Sie sind auf Seite 1von 167

-•V'

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation


in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt.


Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig.
Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen,
Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in
und Verarbeitung durch elektronische Systeme.

© 2007 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt


Die Herausgabe des Werkes wurde durch
die Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht.
Satz: Setzerei Gutowski, Weiterstadt
Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier
Printed in Germany

www.primusverlag.de

ISBN 9 7 8 -3 -8 9 6 7 8 -5 8 7 -9
Inhalt

Dank ........................................................................................................................... 8

E in fü h ru n g ................................................................................................................. 9

Teil I:
Lehr- und W anderjahre (von Traunstein bis Regensburg)

Erstes Kapitel: Geschichtlicher Hintergrund .................................................. 12


„Kontexttheologie“ bei Joseph R a tz in g e r...................................................... 12
Der Einfluß Preußens auf die Entwicklung des Katholizismus . . . . 13
Die Eigendynamik liturgischer B e w e g u n g e n ............................................... 16

Zweites Kapitel: Glauben angesichts des Ernstfalls (1 9 2 7 -1 9 4 5 ) . . . . 18

Drittes Kapitel: Die Jahre in Freising und M ünchen (1 9 4 5 -1 9 5 9 ) . . . . 22


Der Priester Joseph R a tz in g e r ............................................................................. 22
„Volk und Haus Gottes in Augustins Lehre von der Kirche“ ............... 23
„Die Geschichtstheologie des heiligen Bonaventura“ ............................. 24

Viertes Kapitel: Lehrtätigkeit in Bonn (1 9 5 9 -1 9 6 3 ) ..................................... 27


Offene Wege - entscheidende B e g e g n u n g e n ................................................ 27
„Der Gott des Glaubens und der G ott der Philosophen“ ...................... 28
Ein verkürzter Augustinus .................................................................................. 30

Fünftes Kapitel: Im Zeichen des Konzils - die Zeit in M ünster


( 1 9 6 3 - 1 9 6 6 ) ................................................................................................................ 35
D ei Verbum aus der Sicht Joseph R a t z i n g e r s ................................................. 35
Der M ythos der großen W e n d e ........................................................................... 39

Sechstes Kapitel: Zenit und W egscheide - die Tübinger Jahre


( 1 9 6 6 - 1 9 6 9 ) .................................................................................................................. 43
„Einführung in das C hristen tu m “ ..................................................................... 43
6
Was heißt „Christ sein ■^
„Wahrheit und Methode
Die „Zeichen der Zeit
Regensburg (1 9 6 9 1977) .
Siebtes Kapitel: Ein V e rs u c h te m ™ holen
Die Auseinandersetzung
„Unfehlbar?“ ......................................
„Christ sein“ ' M l Leben“ ' .
„Eschatologie - Tod und ewiges
Abgrenzung von Utopia . • • • • ■
Tod - Unsterblichkeit - Auferstehung
Heil für alle Kreatur?

Teil II:
Nachfolger der Apostel (von M ünchen nach Rom )

Achtes Kapitel: Vorbemerkungen zum zweiten Teil ......................................

Neuntes Kapitel: „Schriftauslegung im W iderstreit .......................................


Historische Exegese in der Kirche: „Ein Problem m einer
Autobiographie“ ..................................................................................................
Zur Interpretation der Konzilsaussagen ..........................................................
Kanonische E x e g e s e ..................................................................................................
„Die Interpretation der Bibel in der Kirche ..................................................
Normen der Schriftauslegung .............................................................................

Zehntes Kapitel: Theologie und P h i lo s o p h i e .......................................................


Die enge Beziehung zwischen m od ern er H istorie und Philosop hie
Was ist A u fk lä ru n g ?....................................................................................................
Zur Auseinandersetzung m it Karl R a h n e r .......................................................
Denken im G e d ach tw erd en ......................................................................................
„Cogitor“ und die „Kritik der gnostischen V ernu n ft“ ........................
„Cogitor“ und die Frage nach bleibend gültigen W ah rh eitsk riterien

Elftes Kapitel: Theologie und Politik .......................................

Frühe Prägungen einer „politischen T heologie“ Joseph R atzin g ers . .


Ratzinger und die Theologie der Befreiung
Zum Hintergrund der Problem atik
D er Beitrag Joseph Ratzingers
Reizwort „M arxism us“ ...............
Inhalt 7

Christliche Verantwortung für die Zukunft Europas ............................. 125


Rückblicke auf die Jahre nach 1945 ........................................................... 125
Das C hristentum in der Geschichte Europas ........................................ 127
Verm ittlung christlicher W erte in einer säkularen Gesellschaft? . . 130

Zwölftes Kapitel: Liturgie als „Lebensgrund der Theologie“ ...................... 135


W idersprüche in Ratzingers L itu rg ie v e rstä n d n is?..................................... 135
K ontinuität und W andel in Ratzingers Sicht der Eucharistiefeier . . . 139

A nm erkungen . . . .

Literaturverzeichnis .

Person enregister . . .
Dank

Z u B egin n dieses ideinen B uches m ö ch te ich D ank sagen , D an k zu n äch st


m einem Lehrer und Doktorvater, der m ich a u f dem für Laien langen und b e­
schw erlichen Weg zu einer Professur in sy stem atisch er T h eo lo g ie stets auch
als Freund begleitet hat.
D ank aber auch Ingrid, m einer Frau. Im Bew ußtsein, zu den ersten, begei­
sterten Schülerinnen Joseph Ratzingers zu gehören, h at sie das M an usk rip t so
gründlich m it ihrer spitzen Feder begleitet, daß ich es nun dem H eiligen Vater
zu seinem 80. G eburtstag zu w idm en wage.
D an k n ich t zuletzt H errn Dr. B ern d V illh au er v o m L e k to ra t d er W B G . E r
h a t m ich zu diesem kleinen W erk a n g e re g t, sein en T itel v o rg e sch la g e n und
alle Fassu ngen sorgfältig gep rü ft. W en n es je tz t a u ch e in e r k ritisch e n L e se r­
sch aft zu g em u tet w erden k an n , so g e h t dies zu e in e m g u te n Teil a u f seine
U n terstü tzu n g zurück.

Freiburg, im Advent 2 0 0 6 H an sjü rg en Verweyen


Einführung

Nie zuvor hat es einen Papst gegeben, dessen Denkweg sich schon anhand von
ihm selbst verfaßter Schriften so genau verfolgen läßt wie der B ene­
dikts XVI. D araus ergibt sich eine verantwortungsvolle Aufgabe für Historiker,
die ein m öglichst getreues Bild der Theologie- und Kirchengeschichte seit der
M itte des 20. Jah rh u n d erts verm itteln m öch ten . Diese Aufgabe übersteigt bei
w eitem den R ah m en dieses kleinen B uchs wie auch die Fähigkeiten seines
A utors. D en n o ch k ö n n ten die folgenden Seiten einen w ertvollen A nstoß zu
solcher A rbeit darstellen - allein aus dem einfachen G rund, daß es in wenigen
Jahren keinen Schü ler, F re u n d u n d K ritiker Joseph R atzingers m eh r geben
w ird, der wie dieser die Z eit des Zw eiten W eltkriegs und unm ittelbar danach
m iterlebt hat und ihn seit fast fünfzig Jahren persönlich kennt und schätzt.
Schon wegen des vorg eseh en en U m fan gs galt es, u nter den vielen Perspek­
tiven, die sich im B lick a u f d en lan gen u nd ereignisreich en W eg Joseph R a t­
zingers an bieten , eine stren g e W ah l zu treffen. D a es in der m ir vorgeschlage-
nen A rbeit allein u m die E n tw ick lu n g seines D en k en s gehen sollte, b in ich au f
b iograp h isch e D etails n u r in d e m m ir d afü r n otw en d ig erscheinenden M aße
ein gegan gen . B io g ra p h is c h e D a rste llu n g e n gib t es oh n eh in b ereits in Fülle.
D ie fü r m ein e T h e m a tik e in sch lä g ig e n S ch riften R atzin gers h abe ich m ö g ­
lich st v o llstä n d ig zu R a te g e z o g e n , d ie S e k u n d ä rlite ra tu r je d o ch u n b e rü ck ­
sich tigt gelassen. E in e n o tw e n d ig k n ap p e Ausw ahl aus der uferlosen D iskus­
sion ü b er Josep h R atzin g er, b e so n d e rs in den letzten Jah rzeh n ten , h ätte d o ch
n u r n ach m e h r o d e r w en ig er w illk ü rlich en E ntsch eid un gen erfolgen k ö n n en .
B ei d er in h a ltlich en A u sw a h l b in ich v o n zw ei G esich tsp u n k ten au sg eg an ­
gen. S ch w erp u n k tm äß ig so llten , ersten s, solch e Problem felder b eh an d elt w e r­
d en , die Josep h R a tz in g e r v o m B e g in n seines S tu d iu m s an k o n tin u ierlich b e ­
sch äftigt h ab en u n d z en tra l fü r sein L eb en u n d D enken geblieben sind. Zw ei­
te n s w o llte ich m ic h n u r an s o lc h e T h e m e n h e ra n w a g e n , d ie zu m e in e m
A u fg a b e n b e re ich als F u n d a m e n ta lth e o lo g e g e h ö re n . D as lag a u c h d esw egen
n ah e, w eil m e in e e rste n B e g e g n u n g e n m it R a tz in g er in seine Z e it als O rd in a ­
riu s fü r F u n d a m e n ta lth e o lo g ie in B o n n fallen . Ic h w a r e rs ta u n t, in w e lch e m
M a ß e b ei d e r U n te r s u c h u n g d e r E in z e lfra g e n ein e K o n g ru e n z d ie se r b e id e n
P ersp ek tiven zu ta g e tra t.
Im ersten Teil des B u ch s v e rsu ch e ich , d e m D en k w eg Jo se p h R a tz in g e rs v o n
s e in e r G y m n a s ia lz e it b is z u s e in e r B is c h o fs w e ih e n a c h z u g e h e n : T ra u n s te in ,
10
Einführung

Freising, München, Bonn, Münster, Tübingen Re* u


nen. Eigentlich müßte das dauernde Hin und Her ! t Ufg sind die S ta t-
ster und Rom während des Zweiten Vatikanischen Konta," i“" " ^ Mo»!
besonderer Art aufgeführt werden. Denn gerade damals n
Wegzeichen für die weiteren Schritte in seinem L e b e n und D ?n,Sch«dende
tet worden: die Überschrift „Lehr- und Wanderiahre“ is • ken ai%rich-
Sinn zu verstehen. J lnem doppelten

meiner Sicht wichtigsten Fragen in der Theologie JosephT den au


gerichtet. Dabei bleibt der chronologische Aspekt insofern pr^^^Zmgers aus
systematischen Antworten auf diese Fragen nur im ständigen BeY ^ 56106
einzelnen
einzelnen Phasen angemessen eeingeordnet
Phasen angemessen i n p e o r d wn epr di e-nukxö n n e n , d..ie s lckaufdie
___ ■
durchlaufen hat.1 Es wird auffallen, daß d e n T h e m e n „ C h r i s t o ^ i e »
„Ekklesiologie“ kein eigenes Kapitel gewidmet is t. D a s lie g t an d e r b e s o n d *
ren Bedeutung, den der Bezug zur Liturgie in s e i n e m L e b e n u n d Denken be­
sitzt. Er ist ohne eine nähere Auseinandersetzung mit dem B ild v o m Leib
C hristi“ bei Paulus - der entscheidenden Grundlage f ü r „ S e in -f ü r “ als dem
zentralen Begriff im gesamten Werk Ratzingers - nicht zu verstehen. Erkennt
m an diesen Zusammenhang, dann fällt es nicht schwer zu sehen, w ie „Litur­
gie“ gleichsam den Oberbegriff für das Verhältnis zwischen C h risto lo g ie,
Ekklesiologie und Eschatologie in seiner Theologie darstellt. D e m versuche
ich dadurch Rechnung zu tragen, daß ich im zweiten Kapitel m it R atzingers
Eucharistieverständnis einsetze und im Rückblick darauf das B u ch be­
schließe.
Teil I:
Lehr- und Wanderjahre
(von Traunstein bis Regensburg)
Erstes Kapitel: Geschichtlicher Hintergrund

„Kontexttheologie“ bei Joseph Ratzinger

Die Ideen sind „nicht tren n b ar von d er h isto risch en Zufallsgestalt in di


hineingeboren sind, und tren n t m an sie d och davon, so n im m t m an ihnen iT
Eigen tliches“ (1 9 5 4 , 1 8 5 ). U m ein en D enkw eg nachzu vollzieh en , m u ß 11'
die gesch ich tliche S itu ation k en n en , in d er er sich en tw ickelt hat u n d ^ e "
Fragen n achgeh en , die jed en n eu en S c h ritt a u f ein em solchen Weg heraus"
gefordert haben. Von dieser E rk en n tn is sind sch o n die beiden ersten Bücher
Joseph Ratzingers geleitet - seine D issertation über den Kirchenbegriff Augu­
stins und die H a b ilita tio n ssch rift ü b e r B o n a v e n tu ra s Geschichtstheologie
A ugustins V erständnis von K irch e ist a u f d e r e in e n Seife wesentlich von der
Auseinandersetzung m it d er d o n atistisch en G egenkirche seiner nordafrikani­
sch en H eim at b e stim m t, die ih n in sein en Jah ren als B isch o f von Hippo
( 3 9 5 - 4 3 0 ) in A n sp ru ch n a h m . D ie H ä r te d e r Z w an g sm aß n ah m en , für die
Augustin am End e d och pläd ierte, w u rd e, in th eologische Lehre umgemünzt,
zu ein er fu rch tb aren H y p o th ek des A b en d lan d es. Diese W irkungsgeschichte
läßt sich n u r a u f dem H in te rg ru n d d e r M a c h t d e r D o n atisten verstehen, die
n ich t n u r den B ischöfen des W esten s zu sch affen m a ch te , sondern auch den
byzantinischen Kaisern tro tzte. E rst u n te r d em A n stu rm der Vandalen begann
diese G egenkirche z u s a m m e n z u b re c h e n , bis sie d an n u n ter muslimischer
H errschaft völlig zerfiel. A u f d e r a n d e re n S eite h a t die g rü n d lich e Beschäfti­
gung m it d em D enken u n d Kult d e r rö m is c h e n A n tike w esentlich zu Augu­
stins Verständnis des „Leibes C h risti“ als Z e n tru m eines völlig neuen „Kultes
beigetragen. In d iesem Leib b ild en A u g u stin zu folge die Gegenwart von
Christi S elbsthingabe in d e r E u c h a ris tie u n d die tä tig e , die W elt umgesta
tende Liebe als G ru n d p rin zip u n d e ig e n tlich e r G o ttesd ien st der Kirche eine
untrennbare Einheit.
Wenn Geschichte selbst zum Gegenstand von Philosophie und Theologie
erhoben wird, so geschieht dies zum eist in Krisenzeiten. „So ging die ers ’
g ro ß e christliche Theologie der G eschichte, Augustins W erk De civitate ^
c o n tra paganos’ [‘Ü ber die Bürgerschaft G ottes gegen die Heiden ^’ ^US^ e
K rise des röm ischen Reiches h erv o r“ ( 1 9 5 9 , V ). In welchem Sinne ie ^
S ch ich tsth eo lo g ie Bonaventuras eine A n tw ort au f G rundfragen seiner ^
d a rste llt, hat Ratzinger m eisterhaft h erausgearbeitet. Auch seinem eig
Der Einfluß Preußens 13

Denkweg kann man nur dann gerecht werden, wenn man die Grundfragen
im Blick behält, die sich in seiner, von großen Umwälzungen gezeichneten ge­
schichtlichen Situation erhoben. Bevor wir uns dem jeweiligen Kontext seiner
theologischen Entwicklung zuwenden, erscheint es mir ratsam, zunächst auf
den weiteren politischen Hintergrund dieses geschichtlichen Umfelds im
engeren S in n e auszugreifen.

Der Einfluß Preußens auf die Entwicklung des Katholizismus

Der Aufstieg Brandenburg-Preußens zur Großm acht unter Friedrich II.


(1 7 4 0 -1 7 8 6 ) hat die Geschichte des Katholizismus bis heute wesentlich mit­
bestimmt. Auf dem Konzil von Trient (1 5 4 5 -1 5 6 3 ) war es unter vielen M ü­
hen gelungen, Kernpunkte der katholischen Lehre in Abgrenzung vom Pro­
testantismus soweit zu klären, daß in den folgenden Jahrhunderten Italien,
Spanien, Frankreich und die von den W ittelsbachern und Habsburgern re­
gierten Territorien sich als eine im Glauben geeinte und in zunehmendem
Maße als „gegenreform atorisch“ definierende katholische Welt fühlen konn­
ten. In den übrigen katholisch regierten Fürstentüm ern Deutschlands ist
diese Entwicklung nicht so einheitlich verlaufen. In diesen politisch bedeu­
tungslos gewordenen und vielfach an protestantische Herrschaftsgebiete
angrenzenden Kleinstaaten lassen sich gelegentlich bereits Ansätze zu säkula­
risiertem Denken und religiöser Toleranz beobachten. Erst die Zusam men­
ballung protestantischer M acht in Preußen seit der Mitte des 19. Jahrhunderts
hat in eigentümlicher Wechselwirkung mit den Folgen der Politik Napoleons
in den katholischen Regionen Deutschlands zu völlig neuen Konstellationen
geführt.
Unter Friedrich dem G roßen begann Preußen, verspätet Entwicklungen
der Aufklärung in England und Frankreich aufgreifend, die bis ins 20. Jahr­
hundert hineinreichende Führungsrolle zunächst in den Geistes-, später dann
auch in den Naturwissenschaften zu übernehmen. In der zweiten Hälfte des
18. Jahrhunderts kamen - von Anfang an in scharfem Gegensatz zueinander -
in Königsberg die beiden für die Folgezeit wichtigsten philosophischen Strö­
mungen zum D urchbruch: die Wende Kants zur Transzendentalphilosophie
und die ersten, von H am ann und Herder entwickelten Ansätze zu einer H er­
m eneutik, die das Denken aufgrund seiner sprachlichen Verfaßtheit von
Grund au f geschichtlich bestim m t sieht. Beide Richtungen lassen keinen
Raum für eine Metaphysik, die W irklichkeit ohne die Berücksichtigung der
durch Strukturen der m enschlichen Vernunft geprägten Erfahrung erfassen
zu können glaubt. Daß sich der sogenannte „Deutsche Idealismus“ im Ver-
G eschichtlicher H in tergru nd
14

such diese verschiedenen Ström ungen system atisch weiterzureflektieren, in


der von Napoleon zunächst verschonten „Denknische“ W eim ar/Jena noch bis
1806 entfalten konnte, ist auf die Neutralität Preußens im Zweiten Koalitions­
krieg zurückzuführen. Die abseits von diesen philosophischen Ansätzen vor
allem im protestantischen Norden betriebene kritische Frage nach dem „hi­
storischen Jesus“ konnte erst nach einer allgemeinen Ern üch teru ng über die
idealistischen Systeme zur vollen Blüte kom m en. Die Tatsache, daß bis in die
Studienjahre Joseph Ratzingers hinein die offizielle katholische Theologie all
diesen bedeutenden wissenschaftlichen Entwicklungen skeptisch gegenüber­
stand, ist nicht allein „der B orniertheit R om s“ zuzuschreiben. Sie hat kaum
weniger mit der politischen Bedrohung Europas zu tu n , die von dem prote­
stantisch geprägten Preußen ausging. Der „liberale“ Protestantism us, der sein
nationalstaatliches Engagem ent m it einem anpassungsfähigen Verständnis
des „Wesens des Christentums“ verband, hat nicht nur begeistert dem Ersten
Weltkrieg zugestimmt. Er hat, trotz des Einspruchs der Dialektischen Theolo­
gie, auch wesentlich zur M achtergreifung Hitlers beigetragen.
Eine wichtige Voraussetzung für ein angemessenes Verständnis der Kontro­
versen zwischen deutschsprachigen katholischen Theologen und Rom in der
Zeit nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil - und dam it auch der theologi­
schen Entwicklung Joseph Ratzingers - ist die Erinnerung an die Wurzeln des
deutschen Sonderweges im 19. Jah rh u n d ert. Im Zuge der 1801 im Frieden
von Lunéville von Napoleon erzw ungenen politischen Neuordnungen wur-
den die Kirchengüter säkularisiert und fast der gesam te Süden und Westen
Deutschlands neu aufgeteilt. Auch die Ausbildung der katholischen Theolo­
gen hatte von nun ab an staatlichen Universitäten zu erfolgen. Erstmalig wur­
den im protestantischen Denken erzielte Fortschritte jetzt auch in der katho­
lischen Theologie aufgenommen. Das w ar aber nur u nter Regierungen mög
lieh, die kein besonderes Interesse an ein er engen Verbindung zu Rom
aufwiesen. Insbesondere gelang dies in Tübingen, dem geistigen Zentrum des
(1806 zum Königtum gewordenen) streng protestantischen Landes Württem
berg. Nicht nur wegen der herausragenden Leistungen einzelner Theologen,
sondern auch wegen des klugen Verhaltens der Fakultät nach dem Ersten
tikanischen Konzil konnte hier der im 19. Jah rh u n d ert erw orbene Schatz in
die Zeit des Neuaufbruchs nach 1945 hinübergerettet werden.
An der frühen Geschichte der B onn er kath olisch -theologisch en Fa u
hingegen läßt sich gut das Ausmaß der Schäden aufzeigen, die aus dem
sammentreffen von Konsequenzen der napoleonischen Politik und der Pr^
ßischen Machtentfaltung resultierten. Die Universität Bonn wurde 1818 vo
preußischen König gegründet. Bereits an der für idealistisches Denken au §
(f 1831)
schlossenen Theologie des katholischen Dogm atikers Georg Hermes
Der Einfluß Preußens
15

und seiner A nhänger entzündete sich der Funke für den Streit, der in den fol­
genden Jahrzehnten m der katholischen Theologie Deutschlands ausgetragen
w ur e. ie ersten e rb itterten G egner erw uchsen den „H erm esianern“ im
B istu m M ain z das n ich t zu Preußen gehörte und streng die im Vatikan ver­
foch ten e neu scholastische T heologie im Priestersem inar, dem für Theologen
einzig zuständigen A usbildungsort, vertrat. In dem Kölner Erzbischof Droste
zu V ischerm g gewann der M ainzer Kreis 1836 seinen mächtigsten Verbünde­
ten. Um der R einerhaltun g des Glaubens willen suchte dieser kampfeslustige
K irch en fü rst den K onflikt m it dem preußischen Staat selbst. Von diesem in­
haftiert, wuchs er zum „M ärtyrer em por und konnte in der Mischehenfrage
die R egieru n g s ch lie ß lich zum E in lenken zwingen. D er Streit zwischen den
„ U ltra m o n ta n e n “, d. h. den T h eo log en , die „jenseits der Berge“ unm ittelbar
beim Papst Schutz suchten, und solchen, die für eine Überwindung der allen
N euerungen gegenüber verschlossenen D ogm atik eintraten, spaltete die deut­
schen Bischöfe in zwei Lager.
D u rch den von B ism a rck h erau sg eford erten Krieg zwischen Frankreich
und D eu tsch lan d (1 8 7 0 - 1 8 7 1 ) fü h rte dieser zunächst nur in Deutschland
(bzw. zw ischen R o m und einer „avantgardistischen“ Gruppe von deutschen
T h eo lo g en ) ausgetragene K onflik t zu weltweiten Konsequenzen. Weil das zu
d ieser Z eit m it dem P apst p ak tieren d e Fran kreich keine Truppen gegen die
italienischen R epu blikaner entsenden konnte, wurde 1871 der einst so m äch­
tige K irchenstaat a u f das enge Terrain des Vatikan„staats“ begrenzt. Einen Tag
vor dem A u sbru ch des K rieges b e sch lo ß das Erste Vatikanische Konzil das
D ogm a d er p äp stlich en U n feh lb ark eit und vertagte sich dann au f unbe­
stim m te Zeit. Das rü cksichtslose Vorgehen Bism arcks im „K ulturkam pf“ von
1871 bis 1887 sch ien d er kath o lisch en W elt einm al m ehr zu bestätigen, daß
alles, was aus dem p re u ß isch e n P rotestantism us hervorgegangen war, von
Ü bel sein m u ßte. D ie „G eg en refo rm atio n “ hatte damit eine neue Dim ension
bek o m m en . Es ging n ic h t m eh r n u r um die Erhaltung bzw. W iederherstel­
lung des rech ten G lau ben s, son d ern um ein kulturell angemessenes F o rt­
bestehen der rö m isch e n K irche - dies vor allem im H inblick au f die Gestalt
päpstlicher A utorität selbst, kaum weniger aber auch au f die nach dem Sturz
des „A ncien rég im e“ o h n eh in als B ürger m inderer Qualität abgestempelten
K atholiken Frankreichs, der „ältesten Tochter Rom s“. Ohne Berücksichtigung
dieses A spekts wird m an den „M odern ism u sstreit“ zu Beginn des 20. Jah r­
hu n d erts und die bis heu te spürbaren Folgen der damals unbewältigt ab­
geb roch en en Fragen n ich t w irklich verstehen können. Diesen ungelösten
P ro b lem en begegnen w ir jed en falls a u f dem gesam ten Denkweg Joseph
Ratzingers.
Geschichtlicher Hintergrund
16
Die Eigendynamik litu rgisch er B ew eg u n g en

