinger, daß er Karl Rahner persön
lich 1956 - auf der ersten, von Michael Schmaus zusammengerufenen Tagung
deutschsprachiger D o g m atik er in Königstein - kennengelernt habe und sie
beide „gleich bei dieser Gelegenheit einander menschlich recht nahe gekom
men“ seien (1998 a, 82100). S chon in seinen ersten Besprechungen von Publi
kationen Rahners meldet er aber K ritik an, zurückhaltend noch gegenüber
dessen „Theologie des Todes“ (1 9 5 8 a, 6 4 6 ), entschiedener dann bereits in sei
ner Rezension von „Visionen und Prophezeiungen“. Die „Frage nach Eigenart
und Eigengesetzlichkeit des P ro p h etisch en gegenüber der Individualmystik
[ist hier] nicht bis zu ih rer vollen Schärfe geführt“. „[Muß] man nicht sagen,
daß im Fall des p ro p h e tisch e n Auftrags [ . . . ] gerade das Mitteilbare und Sag
bare das E igen tlich e d arstellt, w o ra u f es ankom m t?“ Das „Instrumentarium
der M ystik v ersa g t v o r d em G o tt, der sich einen Abraham, einen Jeremias
oder einen Jon as zu B o tsch a fte rn erw ählt h at“ (vgl. 1 9 6 0 a , 2 5 1 ). Hier dürfte
die scharfe U n tersch eid u n g zw ischen einem östlich-mystischen und dem dia
logischen Typus v o n O ffen barun g vor allem in der jüdisch-christlichen Tradi
tion im H in te rg ru n d steh en , die R atzinger in seiner Bonner Vorlesung „Ein
fü h ru ng in die R e lig io n sp h ilo so p h ie “ (S om m ersem ester 1959) hervorgeho
ben hatte u n d a u f die er au ch später im m er wieder zurückgriff . ' 01
Was die uns hier beschäftigende Frage nach der Beziehung zwischen Theo
logie und Philosophie angeht, so ist besonders auf zwei Veröffentlichungen
Ratzingers hinzuweisen: seine Rezension von Rahners „Grundkurs des Glau
bens“ (1 9 7 8 ) und sod an n seine gründliche, teilweise aber äußerst scharfe
Auseinandersetzung m it Rahner, die etwas versteckt unter einer komplizier
ten Ü berschrift 102in Ratzingers ,,Theologische]r] Prinzipienlehre“ erschienen
ist (1 9 8 2 b , 1 6 9 - 1 7 9 ). Beide Publikationen machen erschreckend die Notwen-
Theologie und Philosophie
104
Denken im Gedachtwerden
„Wir Jiaben es gemeinsam übersetzt, Zeile für Zeile [ ...] Das war 1946. Ich kann mich
daran erinnern, daß wir jedes Zitat nachgeblättert haben. Platon, Aristoteles, Augusti
nus [ ...] . Als ich gehört habe, worum es in der ersten Enzyklika von Papst Benedikt
ging, mußte ich gleich an dieses‘Opus prim um ’ denken [ ...] am Anfang seiner wis
senschaftlichen Arbeit, wie am Anfang seines Pontifikats und seiner ersten Enzyklika,
steht die Liebe . . . “ (Läpple 2006, 5 5 f.).
Auf seine Studien zu Augustinus und dann vor allem Bonaventura gestützt,
konnte R atzin ger a u f d em Konzil (zusam m en m it anderen, vorwiegend pa-
tristisch o rie n tie rte n T h e o lo g e n aus dem französischen Sprachraum) einen
wichtigen B eitrag zu r A bkehr von dem letztlich auf Thomas selbst zurück
gehenden „in stru k tio n sth e o re tisch e n “ Offenbarungsbegriff leisten, der eine
dem F o ru m ra tio n a le r V eran tw o rtu n g enthobene „übernatürliche Offen
barung“ von d em „ U n te rb a u “ einer philosophisch erkennbaren „natürlichen
Offenbarung“ abhebt (vgl. bes. Ratzinger 1 9 6 7 ,5 0 4 -5 1 5 ).
(b) Ebenfalls im Einklang m it Bonaventura lehnte Ratzinger gegen Thomas
von Aquin (u n d d en H a u p tstro m scholastischen Denkens) jede mit dem An
spruch von L etztgültigkeit auftretende Erkenntnis der rein theoretischen Ver
nunft h in sich tlich d e r E x iste n z u n d des Wesens Gottes ab. Von daher stellte
für ihn „die Z e rtr ü m m e ru n g d er spekulativen Metaphysik durch Kant“ (vgl.
1 9 60c, 12) kein eigentliches P rob lem dar.
(c) D er B eg riff G o ttes als eines „unbewegten Bewegers“ wie auch der eines
in sich ru h e n d e n Seins sch ien R atzin ger m it der augustinischen Tradition
gegenüber d em aristo telisch -th o m istisch en Substanzdenken nicht akzeptabel
an gesich ts d er b ib lisch e n B o tsch a ft von einem G ott, der seinem ganzen
Wesen n ach L iebe ist . 111 D a m it berü hren wir bereits den zweiten der Themen
kreise, die R atzin g er im H inb lick au f sein Freisinger Philosophiestudium her
vorgehoben h at.
2. N a tu rp h ilo s o p h ie : In se in e r B o n n e r Zeit hatte Ratzinger versucht, den
B ew egu n gsb egriff des A q u in aten über die von A. M itterer vollzogene Rezep
tion n e u e re r F o rsch u n g se rg e b n iss e besonders in der Physik zu aktualisieren.
H ier m a ch te sich d e r E in flu ß seines Freisinger Philosophiestudiums geltend:
„M an glau b te, [d ie n e u e n Entw ick lu n gen der Naturwissenschaften] seien mit
dem U m b ru c h , d e n P la n ck , H eisen b erg, Einstein gebracht hatten, wieder au
Theologie und Philosophie
108
dem Weg zu G ott.“ „Wie m an in der Physik eine Abkehr vom m ech anist-
sehen Weltbild und eine Wende zu neuer Offenhe.t für [. ] G ott glaubte *'•
steUen zu dürfen (1 9 9 8 a , 4 8 t ) . Diesen Glauben sch ein t R a tz in g ,,
er
nur kurze Zeit geteilt zu haben. Schon in seiner T üb in ger Z eit betonte er di
methodische Beschränkung der N aturw issenschaften a u f die U n te rs u c h ^
der phänomenalen Seite der Dinge - parallel zu seiner analogen B e o b a c h t
hinsichtlich der historisch-kritischen Analyse und k ü n stlich en Rekonstr u k 8
hon von geschichtlicher Wirklichkeit. Die neuen Einsichten d er exakten W h
senschaften dienten ihm aber n och zu r V eran sch au lich u n g th e o l 0 gisch '
Sachverhalte (s. S. 5 3 ). Im R ahm en dieses B u ch es b ra u ch e n w ir dieser Ent
wicklung nicht weiter nachzugehen.
3. New man und das D ialogische D en k en . Im H in b lick a u f den wohl h^
rühmtesten Konvertiten des 19. Jahrhunderts b erich tet Läpple von seinem ge
meinsamen Mühen m it dem schon zum F reu n d gew orden en jungen Studen
ten: „Newman war für uns n ich t n u r ein T h e m a , er w a r u n sere Leidenschaft
Thema meiner Doktorarbeit w ar das Gewissen bei N ew m an . [ . . . ] W ir fragten
uns: wie wird ein Christ, der ein halbes L eben lan g in d e r F reih eit des Angli
kanismus gelebt hat, m it dem P rim a t u n d d e m L e h r a m t d e r K irch e fertig?“
(A. Läpple, 2006, 6 0 ). Ratzinger bem erk t in seinen „ E rin n e ru n g e n “: „[Läpple]
hatte schon vor dem Krieg bei d em M ü n c h e n e r M o ra lth e o lo g e n Theodor
Steinbüchel die A rbeit an ein er th e o lo g isch e n D is s e rta tio n ü b e r den Begriff
des Gewissens bei K ardinal N ew m an b e g o n n e n u n d w u rd e m it seinen weit
gespannten Kenntnissen in d er G esch ich te d e r P h ilo s o p h ie w ie m it seiner
Lust am Disput zu einem großen A n reg er“ (1 9 9 8 a, 4 8 112).
Über T heodor Steinbüchel fand R a tz in g e r sein en W eg in d ie „Dialogische
Philosophie“, m it der er N ew m an s G e w isse n sle h re v e rb a n d . G rundlegend
w urde dabei vor allem Stein b ü chels B u ch „ D e r U m b r u c h d es D en k en s“ 113.
H ier fand er eine „neue H in k eh r zu d e r seit K a n t u n z u g ä n g lic h gew ordenen
Metaphysik“ (ebd., 4 9 ):
„Steinbüchel, der seinen Weg mit Studien über Hegel und über den Sozialismus be
gonnen hatte, stellte in dem erwähnten Buch den vor allem durch Ferdinand Ebner
bewirkten Aufbruch zum Personalismus dar, der wohl auch ihm selber zu einer Wende
seines geistigen Weges geworden war. Die Begegnung m it dem Personalismus, die wir
dann bei dem großen jüdischen Denker M artin Buber m it neuer Überzeugungskraft
durchgeführt fanden, ist für mich zu einem wesentlich prägenden geistigen Erlebnis
geworden, wobei sich m ir dieser Personalismus wie von selbst m it dem Denken
Augustins verband, das m ir in den ‘Bekenntnissen’ m it seiner ganzen menschlichen
Leidenschaft und Tiefe begegnete“ (ebd.).
Schon die griechische Septuaginta hatte das hebräische W ort für „erken
nen“ durch ginoskein ersetzt, aber nicht eigentlich ü b ersetzt. Denn das he'
bräische Pendant erlaubt im Hinblick auf Gott nicht den Akt einer „theore
tischen Erkenntnis“ von der „praktischen Vernunft abzuheben: Wann
im m er Gott sich oder seinen Namen zu erkennen gibt, dann m uß d
Mensch ihn mit all seinen Kräften „erkennen , d .h . G ottes laten preiSend
anerkennen, seinen Willen tun. Gott erkennen heißt den Schwachen Und
Armen zu ihrem Recht zu verhelfen (Jer 2 2 ,1 6 ). „Jahwe n ich t erkennen“ W
kein Zeichen eines unterentwickelten Verstandes, sondern A usdruck religiös_
sittlichen Verfalls. In diesem H orizont gibt es keine (b erech tig te) M öglich
keit, Gott zunächst zu erkennen und ihn erst in einem n achfolgen den Akt
vorbehaltlos anzuerkennen. M öglichkeitsbedingung für auth entisch es Er
kennen ist die Vorgabe eines liebenden, definitiv entschiedenen Anerkennens
(vgl. bes. Hos 2 ,2 0 -2 2 ).