Hie Feier der Gegenwart des durch die


Von Anfang an bildete die uc *n ^ di Mitte der christlichen G em ein-
Hingabe Jesu £ £ l ü b e r besitzen, ist allerdings ein
Mi. dem ganzen Gew eht seine, apostolischen A „ M-
rhät beruft skh Paulus auf das. was e r , vom Herrn empfangen und uberhe-
hat, und interpretier, diese Überlieferung (trnd.rro) der Auslieferung
L dttl0) jesu neu wegen der Mißstände, die sich inzwischen bet der Feier des
Herrenmahls“ eingeschlichen hatten (vgl. 1 Kor 11,17 3 4 ). Nach langen
Jahrhunderten vielfältiger Entwicklung hatte Pius V. dann 1570 au f dem
Trienter Konzil eine einschneidende Entscheidung getroffen. U m die im Ver­
laufe der Reformation zutage getretenen Unsicherheiten über den Sinn und
die Gestalt des „Abendmahls“ von der Wurzel her zu beseitigen, legte er au f
der Grundlage des römischen Meßbuchs ein Einheitsm eßbuch fest, das von
nun ab unverändert in allen Kirchen maßgebend sein sollte. Dieses lateini­
sche Petrefakt war allerdings kaum geeignet, die Gem einde zur lebendigen
Mitfeier des Gottesdienstes mit dem „Zelebranten“ (d .h . dem F eiernd en !)
einzuladen. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts versuchte m an in
Deutschland diesem Dilemma durch die planmäßige Förderung des Gesangs
in der Volkssprache beizukommen. Die daraus entstandene „deutsche Sing­
messe“ hat dann aber die vom Priester vollzogenen Gebete und H andlungen
so weit in den Hintergrund gedrängt (bzw. im unzugänglichen Vordergrund
belassen), daß auch jetzt, obschon mit umgekehrten Vorzeichen, eine gem ein­
same, von Priester und Gemeinde vollzogene M eßfeier n u r n o ch m it M ühe
zu erkennen war.
Im Anschluß an die mit der Romantik einsetzende Suche nach den reinen
und heiligen Ursprüngen kam es erneut zu einer radikalen W ende. Die B eto­
nung der Schönheit und Würde der lateinischen Gesänge und Z erem o n ien
führte analog zur Neugotik im Kirchenbau —zur W iederbelebung der C h o ­
ralmusik im Geiste Palestrinas, zu einer Art lateinischer Oper, die nicht w eni­
ger als die „deutsche Singmesse“ das eigentliche Geschehen der E u ch aristie

bloßln8? 6, ^ * Mal 8eriet daS ”Kirchenvolk“ dam it in die Rolle des


p“ « , f I aT “ 7 V" nicht « " « n t t a i e n W o rten - des
O
Schon bei der “ P01*! ? 1™ " « ! Gesängen.
man ins l ra n k c' " e 'ch h a t"
damit das Heilige „fch t mehr >or d w m d « « - und
hchen Volke verhüllt“3 Pius IX hat h v u “ ’ sondern ’vor dem christ-
i
18 S7 ‘ IX- hat das Verbot, die Meßtexte zu übersetzen,
1857 noch einmal erneuert, allerding:
;s mit
geringem Erfolg. Denn gegen Ende
Eigendynamik liturgischer Bewegungen 17

des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts setzte eine Entwicklung ein, die
zu einer komplexen Verschmelzung von ursprünglich verschiedenen Ansät­
zen führte.
1872 hatten die Benediktiner von Beuron die Abtei Maredsous im walloni­
schen Teil Belgiens gegründet. Hier wurde 1882 das erste lateinisch-französi­
sche Volksm eßbuch herausgegeben. Anselm Schott, der sich während der
zeitweiligen Aufhebung Beurons im Kulturkampf (!) in Maredsous aufhielt,
schuf au f diese Anregung hin 1884 das erste analoge Meßbuch für Deutsch­
land, den „S ch o tt“, der - in verschiedenen Versionen immer wieder aufge­
legt - ein halbes Jahrhundert lang zu einer der wichtigsten Stützen der litur­
gischen Erneuerung in Deutschland wurde.
Aus dem französischen G hetto-K atholizism us, dessen größter Erfolg im
Streit der „Royalisten“ gegen die „Republikaner“ 1891 die Vollendung der Ba­
silika von S acré-C œ u r gleichsam auf dem höchsten Thron von Paris war, gin­
gen ab 1881 zu n äch st au ch die Eucharistischen Kongresse als Zurschaustel­
lungen des Allerheiligsten Sakram ents hervor. Pius X ., der schon seit Beginn
seines Pontifikats ( 1 9 0 3 - 1 9 1 4 ) für die aktive Teilnahme der Gläubigen an der
M eßfeier u nd ihre häufige, ja tägliche K om m union eingetreten war, gab
ihnen eine völlig andere A usrichtung. Eine wirklich aktive Teilnahme hat zu­
nächst aber das Verstehen dessen zur Voraussetzung, was in der Eucharistie­
feier in W o rt u nd R itu s v o r sich geht. Diese Erkenntnis und entsprechende
Forderung w ar G rundlage d er „Liturgischen Bewegung“, die 1909 auf einem
Kongreß der katholischen Vereine im flämischen Mechelen ins Leben gerufen
wurde. In D eutschland blieb sie zunächst eine Angelegenheit für Akademiker­
kreise in Abteien wie M aria Laach. E rst nach dem Ersten Weltkrieg begann sie
sich im Zuge der Jugendbewegung allgemein durchzusetzen. Damit wurde sie
allerdings von A nfang an in den Konflikt zwischen ideologisierten „Bünden“
hineingerissen, d er ein K ennzeichen der W eim arer Zeit war. In diesem Kon­
text fand auch die frühe religiöse Prägung Joseph Ratzingers statt, der wir uns
im folgenden Kapitel zunächst zuwenden wollen.
Zweites Kapitel:
Glauben angesichts des Ernstfalls (1 9 2 7 -1 9 4 5 )

In den autobiograp hischen N otizen von 1998 „Aus m einem Leben. E rinne­
rungen (1 9 2 7 -1 9 7 7 )“ hat Joseph Ratzinger die vielfältigen U nruhen geschil
dert, denen er m it seiner Fam ilie in der Zeit der N azidiktatur ausgesetzt war.
Erst die 1937 erfolgte Ü bersiedelung nach Traunstein kam ihm wie eine An­
ku nft in seiner w irklichen H eim at vor (1 9 9 8 a , 2 5 ). In den Jahren zwischen
1927 und 1937 war die Fam ilie im m er wieder zu einem Ortswechsel gezwun­
gen, weil der Vater, der wegen seiner beruflichen Tätigkeit als Gendarm häufig
genug „bei V ersam m lungen gegen die Gew alttätigkeit der Nazis einschreiten
[m u ß te ]“ (ebd ., 15), seine A nsichten über die brau nen H orden nie für sich
behalten hat. Das Leben in diesem etwas abgelegenen W inkel des „Dritten
R eich s“ blieb zunächst zwar n o ch w eitgehend vom Rhythm us des K irchen­
jahres bestim m t. A ber gerade die Fam ilie Ratzinger m ußte wegen ihrer kon­
sequenten A blehnung der natio n also zialistisch en D o ktrin am ehesten mit
Spitzeln rechnen.
W ährend der Vater m it der Frage nach der Tragfähigkeit seines Glaubens in
den alltäglichen Bedrohungen durch eine au f die W urzeln m enschlichen Zu­
sam m enlebens zielende Gewalt konfrontiert war, reflektierte Joseph Ratzinger
selbst schon sehr früh den Sin n dieses den Einsatz alles Eigenen einford ern­
den Glaubens in seiner Begegnung m it G o tt bei der Feier des M eßopfers. Ein
Exem plar des im ersten Kapitel erw ähnten „S ch o tt“ hatte seine Eltern schon
seit ihrem H ochzeitstag begleitet. D ie Kinder erhielten jeweils neu eine ihrer
A ltersstufe entsprechend e Ausgabe dieses B uchs. Joseph R atzinger bem erkt
dazu, daß au f diese Weise sein „Weg m it der Liturgie ( ...) ein kontinuierlicher
Prozeß eines H ineinwachsens in eine alle Individualitäten und G enerationen
übersteigende große Realität [w ar], die zu im m er neu em Staunen und E n t­
decken A nlaß wurde“ (ebd., 23). Bereits zu Ende seiner Gym nasialzeit finden
wir ihn m it dem Versuch beschäftigt, die liturgischen Texte „besser und leben­
diger aus den U rtexten zu übertragen“ (ebd., 32).
W er nach dem Zweiten W eltkrieg geboren ist, wird kaum a u f den G ed an­
ken k o m m en , daß diese H inw eise ein en Schlüssel zum K ern der T h eo log ie
Ratzingers an die H and geben k ö n n ten . D en n in der zw eiten H älfte des
20. Jah rh u n d erts hat n ich t n u r die akad em ische T h eo lo g ie in ein em n ich t
vorauszusehenden M aße neue Wege betreten. Vor allem vollzog sich ein tief-
Glauben angesichts des Ernstfalls (1927-1945) 19

greifender Wandel in der Gestalt und im Verständnis der Eucharistiefeier.


Dem Opferpriester, der sich mit dem Rücken zu „den Gläubigen“ ins heilige
M ysterium versenkte, folgten Liturgen, die inmitten des zum Mahl versam­
m elten, aber bald zu einer kleinen Schar zusammenschmelzenden „Volkes“
versuchten, durch innovative, in die Gestaltung des Gottesdienstes einge-
brachte Ideen den „Zeichen der Zeit“ gerecht zu werden. Dieses Verständnis
von „Gemeindenähe“ hat Ratzinger nie geteilt. Ebensowenig charakteristisch
ist für ihn aber auch die Vorstellung vom Meßopfer, die noch den großen,
1889 geborenen Liturgiegeschichtler Josef Andreas (ungmann geprägt hat. Als
Beleg für diese Vorstellung möchte ich ein Zitat aus dem Kommentar Jung­
m anns zu einer Passage des röm ischen Meßkanons anführen, das hohlspie­
gelartig einen jahrhundertelangen Irrweg der Liturgie vor Augen führt.
Nach der Wandlung spricht der Priester zunächst ein Darbringungsgebet,
in dem die verwandelten Gaben als ein „reines“, „heiliges“ und „makelloses
O pfer“ bezeichnet werden. Danach folgt eine Bitte um die Annahme dieses
Opfers: G ott möge es ebenso huldvoll annehmen wie einst die Gaben Abels,
Abraham s „und das heilige Opfer und die makellose Gabe, die Dein Hoher-
priester Melchisedek Dir dargebracht hat“. Nachdem er die an dieser Passage
ansetzende „reform atorische Polemik“ gegen die römische Messe beiseite ge­
schoben hat4, fährt der nüchterne Historiker geradezu hymnisch fort: „[Die
demütige Bitte um Gottes Gnadenblick] wird verbunden mit einem vertrau­
ensvollen H inweis a u f die leuchtenden Gestalten des Alten Bundes, deren
O pfer Gottes Wohlgefallen gefunden hat. Die erhebendsten Vorbilder aus der
alten Heilsgeschichte treten damit zugleich ermutigend vor die Seele, und ein
stolzes H ochgefühl erfaßt uns, indem wir unser Tun an das Tun jener bibli­
schen Gottesfreunde anreihen.“5
M ir scheint, daß Joseph Ratzinger nie von einem solchen „stolzen Hochge­
fühl“ beseelt gewesen ist. Sein Blick auf das Geschehen am Altar war von früh
a u f m it der intensiven Vertiefung in die vom „Schott gebotenen Meßtexte
verbunden, zugleich aber auch mit einem Bild vom Priestertum, das aus dem
spezifischen Kontext der Kriegszeit erwuchs. Jeder „Seelsorger wurde damals
daran gem essen, wie er sich im „Ernstfall“ verhielt bzw. verhalten würde -
und zum indest die meisten Priester, denen ich in dieser Zeit begegnet bin,
legten an sich selbst diesen M aßstab an. Wenn sie die Worte Jesu nachspra­
chen: „Das ist m ein Leib“, d.h.: das bin ich in meiner vorbehaltlosen Hingabe
für euch und die V ielen, sprangen diese Worte gleichsam auf sie zurück als
unabweisbare Forderung, sich selbst „kon-sekrieren , sich in diesen „Leib-für-
euch“ (1 Kor 11,24) einschmelzen zu lassen.
M öglicherw eise ist Joseph Ratzinger einem in dieser Weise geformten
Priester erst während seines Theologiestudiums in Joseph Pascher begegnet,
20 Glauben angesichts des Ernstfalls (1 9 2 7 -1 9 4 5 )

einem Liturgiewissenschaffier und Pastoraltheologen ganz anderer Prägung,


als sie für Jungmann kennzeichnend war. W ährend der letztere sechzig Jahre
in den durch die Gesellschaft Jesu klar vorgezeichneten Bahnen verbrachte
und kaum je den Innsbrucker Raum verließ, hatte sich das Leben Paschers in
einem ständigen „Exodus“ bewegt. In seinen „Erinnerungen“ hat Ratzinger
dem Lehrer tief bewegende W orte gewidmet (vgl. 1998 a, 63 f.), leider aber
nichts von dessen Erfahrungen in der Nazizeit m itgeteilt. Seit August 1936
m it Erm ittlungen der Gestapo konfrontiert, war Pascher als theologischer
Lehrer gleichsam hin und her geschleudert worden - von W ürzburg nach
München und von da nach M ünster - , bevor er 1946 gleichsam einen „Rück­
ru f ' an die Ludwig-M axim ilians-Universität erhielt. Ratzinger erwähnt, daß
er erst damals von der Liturgischen Bewegung erfaßt worden sei und aus die­
ser Begegnung heraus auch zu Anfang des Zweiten Vatikanums den Entwurf
der Liturgie-Konstitution begrüßt habe. „Daß die negativen Seiten der Litur­
gischen Bewegung[6] hernach verstärkt wiederkehren und geradezu auf die
Selbstzerstörung der Liturgie hindrängen würden, habe ich nicht vorauszu­
sehen verm ocht“ (ebd., 6 4).
Da diese Feststellung fast unweigerlich die Frage nach einer Kontinuität in
Ratzingers Verständnis der Eucharistiefeier hervorruft, legt es sich nahe, be­
reits an dieser Stelle einen Blick au f seine spätere D oktorarbeit zu werfen.
Schon in seiner Gymnasialzeit hat sich Ratzinger intensiv mit Augustinus be­
schäftigt. Einer m einer früheren Kollegen erzählte m ir einmal, wie der schon
mit 16 Jahren „wehrdienstverpflichtete“ Junge7 zum Erstaunen seiner Kame­
raden in der freien Zeit „auf der Bude“ Augustins „G ottesstaat“ im lateini­
schen Original las. D er W eg von hier zu Ratzingers Dissertation von 1950
scheint mir, was die zentrale Frage nach dem Sinn der Liturgie her angeht,
von einer erstaunlichen Konsequenz gezeichnet.
Mit § 17 „Der neue Kult“ beginnt der D oktorand fünf Jahre nach Kriegs­
ende seine Ausführungen zu Augustins „Kirchenbegriff in der Auseinander­
setzung mit dem Heidentum“. Hier betont Ratzinger:

„Jede Tat echter christlicher Liebe, jedes Werk des Erbarmens ist in einem wahren und
eigentlichen Sinn Opfer, Setzung des einen einzigen sacrificium christianorum [ ...] .
Es gibt nicht auf der einen Seite ein uneigentliches m oralisches oder persönliches
O pfer und daneben ein eigentliches kultisches, sondern das erste ist die res des letz­
tem , in dem dieses erst seine eigenüiche W irklichkeit hat. W ir stehen hier vor dem,
was man die Meßopfertheorie Augustins nennen könnte“ (1 9 5 4 ,2 1 3 f.). „Der G ötter­
kult des Erdenstaates ist nicht nur überflüssig, sondern verkehrt und schädlich [8].
Allein die civitas, die dem einen Gott opfert, ist im Recht. Ihr O pfer besteht in dem
Einssein in Christus. Das Opfer, das sie darbringt, ist sie selbst. Opferpriester und O p­
fergabe fallen hier zusammen. Das Feuer, das die Opfergabe in den Besitz der Gottheit
Glauben angesichts des Ernstfalls (1927-1945) 21

überführt, ist die von oben kommende Caritas [9], der Altar, auf dem sich dies ereig­
net, unser Herz“ (ebd. 214 f.).

Die hier zitierten Sätze werden natürlich erst aus dem Kontext der ganzen
Doktorarbeit voll verständlich. Auf dem Hintergrund von Ratzingers Notizen
über das Eindringen einer heidnischen Pseudo-Theokratie schon in die ver­
traute Welt seiner Kindheit ergibt sich allerdings Klarheit über eine erste, und
zwar die wohl wichtigste Konstante in der Entwicklung seines Denkens, die
man nicht aus dem Auge verlieren darf: das alles andere als ritualistisch-litur-
gische Verständnis des „Meßopfers“. Hier feiert das gesamte Volk Gottes öf­
fentlich, wozu es berufen ist: sich im Dienst an den Menschen von Gott ver­
zehren zu lassen. Auch Ratzingers spätere Aussagen über das Verhältnis von
Kirche und Politik (vgl. unten Kap. 11) sind im Blick auf diese doppelte Prä­
gung seines Glaubens und Denkens zu lesen: durch seine Erfahrung der Nazi­
herrschaff und die fast gleichzeitig einsetzende theologische Reflexion der re­
ligiösen bzw. pseudoreligiösen Wurzeln des Hohns auf menschenwürdiges
Leben, die er in Augustins „Gottesstaat“ offengelegt fand.
Drittes Kapitel:
Die Jahre in Freising und M ünchen (1 9 4 5 -1 9 5 9 )

D e r P rie ste r Jo sep h R a tz in g e r

Vor allem zu Beginn des Pontifikats von Benedikt X V I. konnte man gelegent­
lich die Bem erkung hören, selbst als Papst könne „der Professor“ in seinen an
die W eltöffentlichkeit gerichteten Reden seine H erkunft nicht ganz verleug­
nen. D iese Feststellung lä ß t sich auch in entgegengesetzter Richtung verfol­
gen: Bei Joseph Ratzinger haben sich von Anfang an ein intensives M ühen um
w issenschaftliche E xaktheit und das Ringen um eine glaubwürdige priester-
liche E xistenz so eng m itein an d er verschränkt, wie m an es sonst sehr selten
find et. D ies lä ß t sich etwa an den vielen Rückverw eisen a u f Fried rich W il­
helm M aier zeigen, den Professor für n eu testam entlich e Exegese in der Zeit
seines T heo log iestu d iu m s. D iesem durch hierarchische M aßn ahm en gegen
seine w issenschaftliche Tätig keit h art geprüften und b itter gewordenen Ge­
lehrten attestiert Ratzinger, daß er „ein tiefgläubiger M ann und ein Priester
(w ar), der sich Sorge m ach te um die p riesterlich e G esinnung der ju ngen
M enschen, die ihm anvertraut w aren“ (1998 a, 5 7 10). Ratzinger hat sein Urteil
über die w issenschaftliche Q ualität von M enschen, denen er begegnete, nie in
A bstrak tio n von den „raisons du coeur“ gefällt. So n im m t es n ich t W under,
daß aufgrund je n e r ersten K onfrontation m it den ungelösten Problem en des
Verhältnisses zw ischen G lauben und h isto risch -k ritisch er Exegese ihn diese
Fragen bis in die M itte sein er p riesterlich en E xistenz hinein für im m er in
Bann gehalten haben.
1951 em pfing Joseph Ratzinger die Priesterw eihe. „W ir waren über vierzig
K andidaten, die a u f den A u fru f h in ‘A dsum ’ sagten: Ich b in da - an einem
strahlenden Som m ertag, der als H öhepun kt des Lebens unvergeßlich b leib t“
(ebd. 71). Nur selten m ache ich vom Fernsehen G ebrauch, und so wurde ich
eher zufällig über dieses M edium Zeuge des zweiten „A dsum “, das Ratzinger
sprach - bei seiner B ischofsw eihe11. D ie A rt und W eise, wie er sich d ann am
19. April 2005 m it einer etwas hilflosen G estik erstm als den G läubigen zeigte,
die au f den neuen Papst w arteten, erschien m ir wie ein drittes „A dsum “: „Ich
bin da - in einem Gewand, das viel zu groß ist für m ich .“ Schon Benedikt XV.
war es so ergangen: Keines der vorbereiteten päpstlichen G ew änder war klein
genug für den N eugew ählten. Ü b er ein en Z eitrau m von fast ein em halben
„Volk und Haus Gottes in Augustins Lehre von der Kirche“ 23

Jahrhundert habe ich beobachtet, wie Joseph Ratzinger das Gedächtnis des
Todes und der Auferstehung Jesu Christi feierte. Stets habe ich etwas von der
doppelten „K on-sekration“ an ihm erlebt, der Verwandlung, die Jesu Worte
bei seinem Gang in die äußerste Armut - „Das ist mein Leib (für euch)“ - in
dem auslösen sollen, der sie spricht.

„Volk u n d H au s G ottes in Augustins Lehre von der Kirche“

Die Prom otion Joseph Ratzingers zum „Doktor der Theologie“ mit 23 Jahren
ist schon von ihren äußeren Umständen her merkwürdig genug. Die schrift­
liche Arbeit bestand in der —innerhalb von neun Monaten zu erbringenden —
Lösung einer Preisaufgabe, die jedes Jahr in der Theologischen Fakultät ge­
stellt wurde und für den Gewinner automatisch die Annahme auch als Dis­
sertation m it der Note „Summa cum laude“ bedeutete. Gottlieb Söhngen teil­
te Ratzinger unm ittelbar nach dem Schlußexamen in Theologie im Sommer
1950 m it, daß dieses Jahr er selbst das Thema stellen würde. Man möchte an­
nehm en, daß er es geradezu auf die Fähigkeiten seines Lieblingsschülers zuge­
schnitten hat (vgl. 1998a, 68). Damit ergibt sich aber eine zweite Merkwürdig­
keit. Die Fakultät hatte Ratzingers unter dem Titel „Volk und Haus Gottes
verfaßte Arbeit m it der Höchstnote ausgezeichnet. Dem eigenen Lehrer erteilt
er darin aber im Grunde die Note „Themenstellung verfehlt“12. Seine Ausfüh­
rungen zusam m enfassend, betont Ratzinger am Ende: „‘Haus Gottes’ be­
zeichnet selbst kein eigenes Gedankenzentrum in der ‘Ekklesiologie’ des
Bischofs von H ippo, sondern ist Verdeutlichungsmittel, das letztlich nicht
hinauskom m t über den Rang eines beliebten, vielleicht des beliebtesten Bild­
wortes für die Sache, die uns in anderen Begriffen [13] greifbarer wird“ (1954,
32 4 ). Etwas kom plexer stellt sich die Lage bei der Behandlung des Terminus
„Volk G ottes“ dar. Augustinus diskutiert ihn zum einen auf dem Hintergrund
der einschlägigen alttestam entlichen Aussagen. Zum anderen aber verbindet
er den B eg riff „Volk G ottes“ m it dem vom „Gottesstaat“, den er dem heidni­
schen G ö tter-(D äm o n en -)staat entgegenhält. Das, was den eigentlichen U n­
terschied des „G ottesstaats“ gegenüber dem „Erdenstaat ausmacht, liegt je ­
doch wiederum im Leib-Christi-Begriff beschlossen. „Die Kirche ist eben das
als Leib Christi bestehende Volk Gottes“ (ebd. 324).
Im plizit bezieht Ratzinger hier bereits Stellung zu viel späteren Ereignissen.
In den D ebatten um die „Dogm atische Konstitution über die Kirche, Lumen
gentium “ des Zweiten Vatikanums wurde der Frage besonderes Gewicht bei­
gem essen, wie das W esen der Kirche term inologisch angemessen zu um ­
schreiben sei. Im H intergrund standen Engführungen des Begriffs „Leib
24 Die Jahrein Freising und München (1945 1959)

Christi“ in der Enzyklika „Mystici corporis“ von 194 3 , die au ch n o c h d en e r­


sten Entwurf der Konzilskonstitution prägten. Anstatt s o lch e tn g fu h r u n g e n
durch ein genaueres Studium der Paulusbriefe und d eren R ezep tio n bis zum
Mittelalter zu überwinden, versuchte man in der Zeit v o r d em K o n z.l im a ll­
gemeinen, die ungelösten Probleme durch die W ah l e in e r w e n ig e r h ie r a r ­
chisch zentrierten Vorstellung von der Kirche zu u m g e h e n , als d e r d u rc h ­
schnittlichen Auffassung zufolge dem Bild vom „L eibe C h risti zu e n tn e h m e n
war. Die herausragende Rolle, die im Endtext d er K o n s titu tio n sch lie ß lic h der
Terminus „Volk Gottes“ erhielt, führte erst recht d azu, d a ß d e r B e g r iff „Leib
Christi“ geradezu ein Stiefkind der exegetischen w ie s y s te m a tis c h e n A rb e it
wurde. Ratzinger hat den schwierigeren, aber th e o lo g is c h k o n s e q u e n te r e n
Weg gewählt. Bald nach seiner Augustinus-Arbeit m a c h te e r sich an e in e in ­
tensivierte Exegese der Paulustexte14 und wandte sich v o r alle m d en e in sc h lä ­
gigen Untersuchungen von Henri de Lubac im B lic k a u f d iese Them atik z u 15.
Dadurch war er in der Lage, die Einseitigkeiten, die au s d e r w a c h s e n d e n F i­
xierung au f den Begriff „Volk G ottes“ schon w ä h r e n d d es Konzils u n d erst
recht danach erwuchsen, klar zu durchschauen und beherzt g e g e n zu ste u e rn -
was in der damals gegebenen Forschungssituation allerdings w e itg e h e n d a u f
Unverständnis stieß. W ir werden a u f diese P rob lem atik in K ap . 12 z u r ü c k ­
kommen.

„Die Geschichtstheologie des heiligen Bonaventura“

Die 1959 publizierte H abilitationsschrift R atzin gers aus dem Jah re 1 9 5 7 ist
der (überarbeitete) dritte Teil einer um fangreicheren U n tersuchu n g, die 1955
der Fakultät vorgelegt wurde, wegen des erb itterten W id erstan d es in sb eson ­
dere von Michael Schm aus jed och zu r V erbesserung zu rü ck gegeb en w orden
war. In der ursprünglichen Fassung waren die A usfü h ru n gen zu B on aven tu -
ras G eschichtstheologie v o r allem als H inw eis a u f eine A lte rn a tiv e zu dem
neuscholastisch verengten, im G runde aber sch o n bei T h o m a s v o n A quin zu
findenden Offenbarungsbegriff konzipiert.
Zu den damals n ich t an gen o m m en en Teilen d er u rsp rü n g lic h e n Fassu ng
bem erkt Ratzinger in seinen „ E rin n e ru n g e n “: „ [D ie ] bei d e r L e k tü re B o n a -
venturas gew onnenen Ein sich ten sind m ir sp äter, b eim k o n z ilia re n D isp u t
über O ffenbarung, Schrift, Ü b erlieferu n g seh r w ich tig g e w o rd e n “ ( 1 9 9 8 a,
8 4 ). Z u n äch st h atte er n o ch eine P ub lik atio n d ieser U n te rs u c h u n g e n ge­
p lan t.16 Aufgrund der In an sp ru ch n ah m e R atzin gers d u rch das K o n z il17 ist es
bei der Veröffentlichung von Teüergebnissen geblieben. T rotz seines fra g m e n ­
tarisch en C h arak ters läß t ab er a u ch d e r als H a b ilita tio n s s c h rift p u b liz ie rte
„Die Geschichtstheologie des heiligen Bonaventura“ 25

Teil des u rsp rü n g lic h e n W erkes e rk en n e n , daß h ier erstm als m it B lick au f
einen an g eseh en en T h e o lo g e n d er Scholastik der D u rch bru ch durch eine pe-
trifiz ie rte O ffe n b a ru n g sk o n z e p tio n gewagt wurde, die m an für die scholasti­
sche h ielt. D ie R atzin g er dazu erm u tigen d en A rbeiten aus dem französischen
S p rach rau m - in sb eso n d e re H en ri de Lubacs - und H ans Urs von Balthasars,
des g r o ß e n V e rm ittle rs u n d „W an d erers zw ischen den W elten “, h atte n sich
w e itg e h e n d a u f e in e n e u e S ic h t d er P atristik k o n z en triert. Selbst a u f diese
W eise w ar m a n n o c h h in r e ic h e n d G e fa h re n ausgesetzt, w ie die B io g rap h ie
H e n ri de L u b a c s u n d d ie E n z y k lik a „H u m an is g en eris“ P iu s’ X I I. aus dem
Jahre 1950 b e w e ise n . E s ist e in tra u rig e s K u rio su m des 20. Jahrhu n d erts, daß
a u s g e r e c h n e t Jo s e p h R a tz in g e r, d essen (z u m in d e st in d en A ugen von
S c h m a u s ) g e fä h r lic h e s M a c h w e rk n ic h t e in m a l das L ic h t d er th eo lo g isch en
Ö ffe n tlic h k e it e r b lic k e n d u rfte , b a ld d a ra u f als an g eseh en er V ertreter der
th e o lo g isc h e n „ A v a n tg a rd e “ a u f d e m Z w eiten V atikan isch en K onzil b ek an n t,
w en ig e Ja h r e d a n a c h a b e r s c h o n d e r S ch a r d er sch lim m ste n R e ak tio n äre
zu g eo rd n et w u rd e.
Anlaß des von B onaven tu ra vorgelegten Entwurfs von Heilsgeschichte war
die Begeisterung, m it der die eschatologisch-apokalyptische Deutung der Tri­
nitätslehre des Jo ach im von F io re (1 T 2 0 2 ) von „radikal-franziskanischen“
Theologen aufgegriffen w orden war. In seinem letzten Buch über das „Sechs­
tagew erk“ (1 2 7 3 ) en tfaltet B o n av en tu ra eine Theologie der Geschichte, an
deren Ende - u n m ittelb ar vor der W iederkunft des Herrn - auch er selbst ein
innergeschichtliches Zeitalter gottgeschenkter Sabbatruhe erhofft, wenn auch
in ein er an d eren Persp ektive als Jo ach im von Fiore. Das Gottesvolk dieser
Endzeit w ird eine „kontem plative Kirche“ sein, die unter einer „neuen Offen­
barung“ steht.
B onaventura kennt keinen alle M anifestationen Gottes zusammenfassenden
Begriff von O ffenbarung. E r handelt stets nur von je gesondert zu betrachten­
den O ffen b a ru n g en , die er, d em Sinn des lateinischen W ortes re-velatio en t­
sp rech en d , als „E n th ü llu n g en v o n V erborgenem “ versteht. Dazu rechnet er
auch - und das steht hier im M ittelpunkt von Ratzingers Interesse - das allego­
rische V erstehen der heiligen Schrift. D er Vorgang dieser „O ffenbarung“, der
d urch In sp iration gesch ieh t, w ird als eine visio intellectualis aufgefaßt, als ein
H in d u rch sch au en d u rch alles V ordergründige au f den geistlichen K ern, und
hat so letztlich m ystischen R ang (vgl. 1 9 5 9 ,6 7 ). N icht die Schrift selbst gilt als
O ffenbarung, son d ern das Erfassen ihres eigentlichen, geistigen Sinns.
R atzin g er b e to n t, d aß a u f diese W eise n ich t „die O bjek tivität der O ffen­
b arungsgegebenheit zu gunsten eines subjektivistischen Aktualismus aufgeho­
ben ist“ (vgl. eb d . 6 8 ) . D er T iefen sin n d er H eiligen S chrift, in dem sie ü ber­
h a u p t e rst „ O ffe n b a ru n g “ u n d G lau b en sin h alt ist, „steh t n ich t im Belieben
26 Die Jahre in Freising und München (1 9 4 5 -1 9 5 9 )

des Einzelnen, sondern ist in den Lehren der Väter und der Theoloeip ,
• /* o*'" ^urn
liat d Teil objektiviert und so in den G ru n d lin ien ein fach durch A nnah m e des k ,
E n iv tholischen Glaubens zugänglich ( IS), der ja in seiner Zusammenfassung in
te s d Symbolum Prinzip der Schrifterklärung ist“ (ebd. 68 f.). Das „die Schrift
erst zur ‘Offenbarung’ erhebende Verständnis (trägt sich allein) im lebendigen
g eist
Schriffverständnis der Kirche zu [ . . . ] “ (ebd. 69).
ben Wie schätzt bei dieser Sicht der Dinge Bonaventura den W ert theologisch
m it I wissenschaftlicher Schriffauslegung ein? Hier lä ß t sich im Laufe der Zeit ein
den Perspektivenwechsel bei ihm beobachten. G ru nd sätzlich gilt ihm das wissen
luna schaftliche Eindringen in die Schrift als eine höhere W eise der „O ffenbarung“
ihres Sinns, weil er in dem Aufschwung der Wissenschaft, den er um die Mitte
H an
des 13. Jahrhunderts gerade in den beiden B ettelo rd en b eo b ach tet, „ein G o t­
w ie
teszeichen an die der Endzeit sich nähernde Kirche“ e rb lic k t (vgl. ebd 71)
Pap Vor allem gegen Ende seines Lebens empfindet er ab er ein tiefes Ungenügen
ent\ an aller Schulweisheit, die ihm als Beweis für eine noch nicht ans Ziel gelang­
E re te Geschichte gilt. Die eigentliche Weisheit zeige sich in d er d em ütigen H al­
tung des hl. Franz. „Was an ihm sichtbar wird, ist die Ü b erw in d u n g des dis­
zur
kursiven Denkens der gegenwärtigen Exegese zugunsten e in e r ein fach en in ­
aahH neren Erfassung“, die gerade den Kleinen, und nicht d en W eisen und Klugen
d e rH zuteil wird (vgl. ebd. 73). Bonaventura sieht eine Zeit k o m m e n , da die A rgu­
\uM mente nichts m ehr gelten werden und es keine G lau b en sv erteid ig u n g durch

a ie ■ ! die Vernunft m ehr geben wird, sondern nur noch durch A u to rität. D iese aus

1If
' H
einer Zukunffsvision gewonnene Kritik gilt nicht nur Aristoteles, sondern
auch Augustin. Geschichtstheologisch gesehen ist Ratzinger zufolge der A b­
stand gegenüber Augustin sogar noch größer. Dessen W erk „Vom Gottes­
S o l i staat“ schloß m it den W orten: „Und dann wird Friede sein.“ Dam it war aber
d e « „jener nie m ehr endende Friede in Gottes Ewigkeit [gem eint], der dem Ab­
bruch dieser Welt folgen w ird“. Bei Bonaventura ist es „ein Friede, den Gott
f '® !
au f dieser Erde selbst errichten wird, die soviel Blut und Tränen gesehen
hat [ . . . ] “ (vgl. ebd., 161 f.).
Es ist schade, daß bislang nur diese im m anente Darstellung von Bonaven-
turas Geschichtstheologie und deren Auswirkung auf das Verständnis von Of-
fenbarung/Schrift/Tradition zur Veröffentlichung kam . Bis - vielleicht in
einer Gesamtausgabe von Ratzingers Werken - ein Einblick in die ganze u r­
sprünglich zur Habilitation eingereichte Schrift gewonnen werden kann, muß
es bei Vermutungen darüber bleiben, welche systematische Bedeutung er dem
herm eneutischen Ansatz des großen Scholastikers dam als beigemessen hat
(vgl. dazu Kap. 9).
Viertes Kapitel:
Lehrtätigkeit in Bonn ( 1 9 5 9 - 1 9 6 3 )

O ffen e W eg e - en tsch eid en d e Begegnungen

Joseph R atzing er w ar bereits etliche Jahre als akademischer Lehrer in


Freising19 tätig, bev or er im Som m ersem ester 1959 den Bonner Lehrstuhl für
Fundam entaltheologie übernahm . Auch im Rückblick auf Freising verweist er
a u f „das b eg eisterte M itg eh en der Stud enten“ (1 9 9 8 a , 79). Schon in seinen
„E rin n eru n g en “ aus dem Jah re 1998 ließ er aber keinen Zweifel daran, daß
mit der Zeit in B o n n für ihn ein völlig neuer Lebensabschnitt begann. Das be­
stätigt auch n o ch das G ru ß w o rt des nun zum Papst gewordenen Theologen
vom 18. August 2 0 0 5 an läßlich des X X . Weltjugendtags auf dem Roncalliplatz
vor dem K öln er D o m , wo er a u f die ersten Jahre seines akademischen Lebens
in B o n n hinw eist, „unvergessene Jahre des Aufbruchs, der Jugend, der Hoff­
nung vor dem K onzil“.
Als Fu n d am en talth eo log e hatte Ratzinger in Bonn auch Religionsgeschich­
te zu lesen. M eine erste Begegnung m it ihm war das Erlebnis seiner Vorlesung
„E in fü h ru n g in d ie R e lig io n sp h ilo so p h ie “ in m einem zweiten Studienjahr
(S o m m er 19 5 9 ). V or einig en Jahren hat er m ir gestanden, wie hart es ihm ge­
w orden w ar, s ic h in k ü rz e ste r F rist a u f diese „Feuerprobe“ vorzubereiten -
im m e rh in le h rte n in B o n n zu d ieser Z eit der Religionsphänom enologe
Gustav M en sch in g un d der kau m w eniger bedeutende Indologe Paul Hacker,
m it d em R a tz in g e r s ch o n b ald ein e tiefe Freund schaft verband (vgl. 1998 a,
95 f .) . N ich t zu letzt u n te r d en T h eo lo g en selbst gab es damals hochangesehe­
ne, beso n d ers w egen ih rer Q u alifik atio n au f dem Gebiet der Historie heraus­
ragende G e le h rte : M a rtin N o th , H ein rich Schlier; in der katholischen Fakul­
tät selb st T h e o d o r K la u ser u n d H u b e rt Jed in , ein bis zu seinem Tod (1980)
engen V ertrau ten R atzingers (vgl. ebd. 93 f.).
Wenn Ratzinger von einer „großen Hörerschar“ schreibt, „die mit Begeiste­
rung den neuen Ton aufnahm, den sie bei (ihm) zu vernehmen glaubte (ebd.
9 2 ), so wird man hinzufügen dürfen, daß dieses Urteil auch auf die kleinere
Schar von Hörerinnen zutrifft, die dem noch jungenhaft wirkenden Professor
förmlich an den Lippen hingen. Die Begeisterung kam zu einem Siedepunkt,
als allgemein bekannt wurde, wieviel dieser noch kaum bekannte Gelehrte als
Berater des Kölner Erzbischofs, Kardinal Joseph Frings, schon in der Vorbe-
28 Lehrtätigkeit in Bonn (1959-1963)

reitungsphase des Zweiten Vatikanischen Konzils zu dem „neuen Ton“ b


trug, der die Weltkirche aufhorchen ließ, und erst recht, als er dann 1962 *
offiziellen Konzilstheologen ernannt wurde. Die Zusamm enarbeit mit
nal Frings - vielleicht auch das Überm aß an Anerkennung, das Ratzinger d '
mals gleichsam überfiel - ist geradezu schicksalhaft für seinen weiteren \v
geworden.
Aber auch im Blick auf meinen eigenen Lebensweg kann ich von einer
scheidenden Begegnung sprechen. Nachdem m ein „kleines rotes Buch“ zum
„Weltkatechismus“ erschienen war20, haben sich viele darüber gewundert
daß mich nie eine Rüge von Seiten Roms ereilt hat. Ein Grund dafür könnte
in der Tatsache liegen, daß mich Joseph R atzinger nie anders denn als an
griffslustigen Diskussionspartner erlebt und - was m ir nach späteren Erfah
rungen mit Professoren nicht mehr so selbstverständlich erschien - voll und
ganz akzeptiert hat. Schon sein Seminar über „G ottesbew eise in Geschichte
und Gegenwart“ (Wintersemester 1959/1960) b o t m ir Gelegenheit für hefti­
gen Widerspruch. Als standhafter T h o m ist, der ich zu je n e r Zeit war, nahm
ich mit einiger Verblüffung zur Kenntnis, daß da ein frischgebackener Ordi­
narius der Fundamentaltheologie es wagte, die Schlüssigkeit des Ersten Got­
tesbeweises in Frage zu stellen, den T ho m as von Aquin im Ausgang von der
„Bewegung in dieser Welt“ führt. Aus der N otw endigkeit, m eine Position
gegenüber einem so kompetenten (und nicht weniger diskussionsfreudigen)
„Widerpart“ zu verteidigen, erwuchs die Formulierung meiner „Philosophie
des Staunens“21. Wie stellte sich für meinen Lehrer selbst das Verhältnis zwi­
schen Philosophie und Theologie damals dar?