In diesem Sinne ist auch der Terminus „erk en nen “ (gin o sk ein !) zu verste
hen, wie ihn Paulus einer Gruppe von C hristen in K o rin th gegenüber ge
braucht, die sich im Besitz eines der N ot gegenseitigen Verstehens enthobe
nen Wissens (gnosis) wähnen, so daß ihnen eine W elt u n geh in d erter Freiheit
( exousia) offensteht. Der Apostel hält dem en tgegen : „D ie E rk enn tn is bläht
auf, die Liebe aber baut auf. W enn sich je m a n d im B esitz irgend ein er E r
kenntnis wähnt, so hat er noch n ich t die M öglichk eitsbed in gu n g für Erken
nen erkannt. Wenn aber jem and G ott liebt, so ist er von ih m erk an n t“ (1 Kor
d 8,1 c—3). Im sogenannten „H ohen Lied der L ieb e“ e rsch e in t d ieser Gedanke
dann in abgewandelter Form innerhalb des V ergleichs des uns je tz t Verfüg
baren m it der Liebe, die nach dem Verlust von all d em übrigb leib t: „Jetzt er
kenne ich stückweise; dann aber werde ich d urch und d u rch erkennen ( epigi-
noskein), wie ich durch und durch erkannt b in“ (1 3 ,1 2 ) . Diese beiden Aussa
gen über „Erkennen“ bilden so etwas wie einen h e rm e n e u tis c h e n Rahm en
um eine weitgefächerte Diskussion zum T h e m a K ult, G ö tte r- u nd H erren
m ah l (1 Kor 8 - 12 ), in der es dem A postel u m den S ch u tz v o n intellektuell
und m ateriell m inderbem ittelten Gläubigen v o r e in e r th e o lo g isch beredten
Avantgarde geht.
Man sollte dies als Hintergrund für Ratzingers Verständnis eines dialogi
schen Personahsmus im Auge behalten, auf dessen Basis er sich in wachsen
dem Maße gegen solche Theologen wandte, die zu im m er neuen Theoremen
und Reformen ansetzten und dabei sowohl die in langer Tradition gewachse
nen K rä fte des Glaubens wie auch die O rientierungsschw ierigkeit der „ein
fachen Gläubigen weitgehend aus dem Blick verloren. H at er dabei aber
im m er hinreichend differenziert? Im Anschluß an eine bereits zitierte Stelle
(s. S. 1 0 1 ) schreibt er in seiner „Einführung in das C h risten tu m “:
D enken im G edachtw erden 111
bew ußt und doch w ohl zu R echt das cartesische ‘C ogito, ergo
p eShalb hat Baa e r ^ lCogitorj ergo sum ’; N icht ‘Ich denke, also b in ich’; sondern
’’um’ umgedeUte‘ ind^ m m bin ich’; nur vom Erkanntw erden des M enschen her kann
fIc hwerde gedac ^ selbst begriffen werden. [ .. .] M an brau ch t sich nur bewußtzu-
sein Erkennen un ‘v g j le b e n gänzlich am M edium der Sprache hängt, und dann
machen, daß unser g ^ n ich t von heute ist: [ . . . ] die ganze G eschichte hat an
H"t> a cb sie in uns ein als die unum gängliche Voraussetzung unse
hinZUZUbegn u n d tritt d u rch sie
ihr gew°ben , lb stä n d ig e r Teil davon. [ . . . ] W ir m üssen also sagen, daß es
rer Gegenwart, ja , als e ^ M ensch_M onade der Renaissance, das b lo ß e C ogito-ergo
i » r h ln ß e In d iv i u
das bloße , Es ist gar n ich t cr>
so, H aß jed
daß ipHpr
er M n s r h vnm
M pensch v om NTnllnnnVt
N ullpunkt çpi
sei-
Wesen n ich t g ibt.
sum-wc:»-" — - & entwirft, wie es im deutschen Idealismus erschien“
ner Freiheit aus sich g an z n
" , i , 2 0 1 t . meine H ervorhcb.).
zwei P unkte in d iesem P assu s v erd ien en n ä h e r b e d a ch t zu w er-
V°n ) Wenn „unser geistiges Leben gänzlich am M edium der Sprache hängt“
d en , d h d och ; d urch das sich w irk u n g sg e sch ich tlich D u rch setzen d e re lati-
(U I1 wird) en tsp rich t das n ic h t je n e r A n s ic h t ü b e r W ah rh eitsfin d u n g , die
Vier) im Anschluß an den „lingu istic tu r n “ in zw ischen eine fast u n h in terfrag-
bare Autorität genießt, aber v o n d er Enzyklika „Fides et ra tio “ einer b erech tig
ten Kritik unterzogen w ird? ( 2 ) W e r o d e r w as ist m it d e m H inw eis a u f den
„deutschen Idealism us“ an g e sp ro ch e n ? H in sich tlich b eid er F ra g e n em p fiehlt
es sich, auf den w ich tig en B e itra g „G e w isse n u n d W a h rh e it“ e in zu g eh en , in
dem auch Ratzingers frühe Stu dien ü b er N e w m a n zu m T ragen k o m m en .
sellschaft) ein.
Demgegenüber verweist Ratzinger (vgl. ebd. 114 f.) a u f zwei Belege für eine
dem Menschen von G ott eingestiftete k ritisch e In sta n z , die im Anschluß an
die Terminologie Kants als eine ap riorisch e S tru k tu rierth eit der sittlich-prak
tischen Vernunft bezeichnet werden k önn te. E r b eru ft sich zu m einen auf das
Paulus zufolge auch dem H erzen d er H eid en e in g e sch rie b e n e Gesetz, von
dem ihr Gewissen ( syn-eidesis, lat. c o n -scien tia ) Z e u g n is ab leg t (vgl. Rom
2 ,1 4 f.). Zum anderen betont er, daß z u m in d e st im H a u p ts tro m d er Schola
stik die Rede vom Gewissen ( conscientia) n ich t ab g e tre n n t w ird von dem Be
griff syn-deresisU9} den m an als P en d an t zu d e r v o n P au lu s beschriebenen
Mitgift an jeden M enschen ansehen darf. Es sei dies - w ie d e r an aloge Plato
nische Begriff A nam nesis - „n ich t ein b eg rifflich a rtik u lie rte s W issen , ein
Schatz von abrufbaren Inhalten, [so n d ern ] so z u sa g e n ein in n e re r Sinn, eine
Fähigkeit des W iedererkennens“ (vgl. ebd. 1 1 4 - 1 1 6 ) . D ie V erk ü n d igu n g der
ch ristlich en O ffenbarung „an tw o rtete e in e r E rw a r tu n g . Sie t r a f a u f ein ihr
vorgängiges Grundwissen um die w esentlichen K o n sta n te n des in den G ebo
ten sch riftlich gew ordenen G ottesw illen s, das sich in allen K u ltu re n findet
und sich um so reiner entfaltet, je w eniger z iv ilisato risch e E ig e n m a c h t dieses
Urwissen verstellt“ (ebd. 116).
W enn ich richtig sehe, spricht Joseph R atzin g er in d iesem Z u sam m en h an g
ein e k on stitu tiv e H in o rd n u n g des M e n sch e n a u f O f fe n b a r u n g a n , die Karl
Denken im Gedachtwerden
113
stillen k an n . 121
Elftes Kapitel: Theologie und Politik
Auch bei Joseph Ratzinger kann m an so etwas wie eine „politische T heologie“
ausm achen. Ihre Konturen zeichnen sich sch on früh ab u n d bleiben in ihren
G rundlinien konstant. D er „Ernstfall in G estalt ein es „ K o m m is s a rs “ (vgl
H. U. von Balthasar 1 9 6 7 ,1 1 0 - 1 1 2 ) stand in sein er K ind h eit sozusagen stän
dig vor der Schwelle des H auses (vgl. 1 9 9 8 a, 7 - 4 1 ) . S c h o n d a m a ls dürften
sich ihm vor allem zwei Dinge ins G edächtnis ein gegrab en h aben : Ein Christ,
der sich in dieser W elt bew ähren will, m u ß zu m ein en die p o litisch e n E n t
w icklungen, innerhalb d erer sich k irch lich es L eb en a b sp ie lt, m it groß er
W achsam keit im Auge behalten. Z u m an d eren m u ß e r w issen, w o fü r er n o t
falls m it seiner ganzen Existenz einsteht.
Die frühen Erfahrungen im Spannungsfeld von b ru ta le r M ach tp o litik und
Kirchentreue m achen verständlich, w aru m sich R atzin g er sch o n w ährend der
Gymnasialzeit an Augustins gew altigem W erk „D e civ itate D ei“ geradezu fest
gebissen hat (vgl. S. 2 0 f .). H ier fand er g ru n d le g e n d e O rie n tie ru n g e n für das
Verhältnis von Glaube und Politik. D azu g e h ö rte z u n ä ch st das fü r das A bend
land charakteristische Verständnis d er B ezieh un g zw isch en K irch e und „welt
lich e r“ Gesellschaft. Auch u nd n ich t z u le tz t die K irch e tr ä g t V eran tw o rtu n g
dafür, daß im Staat R echt und n ich t b lanke M a c h t re g ie rt. D as h a tte bereits
A m brosius deutlich gem acht und w urde in den W irre n d e r V ölkerw an derun g
d u rch die p olitisch klugen und e rfo lg re ich e n rö m is c h e n B isch ö fe Leo I.
( 4 4 0 - 4 6 1 ) und G regor I. ( 5 9 0 - 6 0 4 ) so e in d rü c k lic h v o r A u g en g e fü h rt, daß
von nun ab im lateinischen W esten das P ap sttu m eine g e rad ezu u n e rsch ü tte r
liche Stellung behaupten k o n n te . 122
Besonders wichtig ist für Ratzinger Augustins k ritische R ezeption der bei
Varro zu findenden Unterscheidung zwischen „m ythischer“, „politischer“ und
„n a tü rlich er“ („physischer“) Theologie gew orden, a u f die er sp äter im m er
w ieder zurückkom m t. Die Situation, au f die Augustin zurückblickte, war da
durch gekennzeichnet, daß sich die christliche Theologie m it ihren sittlichen
F ord eru n gen n ich t unverm ittelt gegen die als positives R ech t behaupteten
Vorgaben des Staates w andte. Das seinem Ende zugehende R öm isch e Im p e
rium stützte sich au f religiöse Gehalte bzw. Kultpraktiken, die die philosophi-
„Polnische Theologie“ Joseph Ratzingers
„Die Frage, ob man als Christ an eine Art von innerweltlicher Vollendung denken
könne, ob so etwas wie eine christliche Utopie, eine Synthese von Utopie und Escha
tologie möglich sei, kann man vielleicht geradezu als den theologischen Kern der De
batte um die Befreiungstheologie bezeichnen. Nicht zufällig verbindet sich damit
wieder ein Disput, wie weit den Orden (besonders den Bettelorden) als Trägern der
pneumatologischen Komponente christlicher Existenz im Zugehen auf eine solche
neue Geschichtsstunde eine besondere Bedeutung eigne [...]• So können wir en
Streit, in dem Bonaventura stand, in mancher Hinsicht wieder besser vers
Heute wie damals ist dies kein rein akademischer Disput, sondern ein RinSen^ ar'™’
wie Geschichte recht gestaltet werden kann und wie sie verdor en w
38 f.).
einer Bildung verwehrt wurde, ohne die sie den G rad ih rer E n trech tu n g nicht
einm al zu erkennen, geschweige denn entsprechend zu artikulieren v erm o ch
ten Insofern wurden die wichtigsten Ansätze zu w irklicher Befreiung in einer
Z eit entw ickelt, da sich n o ch kein T h eo lo g e ein er R h e to rik im Sinne v0n
B loch -M oltm an n-M etz bedienen k onn te. An erster Stelle m u ß h ier wohl auf
das von dem ruhelosen Q uerdenker Ivan M ich 1961 in C u e rn a v a ca (M exiko)
gegrü n dete „C entro In tercultu ral de D o c u m e n ta c iö n “ (C I D O C ) verw iesen
werden. Da fast zur gleichen Zeit J. F. Kennedy wie au ch Papst Joh an nes XXIII
sich für die „E ntw icklung“ L atein am erik as e in se tz te n , d ie n te das Z en tru m
vorn eh m lich als S prachschule fü r a m e rik a n isch e P rie s te r, d ie sich in den
Dienst dieser Sache stellten. Illich selbst v erb an d d a m it a b e r das Ziel d er P ro-
blem atisierung des gängigen E n tw ick lu n gsb egriffs u n d g en erell e in e r Schul
bildung, die vor allem den F o rtb e sta n d des M itte lk la sse d e n k e n s sich erte. So
konnte das Z en tru m in seinem ersten Ja h rz e h n t ta ts ä c h lic h v ielen den Blick
für „den Anderen als A n d eren “ öffnen und leistete so ein en w ich tig en Beitrag
zu r Befreiung seiner B esu ch er von in te rn a lis ie rte n S elb stv erstän d lich k eiten .
N och bedeutungsvoller fü r den A u fb au v o n B a s is g e m e in d e n w a re n die A n
regungen, die von den p ädagogischen K o n zep ten P aulo F reires au sgin gen. Seit
1 9 5 9 D ozen t für P h ilo so p h ie u n d P ä d a g o g ik an d e r U n iv e r s itä t v o n Recife
(B rasilien ), k o n n te er u n te r d e m r e f o rm fr e u d ig e n P rä s id e n te n G o u lart
( 1 9 6 1 - 1 9 6 4 ) eine u m fassen d e A lp h a b e tis ie ru n g s k a m p a g n e d u rch s e tz e n .
N ach Goularts Sturz d urch einen M ilitä rp u tsch w u rd e F re ire ein g e sp e rrt und
schließlich des Landes verw iesen . 127
Joseph Ratzinger geht auf die Situation in Lateinamerika, soweit ich sehe,
erstmals nach seinen Erfahrungen mit den Neomarxisten in Tübingen näher
ein. 1968 war auf der zweiten Generalversammlung des lateinamerikanischen
Episkopats in Medellin auf der Grundlage von Aussagen des Zweiten Vatika
nums128 die vorrangige Option für die Armen beschlossen worden. Bald dar
aufgeriet die Bewegung, der Gustavo Gutierrez 1972 den Namen „Theologie
der Befreiung gab, infolge der politischen Verhältnisse in Chile in eine erste
große Zerreißprobe.129 Seit 1971 erhielt Ratzinger Nachrichten über die Lage
in Chile aus erster Hand durch Maximino Arias Reyero, der als sein Dokto
rand die schlimmen Jahre in Tübingen miterlebt hatte. 1971 wurde Arias Pro
fessor für Dogmatik an der Katholischen Universität Santiago de Chile und
dann auch Direktor des „Seminario Latinoamericano —Centro de Documen
taciön“. Mit Verweis auf einen „am Vorabend des chilenischen Umsturzes
£ 5 ---------'-»■ u s u m n I
6 119
n ied ergesch rieb en en B erich t“ von Arias«« schreibt R ■
daß im m er m eh r die katholische Universität v <, atZmger: ”Man weiß,
B ren n p u n k t solch er Experim en te eines neuen °n a n t l a g 0 in Chile zum
weiß, d aß freilich au ch gerade d ort die Krise d e s i T ^ 3^ WUrde; man
einem tragisch en Realismus steigerte“ (1 9 7 5 c,4 0 3 ) R Beg0nnenen sich zu
daß R atzinger in seiner „Eschatologie“ von 1 Q 77
■ mer der Gründe dafür,
m atik! - so au sfü h rlich und scharf auf den i d e X g T s c ^ C h ^ D° 8'
T h eo lo g ie d er B efreiun g zu sprechen kom m t (vgl s S n f t Charakter der
seiner Sorge u m die Vorgänge in Chile zu dieser Zeit zu such S'CherUch in
R atzin g er h at die tiefen Problem e Lateinamerikas durchaus mit innerer
A n teiln ah m e w a h rg e n o m m e n . In dem soeben zitierten Beitrag von 197
„M o to r d ieser V ereinigu ng war nicht zuletzt das Bewußtsein der sozialen Verantwor
tung gegenüber ein em Raum geworden, der auch nach der politischen Loslösung von
der K o lo n ialh errsch aft der iberischen Mächte in einer drückenden Abhängigkeit, nun
gegenüber der angelsäch sischen Wirtschaft - zuerst Englands, dann zusehends Ameri
kas - lebte. D ie K lage d er Armen, die aus ihm aufsteigt, mußte die katholischen Bi
schöfe d eshalb b eso n d ers unmittelbar und besonders tief treffen, weil dies, statistisch
gesehen je d e n fa lls , e in nahezu völlig katholischer Kontinent, der Raum mit den
m eisten K a th o lik e n d er Welt ist. Daß gerade der katholische Subkontinent der ärm
sten ein er ist, w urde in d em geschichtlichen Erwachen des Konzils zu einer nicht mehr
zu ü bergeh en d en Herausforderung“ ( 1975c, 401 f.).
„mit einem erheblichen Teil ihrer sogenannten Basisgemeinden ein gutes Beispie g' t.
N otw endig ist es in dieser Lage, lebendige Zellen zu bilden, die bewu t a
Zwang des m odernen Milieus heraustreten und die Alternative des Evange
einander leben, so daß ein Milieu des Glaubens entsteht. In solchen e en,
Theologie und Politik
120
vom Doppelgebot der Gottes- und Nächstenliebe und so von einer Kultur des Gebetes
,mH der christlichen Diakonie bestimmt werden, kann von neuem Küche wachsen
[ . . . ] “ (1982b, 314).
R atzin g er läß t es n ich t bei ein er Kritik ideologisierter Theologen und der
A nalyse ih rer M o tiv e in d er Z eit nach dem Konzil bewenden. Wenn es mit
„den A u sg an g sp u n k ten der Bibelkritik und der in Erfahrungen wachsenden
H e rm e n e u tik e in e rse its, d e r m arxistisch en Geschichtsanalyse andererseits
gelungen ist, „ein e G esam tsich t des Christlichen zu schaffen, die sowohl den
A n sp rü ch en d er W issen sch aft wie den moralischen Herausforderungen unse
rer Z eit voll zu e n ts p re c h e n sch ein t“, „kann m an verstehen, daß diese neue
A u slegu n g des C h ris te n tu m s T heologen, Priester und Ordensleute I ...] im
m e r m e h r in ih ren B a n n zieh t“. D ann wird aber auch „die Frage um so drin
gen d er, w ie die rich tig e A n tw o rt a u f diese H erausforderung aussehen mu
N u r w en n es g e lin g t, die L o g ik des G laubens in einer ebenso zwingen
W eise sich tb a r zu m a ch e n u nd sie [ . . . ] als reale Kraft einer besseren Antwort
in geleb ter E rfa h ru n g darzustellen, werden wir diese Krise beste en. ier
» d ie g a n z e K irc h e g e fo rd e rt. T h eo lo gie allein reicht nicht aus, das mt a
Theologie und Politik
122
Reizwort „M arxism u s“
„Nicht nur das Entstehen Europas nach dem Untergang der griechisch-röm ischen
Welt und der Völkerwanderung war das Werk des C hristentum s - der christliche
Glaube hat unstreitig Europa damals geboren; auch die W iederherstellung Europas
nach dem Zweiten Weltkrieg hat das C hristentum als seine W urzel, die in unserem
deutschen Grundgesetz sehr bewußt nach den Rechtszerstörungen des Nazi-Regimes
als tiefste Verankerung unseres Rechtsstaates festgeschrieben w orden ist“ (2004a,
145).
Ratzinger vergißt nicht, den Beitrag der USA zu würdigen: „Die A m e rik a
ner haben mit dem Marshall-Plan uns Deutschen großzügig geholfen, unser
Land wiederaufzubauen, und haben uns neuen Wohlstand und Freiheit
erm öglicht“ (ebd. 144). Aber ein wenig später fährt er fort:
„Dass die Politik der Versöhnung siegte, ist das Verdienst einer G eneration von Politi
kern, für die die Namen Adenauer, Schum ann, de G asperi, de Gaulle stehen. Dies
waren M e n s c h e n von nüchternem Verstand und politischem Realism us, aber dieser
Realismus stand au f dem festen Boden des christlichen Ethos, das sie als das Ethos der
gereinigten Vernunft erkannten“ (ebd. 1 4 4 f.).