„D er G ott des G laubens und der G ott der P h ilosop h en “

Der unter diesem Titel als „Ein Beitrag zum Problem der theologia naturalis“
am 24. Juni 1959 gehaltenen Bonner Antrittsvorlesung hat Ratzinger offenbar
noch bis in die jüngste Zeit hinein größere Bedeutung beigemessen. Zu dem
2004 erschienenen zweiten, unveränderten Nachdruck betont Ratzinger in
einem neuen Vorwort, „wie sehr die damals gestellten Fragen bis heute sozu­
sagen der Leitfaden [seines] Denkens geblieben sind“ (1960c, 7). Es empfiehlt
sich also, von diesem Text auszugehen.
Bei seinem einleitenden Versuch, die „Vorgeschichte der Frage“ zu umrei­
ßen, bezieht sich Ratzinger zunächst auf den „esprit de finesse“, den Pascal
der zeitgenössischen, insbesondere von Descartes vertretenen „Philosophie
aus dem esprit de géométrie [sic!]“ entgegensetzte. „Erst die Zertrümmerung
der spekulativen Metaphysik durch Kant und die Verlagerung des Religiösen
„Der Gott des Glaubens und der Gott der Philosophen“
29

in den außerrationalen und so auch außermetaphysischen Raum des Gefühls


durch Schleiermacher [habe allerdings] den Pascalschen Gedanken endgültig
zum Durchbruch [gebracht]“ (1960c, 12). Eine Religion des Erlebens, die
keinen Sitz im Raum der ratio“ mehr hat, könne aber „im Grunde auch
nicht dogmatisch sein, wenn anders Dogma eine rationale Aussage über reli­
giöse Gehalte sein soll“. Vor der „Frage nach der Möglichkeit dogmatischer
Religion überhaupt“ sei daher zunächst die nach dem Verhältnis von „allge­
meingültiger Vernunft und religiösem Erleben“ zu klären (vgl. ebd. 13).
Warum Ratzinger in diesem Zusammenhang die Notwendigkeit der Philo­
sophie für die Theologie au f die Frage nach der Möglichkeit von Dogmatik
zuspitzt, wird aus den folgenden Teilen des Vortrags verständlich. Flier um­
reißt er (I.) „Das Problem “, indem er die „These des Thomas von Aquin“ mit
der „Gegenthese Em il Brunners“ konfrontiert, und skizziert dann (II.) den
Versuch einer [eigenen] Lösung“. Der Umgang des Aquinaten mit der Philo­
sophie galt Ratzinger, wie er hier nur zurückhaltend durchblicken läßt, als zu
überwindende These. W arum wählt er aber gerade Emil Brunner zum Vertre­
ter der Antithese? Dies legte sich generell deswegen nahe, weil Brunner zu­
nächst ein langjähriger W eggefährte Barths in der Entwicklung der Dialekti­
schen Theologie war, sich dann aber m it diesem gerade in der hier von Rat­
zinger them atisierten Frage überw orfen hatte. Im Gegensatz zu Barth hielt
Brunner es für eine m issionarisch orientierte Theologie unabdingbar, nach
einem Punkt im m enschlichen Verstehen allgemein zu suchen, an den diese
Mission anknüpfen kann - wenn auch, hier bleibt Brunner wirklich „dialekti­
scher T heolog e“, nu r im W iderspru ch zum tatsächlichen Selbstverständnis
des Menschen.
Für Ratzinger dürften zwei Motive hinzugekommen sein. Wie Brunner
stand auch er unter dem Eindruck des von Friedrich Ebner und Martin
Buber entwickelten „dialogischen Personalismus“. Während für Ratzinger
sich diese Philosophie aber „wie von selbst“ mit dem Denken Augustins, ins­
besondere in der Gestalt der „Bekenntnisse“, verband (vgl. 1998a, 49; 1956c),
„verurteilt (Brunner) den von Augustin hergestellten Bindestrich zwischen
neuplatonischer und biblischer Gotteserkenntnis“ (1960c, 21). Hier sah
Ratzinger die zentrale Herausforderung, der er sich im zweiten Teil des Vor­
trags stellte. In knappen Strichen betont er im Anschluß an Varros Begriff der
„natürlichen Theologie“, wie ihn Augustin im „Gottesstaat aufnimmt, die
gründliche Erforschung eines göttlichen Absoluten als wichtigste Errungen­
schaft der griechisch-römischen Philosophie. Schon in den späteren Schriften
des Alten Testaments sei

„dem Gottesbegriff der Bibel [das philosophische Element] in dem Maß zugewachsen,
in dem er sich genötigt fand, sein Eigenes und Besonderes gegenüber der Völkerwelt
30 Lehrtätigkeit in Bonn (1 9 5 9 -1 9 6 3 )

auszusprechen in einer über seinen eigenen Innenraum hinaus allgemeinen d


alle Welt verständlichen Sprache [...]. Das Philosophische bezeichnet insofern ^
zu die missionarische Dimension des Gottesbegriffs, jenes Moment, womit er 8C/ac*e'
c t ä n d l i r t i macht
ständlich m a c h t nach
n a c h außen
a u ß e n hin.
h i n . [...]
\ . . . 1 Die
D i e Aneignung
A n p i p n n n e der
d e r Philosophie,
P h i l n c n ^ l . : _ wie sie d

die Apologeten geleistet wurde, war nichts anderes als die notwendige Kornpl Urc^
funktion zu dem äußeren Vorgang der m issionarischen Verkündigung des Ev
liums an die Völkerwelt. [...] Der wahre Anspruch des christlichen Glaubens k '
seiner Größe und in seinem Ernst immer wieder nur sichtbar gemacht werden d** *n
den Bindestrich zu dem hinüber, was der Mensch schon zuvor in irgendeiner F
das Absolute begriffen hat“ (ebd. 32 f.). m

Dennoch behalte die Forderung Emil Brunners nach einer


»Anknüpfung
im Widerspruch“ in einem bestimmten Sinne ihr Recht:

„Die Philosophie bleibt [...] als solche das andere und eigene, worauf der Glaube sich
bezieht, um sich an ihm als dem anderen auszusprechen und verständlich zu machen“
(ebd. 33). Die christlichen Apologeten und Väter haben, auch Ratzinger zufolge die
„philosophischen Aussagen [...] vielfach unbesehen übernommen und nicht der nöti­
gen kritischen Läuterung und Verwandlung unterworfen“ (ebd. 34). Die Erkenntnis
daß „Gott Person ist, Ich, das dem Du begegnet, [... ] erfordert zweifellos auf der gan­
zen Linie eine neue Überprüfung und Durchdenkung der philosophischen Aussagen
die noch nicht genügend geleistet ist“ (ebd. 35).

Noch heute läßt sich etwas von der Faszination nachvollziehen, die damals
dieses knappe „M anifest“ zum Verhältnis von Glauben und philosophischer
Vernunft hervorrief. In diesem Vortrag m ußten natürlich viele Fragen offen­
bleiben. H ierauf wird in Kap. 10 n äher einzugehen sein. Zwei Probleme
m öchte ich jedoch schon hier anreißen, weil sie, zum einen, in den späteren
Ä ußerungen Ratzingers zu dieser T hem atik im m er w ieder greifbar werden
und, zum anderen, ansatzweise schon in seinen frühesten Schriften zutage
treten. Ein genauerer Hinblick zeigt, daß beide Problem e im Grunde dieselbe
Wurzel haben.

Ein verkürzter Augustinus

(1 ) R atzingers Skizze der „Vorgeschichte der F rag e“ erw eckt den Eindruck,
daß sich in seiner Sicht die gesam te G eschichte des neuzeitlichen Verhältnis­
ses von Philosophie und T heologie als eine Sackgasse darstellt. A m Anfang
steht das, „was die m athem atische Philosophie etwa eines Descartes über Gott
zu sagen wußte“ (1 9 6 0 c, 12). Dem dagegen vom Glauben her erhobenen Ein­
spruch Pascals m ißt Ratzinger offenbar einiges Gewicht bei. Dieser Einspruch
k om m e wirkungsgeschichtlich aber erst nach der „Z ertrü m m eru n g der spe­
kulativen M etaphysik d urch K an t“ zum Tragen: Religion wird nun zu einer
Ein verkürzter Augustinus

durch rationale A rgum ente im Grunde unberührten Sache des Erlebens er


klärt. Die Erwähnung des Namens Schleiermacher in diesem Zusammenhang
läßt an die A brechnung m it dem Liberalen Protestantismus des 19.Jahrhun
derts denken, die Karl B arth nicht weniger scharf vorgetragen hat als sein
gnadenloses Nein gegenüber der scholastisch-neuscholastischen Indienstnah-
me der Philosophie. Erst m it dem Schritt in die Dialektische Theologie hat, so
scheint Ratzinger anzudeuten, der Disput um das Verhältnis von Glaube und
m enschlicher V ern unft nach dem Debakel neuzeitlicher Philosophie wieder
ein Niveau erreicht, a u f dem das Gespräch der Theologie mit der Philosophie
sinnvoll w eiterbetrieben werden kann.
(2) Ratzingers eigenem Lösu ngsversu ch zufolge spielt die Philosophie im
H inblick a u f die A ufgaben ch ristlich er Verkündigung eine weitaus positivere
Rolle, als die D ialektische Theolog ie, B runner einbeschlossen, ihr je zugestan­
den hat. B eim Ü b e rsc h re ite n des „H o rizon ts Jerusalem “ auf die ganze Welt
m ußte die b ib lisch e V erk ü n d igu ng unausw eichlich eine Übersetzung in Be­
griffe leisten, die grund sätzlich allen M enschen verständlich sind. Dabei wur­
den allerdings, w enn au ch o ft n ic h t kon sequ en t genug, die philosophischen
Kategorien einer „kritischen Läuterung und Verwandlung unterworfen“.
Bildlich gesp ro ch en sch lo ß die T h eo lo g ie (sei es der Not gehorchend oder
eigenem T riebe) m it d er P h ilo so p h ie ein Dienstverhältnis auf Lebenszeit ab -
unter der B ed in g u n g , d a ß sich d ie M agd von der H errin stets genau auf die
Finger sch au en lie ß . T h eolog ieg esch ich tlich gesehen nim m t Ratzinger der
Philosophie gegenüber eine ähn lich e P osition ein wie Augustin zu Beginn sei­
ner bisch ö flich en L au fb ah n gegenüber den „freien K ünsten“. In „De doctrina
christiana“, ein e m fü r d ie fo lg en d en Jahrhu n d erte richtungweisenden Hand­
bu ch zur O rg a n isa tio n des T h e o lo g iestu d iu m s, degradiert der Kirchenvater
diese „artes lib e ra le s“, d. h. das fü r alle W issenschaften vorgeschriebene enzy­
klo p äd isch e G r u n d s tu d iu m , zu b lo ß e n H ilfsw issenschaften22. Systematisch
betrachtet fu h ren die Ü b erleg u n g en dieses Vortrags in einen „vitiösen Zirkel“.
R atzin g er b e to n t, d a ß d ie P h ilo s o p h ie als solche „das andere und eigene
(b le ib t), w o ra u f d er G la u b e sich b e z ie h t, um sich an ihm als dem anderen
au szu sp rech en u n d v e rstä n d lic h zu m a c h e n “ (ebd. 33 ). Insofern sich der
c h ristlich e G la u b e als A n tw o rt a u f d ie letztg ü ltig e Selbstm itteilung G ottes
v ersteh t, b e d a r f e r zu s e in e r u n iv e rsa le n V erkündigu ng der Philosophie als
M e d iu m e in e r „ a llg e m e in g ü ltig e n V e rn u n ft“ (vgl. e b d .13). W ie kan n die
P h ilo so p h ie a b e r A u sd ru c k e in e r allg em ein g ü ltig en V ernunft sein, w enn sie
- in ih rer E ig e n sc h a ft als „das and ere und eigene“ gegenüber dem Glauben -
sich g le ich z e itig als „d er n ö tig e n k ritisc h e n L äu teru n g und Verw andlung
d urch das ih r als P h ilo s o p h ie n ic h t zugängliche Andere des Glaubens „unter­
w o rfen “ v e rste h en soll? Sei es als M agd o d er als vollwertige G esprächspartne-
32 Lehrtätigkeit in Bonn (1 9 5 9 -1 9 6 3 )

rin, mit der von ihr erwarteten Beschaffung allgemeingültiger Be * ■


sie der Theologie nur dann dienen, wenn sie ausschließlich ihrer T ^ ^ann
Selbstkontrolle“ untersteht und ihre Geltungsansprüche nicht s t ä ''^ '* 11*'8611
tische Nachbesserungen durch eine über ihren Verstehenshorizont1R ^ kri'
hende Instanz disponibel halten muß. "lausge-
Beide hier in Kürze skizzierten Probleme - die mangelnde Ai
neuzeitlichen Philosophierens (1) und die im Grunde widersprüchl' <i.nnUnf>
Stellung von Philosophie in ihrem Verhältnis zur Theologie (2) - sind ? ^
weichlich, solange man der philosophischen Vernunft keine volle Aut<)UnaUS
in ihrem Nachdenken über „die göttlichen Dinge“ zugesteht2’ Gerad ^°m‘e
Augustin her hätte sich hier eine andere Perspektive nahegelegt Bei ih 6 V° n
det sich ja nicht nur zeitweise eine aufs Ganze seines Werks gesehe k
fende Geringschätzung der „philosophischen P ro p ä d eu tik “. Er ha/d U
auch, im Frühwerk wie später wieder in seiner Trinitätslehre, in theolo h
zentraler Sache Argumentationsgänge vorgelegt, die man methodisch efnem
auf strenge Autonomie bedachten Philosophieren zu rechn en muß (v I
H. Verweyen 2005, 1 6 6 -1 6 8 ). Vor allem - und das ist für die uns hier be­
schäftigende Problematik von einigem Gewicht - läßt sich in diesem Punkt
eine beachtliche Verwandtschaft zur philosophischen G otteslehre Descartes’
aufweisen.
Die Charakterisierung „m athem atische Philosophie“, mit der Ratzinger
Descartes’ Gotteslehre versieht, eignet sich eher für den von Augustin in sei­
nen Dialogen „Über die Freiheit des Willens“ geführten Gottesbeweis (De lib.
arb. 2 ,3 -1 3 ). Der wesentlichste Schritt nach der Sicherung des Argumenta­
tionsbodens in dem über alle Irrtumsmöglichkeit erhabenen (denkenden) Ich
besteht bei Augustin in der Erinnerung an die ewig gültigen Gesetze der Zahl,
die sich als „Richterin“ über unsere apriorisch reine Vernunft diesem Besten
in uns überlegen erweisen und uns dadurch über uns hinaus auf Gott treiben.
Descartes muß den Reflexionsschritt über einen uns selbst in der mathemati­
schen Evidenz möglicherweise täuschenden allmächtigen „Lügengeist“ da­
zwischenschieben, weil ihm die „Gesetze der Zahl“ nicht mehr als unhinter-
fragbar gewiß gelten. Der „Gottesbeweis“ der Dritten M editation beruht,
sieht man von allem scholastischen Beiwerk ab24, im Kern auf der unsere Ver­
nunft prägenden Idee eines „aktual Unendlichen“. Dieses wirklich Unendliche
ist von dem nicht aufhaltbaren, aber auch nie ans Ziel gelangenden „Fausti­
schen Transzendieren-Können, das die „potentielle Unendlichkeit“ des Men­
schen „auszeichnet“, durch eine unüberbrückbare Kluft getrennt - eine Kluft,
die aber zugleich die abstrakte Autonomie der menschlichen Vernunft wach­
rüttelt für die Erkenntnis der einzig konkreten A utonom ie Gottes, wie vor
allem die Bewegung des universalen methodischen Zweifels zeigt: Der Ärgcr
Ein verkürzter Augustinus 33

sere unüberw indbare Bedingtheit setzt das W irken eines Begriffs des
übef jungten in unserer V ernunft voraus. Im plizit meldet sich hier Anselms
Unb Gottes als „das, w orüber hinaus G rößeres nicht gedacht werden kann“,

ZU ’ 0Iide unter Zuhilfenahm e des m ethodischen Zweifels versucht Augustin


hier späteren Theologie aber auch das durch nichts auslöschbare Bild der
10 Sel[ät in uns sicherzu stellen, neuzeitlich gesprochen: die transzendentale
Trin*iichkeitsbedingung d afür aufzuw eisen, daß allein der dreifältige Gott
a408 tiefsten Sinnverlangen in uns zu entsprechen vermag. Diese (selbst nach
Hsserls „Logischen U ntersuchun gen“) als „psychologisch“ bezeichnete Tri-
tätslehre ist - wie die gesam te apriorisch-transzendentale Argumentations-
linie im augustinischen D enk en bis hin zu Anselm - ein Stiefkind der neue-
101 Theologie geblieben.25 D er H auptgrund für diese M ißachtung eines doch
schon aufgrund der langen G esch ichte der abendländischen Platonrezeption
nicht unbedeutenden Zweigs ratio n aler Glaubensverantwortung, die auf die
m ethodische A u to n o m ie p h ilo so p h isch er Reflexion bedacht ist, dürfte eben
in der N ähe dieses D e n k e n s zu D escartes liegen. Im Zuge des Verzichts auf
eine ernsthafte A u sein an d ersetzu n g m it der Philosophie der Neuzeit und
deren R eflexion im L ich te des eig en en E rbes wurde auch jene augustinische
Tradition nur n o ch arch iv arisch verw altet. An die Stelle solcher „M editatio­
nen über eine Erste P h ilo so p h ie “ rü ck te die seit Anfang des 20. Jahrhunderts
zum D u rch bru ch k o m m e n d e „d ialogische P hilosophie“ m it ihrer prinzipiel­
len O ffenheit für die G esch ich te u n d schließlich „der Universalitätsanspruch
der H erm eneutik“26 in seinen verschiedenen Spielarten.27
In der variantenreichen Aneignung geschichtlichen Denkens, die sich seit
der Mitte des 20. Jahrhunderts (auch) in der katholischen Theologie beobach­
ten läßt, nimmt Ratzinger eine interessante Sonderstellung ein. Bereits in der
Zeit davor hatte es mutige Versuche gegeben, die Fixierung auf „die Schola­
stik“ (sprich: „Thom as von Aquin“) zu überwinden, ohne mit der Verurtei­
lung „der M odernisten“ in Konflikt zu kommen. Joseph Maréchal bemühte
sich schon bald nach dem Ersten Weltkrieg intensiv um einen Brückenschlag
zwischen Thomismus und Kantianismus, der auf dem Weg über Karl Rahner
weltweite Beachtung gefunden hat. Im Zweiten Weltkrieg unternahmen fran­
zösische Theologen (vor allem Henri de Lubac) und in Anknüpfung daran
insbesondere Hans Urs von Balthasar so etwas wie eine „Bypass-Operation :
Sie betonten im Rückgang auf die Patristik, daß es schon vor „der Scholastik
(und auch außerhalb des augustinischen Denkens, wie es traditionell rezi­
piert worden war) ernstzunehmende Kirchenlehrer gab, denen nun endlich
wieder Raum zum Atmen in der Theologie gegeben werden sollte. Ratzinger
ging insofern noch einen Schritt weiter, als er „die Scholastik“ durch Schola-
34 Lehrtätigkeit in Bonn (1959-1963)

stik in Frage stellte, indem er näm lich das geschichtlich ausgerichtete Denk
Bonaventuras, des alten Bundesgenossen und W iderparts des Aquinaten ^
volle Licht rückte. Dies wirkte sich allerdings nicht nur a u f das Philosoph;118
Verständnis Ratzingers, sondern m ehr noch a u f seinen O ffenbarunesbe f
aus, der uns besonders im nächsten Kapitel beschäftigen wird. 8 1
Fünftes Kapitel:
Im Zeichen des Konzils - die Zeit in Münster
(1963-1966)

Aus zwei verschiedenen Perspektiven soll in diesem Kapitel ein Zugang zum
Verstehen von Ratzingers späterem Denkweg vorbereitet werden, ln einem
ersten Abschnitt versuche ich, seine damalige Sicht des Verhältnisses von
Schrift und Tradition anhand seines Kommentars zum zweiten Kapitel der
„Dogmatischen Konstitution über die göttliche Offenbarung Dei Verbum'-'
nachzuzeichnen. Im darauffolgenden Abschnitt möchte ich im Blick auf den
Verlauf des Zweiten Vatikanischen Konzils selbst und dessen unmittelbare
Nachgeschichte einige Gründe für jene gefährliche Polarisierung benennen,
die die katholische Theologie in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts
wie schließlich auch die öffentliche Diskussion um Joseph Ratzinger in dieser
Zeit bestimmt hat.

D e i V erb u m aus d er Sicht Joseph Ratzingers

Spätestens seit der Reformation ist die Frage nach dem rechten Verhältnis von
Heiliger Schrift und Tradition zum Grundproblem der Kirche(n) geworden.
Diese Tatsache spiegelt sich auch in der Entstehung der „Dogmatischen Kon­
stitution über die göttliche Offenbarung Dei Verbum ‘ (abgekürzt: DV) wider.
Vom Anfang bis zum Ende des Konzils wurde hart um die Gestaltung be­
sonders der ersten drei Kapitel gerungen. Einen Monat nach Beginn (11. Ok­
tober 1962) zog Papst Johannes XXIII. den äußerst restaurativ gehaltenen
und von einer großen Mehrheit der Konzilsväter zurückgewiesenen Textent­
wurf „Über die Quellen der Offenbarung [nämlich Schrift und Tradition]“
nach einer Abstimmungspanne persönlich zwecks Neubearbeitung zurück.
Knapp zwei Monate vor Abschluß des Konzils (8. Dezember 1965) wurde auf
Intervention Papst Pauls VI. ein Satz in den Schlußabschnitt von Artikel 9
aufgenommen, der dem gesamten Text eine zumindest leichte Rückwendung
in Richtung auf den ersten Entwurf gibt.
In seinen „Erinnerungen“ von 1998 hat Ratzinger selbst unterstrichen, mit
welchem Engagement (im Endeffekt aber doch geringem Erfolg) er sich auf
36 Im Zeichen des Konzils - die Zeit in M ünster (1963-1 9 6 6 )
D ei V erbum aus der Sicht Joseph Ratzingers 3?
dem Konzil um eine ausgewogene Formulierung der ersten Kapitel bemüj.
hatte (vgl. 1998a, 106. 128-132). Hier geht es vor allem um ein Problem H ' ch e id e n tifiz ie rt und so d e fin ie rt“ (vgl. ebd. 519)28. Ratzinger bedauert, daß
Ratzinger schon seit seinem Theologiestudium bewegt hat: Wie läßt sich m an n ich t d em v o r allem d urch den U S-am erikanischen Kardinal [Albert G 1
hermeneutische Basis für die Beziehung zwischen Schrift (bzw. S chrifta^ fvleyer v o rg e b ra c h te n E in w an d R au m gegeben habe, „Tradition müsse [ ]
legung) und Tradition näher bestimmen? Für diese Frage ist das zweite Ka S nich t nu r affirm ativ, so n d ern auch kritisch betrachtet werden; für diese uner­
tel von Dei Verbum, „Die Weitergabe der göttlichen Offenbarung“, von beso!' läß lich e T ra d itio n sk ritik steh e als M aßstab die Heilige Schrift zur Verfügung,
derem Gewicht. Ich konzentriere mich im folgenden auf einige im Kommen a u f d ie d a h e r T ra d itio n im m e r w ied er zurückzubeziehen und an der sie zu
m essen se i“ (ebd . 519f.). Z usam m enfassend stellt er fest:
tar Ratzingers zu diesem Kapitel betonte Sachprobleme und übergehe dab '
die Angaben zum Verlauf der Diskussion während des Konzils, soweit dies' „Das Vaticanum II hat in diesem Punkt bedauerlicherweise keinen Fortschritt ge­
nicht zur Klärung seiner eigenen Position wichtig sind. bracht, sondern das traditionskritische Moment so gut wie völlig übergangen. Es hat
Ratzinger betont, daß bei der Abfassung des zweiten Kapitels die Gedan sich damit einer wichtigen Chance des ökumenischen Gesprächs begeben; in der Tat
kenführung fortgesetzt wurde, die schon im ersten Kapitel, „Die Offen wäre die Herausarbeitung einer positiven Möglichkeit und Notwendigkeit innerkirch­
licher T rad itionskritik ökum enisch fruchtbarer gewesen als der durchaus fiktiv zu
barung“, den Neuaufbruch gegenüber dem Ersten Vatikanischen Konzil er­
nennende Streit um die quantitative Vollständigkeit der Schrift“ (ebd. 520).
kennen ließ: Offenbarung ist Selbstmitteilung Gottes im lebendigen Dialog
mit den Menschen, keine bloße Promulgation von Lehren und Vorschriften (2) Auf der anderen Seite verteidigt Ratzinger den bereits von den Konzils­
denen gegenüber der Glaube zu einem bloßen Fürwahrhalten von Gesetztem vätern heiß diskutierten zweiten Absatz von Artikel 8, in dem der dynamische
verkümmert. Charakter der Tradition herausgestellt wird29. Er streicht heraus, „daß das
Voranschreiten des Wortes in der Zeit der Kirche nicht einfach als eine Funk­
„Für die Frage der Überlieferung ist damit ein wesentlich neuer Ansatzpunkt geschaf­
tion der Hierarchie angesehen wird. [...] In diesem Verstehensvorgang, der
fen, denn wenn der Ursprung der Überheferung, das, was am Anfang steht und weiter­
die konkrete Vollzugsweise der Überlieferung in der Kirche darstellt, bildet
gegeben werden muß, nicht ein promulgiertes Gesetz ist, sondern die Kommunikation
der Dienst des Lehramtes eine Komponente (und zwar, von seinem Sinn her,
in der geschenkten Fülle Gottes, dann muß auch Weitergabe etwas anderes bedeuten
als vorher“ (1967,516). eine kritische, nicht eine produktive); aber er ist nicht das Ganze“ (ebd. 520).
Mit bemerkenswerter Schärfe wendet sich Ratzinger gegen die nach dem
Im Hinblick auf das Verhältnis von Schrift und Tradition ergibt sich aus Konzil insbesondere von dem protestantischen Theologen Oskar Cullmann
dieser neuen Sicht, daß Offenbarung ein Gesagtes und Ungesagtes umfassen­ erhobene Kritik. Dem von Cullmann betonten Gegenüber von Schrift und
des Geschehen ist, „das die Apostel [ ... ] nicht völlig ins W ort zu bringen ver­ Kirche hält er den „heutigen Stand der hermeneutischen Frage“ entgegen
mögen, sondern das sich in der gesamten von ihnen gesetzten Wirklichkeit (vgl. ebd. 5 2 2 ). Im Hinblick auf die geäußerten Bedenken wichtig sei auch,
christlicher Existenz niederschlägt, die abermals den Rahmen des zu aus­ daß die Schlußpassage von Artikel 8 „die Funktion der Tradition ganz auf die
drücklicher Rede Gewordenen weit überschreitet“ (ebd.). Es geht - anders als Schrift rückbezogen sieht [ ...] . Des weiteren ist Tradition beschrieben als der
auf dem Konzil von Trient - nicht m ehr um Traditionen im Plural, um das Vorgang, kraft dessen ‘Litterae’ [die Schriften] ‘Colloquium’ sind. Diese Dop­
Festhalten an bestimmten kirchlichen Riten und G ebräuchen, sondern um pelbeschreibung der Tradition zeigt sie gänzlich in Funktion zur Schrift hin,
Tradition als einen lebendigen Prozeß der Bezeugung eines Ursprungs, der sie weist freilich zugleich die Schrift in den Raum von Überlieferung ein
sich nicht in einer ein für allemal niedergelegten Gestalt fixieren läßt. Das (ebd. 523). Dieselbe Interpretationslinie wird auch in dem ausführlichen
Zweite Vatikanum hat zu diesem Verständnis zurückgefunden, „aber die satz­ Kommentar zu Artikel 9 verfolgt (ebd. 523-526).
hafte Auffassung von Überlieferung und die daraus folgende quantitative Be- Fraglich bleibt allerdings, ob Ratzingers mehrfach betonte Position, Tradi­
^ C)htungsweise blieben bis zuletzt daneben als Sprengstoff bestehen“ (ebd. tion werde auf diesem Konzil „gänzlich in Funktion zur Schrift hin verstan­
den, wirklich aufrechterhalten werden kann. De facto hat sich besonders in

A uf dieser Grundlage übt Ratzinger bei der K om m entierung des achten Artikel 9 die Fraktion derer durchgesetzt, die ihre Behauptung eines materia­
len Nebeneinanders von Schrift und Tradition nicht aufzugeben bereit waren.
Artikels scharfe Kritik in zwei Richtungen. (1) Am Ende des ersten Absatzes
Gewiß, die Erwähnung von den zwei „fontes“ (Quellen) der Offenbarung
dieses Artikels „wird (Tradition) mit dem Sein und m it dem Glauben der Kir-
38 Im Zeichen des Konzils - die Zeit in Münster (1963-1966)

wurde vermieden. Wenn „die Heilige Überlieferung und die Heilige Schrift“
„demselben göttlichen Quell (scaturigo) entspringend“, wie zwei Ströme ,,„c '
wissermaßen in eins zusammenfließen und demselben Ziel zustreben“, so jsj
hier von einer bloß funktionalen Rolle der Tradition jedoch nichts mehr Zu
bemerken. Im Blick auf den folgenden Satz bemerkt Ratzinger, es sei wichti,
„daß nur über die Schrift eine eigentliche Tst’-Defmition gegeben wird: V0n
ihr wird gesagt, daß sie schriftlich festgehaltenes Sprechen Gottes ist. Die Tra
dition wird dagegen nur funktional beschrieben, von dem her, was sie tut- Sie
vermittelt Wort Gottes, ‘ist’ es aber nicht“ (ebd. 525).
Von einer „Ist“-Definition vermag ich im Text nichts zu erkennen Vor
allem aber läßt doch der (vom Trienter Konzil übernommene) Schlußsatz an
einem materialen Nebeneinander von Schrift und Tradition eigentlich keinen
Zweifel: Beide sollen „mit gleicher Liebe und Achtung angenommen und ver
ehrt werden“. Der aufgrund einer Intervention Papst Pauls VI. davor einge
fügte Satz - „nicht aus der Heiligen Schrift allein schöpft (die Kirche ihre Ge­
wißheit über alles Geoffenbarte)“ - greift das Bild von zwei Gewässern, über
die sich die Kirche bei der Suche nach Argumenten für ihre Dogmen gleich­
sam beugt, noch einmal auf und verstärkt somit den Eindruck von einer
zweifachen materialen (Vor-)Gegebenheit. In Ratzingers Oberseminar zu der
noch „taufrischen“ Offenbarungskonstitution (WS 1965/1966, das letzte, das
er vor seinem Wechsel von Münster nach Tübingen gehalten hat) konnte ich
nach hartem Kampf meinem Doktorvater nur das Zugeständnis abringen,
daß, wenn man den Schlußsatz von Artikel 9 noch im Gesamtduktus einer
funktionalen Interpretation der Tradition verstehen wolle, man „dann nicht
so genau auf den Wortlaut hinsehen“30 dürfe. - Im übrigen legt doch auch,
unmittelbar daran anschließend, der erste Satz von Artikel 10 ein materiales
Verständnis der Tradition nahe: „Die Heilige Überlieferung und die Heilige
Schrift bilden den einen der Kirche überlassenen heiligen Schatz (sacrum
depositum) des Wortes Gottes [...] .“
Die spätere lehramtliche Entwicklung schien mir recht zu geben. Im „Kate­
chismus der Katholischen Kirche“ von 1993 war durch die Art der Darstel­
lung von Einzelaussagen des Zweiten Kapitels der Konstitution über die gött­
liche Offenbarung die dort verbleibende Möglichkeit einer materialen Inter­
pretation des Traditionsbegriffs eher verstärkt als ausgeschlossen worden31.
Ich war freudig überrascht, daß in dem von Papst Benedikt XVI. (zwei Mona­
te nac seiner Wahl) veröffentlichten „Kompendium“ dieses Katechismus
t nur eine Bestätigung der sich dort andeutenden restaurativen Tendenz
wurden633 ^ V*e^me^r so®ar Mehrdeutigkeiten im Konzilstext selbst beseitigt
Der Mythos der großen Wende
39
D er M ythos der großen Wende

Zu Beginn seiner T übin ger Lehrtätigkeit hat Ratzinger in einer Rede auf dem
Bam berger K ath olik en tag vom Juli 1966 eine erste, von scharfer Kritik ge­
ragte Bilanz des nachkonziliaren Katholizismus gezogen33. Unter den Katho­
liken in D eutschland herrsche „ein gewisses Unbehagen, eine Stimme der Er­
nü chterung und au ch d er E nttäu sch u n g, wie sie Augenblicken der Freude
und der festlichen Erhebung zu folgen pflegt, in denen mit einemmal die Welt
verwandelt schien [ . . . ] und nach denen uns nur um so schmerzlicher fühlbar
wird, wie seh r die G e w ö h n lich k eit unser Los und wie sehr der Alltag Alltag
geblieben ist“ (1 9 6 6 b , 1 3 0). M ir scheint, daß dieser Versuch, die dem Zweiten
Vatikanum folgend e „ E rn ü ch teru n g “ einem allgem einen Genus „Stimmung
nach dem Fest“ u n terzuord nen , der sehr spezifischen Enttäuschung nach die­
sem K onzil n ich t gerech t w ird. E her k ön n te m an von einer „Sternstunde der
M en sch heit“ (S te fa n Zweig) sprechen - vor deren Ablauf die Jünger Jesu lei­
der w ieder einm al eingeschlafen w aren (vgl. M t 26,40).
Aber auch in d ieser Sich t d er D inge bliebe das mythische Element verdeckt,
das gerade in sein er h in terg rü n d ig en W irk k raft der „Sternstunde“ eine recht
dunkle Z e it fo lg e n lie ß . Ich z itiere zu n äch st eine längere Passage aus dem
Standardw erk des p ro te sta n tisch e n H isto rik ers Sidney E. Ahlstrom, „A Reli-
gious H isto ry o f th e A m erican People“ ( 1 9 7 2 ,1079f.):

„Den Beginn einer großen puritanischen Epoche [in der nordamerikanischen Ge­
schichte der Religionen] kann man 1558 mit dem Tode von Maria Tudor ansetzen, der
letzten Monarchin, die über ein offiziell römisch-katholisches England herrschen soll­
te, und deren Ende 1960 m it der Wahl von John Fitzgerald Kennedy, des ersten rö­
m isch-katholischen Präsidenten der Vereinigten Staaten. Um denselben Punkt zu
unterstreichen, könnte man bemerken, daß die Zeit der Gegenreformation 1563 mit
dem Ende des Trienter Konzils begann und 1965 mit dem Abschluß des Zweiten Vati­
kanischen Konzils endete. [ ...] Ein römischer Katholik wurde zum Präsidenten der
Vereinigten Staaten gewählt - und wurde dann auf dem Gipfel seiner allgemeinen Be­
liebtheit niedergeschossen und beerdigt, während die Nation und die Welt, halb be­
täubt von der Folge der Ereignisse, sich zu einer gemeinsamen Trauerklage vereinte,
wie sie menschliche Technologie nie zuvor hätte möglich machen können. Unterdes
war ein hochbetagter Kardinal, 1958 zum Papst erhoben, dabei, eine Revolution in der
römisch-katholischen Kirche durchzuführen, deren Widerhall hin und her durch die
christliche Welt rollte, m it Im plikationen für die Zukunft, die sich menschlicher Vor­
ausberechnung entziehen.“

Dies alles klingt uns heute wie ein Märchen aus uralter Zeit - sowohl was
US-amerikanische Präsidenten als auch die katholische Kirche und „die
christliche Welt“ angeht. Daß Ahlstroms elegische Sätze auch die damalige
40 Im Zeichen des Konzils - die Zeit in Münster (1 9 6 3 -1 9 6 6 )

Grundstimmung in Deutschland wiedergeben, läßt sich etwa einem


„Briefe aus Rom“ entnehmen, die Mario von Galli, der angesehenste dem ^
sprachige Kommentator der Konzilsereignisse, verfaßt hat: Die ewige x * / ? '
heit Gottes, eingesenkt in die Geschichte der Menschen, sei dauernd mit
unterwegs. Gegenwärtig erscheine sie wie ein Strom , der lange fast sn' ^
glatt, wie ein See, geglänzt habe. „ [ ...] plötzlich wird alles Bewegung: die
ser drängen sich durch enge Felsen, stürzen vielleicht in Kaskaden herab um &~
Mythenbildend war nicht nur die Tatsache, daß der erste katholische Präs'
dent der USA während des Pontifikats eines Papstes zur Regierung kam d -
sich wie kaum ein anderer in den Jahrhunderten davor in W ort und Tat
einschneidenden Reformen in der Kirche anschickte - und dies auf möglichst
„demokratischem“ Wege. Die Vermutung liegt nahe, daß das Verhalten diese
Papstes die Gegner J. F. Kennedys bei der Präsidentenwahl in einige Verlegen
heit brachte. Im Gegenzug dürfte die Gleichzeitigkeit zweier in der Welt­
öffentlichkeit so hoch angesehener katholischer Führungspersönlichkeiten es
den reform orientierten Bischöfen in der ersten Phase des Konzils erleichtert
haben, ultrakonservative Kräfte im Vatikan zu zähm en. Auf jeden Fall hat
diese einmalige geschichtliche Konstellation in der westlichen Hemisphäre
nicht nur die lange Zeit verstum mte Hoffnung zu neuem Leben erweckt, daß
es der so viel und m it so viel Recht gescholtenen Christenheit doch noch ge­
lingen könnte, Raum für eine hum anere Welt zu schaffen. Diese Konstellation
hat auch schlechthin unerfüllbare Erw artungen genährt. Daß aus diesen Er­
wartungen schließlich h artnäckig verfochtene Forderungen erwuchsen, ist
allerdings kaum ohne das unvorhersehbare Zusam m entreffen einer Reihe
von weiteren Ereignissen zu verstehen, die den „Mythos der großen Wende“
m it einem anderen Vorzeichen versahen. In die Zeitspanne von weniger als
einem halben Jahr vor bzw. kurz nach Beginn der zweiten Konzilsphase fielen
der plötzliche Tod Johannes’ X X III. (3. Juni 19 6 3 ), Kennedys berühmte Rede
in Berlin (26. Juni 1963) und die Erm ordung des amerikanischen Präsidenten
(22. Novem ber 1963). N icht vorhersehbar war wohl auch die Art und Weise,
wie der neue Papst in dieser spannungsgeladenen Situation während der
folgenden Phasen des Konzils und bald danach Schritte unternahm , die man
zum indest als zeitlich in o p p o rtu n , aber auch von der Sache her kaum als
besonders dringlich erachten darf.
Was hat all dies m it der T hem atik dieses Buches zu tun? M it Kardinal
Frings gehörte Joseph Ratzinger zu einer zahlenm äßig wohl nicht besonders
groß en Gruppe a u f dem Konzil, die sich energisch für m utige Schritte nach
vorn einsetzte, allerdings m it dem Vorbehalt, daß diese Neuerungen von einer
gro ß en M ehrheit d er Konzilsväter getragen werden konnten und zu keinem
völligen G esichtsverlust der „Traditionalisten“ führten. Diese Gruppe geriet
Der Mythos der großen Wende 41

erheblichen Druck, als unter Paul VI. jene Traditionalisten mehr und
unter e gewannen und in Reaktion darauf aus der buntgemischten
IIiehr '"rdistischen Fraktion“ eine Front von Theologen ins Rampenlicht der
„avantga^^ ^ jhre zieje auch unter Inkaufnahme ausbleibender Kompro-
NlCdiedurchzusetzen bereit war35. In welcher Richtung sich Ratzinger ent-
rnisse, _ unci welchen Platz in der nachkonziliaren Geschichte ihm infol-
sch|“; n die Öffentlichkeit zuweisen würde läßt sich bereits aus seinen
Rückblicken auf die einzelnen Sitzungsperioden des Zweiten Vatikanums

CrSW Tage vor der Schlußabstimmung über die Kirchenkonstitution im


um (November 1964) hatte Paul VI. „Bekanntmachungen“ und eine „Er-
| L,^Urncje Vorbem erkung“ mit der Anweisung erlassen, daß diese dem Text
aU a eben werden sollten. M ario von Galli schreibt dazu in seinem „Brief
61 Rom“ vom 21. November: „Nein, es hat keinen Sinn, das zu leugnen: die
letzte Woche des Konzils war keine Freudenwoche. Die übergroße Mehrheit
der Väter erlebte bittere Enttäuschungen, sie fühlte sich behandelt wie ‘Un­
mündige’. [ ...] Man hat erlebt, daß eine Gruppe, eine Minderheit, dem Papst
näher steht als eine noch so große Mehrheit.“36 Ratzinger versucht in seinem
Rückblick auf diese Ereignisse (1 9 6 5 b, 4 7 -5 0 ) zunächst, das Vorgehen Pauls
VI form al-rechtlich wie auch inhaltlich dem Verständnis näherzubringen.
Auch er stellt dann allerdings fest:
„Trotz allem bleibt freilich nun auf der anderen Seite bestehen, daß niemand sich eine
Wiederholung der Vorgänge der besagten Novemberwoche wünschen kann. Denn sie
haben zweifellos gezeigt, daß jene Form der Primatsverwirklichung (und der Formu­
lierung der Primatslehre) noch nicht gefunden ist, die etwa den Kirchen des Ostens
deutlich machen könnte, daß eine Vereinigung mit Rom nicht Unterwerfung unter
eine päpstliche Monarchie wäre [ ...] “ (ebd. 49f.).

Der Abschluß seiner Bem erkungen läßt dann aber keinem Anflug von
Skepsis m ehr Platz: „Die Vorgänge, von denen wir reden, haben gezeigt, daß
Geduld vonnöten ist. Aber sie haben in keiner Weise jene Hoffnung zerstört,
ohne welche die Geduld ihre Seele verlöre. Das Konzil und mit ihm die Kir­
che ist auf dem Weg. Es gibt keinen Grund zur Skepsis und zur Resignation.
Aber wir haben allen Grund zur Hoffnung, zur Frohgemutheit, zur Geduld
(ebd. 50).
Das Klima an der Theologischen Fakultät zu Münster war zu dieser Zeit
bereits von einer H offnung anderer A rt bestim m t. In dem schon zitierten
Vortrag vor der Studentengem einde weist Ratzinger auf zwei Beispiele hin,
wo in der K irchengeschichte nach einem revolutionären Schritt nach vorn
schließlich eine Scheidung der Geister nötig wurde. N icht nur der Apostel
Paulus m it seiner G em einde in K orinth, sondern auch M artin Luther habe
42 Im Zeichen des Konzils - die Zeit in
Münster (1963-1966)

eine solche Erfahrung gem acht, „als während seines Aufenthal


bürg der Sturm der Erneuerung plötzlich alle D äm m e wegzufe ^ der
E rn euerun g in chaotisches Schw ärm ertum um zuschlagen be8" 0 SCE'en und
einer so besonnenen Stadt wie M ünster spielten sich wenige J a h r e ' ^ ' Selbst'n
ge ab, durch die diese Stadt ihren N am en f ü r im m er in die Geschieht ^ V° rgän'
lichen Schwärmertum s eingetragen hat“ (1 9 6 6 d , 9 2 ; meine He ^ cbrist-
kaum verdeckte Polemik dieser A rt hatte ich vorher noch nicht bei ^ Eine
w ahrgenom m en. Sie um schrieb aber rech t treffend den dez ^ RatZ‘nger
atheistischer Ideen Blochscher Prägung, m it dem sich damals Jo h V 1 HaUch
tist M etz in Abkehr von der transzen d en talen Theologie Karl r ^ ^ BaP'
vor seinem Weg in die „Politische Theologie“ umgab. & 3 lners Ur)d
Das heißt nun allerdings n ich t, daß sich R atzinger in seiner wachs
Skepsis gegenüber dem allgemeinen D rang zum „weltoffenen C hristen"06"
seiner Entschiedenheit zu ratio n aler G laubensverantw ortung verabsch' T
hätte. Dies zeigt sehr schön sein 1966 erstm als publizierter Beitrag „Weltoff
ne Kirche? Ü berlegungen zu r S tru k tu r des Zweiten Vatikanischen Konzils*“
H ier schreibt er u n ter dem Stich w ort „D ialog“ : „(D ie christliche Botschaft)
kann als A ntw ort n ur begriffen [ . . . ] werden, wo zuvor die Frage des Mensch­
seins als Frage erlitten worden ist.“

„Aus diesem Grunde muß einerseits die Frage geweckt werden und m u ß anderseits
die christliche Botschaft sich immer wieder von dem tatsächlichen Fragen der Men­
schen zu sich selbst hin erwecken lassen, sich vom Hören auf dieses Fragen aus je neu
zur Antwort formen“ (1966c, 121). „Weil es im Kerygma immer auch das gibt, was in
Wahrheit kein Kerygma, sondern menschliche Umdenkung ist, deshalb ist das gedul­
dige Hören auf das wirkliche Wissen der Menschheit jederzeit wieder vonnöten. [...]
(Es gibt) auf der einen Seite die Verdunklungen der christlichen Schuld, auf der ande­
ren Seite den verborgenen christlichen Reichtum derer, die ja gleichfalls unter dem
Zeichen des Erlösers stehen. Das gilt, wie die Konstitution über die Kirche in der heu­
tigen Welt zu zeigen sich mühte, auch [ ...] für das Verhältnis von Christen und
Atheisten; auch der Atheist hat ein Zeugnis zu verwalten, das den Christen angeht, ihn
zum Hören und Nachdenken zwingt“ (ebd. 122).

Was den Stellenwert öffentlich -ration aler G laubensverantw ortung für die­
ses „H ören und N achdenken“ angeht, bem erkt Ratzinger: „ [ . . . ] die kirchliche
A utorität (kann) nicht den wissenschaftlichen Sachverstand der Theologie er­
setzen, sondern m u ß ihn n och einm al als solchen anerkennen und vorausset­
zen und kann n u r a u f ihm aufbauend, n ich t gegen ihn die Verkündigung des
W ortes und das G eltendm achen seines Anspruchs vollziehen“ (ebd. 125).
Sechstes Kapitel:
Zenit und W egscheide - die Tübinger Jahre
(1 9 6 6 - 1 9 6 9 )

a..c P a tz in s e r s
Rat hin war J. B. Metz auf den Münsteraner Lehrstuhl für
eologie berufen worden. Seine eigene, von Hans Küng mit
u , , . nnterstützte Berufung auf den neu errichteten zweiten Lehrstuhl
N ach d ru „ . _______ u : — a ; 0 _______

schalthcne r o is u .u .* 5 — ------------- 0 —J
Konzil nur in sehr begrenztem Um fang zugelassen hatten. Ratzinger hat ein­
drücklich geschildert, wie bald sich diesen Plänen Ereignisse entgegenstellten,
die zu einer ganz neuen H erausforderung für ihn wurden (vgl. 1998 a, 137—
151) schon die von ihm selbst in diesem Zusam menhang gegebenen Hin­
weise auf sein früheres Verhältnis zu Metz und Küng lassen durchblicken, daß
die sich jetzt (unter eifriger Unterstützung durch die öffentlichen Medien) er­
heblich verschärfende nachkonziliare Polarisierung nicht nur die katholische
Kirche allgemein bis ins H erz d er O rtsgem einden hinein erschütterte. Im
Zentrum dieser m it im m er härteren Bandagen ausgetragenen Kämpfe spiel­
ten sich zwischen führenden T heologen wie Karl Rahner und Hans Urs von
Balthasar und schließlich n o ch m eh r zwischen den Hoffnungsträgern der
ihnen folgenden G en eration auch bis ins Persönliche gehende Konflikte ab.
Wenn es nicht gelingt, die verborgene Tragik hinter diesen Animositäten auf­
zudecken, wird m an sich wohl kaum ein zuverlässiges Bild von der Kirchen­
geschichte der letzten fünfzig Jahre m achen können.