Einen Tag darauf unterstreicht Ratzinger die Verdienste der Alliierten bei
der Wiederherstellung von Freiheit und Recht. Im Kern geht es ihm in dieser
Rede aber um die Frage, „ob und unter welchen Bedingungen auch heute so
— ungtür Europa
etwas wie ein gerechter Krieg, das heißt ein dem P ■
seinen moralischen Maßstäben stehender mUir ? dienend«und unter
bestehenden Unrecht,Systemen möglich ist. Ei" * « eegenüber
sammenhang schenkt er den Angelsachsen am T V 4)‘ In diesem Zu
recht herben Wem ein: Fag Ares Jubiläums einen
ligiös zu gestalten ist, [ . . . ] ein grundlegendes Problem auch für das Europa
von heute und von morgen [bleibt] (vgl. ebd. 7 2 f.).
Die größte Wende in der Geschichte des Abendlandes sieht auch Ratzinger
in der Französischen Revolution gegeben. Das „Sacrum Im p eriu m “ war zwar
„schon seit dem späten Mittelalter als politische Realität in Auflösung begriffen [ ]
aber jetzt erst zerbricht auch formell dieser geistige Rahmen, ohne den sich EuropJ
nicht hätte bilden können. [...] Die Geschichte mißt sich nicht mehr an einer ihr vor
ausliegenden und sie formenden Idee Gottes; der Staat wird nunmehr rein säkular be
trachtet, auf Rationalität und Bürgerwillen gegründet. Erstmals in der Geschichte
überhaupt entsteht der rein säkulare Staat, der die göttliche Verbürgung und Normie
rung des Politischen als mythische Weltansicht ablegt und Gott selbst zur Privatsache
erklärt, die nicht ins Öffentliche der gemeinsamen Willensbildung gehört. [...] Gott
und sein Wille hören auf, öffentlich relevant zu sein“ (ebd. 7 5 f.).
„Mit dem Sieg der posteuropäischen technisch-säkularen Welt, mit der Universalisie-
rung ihres Lebensmusters und ihrer Denkweise verbindet sich weltweit, besonders
aber in den streng nicht-europäischen Welten Asiens und Afrikas der Eindruck, dass
die Wertewelt Europas, seine Kultur und sein Glaube, worauf seine Identität beruhen,
am Ende eigentlich schon abgetreten sei; daß nun die Stunde der Wertesysteme ande
rer Welten [...] gekommen sei. Europa scheint in dieser Stunde seines äußersten Er
folgs von innen her leer geworden, [ ...] sozusagen au f Transplantate angewiesen, die
dann aber doch seine Identität aufheben müssen. Diesem inneren Absterben der tra
genden seelischen Kräfte entspricht es, dass auch ethnisch Europa auf dem Weg der
Verabschiedung begriffen erscheint“ (ebd. 78).
„Eine wesentliche Voraussetzung dafür, dass dieses an sich zerbrechliche Gebilde doch
zusammenhält und eine Ordnung der Freiheiten in gemeinschaftlich gelebter Freiheit
ermöglicht, sah der große politische Denker darin, dass in Amerika eine vom prote
stantischen Christentum genährte moralische Grundüberzeugung lebendig war, die
erst den Institutionen und den demokratischen Mechanismen ihre tragenden Grund
lagen gab“ (1995 c, 47, meine Hervorh.).
Die „V ereinigten S ta a ten von Nordamerika, die einerseits - auf freikirchlicher Grund
lage g e fo rm t - v o n ein e m strik ten Trennungsdogma ausgehen, andererseits über die
einzelnen D e n o m in a tio n e n hinweg doch tief von einem nicht konfessionell geprägten
p ro te sta n tisc h -ch ristlic h e n G rundkonsens geprägt wurden, der sich mit einem beson
deren Sendungsbewußtsein religiöser Art der übrigen Welt gegenüber verband und so dem
religiösen M om ent ein bedeutendes öffentliches Gewicht gab, das als vorpolitische und
ü b e rp o litis c h e K ra ft fü r das politische Leben bestimmend sein konnte. Freilich dar
m an sich n ic h t v e rb e rg e n , dass auch in den Vereinigten Staaten die Auflösung es
ch ristlich e n E rb es unablässig voranschreitet [ ...] ( 2005a, 81 , meine Hervor
liehe Unterschied zwischen gut und böse zerfällt. [ ...] W ir sehen solches etwa in de
Martyriumsideologie der Terroristen, die freilich im Einzelfall auch einfach Ausdruck
der Verzweiflung an der Rechtlosigkeit der Welt sein kann. W ir haben im übrigen auch
in den Sekten der westlichen Welt Beispiele eines Irrationalismus und einer Verdre
hung des Religiösen vor uns, die zeigen, wie gefährlich Religion wird, die ihre Orien
tierung verliert“ (2004 b, 130f.).
D er Text ist m eh rd eu tig. Schon der A u sd ru ck „In teressen , d e r sch lech t auf
d ie „ M a rty riu m sid e o lo g ie “ m u slim isch e r T e rro riste n p a ß t, s c h e in t m ir aber
zu zeigen , d aß R atzin g er n ich t w en iger b e re it ist, e in e m re lig iö s v e rb rä m te n
rü ck sich tslo se n K ap italism u s den K a m p f a n z u s a g e n , als e r d ies z u v o r h in
sich tlich e in e r m a rx is tis c h id e o lo g is ie rte n B e fre iu n g s th e o lo g ie bew iesen
h atte.
„Wenn in der Aufklärung nach M oralbegründungen gesucht w urde, die auch dann
noch gelten würden, etsi Deus non daretur [„auch wenn es G ott nicht gäbe“], so müs
sen wir heute unsere agnostischen Freunde einladen, sich ein er M oral zu öffnen ‘si
Deus daretur’ [„gesetzt, Gott würde gegeben“]. [ . . . ] N ur eine Vernunft, die auch für
Gott offen ist - nur eine Vernunft, die M oral nicht ins Subjektive verbannt oder zum
Kalkül erniedrigt, kann dem M ißbrauch des G ottesbegriffs und den Erkrankungen
der Religion entgegentreten und Heilungen schenken“ (2 0 0 4 a , 133).
Ratzinger gebraucht hier und an anderen Stellen den B eg riff „M o ral“ nicht
wie K ant o der F ichte in stren g er A b g ren zu n g v o m R e ch tsb e g riff, son d ern
etwa im Sinne von sittlich-rechtlichen G ru nd w erten , die ein er G esellschaft als
O rien tieru n g dienen. D a solch e W e rtm a ß stä b e a u ch in e in e r D em o k ratie
n ic h t v o r in n erem Zerfall g esch ü tzt sin d , w erd en im B lick a u f die Z ukunft
E u rop as und angesichts der G eschichte des A ben d lan d es n ich t zuletzt die Kir
ch en von d er Frage h erau sgefordert, wie sie ihre in ja h rh u n d e rte la n g e m R in
gen e rp ro b ten W ertvorstellungen in einer von d er P erv ersio n w irk lich er Frei
h eit bedroh ten Gesellschaft erhalten o d er gegebenenfalls n eu in diese e r b r i n
gen k ö n n e n , o h n e die P rin zip ien eines fre ih e itlich e n R e ch tsw e se n s zu
gefäh rd en.
D ie se r F ra g e h a t sich Josep h R atzin ger im m e r w ie d e r u n te r je v e rsch ie d e
n e n G esich tsp u n k ten gestellt, die h ier n u r zu ein e m k lein en Teil z u r S p rach e
g e b ra ch t w erden k ö n n en . Im S ep tem b er 2 0 0 5 w u rd e d e r so g e n a n n te „K arik a
tu re n s tre it“ d u rch die V eröffentlichung von M o h a m m e d -K a rik a tu re n in einer
d än isch en Z eitu n g au sgelöst. Ein halbes Jah r sp äter folgten d a n n h eftige K o n
tro v ersen u m die Z e ich en trick serie „ P o p eto w n “, die sich als eine w itzige Persi-
vmristliche Ve
Verantwortung für Europa
„der F reih eit, das zu v erh ö h n en , was anderen heilig ist. Gottlob kann sich bei uns nie
m and e rlau b en , das zu v ersp otten, was Juden oder was Moslems heilig ist. Aber zu den
gru n d leg en d en F re ih e itsre ch te n zählt m an das Recht, das Heilige der Christen in den
Staub zu ziehen u n d m it Sp o tt zu überschütten“ (2005c, 26).140
„in d er S p h ä re d es s ta a tlich e n R echts keine adäquate Darstellung finden [...]. Wir ste
h e n v o r e in e r A p o rie : W e n n K irch e diesen Anspruch aufgibt, bewirkt sie gerade auch
fü r d e n S ta a t n ic h t m e h r, w as er von ihr brau ch t. W enn der Staat ihn aber annimmt,
h e b t e r s ic h als p lu r a lis tis c h e r a u f und dabei verlieren dann Staat und Kirche sich
selb st“ ( 1 9 8 4 b , 1 9 6 ).
Bei ein em so lch en „ P att“ d arf es nicht bleiben. In der gegenwärtigen Welt
sei zw ar klar, d aß d er Öffentlichkeitsanspruch des Glaubens Pluralismus un
religiöse Toleran z des Staates nicht beeinträchtigen darf.