„Einführung in das Christentum“

Im Vordergrund dieses Kapitels m uß nun allerdings das Buch stehen, das


wohl am m eisten zu dem w eltw eiten Ansehen Ratzingers schon vor seinem
Dienst im H irten am t der K irche (seit 1977) beigetragen hat. Seine 1968 er­
schienene „E in fü hrun g in das C h risten tu m “ ist nicht nur in Deutschland
immer w ieder aufgelegt w orden , son dern w ar bereits 1976 in zwölf andere
Sprachen übersetzt. W o sind die G ründe für das erstaunliche Phänom en zu
44
Zenit und Wegscheide - die Tübinger Jahre ( 1966- 1969)

suchen, daß dieses Buch ein zwar nicht lautstarkes, aber doch d
nehm bares Echo hervorrief, ohne daß sein Autor zuvor als übe CUtlicl1 'Br­
üche Tabus erhaben gefeiert worden war? r arr**skirch_
Eine naheliegende Erklärung bietet sicher Ratzingers Beitrag z
Vatikanischen Konzil. Hier war er vor allem als Berater eines ap™ ^We'ten
konservativ geltenden, nun aber beherzt progressiv auftretenden F 8^mäßigt
m it beträchtlicher H ausm acht aufgefallen. Nicht zu übersehen istF, SChofs
die Sympathie, die sich dieser bescheidene, ja, ein wenig schüchtern'1 ^ ^
Theologe bei Korrespondenten einflußreicher Blätter mit höhere W?,kende
aufgrund seiner präzisen und dennoch publizistisch gut verwertbar" j1Veau
mationen erworben hatte. Die Welt wartete förmlich auf ein auch
gischen Amateuren nachvollziehbares Werk, in dem er eine G e s a m t lc h '0'
christlichen Glaubens aus seiner innovativen und doch kirchlich an^i des
Sicht geben würde. anerkannten
Diese Erklärung verm ag aber nur dann zu überzeugen, wenn das Buch v
seinem Inhalt her solche Erw artungen auch tatsächlich erfüllte. In einender'
sten U nterabschnitt versuche ich d aher aufzuzeigen, in welchem Maße die
„Einführung in das C h risten tu m “ ein er w eitgestreuten, nicht nur katholi­
schen Leserschaft bei aller wissenschaftlichen Genauigkeit verständliche und
zugleich m ehr als bloß den Verstand berührende Antw orten auf ihre Fragen
b o t.37 In den darauffolgenden Ü berlegungen m öch te ich mich dann einigen
m ethodischen Problem en zuwenden, die im M ittelpunkt eines recht lebhaf­
ten Disputs über diese N euerscheinung zwischen W alter Kasper und Joseph
Ratzinger standen.

Was heißt „Christ sein“?

Das B uch „Einführung in das C h riste n tu m “ ist aus Vorlesungen für Hörer
aller Fakultäten h ervorgegangen, die Joseph R atzinger im Sommersemester
1967 in Tübingen gehalten hat. Im V orw ort verweist er au f Karl Adams Vor­
träge (von 1 9 2 3 /2 4 ) über das „Wesen des K atholizism us“. Vom umfassenden
Ziel seines U n tern eh m en s her h ätte er auch an A d olf H arnacks berühmte
V orlesungen von 1 8 9 9 /1 9 0 0 über das „W esen des C h risten tu m s“ erinnern
k ö n n en . V orausblickend d a rf m an wohl sagen, daß R atzinger m it diesen
„V orlesungen über das Apostolische Glaubensbekenntnis“ (so der Untertitel)
einen w ichtigen Schritt a u f den theologischen Einführungskurs hin getan hat,
d er - a u f A nregung vor allem Karl R ahners - 1978 als Pflichtvorlesung in die
„R ah m en o rd n u n g für die Priesterausbildung“ aufgenom m en wurde.
Bei d er Ü b erarb eitu n g seiner „C hristologie“ für die 1 9 6 6 /6 7 - nun in un­
m itte lb a re r N äh e von E rn st K äsem ann, dem wohl bekanntesten Schüler Ru-
45
„Einführung in das Christentum

haltende Vorlesung stand vor allem die Frage nach dem


,f Bultmanns' zU und Dogmatik im Vordergrund. Besonders der
ilhältn is von Schn . istus« überschriebene Hauptteil des Buches läßt die
zWeite, mit „Jesus erkennen. Aber auch in den anderen Partien
hierfür aufge^and g^ Versuch spürbar, das kirchliche D ogm a nicht
wird auf Schri« u na Tradition wohlbegründet aufzuweisen, sondern bei
nur als in der gesa r verbindlichen Lehre für das Heute m it N achdruck
der Interpretation der exegetischen Forschung heranzuziehen.
den aktuellen hta ^ sich d n e deutliche Akzentverschiebung gegenüber
In dieser Hinsic Ratzingers beobachten. N och in einer Publikation von
früheren Aussagen Glaubensregel“ (regula fidei): „Sie gilt als der eigent-
1966 schreibt er den Kanon för d e n ‘Kanon’ [der Heiligen Schrift]
liehe Kanon c er ’ di e Vorstellung also, Schrift sei nach dem Glau­
bildet. Dreser ^ altchristliche F o rm des Glaubens dar“ (1 9 6 6 a , 2 0 ).
be"h fSZd ? Einführung in das C hristen tu m “ gibt eine solche „Glaubensre-
A r d n'Leitfeden ab - näm lich das „Apostolische Glaubensbekenntnis“, des-
gC GgSchichte Ratzinger relativ ausführlich skizziert. Dieses „Symbolum“ ist
ein stadtrömischer Text, dessen (griech isch e) G ru n d form sich zwar bereits
im Lauf des 2. und 3. Jahrhunderts im Zusam m enhang m it dem Taufvollzug
gebildet“ hat. Seine endgültige - in Gallien geprägte und von Karl dem G ro­
ßen als für sein ganzes Reich verbindlich erklärte - Gestalt wurde in der Stadt
Rom aber erst im 9. Jah rh u n d ert als E in h eitstext ü b ern o m m en (vgl. 1968 a,
54f.). „Im Osten blieb dieses stadtröm ische Symbol unbekannt“ (ebd. 5 6 ).
Daraus ergibt sich nun ab er ein zen trales P ro b lem : „(In seiner heutigen
Gestalt drückt dieser Text) au ch die v o m Politischen ausgehende U n iform ie­
rung der Kirche im W esten und so das Schicksal der politischen V erfrem dung
des Glaubens, seine B enu tzu n g als M ittel der R eichseinheit aus. In d em w ir
diesen Text verwenden, der als das [sic!] ‘R öm ische’ durchgesetzt und dabei in
dieser Gestalt Rom von außen aufgedrängt w orden ist, finden w ir in ihm an ­
wesend die N ot des G laubens, sich d u rch das G itter der politisch en Zwecke
hindurch in seiner Selbstheit b eh au p ten zu m ü ssen “ (ebd. 5 7 , m ein e H e r-
vorh.). Die Nähe dieser Aussage zu den positiven A nliegen der „P olitisch en
Theologie ist zum G reifen n ahe. A u f diesem H in te rg ru n d w irk t d ah er die
Feststellung etwas apodiktisch, „daß dieses B ekenntnis tro tz aller W irru n g en
^er Geschichte im Entsch eid end en das genaue E ch o des G laubens d er Alten
d FC e darstellt>der seinerseits in seinem K ern das treu e E ch o d er B o tsch a ft
din eUCn beStaments 5 8 ). Abschließend heißt es dann a b er:„A ller-
achteiTer^en W'r be* ^em ^ ersuch des Verstehens, u m den es uns geht, d arau f
ziehen mdssen>dös Ganze im m e r w ieder a u f das N eu e Testam ent zuriiekzube-
es aus seinen A bsichten h eraus zu lesen u n d zu d eu ten “ ( 5 8 , m ein e
46 Zenit und Wegscheide - die Tübinger Jahre ( 1966-1969)

Hervorh.). Mit diesem Satz bekennt sich Ratzinger definit


rung, die auf dem Konzil vor allem von Kardinal A. G. Meyer ZU, der F°rde.
den war, im Text der Offenbarungskonstitution aber keinen enWor.
gefunden hatte (s. S. 37). Wie versucht er sie in diesem Buch ein? CrSc^ ag
Im „Ersten Hauptteil: Gott“ werden der ausführlichen Darstell ° Sen'
blischen Gottesglaubens religionsphänomenologische Bernerku
Monotheismus Israels vorausgeschickt, die kaum etwas an AUt,.-,n^en Zui"
■an Aktualität »
büßt haben. Das Bekenntnis zu Jahwe als dem einzigen Gott bedeut t
sage an die Götter f... ] Absage an die Vergöttlichung der politische^ ^ ”Ab'
■an die Vergöttlichung des kosmischen ‘Stirb und werde’“ Zu p MächteT*
— J- c : - i ________T-- .. ’ o elcn l:
aber auch der Verzicht auf die Sicherung des Eigenen, die dem Polyth • ' “
W PSPntlirh
wesentlich ist.
ist, „Hip Ahsatrp aan
„die Absage n Hip A n a c t die Adas
die Angst, nc
Unheimliche ibesänftige
. .

indem sie es verehrt, und die Zusage zu dem einen Gott des Himmelfl ' ' f ’
alles bergenden Macht“ (1968 a, 80). a s er

„Das Bekenntnis ‘Es gibt nur einen G ott’ ist in diesem Sinn, gerade weil es selbst k '
politischen Absichten ausdrückt, ein Program m von einschneidender p olitisch er Be'
deutung: D urch die A bsolutheit, die es dem einzelnen von seinem Gott her verleiht
und durch die Relativierung, in die es alle politischen Gemeinschaften von der Einheit
des sie alle um spannenden G ottes rückt, ist es der einzige definitive Schutz gegen die
M acht des Kollektivs und zugleich die grundsätzliche Aufhebung jedes Ausschließlich­
keitsdenkens in der M enschheit überhaupt“ (ebd., 81 ft).

Überzeugend, wenn auch durch immer wieder neue Ansätze nicht leicht zu
erkennen, ist dann die Grundlinie, die von bibeltheologischen Ausführungen
zum Jahwe-Namen bis zur Interpretation der Dreifaltigkeit als innerstes
Wesen des einen Gottes führt (ebd. 8 4 -1 5 0 ). Gott offenbart sich Israel schon
von den Anfängen her „auf der Ebene von Ich und Du“ (ebd. 91). Die Ver­
mählung dieses Glaubens m it der griechischen Ontologie muß daher als
skandalös erscheinen (vgl. ebd. 86). Indem die frühe Kirche beim Eintritt in
den griechisch-röm ischen Raum für den Logos der Philosophie und gegen
jede Art von Mythos optierte, schob sie aber den ganzen Kosmos der antiken
Religionen in einer ähnlichen Weise beiseite wie Israel seinerzeit in seiner
Entscheidung gegen Moloch und Baal (vgl. ebd. 103 f.). Die Titel „Vater“ und
„Allherrscher“ im Apostolischen Glaubensbekenntnis bringen „genau das
zum Ausdruck, worum es im christlichen Gottesbild geht: die Spannung von
absoluter Macht und absoluter Liebe, [ ...] von Sein schlechthin und von un­
m ittelbarer Zugewandtheit zum Menschlichsten des Menschen“ (ebd. 113)-
Erst im Ringen um die Form ulierung des Trinitätsglaubens wird aber die
M acht des Statischen überwunden, die dem griechischen Seinsbegriff mit sei
ner unüberwindbar scheinenden Kluft zwischen Einheit und Vielheit anhaftet-
„Einführung in das Christentum

U1 a 7prfali der außerhalb der G ottheit einsetzt [ ... , sondern ent-


Vielheit istt nichtfb
nicht blo
l0 ! u ^ F ü i .,l e G ottes! der
der”:selbst
s elbst über
über Vielheit
Vielheit und
und fEinheit stehend
spricht der schöpfen erst der Trinitätsglaube, der den Plural in der Ern-
heides umgreift- 5 ° i . Ausschaltung des Dualismus als Prmzip der Erkla-
hei, G otteserkennbdneben ^ Einheit; £rst durch ihn ist die positive W ertung des

hen Ü berlegungen zur Methode der Christologie vorläufig


f-ihr chen u u c i » 8 “ “ 6“ ‘ ------ .
Die ausführ
1US dicwende , ich
. ,___ als närhstes
mich den den
als nächstes inhaltlichen Aussagen
inhaltlichen Aussagenim im
eiseite ,af*en ’
beiseite Je$ u s C h r i s t u s “ zu. Ratzinger lehnt entschieden die Kli-
"Zweiten
Z w e ite H w p ^ ihistorischen Jesus“ ab, der in einer apokalyp-
scheevorsteüung jA tm o s p h ä r e die Nähe des Gottesreiches verkündet habe,
tisch aufge ei n d e n die nicht m
^ G rü mehr „u, rprht
recht zu
zu rekonstruieren
rekonstruieren seien,
seien, 1...1
[...] hinge-
hinge-
dT t worden und’ als ein Scheiternder gestorben (sei). Danach sei auf eine
nC h icht mehr recht erkennbare Weise der Auferstehungsglaube entstanden
fUCl Allmählich habe dieser Glaube sich weiter gesteigert und die [ ...] Vor­
teilung ausgebüdet, Jesus werde in Zukunft als Menschensohn oder als Mes­
sias wiederkehren [ . . . ] “ (ebd. 1 7 1 f.). Demgegenüber betont er: „Heute kön­
nen wir mit einiger Sicherheit feststellen, daß der Ursprungsort des Glaubens
an Jesus als den Christus [ ...] das Kreuz ist“ (ebd. 164). „Die Entfaltung des
Verstehens, das wir Glauben nennen, geschieht dabei so, daß die Christen zu­
erst vom Kreuz her auf die Identifizierung von Person, W ort und Werk sto­
ßen. [...] Das gekreuzigte Ich des Herrn ist eine so gefüllte Wirklichkeit, daß
alles andere zurücktreten kann. In einem zweiten Schritt wurde dann von
dem so gewonnenen Verstehen Jesu her auf seine W orte zurückreflektiert“
(ebd. 165).
Wenn die totale Selbsthingabe Jesu am Kreuz der „Ursprungsort des Glau­
bens“ ist38, dann ergibt sich von selbst der nächste Schritt: „ [ ...] an einen so
verstandenen Christus glauben bedeutet einfach, die Liebe zum Inhalt des
Glaubens zu machen, so daß m an von da aus geradezu wird sagen dürfen:
Liebe ist Glauben“ (ebd. 167).39 Das führt nun aber unmittelbar ins christolo-
gische Dogma hinein: „Wenn [ ...] dieses Ich geglaubt wird als reine Offen­
heit, als totales Sein vom Vater her; wenn es mit seiner ganzen Existenz ‘Sohn
actualitas des reinen Dienens - ist; wenn [ . . diese Existenz Liebe nicht nur
at' son^ern is t- muß sie dann nicht identisch sein m it G ott, der allein die
Liebe istT (ebd. 169).
d ^ 'ese Zunächst thesenhaft vorgetragenen Aussagen versucht Ratzinger
beid1 am ^ '^ ü ch en Befund zu erhärten, vor allem über den G ebrauch der
minu11 ^ UEdrüc^e >>S°hn G ottes“ und „der Sohn“. Auf die D eutung des Ter-
zeigt er ° D ^ ^ais^ Gottes als „Knecht Gottes“ durch J. Jeremias gestützt,
unäc st, wie dieser der Königsideologie entstam m ende Titel zwei-
48 Zenit und W egscheide - die T ü b in ger Jah re ( 1966 - 1969 )

fach „politisch entm ythisiert“ wurde. D em altorien talischen Gebra


zufolge au ch K önig David als der von G o tt b eru fen e und gesalbte
G ottes galt, w urde im Lied vom „leidenden G o tte sk n e ch t“ ein v j ”Solln“
von höchster Berufung gegenübergestellt, in dem der Sohn als geschu3^ 1^
Knecht Gottes, aller H oheit (gr. doxa) en tb lö ß t, die Sünden der M e n s d ^ ^
seinem Leibe w egtrug (vgl. Jes 5 2 ,1 3 - 5 3 ,1 2 ) . In d em schließlich - dem 60 ^
sehen Kult vom Kaiser als dem Sohn G o ttes ins A n g esich t - Jesus |°mi'
„C hristu s“, als der „Gesalbte“ im Sinne je n e r P ro p h e tie des Jesaja, Verk S ^
w urde, „traten sich praktisch d er e n tm y th isierte u nd d er M yth osgebl U" det
M ythos gegenüber“ (ebd. 17 9 ). Ie ene
Im H inblick a u f die B ezeich n u n g Jesu als „ d e r S o h n “ m a ch t Ratz-
dann d eutlich, wie das V erständnis v o n Jesu E x is te n z als reines „Sein"186“
und „Sein fü r“ bei Jo h an n es zu e in e r c h ris tlic h e n U m p rä g u n g griechisch"
Ontologie geführt hat (vgl. ebd. 1 8 1 - 1 8 3 ) . Von d ah er läßt sich die innere Ei^
heit „der beiden d o g m atisch en T ra k ta te “ C h ris to lo g ie u n d Erlösungslehre
(Soteriologie) aufweisen: Das Sein C hristi „ist n ich t ein in sich ruhendes Sein
sondern der Akt des G esandtseins, des S o h n ssein s, des D ienen s. Umgekehrt-
Dies Tun ist n ich t b loß T un, s o n d e rn S ein , es re ic h t in die Tiefe des Seins
hinab und fällt m it ihm zu sam m en . D as Sein ist E x o d u s, Verwandlung“ (ebd
1 8 6 ).40
Im „D ritten H a u p tteil: D e r G eist u n d d ie K irc h e “ g e h t R a tz in g e r vom ur­
sp rü n glich en , g rie ch isch e n T ext des A p o s to lis c h e n Glaubensbekenntnisses
au s: „Ich glaube an H eiligen G e ist“ (e b d . 2 7 5 ) . H ie r w ird (d e r) Geist noch
n ich t als d ritte P erso n des d re ifä ltig e n W esen s G o tte s , so n d e rn in sei­
n er h eilsgeschichtlichen G eg en w art b e d a c h t, u n d d a m it ste h t d er lebendige
Z u sam m en h a n g von „ G eist“ u n d „ K irc h e “ n o c h v o r A u g e n . Später wurde
Kirche

„nicht mehr pneumatisch-charismatisch, sondern ausschließlich von der Menschwer­


dung her, allzu irdisch geschlossen verstanden und schließlich ganz von Machtkate­
gorien weltlichen Denkens her ausgelegt. Auf diese Weise wurde aber auch die Lehre
vom Heiligen Geist ortlos; soweit sie nicht in reiner Erbaulichkeit ein küm m erliches
Dasein weiterfristete, war sie in die allgemeine Trinitätsspekulation aufgesogen und
damit praktisch ohne Funktion für das chrisüiche Bewußtsein. [ ... ] Die Lehre von der
Kirche muß ihren Ausgangspunkt in der Lehre vom Heiligen Geist und seinen Gaben
finden. Ihr Ziel aber liegt in einer Lehre von der Geschichte Gottes m it den Menschen
bzw. von der Funktion der Christusgeschichte für die M enschheit als ganze. [ - 1
Christus bleibt gegenwärtig durch den Heiligen Geist m it seiner Offenheit und Weite
und Freiheit, die zwar institutionelle Form en keineswegs ausschließt, aber ihren A
spruch begrenzt und nicht gestattet, sich einfach den weltlichen Institutionen glelC
förm ig zu m achen“ (ebd. 2 7 6 f.).
„Einführung in das Christentum“ 49

Von daher erscheint Ratzinger die anwachsende nachkonziliare Kritik an


der „Amtskirche“ als einseitig: „Die wirklich Glaubenden messen dem Kampf
um die Reorganisation kirchlicher Formen kein allzu großes Gewicht bei Sie
leben von dem , was die Kirche im m er ist.“ Was Kirche ist, weiß nur „wer er­
fahren hat, wie über den Wechsel ihrer Diener und ihrer Formen hinweg Kir­
che die Menschen aufrichtet, ihnen Heimat und Hoffnung gibt, eine Heimat
die Hoffnung ist: Weg zum ewigen Leben“. Das stets notwendige „Ringen um
die bessere Heiligkeit“ in der Kirche wird nur dann fruchtbar und aufbauend,
„wenn es vom Geist des Ertragens beseelt ist“ (ebd. 286). Aber nicht nur die
„heilige“, sondern auch die „katholische Kirche“ bleibt ein Desiderat. Auch
„heute gelingt es ihr n och im m er nicht, Reiche und Arme so zu verbinden,
daß der Überfluß der einen zur Sättigung der anderen wird - das Zeichen der
Tischgemeinschaft bleibt weithin unerfüllt“ (ebd. 289).
Sieht m an genauer hin, so deuten sich schon in solchen Aussagen Gründe
für die später zutage treten de H altung Ratzingers gegenüber der „Theologie
der Befreiung“ an. H ier ging es doch nicht prim är um die Hoffnung auf das
ewige Leben und die Erfü llun g des bloßen Zeichens der Tischgemeinschaft.
Das Ringen der Kirche u m Heiligkeit wirkt abstrakt gegenüber einer politisch
etablierten M iß ach tu n g C h risti, der hier und jetzt in den Ärmsten und Ge­
schundenen gegenw ärtig ist (vgl. M t 2 5 ,3 1 -6 6 ). Die Art und Weise, wie Rom
zugunsten von B ischöfen, die sich korrupten ökonomischen Mächten anzu­
passen wußten, auch m äßigende Kräfte in ihrem Einsatz gegen Unrechtssyste­
me behinderte, läßt die Frage aufkom m en, ob dem „Kampf um die Reorgani­
sation kirchlicher F o rm e n “ nicht doch größeres Gewicht zukommt.

„W ahrheit und Methode“

In dem D isput, den W alter Kasper durch seine Rezension der „Einführung in
das C h risten tu m “ m it Joseph Ratzinger ausgelöst hatte41, ging es weniger um
inhaltliche als u m m e th o d isch e P roblem e, insbesondere (1 ) um die Frage
nach dem Verhältnis der historisch-kritischen Exegese zur Dogmatik und (2)
das Problem der Relation zwischen Philosophie und Theologie.
(1 ) Die Position W . Kaspers zur ersten Frage ist relativ leicht zu umreißen.
Der d am als n o ch in M ü n ster lehrende O rdinarius für Dogm atik gehörte zu
dem groß en U m feld katholischer Theologen, die sich der durch E. Käsemann
eingeleiteten „N euen Suche nach dem historischen Jesus“ angeschlossen h at­
ten. Die Sprengkraft d er ersten, im Zeichen der Aufklärung verlaufene Phase
einer (an tid o g m atisch e n ) L eben -Jesu -Forsch u ng war bereits zur Zeit des E r­
sten W eltkriegs erloschen . A usgerechnet R udolf B ultm ann, der wie kaum ein
50 Zenit und W egscheide - die Tübinger Jahre ( 1966- 1969 )

anderer das gesamte Instrum entarium historischer Kritik beherrscht


dann die theologische Belanglosigkeit der Rückfrage nach dem hist ^ ^atte
Jesus“ behauptet. D em gegenüber u n terstrich K äsem ann seit i 9 5 4 °^1SCket>
sich nicht gegenüber der W issenschaft abschottender Glaube den hist •^
kritischen Nachweis einer K ontinuität zwischen dem historischen Jesu” ^ '
dem verkündigten C hristus erbringen m üsse. Diese neue Rückfr S^
nun aber die bereits zahllosen „kritischen“ Jesus-Biographien nicht S S°^te
weitere vermehren und wurde - ebenfalls im Gegensatz zu früher - au d 61115
lieh als ein stringent innerkirchliches, n ich t antidogm atisches Unterneli
verstanden. en

D am it war der „Virus“ der A ufklärung, der den liberalen Protestanţi


des 19. Jahrhunderts befallen h atte, d urch die „Dialektische T heologie“ inUS
besondere Karl B arth s und R u d o lf B u ltm an n s aber gebannt zu sein schien
n ich t n u r ern eu t freigesetzt, so n d ern jetzt so g ar ins innerste Heiligtum der
p rotestan tisch en K irche ein g ed ru n g en . W ü rd e ih r Prinzip, „allein die
S ch rift“ zu r G rundlage des G laubens zu n e h m e n , am Ende dazu führen
ängstlich n ach je d e r n euen T h e o rie der H isto rik er Ausschau zu halten?
Kaum weniger von diesem P rob lem betroffen w ar aber auch die katholische
T heologie, insofern sie - wie je tz t au ch Joseph R atzinger - die Notwendig­
keit anerkannte, „das Ganze [d er ausgefalteten Lehre] im m er wieder auf das
N eue T estam en t zu rü ck zu b ezieh en und es aus seinen Absichten heraus zu
lesen und zu d e u te n “ (1 9 6 8 a, 5 8 ). W er w ar für die Erk enn tn is dieser „Ab­
sichten“ zuständig?
F ü r W alter K asper schien die Sachlage k lar: „Die h istorische Rückfrage
n ach dem irdischen (h isto risch e n ) Jesus w ird d am it zu einem immanenten
E lem en t der T h eo lo g ie [ . . . ] “ (vgl. W. K asp er 1 9 6 9 , 1 8 6 ). Diese Spur wurde
von ihm konsequent bis in die katechetische U nterw eisung hinein verfolgt. So
findet m an in dem w eitgehend von ih m v erfaßten „K atholischen Erwachse­
nenkatechism us“42 im A nschluß an einen B ericht über die schwierige Diskus­
sionslage zu der Frage, „ob und wie Jesus selbst seinem Tod eine Heilsbedeu­
tu n g beigem essen h a t“ (S. 1 8 5 ) z .B . die B em erkung: „Das alles gibt einen An­
halt fü r die Ü b erzeu gu n g, daß Jesus seinen Tod als H eilstod verstanden hat
[ . . . ] “ (S. 1 8 6 , m ein e H e rv o rh .). K atech ism en sin d , h isto risch gesehen, im
G ru n d e erw eiterte T aufbekenntnisse. W as hilft ein em „K atechum enen , der
sich a u f das Bekenntnis zu dem in Jesus C hristu s endgültig ergangenen Wort
G ottes v o rb ereitet, der Hinw eis, daß er in ansonsten vielleicht wenig authen­
tisch en n eu te sta m e n tlich e n Texten ü ber Jesus im m e rh in einen „Anhalt zur
U n te rs tü tz u n g sein er Ü b erzeu g u n g find en k ann? B u ltm a n n s berechtigtes
N ein z u r N u tz u n g v o n E rg eb n issen d er R ü ck frag e n ach dem historischen
Jesus als S tü tzen fü r die V erkündigung b eru h te a u f der (ü b er Kierkegaard an
.Einführung in das Christentum'
51

die Dialektische Theologie vermittelten) Einsicht Lessings, daß zwischen den


bestenfalls wahrscheinlichen Resultaten der historischen Wissenschaft und
dem Boden für eine die ganze Existenz beanspruchende Entscheidung ein
garstiger breiter Graben" klafft. Wurde diese Einsicht von den Schülern Bult­
manns und der großen Schar ihrer Anhänger nicht einfach an den Rand
gedrängt?43
Ratzingcrs Sicht des Verhältnisses historisch-kritischer Exegese zur Christ-
liehen Verkündigung ist komplexer. Wichtig ist zunächst sein Vergleich der
historisch-kritischen m it der physikalischen Methode.44 Beide führen zu
einem „eindrucksvollen Gewinn an Exaktheit“. Aufgrund ihrer methodischen
Selbstbeschränkung auf die „phänomenale, das heißt in Belegen verifizierbare
Außenseite“ ihres Gegenstandes entschwindet hinter dem Gitter des erreich­
ten positiven W issens aber das Sein (vgl. 1968 a, 154 f.). Schon in seinem
Kom mentar zur Offenbarungskonstitution (s. S. 37) hatte Ratzinger (gegen
Oskar Cullmann und Joachim Jeremias gerichtet) auf „das tiefste Problem der
reformatorischen Position“ verwiesen: „Ein striktes Gegenüber der Schrift zur
Kirche [würde u. a.] die Absurdität mit sich bringen, den Glauben zur Funk­
tion der historischen Forschung zu machen und ihn damit der Erstinstanz-
lichkeit der W issenschaft auszuliefern, deren Gewißheit eine höchst mittel­
mäßige Form von Wahrscheinlichkeit nicht überschreiten kann.“ Dabei hatte
er sich au f K äsem ann berufen: „Können wir unser Handwerk anders als in
dem Wissen treiben, daß die Füße derer, die uns heraustragen werden, schon
längst und jederzeit vor der Türe stehen?“ (1967, 525).
In der Zeit, die zwischen der Abfassung dieses Kommentars und der „Ein­
führung“ lag, h atte Ratzinger dann aber offenbar erkannt, in welche Zwick­
mühle er geraten war. Im K om m entar schrieb er: „Sosehr wir materialiter
weithin Jeremias und Cullm ann gegen Käsemann und Bultmann zustimmen
werden, hinsichtlich des grundlegenden Formalproblems haben die letzteren
deutlicher gesehen“ (ebd.). In der Tat stützt sich Ratzinger auf der Suche nach
Belegen für seine historischen Aussagen auch in der „Einführung noch auf
Einzeluntersuchungen von J. Jeremias. Was E. Käsemann angeht, ist ihm je­
doch wohl erst w ährend der Vorbereitung seiner Tübinger Vorlesungen die
Distanz aufgefallen, au f die Käsem ann gegenüber seinem Lehrer Bultmann
gegangen w ar - was er in der „Einführung“ aber nur sehr verdeckt zum Aus­
druck bringt:

»Die moderne Theologie [genauer: der Liberale Protestantismus im Gefolge der


Leben-Jesu-Forschung] beginnt zunächst damit, daß sie sich von Christus abwen
und zu Jesus als dem historisch Greifbaren flieht, um dann, am Höhepunkt dieser Be­
wegung, bei Bultmann, umzuschlagen in die entgegengesetzte Flucht von Jesus zu­
rück zu Christus - eine Flucht, die jedoch im gegenwärtigen Augenblick bereits wieder
52 Zenit und Wegscheide - die Tübinger Jahre ( 1 9 6 6 -1 9 6 9 )

sich zu wandeln beginnt in die neuerliche Flucht von Christus zu Jesus“ (1968a, 158.
meine Hervorh.).

Joseph Ratzinger hat sich damals wohl zu Recht als einsamer Kämpfer zwi­
schen allen Fronten gefühlt. Auf der einen Seite wuchs die Schar auch katholi­
scher Exegeten und Systematiker, die sich zur Aufnahm e der „neuen Suche“
n ach dem „historischen Jesus“ verpflichtet hielten. Auf der anderen Seite
standen weiterhin Denker wie Karl Barth, den nicht nur die Suche nach dem
„historischen Jesus“, sondern im Gegensatz zu Bultm ann die historisch-kriti­
sche Exegese generell nie sonderlich b erührt hat. Bei Karl Rahner ist die Be­
schäftigung m it exegetischen Fragen stets ein Stiefkind seiner Theologie ge­
blieben. Hans Urs von Balthasars Leben und Denken ist zwar zutiefst von der
H eiligen Schrift geprägt. Was die historisch e Kritik an geht, hielt er es aber
eher m it Karl B arth. R atzinger hingegen w ar sch on seit dem Beginn seines
Theologiestudium s bei F. W. M aier (s. S. 2 2 ) von der Einsicht geprägt, daß
die system atische Theologie n ich t an den Ergebnissen der h istorisch -k riti­
schen Exegese Vorbeigehen darf. Die ganze Schärfe des Problems von „Histo­
rie und D ogm a“ (B lon d el), vom „garstigen breiten G raben “ (Lessing), wird
ihm aber erst w ährend der Konzilsjahre und v o r allem d urch den innerhalb
der B ultm an n -S ch ule selbst au sgeb roch en en Z w ist aufgegangen sein. Auf
jeden Fall bildet der vielschichtige P ro b le m h o riz o n t, wie ihn R atzinger im
U nterschied zu vielen an deren in d er K onzilszeit und u n m ittelb ar danach
w ahrnahm , einen wichtigen H intergrund für das Verständnis seiner weiteren
Suche nach einem angem essenen Verhältnis von Exegese und Dogm atik (vgl.
hierzu Kap. 9).
(2 ) Im Gegensatz zu der b em erk en sw erten E n tw ick lu n g, die Ratzingers
D enken seit dem Beginn seiner L eh rtätig k eit in B o n n h in sich tlich des Ver­
hältnisses von Schrift und T rad ition bzw. von E xegese und system atisch er
T h eologie aufweist, lassen sich bei ih m in dieser Z eit k au m F o rts c h ritte im
Blick au f die Frage nach der Beziehung zw ischen Philosophie und Theologie
feststellen. Eher wird m an sagen m üssen, daß R atzinger nun n och häufiger als
z u v o r Philosop hen bzw. Philosop hien k ritisch ins Spiel b rin g t, m it denen er
sich n ich t n äher vertrau t gem acht hat.
S ch o n in seinen ersten Stu dien jah ren w aren ih m p h ilo so p h isch e A nsätze
b eson d ers interessant erschienen, in denen au fgru n d jü n g erer Ergebnisse der
N atu rw issen sch a fte n a u f eine n eue O ffen heit des m o d e rn e n D en k ens für
G o tt geschlossen w urde (vgl. 1998 a, 4 8 f ) . W egen des darin im plizierten Fehl­
sch lu sse s, den in aller S ch ärfe v o r allem M a u rice B lon d el h erau sg earb eitet
h a t45, w a r ich in B o n n m it R a tz in g e r h a rt a n e in a n d e rg e ra te n , als er im A n ­
sch lu ß a n A lb ert M itterer und Pius X II. (1 9 5 1 ) über die physikalische Theorie
der E n t r o p i e d en bei T h o m a s von A quin zu find en den G ottesbew eis aus der
Die „Zeichen der Zeit'
53

Bewegung zu aktuahs.eren versuchte. In der „Einführung in das Christen


tum “ betonte er nun selbst d,e methodische Beschränkung der Naturwissen­
schaften auf die Untersuchung der phänomenalen Außenseite der Dinge wo
durch „Ontologie zusehends unmöglicher wird“ (vgl. 1968a, 154f.). Es ver­
wundert dann allerdings, wie oft er dennoch Ergebnisse der modernen Physik
zur Veranschaulichung theologischer Sachverhalte heranzieht. So verwendet
er etwa den Terminus „Wellenpakete“ zur Erklärung „eines nicht substantiö-
sen, sondern rein aktualen Seins“ (vgl. ebd. 136). Zur Verdeutlichung der
innertrinitarischen Zeugung des Sohns durch den Vater bemerkt er: „Nur als
dieser Akt ist sie Person, also nicht der Hingebende, sondern der Akt der Hin­
gabe,‘Welle’, n ich t‘Korpuskel’ . . . " (ebd. 144).
Neben weniger einsichtigen M otiven dafür, daß Ratzinger offenbar keine
Veranlassung sah, sich intensiver mit der Philosophie der Neuzeit zu beschäf­
tigen, dürfte zum indest ein Grund plausibel erscheinen. Die Philosophie der
Aufklärung h atte in D eutschland au f dem Wege über Hegel schließlich auf
der einen Seite zu David Friedrich Strauß mit seiner Konstruktion eines jeder
Christuswürde baren „historischen Jesus“, auf der anderen Seite zu Feuerbach
und M arx geführt. N un w urde dem Tübinger Dogmatiker von W. Kasper
nicht nur eine M arginalisierung der neuen Rückfrage nach dem historischen
Jesus vorgew orfen, son d ern auch ein mangelndes Interesse für „eine ge­
schichtlich o rie n tie rte T h eo lo g ie, die von konkreter geschichtlicher Praxis
ausgeht und zu ihr zu rü ckfüh rt“ (W . Kasper 1 9 7 0 ,1 5 5 ), einer „Theologie, die
von einer konkreten Analyse m enschlicher und gesellschaftlicher Praxis aus­
geht und d am it den Z ugang zu einem verständlichen Sprechen von der
Gnade gew innen m ö c h te “ (ebd. 1 5 8 ). W ie Ratzinger in der „neuen Suche
nach dem h isto risch en Jesus“ eine kerygm atisch drapierte Fortführung der
neuzeitlichen R eduktion geschichtlicher W ahrnehmung sah, so vermutete er
in der aus M ü n ster k o m m en d en Aufforderung zur „kritischen Handlungs­
orientierung aller T heologie“ (1 9 7 0 ,1 5 8 ) eine christlich geschmückte Varian­
te des M arxism u s. E r versp ü rte wenig Lust, wie manche seiner Kollegen sich
nun au ch in des „K aisers neuen K leidern“ bewundern zu lassen, und hielt
eine sorgfältige A ufarbeitung der au f dem Konzil tatsächlich erzielten Ergeb­
nisse für eine dringlichere Aufgabe.

Die „Zeichen der Zeit“

M it d er zu letzt g e m a ch te n B eo b ach tu n g befinden wir uns bereits auf dem


Wege zu jen en in T ü b in g en ü ber R atzinger hereinbrechenden und im Blick
au f die w eitere E ntw ick lu n g seines Denkens folgenreichen Ereignissen, die er
it und Wegscheide - die T ü bin ger Jah re ( 1 9 6 6 - 1 9 6 9 )
Zenit
54

i„ s e i n « „Erinnerungen“ einer sch onungslosen K r, rk u „ ,e r z „ gen hat;


Zerstörung der Theologie, die nun d urch rhre Po rt.s .e ru n g , m S i„ „
Marxistischen Messianismus vor sich grng. w ar u n g le tc h ru d ,Ita le r |,ls ihr
existentialisrische Reduktion bei B u h m a n n ], g erad e werl sre a u f d er b |Mi.
chen Hoffnung basierte und sie nun dadurch verkehrte, d aß dre r e lig iö s ,,
brunst beibehalten, aber G on ausgeschaltet und d urch das pohtrsche H ,„ d eln
des Menschen ersetzt wurde. Die H offnung bleibt, a b e r an dre Stelle G „ ,tes
tritt die Partei und damit ein Totalitarismus etner a th e.st,seh en A nbetung, die
ihrem falschen Gott alle M enschlichkeit zu o p fe rn b ereit ist. Ich habe das
grausame Antlitz dieser atheistischen F rö m m ig k eit u n v erh ü llt gesehen, den
Psycho-Terror, die Hemmungslosigkeit, m it d er m an jede m o ra lisch e Überle­
gung als bürgerlichen Rest preisgeben konnte, wo es um das ideologische Ziel
ging. [...] Die blasphemische Art, in der nun das Kreuz als S adom asochism us
verhöhnt wurde, die Heuchelei, m it der m an sich - w enn n ützlich - weiterhin
als gläubig ausgab, um die Instrum ente für die eigenen Ziele n ich t zu gefähr­
den, das alles konnte und durfte m an nicht vern ied lichen o d e r wie irgendeine
akademische Auseinandersetzung ansehen. D a ich a u f d e r H ö h e d er Ausein­
andersetzungen Dekan m einer Fak ultät, M itglied des G ro ß e n u nd des Klei­
nen Senats und Mitglied der G ru n d ord n u n gsversam m lu n g w ar, h abe ich dies
alles hautnah erlebt“ (1998 a, 1 3 9 .1 5 0 ).
Es ist kaum zu übersehen, daß in diesen A u sfü h ru n gen D inge in einen un­
mittelbaren Zusam m enhang m itein an d er g e b ra c h t sin d , d ie in b estim m ten
Aktionen sicherlich kaum n och v o n e in a n d e r g e sch ie d e n w e rd e n k onn ten ,
aber doch um der Redlichkeit willen stä rk e r d iffe re n z ie rt w e rd e n m ü ß ten .
Zum Einlösen dieser Aufgabe fehlt es m ir selbst leid er an d e m d a fü r n o tw en ­
digen Überblick. Aufgrund von Kontakten a u f d em Konzil h a tte m ich Ratzin-
ger auf eine mögliche Lehrtätigkeit an d er U n iv ersity o f N o tre D a m e , In d ia­
na, hinweisen können. Von H erbst 1 9 6 7 bis H e rb s t 1 9 7 0 , u n d d a n n - nach
der Vorbereitung auf meine Habilitation in P h ilosop h ie in M ü n c h e n - wieder
vom Herbst 1972 bis zum Som m er 1975 w ar ich d o r t als „ a s sista n t p ro fesso r
for historic-system atic th eology“ u n ter V e rtrag , in e in e m a k a d e m isch e n
Beruf, der Laien vor der Zulassung zur H ab ilitation in T h e o lo g ie in D e u tsch ­
land verschlossen war. Um die T übinger S itu atio n im K o n te x t d e r „ 6 8 e r B e­
wegung zu verstehen, m uß ich also zu m g rö ß te n Teil n ic h t s e lb st E rleb tes
eranzie en. Vielleicht em pfiehlt es sich, z u n ä ch st ein e R e k o n s tru k tio n der
G enese der deutschen Variante der allg em ein en S tu d e n te n r e v o lte zu v er-

zugehenUn ^ ^ Wec^ auf die Anfänge d er B u n d e sre p u b lik z u rü ck -

In d er Zeit von Lessing bis Hegel (u n d F eu erb ach ) w aren in e in e r In ten sität
wie
zu vor W orte zu r B ezeichnung eines den M e n sch e n in A n s p ru c h n eh -
Die „Zeichen der Zeit“ 55

nienden Unbedingten geprägt, bedacht, dem deutschen Volk ins Herz gesun­
ken w orden. Die M ach th ab er des D ritten Reiches hatten all diese hohen
W orte so radikal verschlissen, daß sie nach dem Zusam m enbruch für den
Umgang der M enschen m iteinander untauglich geworden waren. Welche O p­
tionen blieben übrig für den Aufbau eines neuen gesellschaftlichen Z u­
sam m enschlusses u nter A nerkennung von W erten, die zumindest m ehrheit­
lich bejaht wurden? Im G runde nur drei, die sich öffentlich als „Partei4* zu be­
kennen wagen konn ten , und eine vierte, schweigend gewählte Alternative, die
mehr und m ehr zur stärksten M acht im Staate wurde. Alle diese Gruppierun­
gen durften sich als unter der Naziherrschaft „politisch Verfolgte“ verstehen.
Ich beginne m it der letztgenannten „über- oder, besser, „unter-konfessio­
nellen“ Partei. Ihr P ro g ra m m hat M a x Stirner 1844 formuliert46:

Wie steht es mit der Menschheit, deren Sache wir zu der unsrigen machen sollen?
[ ] die Menschheit sieht nur auf sich [ ...] . Damit sie sich entwickle, läßt sie Völker
und Individuen in ihrem Dienste sich abquälen, [am Ende aber] werden sie von ihr
aus Dankbarkeit auf den Mist der Geschichte geworfen. [...] Die Patrioten fallen im
blutigen Kampfe oder im Kampfe mit Hunger und Not; was fragt das Volk danach?
Das Volk wird durch den Dünger ihrer Leichen ein‘blühendes Volk! [...] Meine Sache
ist weder das Göttliche noch das Menschliche, ist nicht das Wahre, Gute, Rechte, Freie
u.s.w., sondern allein das M einige, und sie ist keine allgemeine, sondern ist - einzig,
wie Ich einzig bin. Mir geht nichts über Mich!“ (M. Stirner 1969, 35-37).