Dies gilt nun auch im Hinblick au f ein Europa, das kulturell, nicht nur als
eine zusam m engeballte ökonom ische M acht eine Zukunft haben soll. In
schon häufiger zitierten Rede vor dem Senat in Rom sagt Ratzinger:
sprach nicht darauf stützen“ (2004c, 50). ° C 16 m'ch daher in diesem Ge-
„ob es nicht eine Vernunft der Natur und so ein Vernunftrecht für den Menschen
sein Stehen in der Welt geben könne, [...] müsste heute interkulture ausge eg
angelegt werden. Für Christen hätte es mit der Schöpfung un em c op
I» d e, „dischen Welt entspräche den, de, B ^ if(d e i 'D h » » , d . n » ™ n G ~ «
mäßigkei, des Seins, in de, chinesischen Obe,l,.fe,»ng d,e Idee de, Ordnungen
W enn ich rich tig sehe, hängt der Ausgang der letzte
A rt u n d W eise z u sa m m e n , wie Kardinal RatzingeK PapStWahl auch mit der
A b sch ied v o n Jo h a n n e s Paul II. genommen hatte'
glau b w ü rd iges Z eugn is für etwas, wonach sie sich sehnt d•* Wer ein
ein e m G e h e im n is , das n ich t des Rückzugs in dunkle'
m ystisch a ttra k tiv zu sein, und ins grelle Licht der Öffentlirüv ’ Um
o h n e sich a n die H e rrsch a ft einer globalisiertenMedi,„m 4 ü “ k ,* n
E in e a n g e m e sse n e D rskussion der vielfältigen Aussagen RattL„ „ IS “ t
u n d G e sta lt d e r L itu rg ie ist h ier allein schon aus R .u „ g ,ünde„ nicta “
lieh. W eg en des h o h e n Stellenw erts, den der sakramental vollzogene Gottes
d ie n st in s e in e m g a n z e n L eb en und Denken hat, sollten am Ende dieses
B u ch s a b e r w e n ig s te n s einige Ü berlegungen weitergeführt werden, mit
d en en es b e g o n n e n w u rd e.
heißt es:
„H eute ist d er A ltar von der Wand weggetuckt, e,
ihn gruppieren, ihn zur Mitte haben.
gegen, die sich häufig in einem Halbrund um 1 ^ g ru p g ie t^ ^ ^ ^ &meuv
[■•■] es tritt w ieder hervor, was der Altar eigentlich ist. e'nJ ^ ’ Kreuzesopfers
de d er G läub igen das Letzte Abendmahl Christi, das Gedächtnis
136 Liturgie als „Lebensgrund der Theologie“
feiert, der Tisch also, den Gott uns gedeckt hat in dieser Welt, um uns zu seinen Tisch
genossen zu machen“ (1 9 6 0 d, 208).
„Deswegen ist der Tisch dem Tabernakel übergeordnet, weil Christus an uns appel.
liert, sein Tabernakel zu sein in dieser Welt [ ...] . M e ss e ist [ ... ] d ie g e m e in s a m e M ah l-
feierzwischen Gott u n d M e n s c h [ ...] . Sie ist Vollzug der B rüd erlichkeit der Christen
m iteinander au f Grund des G eheim nisses, daß G ott selbst in C hristus unser Bruder
werden wollte“ (ebd., 209).
In dem mit „Der Altar und die Gebetsrichtung in der Liturgie“ überschrie-
benen dritten Kapitel von „Der Geist der Liturgie“ stellt Ratzinger dagegen
fest,
„daß die Eucharistie der Christen m it dem B e g r iff‘M ah l’ überhaupt nicht zulänglich
beschrieben werden kann. D enn der H err hat das N eue des ch ristlich en Kultes zwar
im Rahm en eines jüd ischen (P ascha-)M ahles gestiftet, aber nu r dies Neue und nicht
das Mahl als solches zur W iederholung aufgetragen“ (2 0 0 0 ,6 8 ).
„Deswegen habe ich zu Beginn des Konzils den Entwurf der Liturgie-Konstitution, der
alle wesentlichen Erkenntnisse der Liturgischen Bewegung aufnahm, als emen gro
artigen A usgangspunkt für die Kirchenversammlung angesehen und Kar in g^
in diesem Sinn beraten. Daß die negativen Seiten der Liturgischen Bewegun-,
verstärk t w iederkehren und geradezu auf die Selbstzerstörung der Liturgie h.ndran-
gen w ürden, habe ich nicht vorauszusehen vermocht (1998a, 64 .
Was waren Ratzinger zufolge die „negativen Seiten der Liturgischen iBewe
gung“? Als Grund für seine bisherige Reserve ihr gegenüber n n n m u u h
sem Zusam m enhang den bei vielen ihrer Vertreter zu findenden„msemg^
Rationalism us und Historismus, der allzusehr auf die orm
storische Ursprünglichkeit bedacht war und den Werten des Gemüts ge0e
138 L iturgie als „L eb en sg ru n d d e r T h e o lo g ie “
ü ber [ . . . ] eine m erkw ürdige Kälte spüren ließ “. Ihn habe eine gewisse
h erzigk eit v ieler ih rer A n h än g er, die n u r e in e F o rm g elten lassen wollt ^
g e s tö rt (e b d ., 6 3 ) . D iese A ussage e rs c h e in t m e rk w ü rd ig im H inb lick d " ’
au f, d aß R a tz in g e r in den letzten Ja h rz e h n te n d o ch g e ra d e die ausufer
„ K re a tiv itä t“ im E rfin d en von im m e r n e u e n F o rm e n fü r die F eier des g 6
m ein d em ah ls“ bem ängelt hat. Sie gibt ab er einen w ertvollen Hinw eis darauf
w a ru m er zu B eginn des K onzils d iese E n tw ic k lu n g „ n ic h t v orau szu seh
v e rm o ch te “.
In seinem präzisen Ü b erb lick ü b e r v e rsch ie d e n e S tad ien d e r Liturgischen
B ew egung sch reib t Iserloh: „In D eu tsch lan d blieb [d iese] z u n ä ch st n och auf
A k ad em ik erk reise b e sch rä n k t“ (E . Ise rlo h , 1 9 7 9 , 3 0 4 ) . A u f d ieses Umfeld
d ü rften sich die u rsp rü n g lich e n V o rb e h alte R a tz in g e rs b e z ie h e n . Bald aber
tra t die „von d er allgem einen d eu tsch en Ju g en d b ew eg u n g erfaß te katholische
Ju gen d “ a u f den Plan. Sie v e rh a lf „ d e r L itu rg isch e n B ew eg u n g m it ihrem un
b ek ü m m erten vitalen Schw ung zu m Sieg gegen W id e rs tä n d e u nd M ißbrauch
w ie gegen th eo lo g isch e B e d e n k e n “ (e b d ., 3 0 4 ) . B e re its h ie r lä ß t sich ansatz
weise die Tendenz zu ein er „ K irch e v o n u n te n “ a u s m a c h e n , w en n au ch noch
k au m als A u fb egeh ren g egen „ h ie ra r c h is c h e B e v o r m u n d u n g “, so n d ern als
K am p f gegen eine ritu alistisch e E r s ta r r u n g des G o tte sd ie n ste s. D abei gingen
seh r u n te rsch ie d lich e S trö m u n g e n in e in a n d e r ü b e r. S c h o n in M a ria Laach,
wo die A n sätze zu e in e r litu rg is c h e n E r n e u e r u n g a u s d e m fran zö sisch en
R au m au fg en o m m en und v o r allem im B lick a u f ein e geistige Elite w eiterent
w ickelt w u rd en , v erb an d sich das B e m ü h e n u m ein e V e rm ittlu n g d er M eßtex
te an die g an ze G la u b e n s g e m e in s c h a ft m it e in e r B e to n u n g des m ystisch en
C h a ra k te rs d er sa k ra m e n ta le n V ollzü ge. N ic h t n u r d ie K irc h e n s p ra c h e , auch
ih re ritu ellen H a n d lu n g e n s o llte n v o n ih r e m u rs p r ü n g lic h e n S ym b olw ert
d em V erstehen ersch lossen w erden .
Je mehr sich die Liturgische Bewegung allgemein durchsetzte, kamen wei
tere Momente zum Tragen. Als Bereicherung nahm man zunächst auf, daß
nun das gesamte „Kirchenvolk“ - dem gängigen Sprachgebrauch nach auch
„die Gläubigen (!)“, nicht nur der Klerus - aktiv ins heilige Geschehen einbe
zogen wurde. Daraus erwuchs mit einiger Konsequenz die kritische Frage
nach dem allgemeinen Priestertum des gesamten Gottesvolkes und dessen
Verhältnis zum besonderen Priestertum, die Jahrzehnte später auf dem Kon
zil mit Engagement diskutiert wurde, aber letztlich ohne eine zufriedenstel
lende Antwort blieb. Vor allem von Klosterneuburg bei Wien ausgehend, kam
ein weiterer Aspekt ins Spiel. Der einflußreiche Pius Parsch setzte sich ener
gisch für ein „Volksliturgisches Apostolat“ ein. Als Mitglied der Arbeitsge
meinschaft für den religiösen Frieden befürwortete er aber auch eine Zu-
—^toueieier
sam m enarbeit mit dem Nationalsozialismus 7 • 139
es für viele zu einer verhängnisvollen Aktualki Um' ndest unterschwellig
_dem erw ählten Volk" eine diesen, Begriff ^
unter anderen Vorzeichen teilweise auch in der T k , Gefahr’ die «ch dann
wirkte. 0l° 8ieder B*eiu n g aus-
Wegen der günstigen Aufnahme, die Papst Pius XII
gung zuteil werden ließ, und der Verhinderung einer ’ ff UtUrgischen Bewe-
u nerledigten Fragen unter der Naziherrschaft wird r k " D'Skussion ihrer
d ien jah ren das Poten tial an Zündstoff, das von hie in seinen Stü
des 20. Jah rh u nd erts hinübergetragen wurde, kaum be " R ^ ZWeite Hälfte
selbst lern te diese Bew egung in jener Form kennen für d sein' Er
besonders der N am e Rom ano Guardini stand: D ie 16 V° r dem Kri(T e
zitiert:
letztem, in dem dieses erst seine eigentliche Wirklichkeit hat (1954, 213 f.). „Der Göt
terkult des Erdenstaates ist nicht nur überflüssig, sondern verkehrt und schädlich
Allein die civitas, die dem einen Gott opfert, ist im Recht. Ihr O pfer besteht in dem
Einssein in Christus. Das Opfer, das sie darbringt, ist sie selbst. Opferpriester und
Opfergabe fallen hier zusammen (ebd., 214 f.).
„[Die] Realmitte der Verkündigung [kreist] nicht [...] um eine Person der Vergangen
heit, sondern um eine konkrete Wirklichkeit, nämlich um die Wirklichkeit ‘ein Brot,
ein Leib sind wir die vielen’ (1 Kor 10,17[145]) - der kühne Ausdruck, in dem Paulus
das ganz Reale, das sich für uns hinter dem Wort vom Christus praesens oft allzusehr
verbirgt, offen ins Wort gehoben hat. [... ] Dementsprechend heißt Christusnachfolge
[...] , sein Ich hineinzugeben in die neue Einheit des Herrenleibes, in die Einheit des
‘ganzen Christus’, der wir alle sind“ (1961, 3).
In der Konsequenz dieser Perspektive erh ält die K irche einen Stellenwert
hinsichtlich der Verm ittlung von H eil, d er ih r n ach Paulus n ich t zukom m t.
Sie wird zu dem O rt, in den wir hineingetauft w urden, und zum eigentlichen
Subjekt, in dem das Einzelsubjekt nahezu verschw indet. So sp rich t Ratzinger
z. B. von einem „S ich -h in ein tau ch en-lassen in [die G em ein sch aft d er Glau
benden“, von einem „sich einbergen, ein tau ch en , hineinvereinigen [lassen] in
das eine Subjekt des Credo: die M ater Ecclesia' (1 9 7 2 c, 1 1 6 ).
„Paulus stellt [in Rom 6] den Glauben in den Zusammenhang der Taufe hinein [•••1:
Zum Glauben gehört das Sakrament, [...] die Einschmelzung meines Lebens in die
Gebetsgemeinschaft der Kirche, in ihren öffentlichen Gottesdienst“ (1982a, 15). [••■]
Getauft werden ist [...] das Hineingehen in die gemeinsame Form und das gemeinsa-
Die Sicht der Euchai
fistiefeier
me G laubensbekenntnis der Kirche, so daß dies • 141
!•■ ] Nicht di£ Trad,t'0n wird dem Täufling übergeben Ub«5form wird
dition- [ •■ 1 Ei8enturn; sie ist die grö^re FortrTdieflm * ^au®*6 der Tra
umgekehrt (ebd., 15f.). m,dle lhn gestaltet und nicht
und soll die Kirche weitergeben und wird von d ah er als sein „Leib“ i48
bezeichnet.
Zu dieser Sicht der Dinge scheint R atzinger erst im letzten Jahrzehnt ge
funden zu haben. So sehr die Kirche eine an die W elt gew iesene organische
„Leib-G em einschaft in C hristus darstellt, ist sie dies d o ch allein von dem
„Leib-für-euch-Sein“ Christi her (vgl. 1 Kor 1 1 ,2 4 ), der einzigen seinshaften
Basis für die Erfüllung ihres Auftrags. Ich stelle als „B eleg“ für diese These
einige Ausführungen aus seinem Beitrag „Eucharistie - C o m m u n io - Solida
rität: Christus gegenwärtig und wirksam im Sakram ent an den Schluß dieses
Buches - Aussagen, die in m einen Augen zu den sch önsten Texten in seinem
Werk gehören.
„Es ist wirklich der eine, gleiche Herr, den wir in der Eucharistie empfangen oder bes
ser: der uns empfängt und in sich aufnimmt. [...] Wir alle ‘essen’ denselben, nicht nur
dasselbe; wir alle werden so aus unserer abgeschlossenen Individualität herausgerissen
und hineingezogen in ein Größeres. Wir alle werden in Christus hinein assimiliert und
so durch das Kommunizieren mit Christus auch selbst untereinander identifiziert, iden
tisch, eins mit ihm, einanderzu Gliedern“ (2003e, 118, meine Hervorheb.). „Bei meinen
Kommuniongebeten muß ich daher einerseits ganz auf Christus hinschauen, mich
von ihm umformen, notfalls auch umbrennen lassen. Aber eben deswegen muß ich
mir auch immer neu klar machen, daß er mich so mit jedem anderen Kommunikan
ten zusammenfügt - dem neben mir, der mir vielleicht unsympathisch ist; aber auch
mit dem, der ferne ist, ob in Asien, Afrika, Amerika oder wo auch immer. [... j Kirche
entsteht [...] von dem einen Brot, dem einen Herrn her und ist von ihm her zu aller
erst und überall die eine und einzige, der aus dem einen Brot kommende eine Leib“
(ebd., 119).149
Hier wird die Leib-Einheit der Kirche weiterhin und zu Recht unterstri
chen, aber nicht mehr als ein „übersubjektives Subjekt“ verstanden, in das wir
bei der Taufe eingeschmolzen werden. Die kirchliche Einheit entsteht viel
mehr dadurch, daß „wir alle in Christus hinein assimiliert“ werden. Taufe wie
Eucharistie begreift Ratzinger jetzt in einer anderen Perspektive, als dies frü
her bei ihm der Fall zu sein schien. Unter diesem Blickwinkel wirken auch
Aussagen über den Auftrag der Kirche an die Welt dynamischer, als wenn das
Auge sich zunächst auf „das Subjekt Kirche“ richtet.
„Christentum war immer schon von dem einen Herrn her, von dem einen Brot her,
das uns zu einem Leib machen will, auf die Vereinigung der Menschheit hin angelegt.
Wenn wir ausgerechnet in dem Augenblick, in dem eine vorher undenkbare äußere
Vereinigung der Menschheit Tatsache wird, uns als Christen versagen und glauben,
nichts m ehr geben zu können oder zu sollen, laden wir schwere Schuld auf uns“ (ebd.,
126).
Die Sicht der Eucharistiefeier
völlig vor G ott Niederwerfen („Prostratio ) gesprochen. Ratzinger bem erkt zu die
sem Gestus: „Unvergessen bleibt m ir dieses Liegen bei m einer Priester- und bei me'
ner Bischofsweihe. Als ich zum B isch o f geweiht wurde, war vielleicht das brennend'
Gefühl des Ungenügens, der eigenen U nfähigkeit vor der G rö ß e des Auftrags noch
stärker als bei der Priesterweihe (2 0 0 0 ,1 6 2 ).
12 Diese Beobachtung wird durch Ratzinger selbst bestätigt, vgl. 1986 a, 25; deut
licher noch im Vorwort zur Neuauflage seiner D issertation: 1992 a, 2 6 -3 0 .
u Dem Duktus seiner Ausführungen entsprechend hätte Ratzinger hier auch sagen
können: „in dem B egriff ‘Leib C h risti’ greifbarer w ird“, vgl. 1954, 3 23, zu der Gedam
kenfolge „Haus —Tempel —Leib (C hristi) .
N Vgl. bes. den 1956 erstmals veröffentlichten Beitrag „Die Kirche als Geheimnis
des Glaubens“ (unter dem Titel „Vom Ursprung und Wesen der Kirche“ in: 1969a)
15 Ratzinger hat später mehrfach betont, wie hilfreich ihm Lubacs Buch „Cor
mysticum“ bei der Abfassung seiner Dissertation gewesen sei (vgl. etwa das Vorwort
zur2.Aufl. von 1992, in: 1997a, 29, und die entsprechenden Bemerkungen in seinen
„Erinnerungen“, 1998a, 69). In seiner Doktorarbeit vermerkt Ratzinger aber aus
drücklich: „Lubac, Corpus mysticum war mir leider nicht zugänglich“ (1954, 198
Anm. 30). Zu Lubacs Werk „Katholizismus“ heißt es im Anschluß an eine Bemerkung
über das (kritisch zu behandelnde) reichhaltige „M aterial“ bei E. Mersch, Le corps
mystique du Christ: „Gleichfalls reiches Material findet sich bei L u bac, Katholizismus
als Gemeinschaft [ . . . ] “ (ebd.). Voll zum Tragen kom m t Ratzingers Lubac-Studium
jedoch (spätestens) in seiner Bonner Vorlesung zur Ekklesiologie im Sommerseme
ster 1962.
16 Vgl. 1958 b, 14 Anm. 6; 1959, V.
17 Vgl. 1965a, Vorwort, 7: „Die Absicht, das Ganze historisch und sachlich auszu
weiten, wofür aus früheren Vorarbeiten mancherlei Materialien bereitlagen, scheiterte
in den folgenden Monaten immer wieder an vordringlicheren Verpflichtungen, vor
denen alle anderen Pläne wohl oder übel zurücktreten mußten.“
18 Dazu bemerkt Ratzinger in einer Fußnote: „Das dam it berührte Problem des
Verhältnisses von Schrift und Überlieferung nach der Lehre Bonaventuras hoffe ich
demnächst in einer eigenen Arbeit eingehend behandeln zu können.“
19 1952-1954 am Erzbischöflichen Klerikalseminar, 1 9 5 4 -1 9 5 9 dann zunächst als
Dozent, ab 1958 als außerordentlicher Professor für D ogm atik und Fundamental
theologie an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Freising.
20 H. Verweyen, 1993. Abgesehen von den vielen unnötigen Sarkasmen, die sich
dort finden, glaube ich, daß das Büchlein auch weiterhin bedenkenswerte Beobach
tungen enthält.
21 H. Verweyen, 1969, bes. 1 5 9 -2 0 7 . Zu dem Weg d orth in vgl. M ichael Seung-
Wook Kim, 2004, 22 -3 4 .
22 Vgl. Verweyen, 2005, 71 f. Ein wichtiger Unterschied bleibt allerdings anzumer
ken. Ratzinger hält nicht wie Augustin zu dieser Zeit das Studium jener „Hilfswissen
schaften im Grunde für entbehrlich, weil alles in ihnen enthaltene Gute ohnehin in
der Bibel zu finden sei.
Anmerkungen zu S. 32-37
147
23 H in s ic h tlic h d ieser b eid en Problem e hat d
„Fides et r a tio “ (1 9 9 8 ) K larh eit geschaffen. D o r t heißt der Enzyklika
meine, daß alle, die heute als Philosophen den Fordern ** Unmißverständlich: „Ich
das W o rt Gottes an das m enschliche Denken stellt " t f " entsPrechen wollen, die
Grundlage dieser P ostulate und in Kontinuität mit jene ^ ^ rgUmentation auf der
sollten, die bei den antiken Philosophen anfängt und ü W p w Trad'tion S e i t e n
Meister der Scholastik führt, um schließlich die grundlegend p henVäter sowie die
m odernen und zeitgenössischen Denkens zu erfassen [zu lT W EnUngenschaften des
dieser Tradition zu sch ö p fen und sich an ihr zu inspirieren ^ Phi' ° SOph aus
versäumen, s i e h als getreuer Anhänger des A u ton om iean sü ru ^ T T f " ** * * * *
D e n k e n s zu e r w e i s e n [zu 2. Im latein ischen Text steht: „fidelem se < P h‘ ° S° ph,Schen
i p s i n é c e s s i t â t , au ton om iae philosophicarum investigationum“ Es wird h'
der überlieferten Dinge und Worte durch das Nachsinnen und Studium de
gen, die sie in ihrem Herzen erwägen durch innere Einsicht die r ^ äubi-
Ule aus geistlicher
Erfahrung stam mt, durch die Verkündigung derer, die m it der Nachfol
1 r . 1 • 1____✓ “«l____ ----------------------------------------------------- 1 1 OI8e im
schofsamt das sichere Charisma der W ahrheit empfangen haben; denn die r B''
i
strebt im Gang der Jahrhunderte ständig der Fülle der göttlichen Wahrhe;i ^ ' rChe
bis an ihr sich Gottes Worte erfüllen“ (DV II 8,2). eit entgegen,
30 Ich zitiere mein Protokoll.
31 Vgl. H. Verweyen, 1993, 43—46.
Nicht zuletzt im Blick au f die ökum enische Diskussion halte ich bereit,
Unterscheidung zwischen „apostolischer Überlieferung“ und einer (nicht näherS ^
strophierten) „Überlieferung“ für einen Fortschritt. Nur die letztere wird ; ap°~
Schrift in Beziehung gesetzt, aber - anders als au f dem Konzil - dabei nicht m 4, ^
„heilig“ (Sacra Traditio) bezeichnet. Die „apostolische Überlieferung“ umfaßt de
gegenüber die Gesamtheit des den Aposteln aufgetragenen, in W orten und Taten *b
zulegenden Zeugnisses von dem universalen, in Christus offenbar gewordenen Heil
willen Gottes (vgl. Katechismus 2005, Nr. 11). „Die Apostel haben ihren Nachfol
den Bischöfen, und durch diese allen Geschlechtern bis zur Vollendung der Zeiten da
weitergegeben, was sie von Christus em pfangen und vom Heiligen Geist gelernt
haben“ (Nr. 12, meine H ervorh.). In diesem Satz gibt es zwei bemerkenswerte Ände
rungen gegenüber dem Konzilstext (D V II 7 ). D o rt stand: „die Apostel (haben) Bi
schöfe als ihre Nachfolger zurückgelassen und ihnen ‘ihr eigenes Lehram t überlie
fert’.“ Nun wird, historisch und sachlich präziser, n ich t m eh r behauptet, daß (zum
einen) die Apostel selbst Bischöfe als ihre N achfolger eingesetzt und (zum anderen)
ihnen ihr eigenes Lehramt übertragen hätten. Das an die Stelle von „eigenes Lehramt“
gerückte, nicht näher spezifizierte „das, was sie [ . . . ] empfangen [ ... ] haben“ scheint
eher die Verantwortung der Nachfolger der Apostel vor „allen Geschlechtern“ als ihre
Lehrgewalt zu betonen. - Der Konzilstext fuhr unm ittelbar nach dem Verweis auf die
Übertragung des Lehramtes fort: „Diese Heilige Überlieferung und die Heilige Schrift
beider Testamente sind gleichsam ein Spiegel, in dem die Kirche G ott [ ...] anschaut
[ . . . ] . “ Im „Kompendium“ folgt hingegen nach der A ntw ort au f die Frage „Was ist die
apostolische Überlieferung?“ (N r. 12) die Frage d an ach , a u f w elche Weisen sie ge
schieht (Nr. 13). Antwort: „Die apostolische Überlieferung geschieht au f zwei Weisen:
d urch die lebendige W eitergabe des W ortes G ottes (au ch einfach Überlieferung ge
n an n t) und durch die Heilige Schrift, in der dieselbe V erk ü n d igu n g des Heils schrift
lich festgehalten w urde“ (m eine H e rv o rh .). H ier sch ein t die von Geiselm ann (und
seiner A nhängerschaft a u f dem Konzil) vergeblich gesu ch te L ösun g gelungen, zu
gleich ab er auch R atzingers frühere G egenposition k larer zu m A usdruck gebracht.
Ü b erlieferun g als die „lebendige W eitergabe des W o rte s“ geh t inhaltlich nicht über
das hinaus, was in der Heiligen Schrift niedergeschrieben steht. Sie wird nun tatsäch
lich d er Schrift rein fun k tio n a l zugeordnet. B eid e aber gehen aus ein er umfassenden
Ü b erlieferu n g {tra d itio ), dem ap ostolischen V erkü n d igu ngsgesch eh en , hervor, in
d em sich fortzeugt, was die traditio als Auslieferung des Sohnes d u rch den Vater und
zu gleich als Selbsthingabe Jesu selbst erw irk t h at. - D er folgende A b schnitt über
Anmerkungen zu s . 3M 7
1969, 187). Wenn aber, mit H. U. von Balthasar gesprochen, nur „Liebe glaubh
(vgl. v. Balthasar 1963), und nach Ratzinger der christliche Glaube seine Herk ^ 'ist
„gekreuzigten Ich des H errn“ hat, geht Kaspers Einwand dann (wenn auch
der vereinfachenden Form el „Liebe ist Glauben“, so doch zum indest) an der V* an
vorbei? e
40 Ich übergehe die „Entfaltung des Christusbekenntnisses in den christolo '
Glaubensartikeln“ einschließlich der eschatologischen Aussagen (2 Hau ^
Kap. 2 ), auf die ich beim Überblick über die M onographie Ratzingers zur Eschatol'1’
gie zu sprechen komme (s. Kap. 7).
41 Vgl. W. Kasper 1969; J. Ratzinger 1969; W. Kasper 1970; J. Ratzingcr 1970
42 Katholischer Erwachsenenkatechismus. Bd. I: Das Glaubensbekenntnis der Ki
che. Hrsg, von der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn 1985. T~
43 Zur gesamten Problematik vgl. H. Verweyen, 2000, Kap. 12 und 13.
44 Implizit greift Ratzinger dam it die bahnbrechenden Untersuchungen Maurice
Blondels zu Ende des 19. Jahrhunderts und seine darau f folgende Diskussion mit AI
fred Loisy auf, in der die hier anstehenden Problem e au f einem nachher nicht mehr
erreichten Niveau behandelt wurden. Vgl. dazu jetzt Andreas U. Müller, 2006.
45 Vgl. bes. M. Blondeis beißende Kritik in der „Lettre“ (dts. „Zur Methode der Re
ligionsphilosophie“, 1974, 1 0 8 -1 1 0 , dazu m einen K om m entar, ebd. 70f.).
46 M. Stirners „Der Einzige und sein E ig en tu m “ w ar v o r allem in Reaktion auf
Feuerbachs Verherrlichung der m enschlichen G attung geschrieben, dürfte aber auch
eine Zäsur im Denken von Karl M arx bew irkt haben, vgl. H. Verweyen, 2005, 5 6 9 -
571.
47 Auf die FDP gehe ich hier nicht ein, weil die form ale, dem okratische Freiheit zur
Grundlage der Bundesrepublik generell gehört, die FD P daher, um koalitionsfähig zu
sein oder auch nur parlam entarisch in Erscheinung zu treten, den Inhalt der von ihr
proklamierten Freiheit nach der jeweiligen Großw etterlage bestim m en m uß(te).
48 M it dem „Godesberger P ro g ram m “ wurde Ende 1959 - zur Vorbereitung auf die
Ablösung der „A lleinherrschaft“ von C D U /C S U u n ter K on rad A denauer (1957—
1961) - der Übergang von einer m arxistischen A rbeiterpartei zu einer pragmatischen
Volkspartei auch theoretisch vollzogen.
49 Z u r G eschichte dieser a u f A vicenna zu rü ck geh en d en O n to lo g ie vgl. H. Ver
weyen, 2 0 0 5 ,2 9 5 -2 9 8 ; zur Unhaltbarkeit des genannten „Gottesbeweises“ ders., 1969,
4 8 - 5 3 . Z um Studium von M etz an der Innsbrucker H och sch u le der Gesellschaft Jesu
vgl. K. Kreutzer, 2 0 0 2 ,2 5 3 -2 5 5 .
50 In dem von J. B. M etz im W in tersem ester 1 9 6 5 /1 9 6 6 d u rch g efü h rten H aupt
sem in ar „Elem ente einer Theologie der W elt“ fiel m ir die Aufgabe zu, in 15 Minuten
ü b er das T hem a „Die ‘weltliche W elt’ bei John A. T. R obinson , Gabriel Vahanian und
in R u d o lf Bultm an n s Aufsatz ‘D er G ottesgedanke und der m o d ern e M ensch zu re
ferieren.
51 Z u seinen engagierten Studentinnen zählte auch die evangelische Pfarrerstochter
G u d ru n Ensslin, die nach ihrem W echsel an die Freie U niversität Berlin 1967 Andreas
B aad er k ennenlernte und bald d arau f ihre terroristisch e K arriere begann.
Anmerkungen zu s . 61_70
Herausforderung auf und malt uns die u “ c“ 4 'j £ 'j“ tt gtlcb, „och gelehrt
lichkeit und Kühnheit, wie sie vorher un ‘ Alt-Ägyptische Meditaüo-
wurde", in: d e r ,. „Ich stetge hinab in die
n e n zu T o d u n d A uferstehung in Bezug au von 1977; „Es sind nun
58 Ratzinger bemerkt in seinem Vorwort zur ersten zum ersten Male die
genau zwanzig Jahre, daß ich im Zyklus meine neben der Ekklesiologie der
nscnaioioeie vorzuudgcii
Eschatologie vorzutragen hatte die * * ^ *
. ^ am * « * a *
T raktat, den ich am öftesten gelesen habe und en
152 A n m erk u n g en zu S. 7 0 - 8 5
,isehc„E«geM„ i r ;Oo^ei6, ^ ^ « ^ ; S S t
Vernachlässigung keines Lichtes, das neuere Um: rsuch 831,261 S° rgfak ^ e'r
erken nen versuchen, welches die besonder r- ersuchungen beiget^,,.,, > k
Sch riftstellers war, zu welcher Zeit er lebte w e S o " ? , ^ 6" 51^ hedigen
m ündlich überliefert - er benutzte und welche RedeW ' ° b Schriftli* «der
näm lich noch besser erkennen können, wer der h e iW ^ ? ,er gebrau°bte. So wird er
beim Schreiben bezeichnen wollte. Es i« nämlich keinem"v"kl16" 61 WMUndWas«
Regel fü r die Auslegung [sumtnam interpretandi norma " b°rgen' daß die höchste
schaut und bestim m t, was der Schriftsteller zu s a o u ^ , lst’ daß man durch-
H c , M S . Diesem Z i,„ »folge ,i„d AbsÄ “ » t S »«
zu lesen. 2 als eine Einheit
^ V g l .Aicys Grillmeiers Kommen», Ium drilttn ^
1996, 109).
A nm erkungen zu S. 9 0 - 9 3
154
satz zu der künstlichen Figur, die häufig unter dem Etikett des historischen Jesu
geboten wird. [ ...] hier braucht nichts bestritten zu werden, was wirklich Wi ^
S ch a ft ist; im Gegenteil —die moderne Exegese stellt uns einen wunderbaren Sch ^
neuer Erkenntnisse zur Verfügung, wo immer sie Auslegung und nicht verkap ^
Ideologie ist“ (ebd. 110). Es irritiert mich allerdings, wenn Ratzinger dann ein Jah6
später in kritischem Ton sagt: „Man will herausbringen, was der damalige Autor d
mals gesagt hat [ . . . ] “ (1996, 108). Ist in dem Beitrag von 1995 mit dem „Schatz neue
Erkenntnisse“ nicht an die Redaktionskritik, sondern an die „kanonische Exegese“ '
damaligen Verständnis Ratzingers gedacht?
88 In Veröffentlichungen nach seiner New Yorker Vorlesung von 1988 bedient si
Ratzinger zumeist des Hinweises auf die (durch neuere wissenschaftliche Erkennt
nisse gestützte) „kanonische Exegese“, um den Vorrang der „ganzheitlichen“, auf de
gesamten Umfang der kirchlichen Überlieferung gestützte Interpretation der
Schrift durch das Lehramt vor den historisch-kritischen Einzeluntersuchungen zu be
tonen.
89 Vgl. Justin d. M., Apol. 1 ,67.
90 ... im Grunde genommen nie (vgl. den Streit um das „filioque“).
91 Vgl. Irenaus, Adv. haer. III, 11.
92 Vgl. bes. Adv. haer. 1 , 10.22.
93 In seiner Antwort auf das ihm zugesandte Exem plar schrieb m ir Ratzinger am
3. Mai 1 9 7 7 :„ [...] ... soviel habe ich schon bei einem kurzen Zublick gesehen, daß
Sie auch über [Walter] Kasper hinaus ein gut Stück weiterführen und wesentlich dazu
helfen, den fatalen Graben zwischen Exegese und Dogm atik zu überbrücken.“ - Auf
einem Schülertreffen m it (dem damaligen Erzbischof) Ratzinger habe ich dann zur
Konkretisierung dieses Ansatzes 1981 ein Referat m it dem Titel „Einheit und Vielfalt
der Evangelien“ vorgetragen, das sich, leicht überarbeitet, in H. Verweyen 2000,
Kap. 14 „Zur Rückfrage nach den Wundern Jesu“ findet.
94 Vgl. H. Verweyen, 2000, Kap. 12, 13, 15; 1997, bes. Kap. 5.
95 Vgl. 1 9 9 7 ,519f, und S. 37.
96 Vgl. 1968, 58, und S .45.
97 Das Verhältnis der m odernen Naturwissenschaft zur platonischen Kosmologie,
wie sie sich vor allem in der wechselvollen Rezeptionsgeschichte von Platons „Timai-
o s“ zeigt, stellt sich wesentlich anders dar. Die vom D em iu rgen n ach Gesetzen der
„reinen M athematik“ gestaltete Welt wurde gerade - wenn auch im totalen Gegensatz
zu Platons Verständnis reiner Ideen - zum Vorbild der „exakten“ Wissenschaften, die
M aterie ausschließlich unter dem G esichtspunkt eines q u an titativ -m eß b aren und
d am it beherrschbaren Stoffs betrachten. Vgl. zu einigen Phasen dieser Entwicklung
H . Verweyen 2 0 0 5 ,1 7 8 ,212f„ 2 2 8 - 2 3 3 ,2 9 1 - 2 9 5 .
98 Vgl. zu der folgenden knappen Skizze die ausführlichere D arstellung in H. Ver
weyen 2 0 0 5 , Kap. 1 3 -1 6 , bes. 2 5 0 - 2 7 5 ,2 9 0 f.
99 R atzinger fährt dann allerdings im Blick a u f die Frage n ach allgem ein verbind
lichen W erten für die Gesellschaft fort: „Die Schwierigkeit beginnt, wo die soziale Di
m ension der Freiheit zu bewältigen ist [ . . . ] “ (1 9 8 1 ,1 6 7 ) .
nmerkungen zu S. 103-105
Zum Vergleich: Hans Küng „hatte ich
o »Walle ich 19^7
157
In n s b ru c k k e n n e n g e le rn t“ (1 9 9 8 a , 137). Hans tt ^ b a t i k e t T*
i 9 6 0 in B o n n p e rsö n lic h begegn et, als er einen M V° n Balthas« War ich f “8 “
ü b er das v o n A lfo n s Auer [ . . . ] vorgelegte MnH Kr« s eingeladen u ma S
tie r e n [ . . . ] “• D ie se B egegn u n g „wurde für m'i ^ S,Weltoffenen C h r ite ^ u d’’ T
F reu n d sch a ft, fü r die ich nu r dankbar sein kann“ (ebd^ " 8 einer ' e b e n s t '
;en
im V gl. be s. sein en B eitrag zur Festgabe für Karl n L *'
passim 2 0 0 3 c. a ner »Gott in Welt“ ( 1904) und
102 „ 1 . 2 . 2 .1 H eil und G esch ichte, II. Die Fragestellung
n ach d er E in h e it von G esch ichte und Wesen“. 8 er Geg«wart, 3. Die Suche
i"' Ich h a b e n o ch d eu tlich m eine erste persönliche für
w e ise n d e , im H in b lic k a u f das V erhältnis zu Karl R a h m '^ ZWM Zukunft‘
stim m e n d e B e g e g n u n g m it H ans Urs von Balthasar in E ri” 4 " ^ ^ trauri8
er Ratzinger m it d essen T ü b in g e r Schülerkreis zu einem Ge” ™ 8^ ^ 8 1% 7 hatte
erschienene S tr e its c h r ift „C o rd u la oder der Ernstfall“ zu s i c h ^ u ^ S° eben
w o ich gegenüber sein em Plädoyer für die Einsamkeit der sich « L t ^ exl" 8eladen’
m e ld e n d e n Ju n g fra u P a rtei fü r K arl Rahners Theologie des Todes erjfoff 7 '' T ™
h e re n Umständen d ieser B egegn u n g vgl. H.Verweyen 2006,390-392* U
Mit dem Ausdruck „extrinsezistisch“ wird seit Blondel eine Apologetikbezeich
104
net, die nur noch die Tatsächlichkeit einer behaupteten Offenbarung (etwa durch
Wunder) beweisen will, aber die Frage übergeht, ob die freie Vernunft von ihrer inne
ren Konstitution her überhaupt eine Offenheit für „von außen“ (lat. extrinsece) an sie
ergehende Forderungen mitbringt.
105 I n d ie s e m P u n k t s tim m e n B lo n d el und Rahner überein, vgl. H.Verweyen, 2000,
2 3 4 f., 239.
106 „Obwohl [m it der Selbstgabe Gottes in der transzendentalen Auflichtung des
M enschen] nun nicht mehr bloß Gott, sondern auch Gnade und Christus zu dem
immer schon Gegebenen werden [ ...] , weiß R[ahner] auf seine Weise durchaus den
Unterschied zwischen „natürlicher“ und „übernatürlicher“ Offenbarung zu wahren
[ ...] . Insofern ist prinzipiell die Scheidung der beiden Ebenen deutlich vollzogen
[ . . . ] “ (1 9 7 8 ,1 8 0 ).
107 N icht übergangen werden darf aber Rahners Aussage über das entscheidende
Kriterium der endgültig-universalen Selbstmitteilung Gottes: „Die Kategorialität der
irreversiblen Selbstzusage Gottes an die Welt als ganze [...] kann nur ein Mensch
sein, der einerseits im Tod jede innerweltliche Zukunft aufgibt und der an erset
sich in dieser Todesannahme als von Gott endgültig angenommen erweist
ner, 1976, 2 1 0 ). Ratzinger bemerkt dazu: ,,R[ahner] berührt sich in eser e en
Weitung seiner Christologie überraschend mit den unter s i c h w t e d e r h o ^ e ^
d en en c h risto lo g isc h e n E ntw ürfen von Pannenberg, ^ a n n ^ d v o
d o ch d a rin k o n v e rg ie re n , d aß die Selbstaufgabe
die totale Ü bergabe an den Vater und so die ‘Unexistenz des Todes die pe
Sonstige L iteratu r
L iteratu rverzeichnis
>■ - to - de , m -
* - ^ GeBenwart’ in: “ 9
ven, H o Ontologische
„ven,n->u "— ü Voraussetzungen
,. u . des Glaubensaktes. Zur transzendenta-
uanszenüenta
V e:rr^ yYl ' ’a«c nach
n a ch der Möglichkeit
M öglichk eit von Offenbarung, Düsseldorf 1969 Vhttp-
(http- /1
' r /b’unpfreihurg.de/referate/04/verw
len l‘r freiburg.de/referate/04/verweyenlvenveven.htm
eyenlverweyen.btmlh
v ^ w 'U H ; Ekklesiologie der Befreiung, in; Theol. Rev. 81 (1985189-98.
Verv^eye n ’ " r W eltkatechism us. Therapie oder Symptom einer
einerkranl—
krankenvKirche!
--
Verweye I b o rf ^993
,993.
p ü sse 0 B o ts c h a ft eines T oten! Den Glauben rational verantworten, Regens-
\rerv 'eVe n ’
b u tg 19 ' kiOUes \etztes W ort. Grundriß der lundamentaltheologie, 8., vollstän-
Verweyen’ Auf\. Regensburg 2000.
clig ü b e r ' p t,;\ o so p h ie u n d Theologie. Vom Mythos zum Logos zum Mythos,
V e r w e y e n ,^ ’
p ar m staQV B e d e u tu n g H ans Urs von Balthasars für die Erneuerung der Hm-
y e rvceye n ’ " " lü . g j n -L o g ik der Liebe und Herrlichkeit Gottes. Hans Ors von Bal-
c la m e n ia k d e ° p q für K arl Kardinal Lehmann zum 70. Geburtstag, Ostfil