Das H au p tp rob lem d er B undesrepublik w ar von Anfang an und wurde dies


in zu n eh m en d em M a ß e , d aß alle im P rin zip w ertorien tierten Gruppen, M e­
dien usf., die sich a u f D a u e r politisch durchsetzen wollten, auf diese anonym e
„Partei“ von n u r n o c h „ a u f ih re eigene Sache B edach ten “ Rücksicht nehm en
m ußten.
U n ter den sich öffen tlich zu ein er b estim m ten w ertorientierten O ption b e­
kenn en d en G ru p p ie ru n g e n k o m m e n fü r die h ier zu behandelnde T h em atik
C D U /C S U u n d SPD in B e tra c h t47, P arteien , die sich zum indest in den ersten
Jahren (d ie SPD bis z u m „ G o d e sb e rg e r P ro g ra m m “48) deutlich von ein and er
ab hob en . W as die F ra g e n a ch d e r E n tw ick lu n g des D enkens von Joseph R at-
zinger a n g e h t, ist v o r a lle m ein V e rstän d n is der „ A d en au er-Ä ra“ m it ih rer
A u srich tu n g an tra d itio n e lle n ch ristlich e n W erten w ichtig. An den H ö h e re n
Schulen las m a n b e v o rz u g t W erk e v o n K o n v ertiten wie G e rtru d v o n Le F o rt
und W ern er B erg en g ru e n . D ie R ü ck b esin n un g a u f v o r dem E in bruch von Re­
fo rm a tio n u n d N e u z e it g e lte n d e W e rte ging m it ein er A b n eigu n g gegen den
p reu ßisch en P ro te sta n tis m u s ein h er, dessen liberale V ariante in ih rer für alles
Säkulare o ffen en U n b e s tim m th e it a u ch n o ch n ach d em E rste n W eltk rieg ein
Vakuum d a rb o t, das d u rc h n atio n alistisch e Ideen leich t b esetzt w erden k o n n ­
te. D a d u rc h , d a ß K o n ra d A d e n a u e r z u s a m m e n m it Jo se p h F rin g s , d e m d a -
•ln sich bei der G rün d un g der C D U en erg iSch
maligen Erzbischof von O j ^ gewann diese au ch sch o n v o r den wirt_
für Überkonfessionama ^ Bundesrepublik eine groß e Attraktivität
schaftlichen Erfolgen am
(s. S. 125(■)■ ,pitoffener Klugheit und E ntschiedenheit für bewährte
Die Mischung von ^ zerbom bten K öln, in der P hase der Grün-
Traditionen, die JoseP k^ nachher au f dem Konzil bew ies, sch u f eine
düng der BundesrepU . Ratzinger als Professor in B o n n und bald da­
mentale A tm ospha- ^ Kardinals von Anfang an überzeugte. In seinem be-
nach auch ds k aufdiese Zeit findet sich der Satz: „D er g ro ß e Strom mit
S T ! “ em“ » » l e n Schiffahrt 8ab mir ein Gefühl der O ffenheit und Weite,
ppnihrune der Kulturen und der N ationen, die seit Jah rh u n d erten hier
a X a n Ä e n und sich befruchteten“ (1 9 9 8 a , 9 3 ). Z u F ü ß e n des Kölner
Doms - wo Werner Bergengruen au f dem K ölner K ath o lik en tag von 1956
die Schlußrede gehalten hatte - sagte ein halbes Ja h rh u n d e rt sp äter Bene­
dikt XVI zu den Teilnehmern am 20. W eltjugendtag. „H iei sp ü rt m an die
große Geschichte, und der Strom gibt W elto ffen h eit.“ D ie Ju gen d aus aller
Welt wird kaum die tiefe Bewegung w ahrgenom m en h ab en , die im Unterton
seiner Stimme mitschwang.
Wo liegen die Gründe dafür, daß Joseph R atzinger sch o n 1 9 6 6 in M ünster
und ab 1968 in Tübingen sich in eine andere W elt versetzt glaubte? Ich nenne
zunächst einige allgemein politische Aspekte. D ie T o te n g lo ck e fü r die Ade­
nauer-Zeit und ihre Nachklänge unter Ludwig E rh a rd h a b e n , so m eine ich,
Axel Springer und Rudolf Augstein als erste in B ew egung gesetzt. W elch selt­
sames Paar! Zumindest eine Seelenverwandtschaft z w isch en b eid en liegt je
doch offen zutage: In den Presseerzeugnissen aus ih re n V erlagen ließ sich
kaum einmal etwas entdecken, das zur Festigung c h ris tlic h e r V orstellungen
vom Wahren und Guten gedient hätte. Auf sehr v ersch ied en en W egen trugen
sie vielmehr zu deren Unterhöhlung bei.
Mit „Hör zu“ (1946), „Constanze“ (1 9 4 7 ), „B ild “ ( 1 9 5 2 ) u n d „D ie W elt“
(1953) erreichte der Springer-Verlag schon in den erste n Ja h re n d e r neuen
Republik so ziemlich alle Leserschichten. M it „B ild “ w u rd e n die M assen auf
niedrigstem Niveau „informiert“. In der Ö ffen tlich k eit a k z e p tie rte W erte
l • Springer nicht an; je nach K o n ju n k tu r p flic h te te e r ih n e n eher
unter HenU seiner Leserschaft wichtige Techniken, stillschw eigend

Wi£ 8enereU a ' d n e aU' hentiSChe K° m '


es ihm, die absolute M e T r h ^ . Weg“ ta u ch en - In k ü rzester Z eit ^
Stirner“ zuzuführen. Alle ande ^ eUtschen Volkes d e r „ P a rte i v o n M ax

mußten mit ihr koalieren Einsvm h P a rla m e n t P r ä s e n t sein w o llte n ’


• n symbolischer Akt: H ein rich L üb k e, B u n d esp rä-
Die „Zeichen der Zeit“
57

sident von 1959 bis 1969, eröffnete 1966 gleichsam als Repräsentant der Stim­
me des Volkes das neue Springer-Verlagshaus in Berlin.
R udolf A ugstein, 1923 in H annover geboren, war aus anderem Holz ee
schnitzt als der 1912 in Ham burg-Altona geborene Axel Springer. Wie Ratzin-
ger schon von seinem Vater darüber belehrt, daß mit Hitler das Unheil über
Deutschland hereinbrechen würde, hatte auch er klare Prinzipien, allerdings
solche, die sein em Zeitgenossen aus den bayrischen Bergen nicht weniger
fremd waren als der Geist Preußens. Sein Programm stellte in ähnlicher Weise
eine Variante zum „D ictionnaire philosophique“ Voltaires dar, wie das christ­
liche W eltbild im N achkriegsdeutschland an Novalis’ „Die Christenheit oder
E u rop a“ erin n erte. Allerdings w ar Augsteins beißende Ironie so radikal wie
das soeben zu sam m en geb roch ene System totalitär war. Und vor allem: Unter
dem Schutz d er alliierten Befreier konnte er seinen Sarkasmus so ungeniert
verbreiten wie n o ch kein Verleger zuvor. Schon die Besatzungsmächte selbst
bekam en das in D IE S E W O C H E , der Vorgängerin des ab Anfang 1947
erscheinenden D ER SPIEG EL, zu spüren.
A ugsteins H au p tziel d ü rfte gewesen sein, jeden Anflug von angemaßter
Autorität und jedes au ch n o ch so zarte Gewächs sich konzentrierender Macht
bereits im Keim e zu ersticken. D adurch, daß er die Dubiosität jedes auf Wah­
res, Gutes und S ch ön es g erichteten Redens und Handelns herausstrich, noch
bevor es ganz a u sg e sp ro ch e n o d er vollzogen war, trug er jedoch auf seine
Weise zu d er „ D ä m o n ie des gru n dsätzlich en M ißtrauens“ (Th. S. Eliot) bei,
au f die d er S p rin ger-V erlag u n te r anderen Vorzeichen hinsteuerte. Wo jedes
entschieden w erto rien tie rte E ngagem ent in politischen, religiösen oder kultu­
rellen In s titu tio n e n ü b e rh a u p t v o n vorn h erein dem Verdacht auf falschen
Schein au sgesetzt ist, w ird Scheinheiligkeit schließlich auch de facto zum in­
tegrierenden Teil d u rch sch n ittlich en öffentlichen Handelns.
Vor allem d er n eu en „U n io n von T h ro n und Altar“ in der „Adenauer-Ära“
hatte Augstein d en K a m p f angesagt. Schwieriger nachzuvollziehen ist, warum
er au ch n o ch in d en Ja h rz e h n te n d an ach fast zu jedem Hauptfest der C hri­
stenheit einen A rtikel h erau sb rach te, der au f die Unterminierung alles Christ­
lichen zielte. Im m e r w ied er h a t Augstein selbst bzw. W erner Harenberg, sein
F a ch m a n n fü r d iese F ra g e n , d etailliert darzulegen versucht, wie wenig der
C h ristu s des G lau b en s m it d em gem ein h at, was sich historisch über einen
gewissen Jesus v o n N azaret au sm ach en läßt. Sah m an von dem üblichen jour­
nalistischen Beiw erk ab, so k onn te m an diesen Ausführungen im allgemeinen
jed och ein gewisses w issenschaftliches Niveau nicht absprechen.
Z u r B lü tezeit d er D ialektischen Theologie (und während der Fortdauer des
A n tim o d e rn ism u s im k a th o lisch en L ag er) h ätte diese Neuauflage der bereits
v on A lb e rt S ch w eitz e r k a rik ie rte n L e b e n -Je su -F o rsch u n g wenig Aufsehen
lit und Wegscheide - d 'e Tübinger Jahre ( ‘ 9 6 6 - ! 9 6 9 )
Zenit
/y C I» “ -- ------
58
• , n Christen erregt. Nun schien der evangelischen
unter kirchlich ^ ^ k a t h o l i s c h e n Theologie seit dem 1954 vollzogenen
und zunehmend auch ae ßultmann die öffentlich-rationale Ver-
Bruch Käsemanns n u t s e i n e ^ ^ j ^ H g ^ wieder an dje in traditioneller
tretbarkeit der christlichen> Rückfrage nach dem „historischen Jesus“
methodischer Manier e ^ ^ rn ^ St£mgen bewehrte Suche“ (K B anh

gebunden.D a t e * " hrschein]ichkeiten h inauskom m en kann, ist sie als


1960, 104) nicht u Existenz einforderndes Ja zu Jesus Christus
O rientierung für ei Suche« nach dem rek on stru ierbaren „Jesus der

rSSZZ*
Geschichte
* Theologie Augstein aber das R echt a u t E inrede in ih r,
und sjch selbst zur A u seinandersetzung m it jedem

netten als wohlinfotmiert auftte.enden Je s u s -A rtik e l- aus dem H ause Aug-


stein verpflichtet. Für Spezialisten d e , Exegese m o ch te d ,es als em e L ap p ali,
e scheinen Unter den Seelsorgern und erst rech t .m ch ristlich en „Fußvolk“
breitete sich aber das Gefühl aus, daß alles, was m an über Jesus sagen, hören
oder selbst lesen konnte, bestenfalls H albw ahrheiten w aren . Es sch ien sich
nur noch die Wahl anzubieten zwischen einem stillschw eigend p raktizierten
Agnostizismus, einem blinden, fundam entalistischen G lauben o d e r dem Aus­
zug in spirituell attraktivere Form en von W ah rh eit und G eb o rg en h eit. Ohne
Berücksichtigung dieser neuen Situation w ird m an den w eiteren D enkw eg
Ratzingers kaum verstehen können.
In der Konfrontation des Tübinger D ogm atik ers m it d er 1 9 6 8 zu m H ö h e ­
punkt kommenden radikalen Studentenrevolte tra t jen e F rag e n ach ein er zu­
verlässigen Basis für den Glauben an eine letztgültige O ffen b aru n g allerdings
zurück hinter den harten Disput um tragende W erte ü b erh au p t. H ier ist nicht
der O rt, au f das gesamte Spektrum d er „ 6 8 e r B e w e g u n g “ in d e r w estlich en
Hemisphäre einzugehen. Auch die für D eutschland spezifischen A sp ek te ihres
Verlaufs m öchte ich nur insoweit berücksichtigen, als dies z u r K en n zeich n u n g
der Ratzinger als Theologen bedrängenden Ereignisse in T ü b in g en n ö tig ist.
In einem noch näher zu bestim m enden Sinne w ar das D en k en Jo se p h R a t­
zingers in den a u f das Konzil folgenden Jah ren „ u n z e itg e m ä ß “. W ie d ie g r o ­
ßen vor dem Ersten Weltkrieg geborenen M än ner, d en en e r v e rtra u te u n d die
seinen Beitrag zu einer Erneuerung der T heologie freud ig a u fn a h m e n — H an s
Urs von B alth asar (im Z u sam m en h an g m it d e r th éo lo gie n o u v e lle ), zeitw eise
Karl Rahner und eben Kardinal Frings als eine treib en d e K raft b e im n ic h t n u r
a u f das M aterielle b esch rän k ten W ie d e ra u fb a u D e u ts c h la n d s in d e r A d e -
n a u e r-Ä ra , w ar er v o r allem b e m ü h t, die W u n d e n zu h e ile n , d ie d e r „ M o -
dernistenstreit hinterlassen h atte. D ie Schw ierigkeit des V e rsu ch s, ü b e r e in e n
red licheren U m gang m it d er H eiligen S chrift u n d im R ü c k g a n g a u f d ie V ä te r
die Fixieru n g a u f das zu d u rch b rech en , was m a n in R o m als d as b le ib e n d v e r-
Die „Zeichen der Zeit“
59

genug w ahrnahm .
In seiner 1 9 6 4 erschienenen „Theologie der Hoffnung“ zitiert ]ürgen Molt­
mann den letzten Text der „M inim a moralia. Reflexionen aus dem beschädig­
ten L eben“, die T h . W . A d orn o 1 9 4 4 -1 9 4 7 verfaßt und dann 1951, bald nach
seiner R ü ck k eh r aus d em E xil (1 9 4 9 ), veröffentlicht hatte: „Philosophie, wie
sie im A n gesich t d er V erzw eiflung einzig noch zu verantworten ist, wäre der
V ersuch, alle D in g e so zu b e tra c h te n , wie sie vom Standpunkt der Erlösung
aus sich d a rste llte n . [ . . . ] P erspektiven m üßten hergestellt werden, in denen
die W elt äh n lich sich v ersetzt, verfrem det, ihre Risse und Schrunde offenbart,
wie sie e in m a l als b e d ü rftig u n d entstellt im Messianischen Lichte daliegen
wird [ . . . ] “ (M o ltm a n n 1 9 8 5 , 2 6 7 f.). In solchen Sätzen ist dem Entsetzen über
die V erb o rg en h eit G o tte s z u m T ro tz eine neue Form von Hoffnung auch für
diese W elt k a u m w e n ig e r s p ü rb a r als in den Aufzeichnungen Dietrich Bon-
h oeffers w ä h re n d se in e r H a ft, die in den Arbeiten von M oltmann und Metz
ebenfalls zu W o r t k a m e n .
N o c h s tä rk e r b e e in flu ß t w a re n diese A utoren allerdings von der Philoso­
phie E r n s t B lo c h s , d ie b e i allen A nklängen an jüdisch-christliche Messianis­
m en bzw . h u m a n is tis c h e U to p ie n d o ch unverkennbar atheistisch ist. Der in
der je su itisch e n M e ta p h y sik w ie ü ber deren Verm ittlung dann auch im Leib-
n iz -W o lffsch e n R a tio n a lis m u s ü b lich gew ordene Schluß von der „Realmög­
lich k eit“ a u f d ie w irk lic h e E x is te n z absoluten Seins, den trotz der Kantschen
K ritik d ie In n s b r u c k e r L e h re r v o n Jo h . B. M etz n och im m er vertraten49,k a m
im G e w ä n d e e in e r O n to lo g ie des „ N o ch -n ich t-S e in s , das E rn st B loch im
tie fste n G r u n d e d e r M a te r ie als „ P rin z ip H o ffn u n g w alten sah, zu neuen
E h r e n . D ie se V a r ia n te v o n „ R e a lm ö g lich k e it ersetzte die „dialektischen
S p rü n g e “ in d e r E v o lu tio n s le h re des o rth o d o x e n M arxism u s, w ar aber n ich t
w e n ig e r m y t h i s c h als d ie se . D ie p o e tis c h e R h e to rik des Eriedenspreisträgers
des D e u ts c h e n B u c h h a n d e ls v o n 1 9 6 7 k la n g a n g en eh m in den O h ren von
T h e o lo g e n , d ie s ic h z u d ie s e r Z e it m it d er in d en U S A seit 1 9 6 5 Aufsehen er
re g e n d e n „ D e a t h o f G o d T h e o lo g y “ b e fa ß te n .50 E s lä ß t sich nachvollziehen,
, Hp die Tübinger Jahre ( 1 9 6 6 -1 9 6 9 )
60 Zenit und Wegsche.de- d r e i

. •_ Rahmen seiner B onaventura-Studien intensiv


daß Joseph Ratzinger, der ‘ tnjktion eines Joachim von Fiore gearbei-
nicht nur über die Gesciuc Spektrum messiam scher Utopien ana-
tet, sondern darüber hinaus ^ ^ nähere Beschäftigung m it den eklektizi-
lysiert hatte, wenig In te r e S S ,e • t ] jc h e n Eschatologie im Schlepptau von Bloch
stischen Entwürfen einer c ^ ^ Fo/^ u der theologischen Bloch-Rezep-
aufbrachtc. Die ®eschaJ J l? in höchst unliebsamer Form aufgezwungen,
tion wurde
wurde ihm dann ab ^ ^der U niversität T ü b in g en .51 1967
Universität 1 9 6 7 wur
wurde
Seit 1961 lehrte 1■ Lehrstuhl für systematische T heologie der evange-
Jürgen Moltmann ^ Tübingen 5 erufen. In dieser Z eit begann sich
hsch-theologts d£r BundesrepubHk aufs Äußerste zuzuspitzen. Ende
die politische Situa zwischen der C D U /C S U u nd der SPD

unter'ftirt-G eorg Kiesinger gekom m en, dem seine M itg lied sch aft in der
NSDAP und Tätigkeit im Reichsaußenm inisterium vorgew orfen wurden. In
der damals gegründeten A (u ß e r)P (a rla m e n ta ris c h e n )0 (p p o s itio n ) ü ber­
nahm Rudi Dutschke, der „Cheftheoretiker“ der deutschen Studentenrevolte,
die Führung Am 2. Juni 1967 wurde der Student B en n o O h n eso rg bei einer
Demonstration gegen den Besuch des persischen Schahs ersch ossen . Anfang
Februar 1968 lernten sich Ernst Bloch und Rudi D utschke a u f ein er Tagung
der Evangelischen Akademie Bad Boll in der N ähe von T üb in gen persönlich
kennen. Schon bald entwickelte sich eine enge V erbu n d enh eit zw ischen bei­
den. Blochs Privatwohnung glich einer W erkstatt, in d er A rtikel verfaßt, M a­
nuskripte redigiert und Vertreter der öffentlichen M ed ien em p fan g en w u r­
den. Am 11. April 1968 wurde Dutschke von ein em H ilfsa rb e ite r n ied erge­
schossen und lebensgefährlich verletzt, dem m an z u m in d est Sym p ath ien für
den Springer-Verlag nachweisen konnte. U n te r A u sn u tz u n g d e r H itze der
darauf folgenden Protestkundgebungen beschloß d er B u n d estag am 3 0 . Mai
1968 (trotz einer erheblichen Zahl von G eg en stim m en a u ch aus d e r K oali­
tion) die „Notstandsgesetze“.
Joseph Ratzinger wird sich angesichts des radikalen V orgehens von Studie­
renden daran erinnert haben, welche M ü he sein V ater als G e n d a rm Anfang
der dreißiger Jahre hatte, der von Nazis ausgeübten G ew alttätigkeiten H err zu
werden. Die nicht vorwiegend u topisch A u fgelad en en , s o n d e r n v o r allem
politisch Engagierten unter den revoltierenden S tu d ieren d en d a c h te n in der
Mehrzahl wohl ebenfalls - wenn auch u n ter a n d eren V o rz e ich e n — an jene
Zeit vor der M achtübernahm e durch Hitler, als die p a rla m e n ta ris c h e D e m o ­
kratie versagt hatte. Bei aller K om plexität ih rer M o tiv e d ü rfte ih r H a u p tziel
darin bestanden haben, diesmal n och rechtzeitig v o r ein em zw eiten „ 2 0 . Juli“
den drohenden Gefahren eines „Vierten Reiches“ zu b egegnen .
In dieser überreizten Situation w ar es für die „ K o m b a tta n te n “ n a h e z u un-
Die „Zeichen der Zeit“
61

möglich’ die sie leitenden Motive auseinanderzuhalten, z.B. zu dtfferenzieren


was alles; ssich
ic h " V ' „Marxismus“ verbarg.
u nter dem Stichwort veroarg. Zumindest
Zumindest auf
auf der
der
Phene im
politischen Ebene im engeren
engeren Sinn
Sinn gab
eab es
es nntpr . berechtigte
unter diesem Titel eine
Kritik: N ach d em die SPD ihre m arxistische Hypothek von sich geworfen
hatte, lag es nahe, die Problem e zur Zeit der Großen Koalition dem mangeln­
den Interesse an d em Erbe des wahren Sozialismus zuzuschreiben Man
brauchte nur Erzeugnisse der Springer-Presse zu zitieren, um diesen Verdacht
hinreichend zu legitim ieren. Der theologisch rezipierte Blochsche Salonmar-
xismus w urde - w enn au ch im Stillen spöttisch belächelt - aus Gründen der
Effektivität w illkom m en geheißen, was den Politischen Theologen wiederum
das Gefühl g esellsch aftlich er Unentbehrlichkeit gab. Jean-Paul Sartre fand
nach seiner Abkehr v o m Kom m unism us sta tistisch e r Prägung durch Unter­
stützung der revoltierenden Studierenden (bis hin zur RAF) eine willkomme­
ne G elegenheit,, seine
ötuiv w ahre Gesinnung o als Atheist
ivuvwi noch ceinmal
i i i i i i d i unter
unier Beweis
d c w c is

ZU bellen
Stellen. D as V o rg eh en d eerr U SA in V ietnam führte weltweit zu Pro Protesten,
(a u ß e rh a lb d
aber (autoernaiu u ecir nuuuuuiuouowu
k o m m u n istisch ‘regierten oder beeinflußten
" 6 ,UIU1 ^UC1 uccuiuuwen Länder)
Lanaer)
m W. n u r in d er B u n d esrep u b lik zu dem Kurzschluß, daß der Vietcong
Vietcons zum
Heile Indochinas berufen sei.
W enn sch o n fü tu r died ie R K ev
evo o ltieren
itierendaenen selbst
seiost die
aie eigenen Motive undurch undurch­
schaubar„ „gew
m .fp rä c T i w aa rre
orden e nn , d an
ann k a n n m an
n kann a n erst
e rst recht
re c h t Pauschalisierungen
P an srh alisip ru n o p n au
auf
Seiten d erer versteh en , die hier die totale Anarchie auf sich zukommen sahen.
Die F ro n te n , d ie sich d a m a ls bild eten , blieben vor allem in der katholischen
Theologie w irk sam - u n d w u rd en d urch innerkirchliche Polarisierungen aus
Gründen v erstärk t, a u f die im nächsten Kapitel einzugehen ist.
Siebtes Kapitel:
Ein Versuch, Atem zu holen - Regensburg
(1 9 6 9 -1 9 7 7 )

Schon bei der Gründung der neuen Universität in Regensburg (1 9 6 7 ) hatte


man Ratzinger als Vertreter der Dogmatik gewinnen wollen. Erst 1969, nach
der Errichtung eines zweiten Lehrstuhls für diese Disziplin, sagte er zu - in
der Hoffnung, seine „Theologie in einem weniger aufregenden Kontext [als
zu dieser Zeit in Tübingen] weiterentwickeln“ zu können (1 9 9 8 a, 153). Dort
konnte er 1977 endlich (im Rahmen des gem einsam m it J. Auer herausgege­
benen „kurzgefaßten Lehrbuchs für Theologen“) seine Eschatologie veröffent­
lichen, die im Zentrum des zweiten Teils dieses Kapitels stehen wird. W äh­
rend seiner Lehrtätigkeit in Regensburg ließ er sich aber auch in zunehmen­
dem Maße von jenem Prozeß innerkirchlicher P o larisieru n g in Anspruch
nehmen, in dem die Kirche innerhalb weniger Jah rzeh n te das Ansehen vor
der Weltöffentlichkeit wieder verlor, das sie m ühsam au f dem Zweiten Vatika­
nischen Konzil gewonnen hatte.

Die Auseinandersetzung mit Hans Küng

Die wohl entscheidende Zuspitzung dieser Tragödie ereignete sich gerade in


der Regensburger Zeit - in dem heftigen D isput um zwei die Öffentlichkeit
mobilisierende Bücher von Hans Küng: „U nfehlbar?“ (1 9 7 0 ) und „Christ
sein (1974). Bei unserer Frage nach der Entwicklung des D enkens von Joseph
Ratzmger wird es nur um den Beitrag gehen, den er als Fachkollege sozusagen
auf gleicher Augenhöhe mit Küng zu diesem D isput geleistet h at. Im Zu-
sammenhang seinei Handlungen als Verwalter des A p ostelam tes - zunächst
als Erzbischof von München und dann als Präfekt d er K o n g reg atio n für die
au enslehre kommen Momente mit ins Spiel, die n ich t oh ne weiteres sei-

t ™ r ? nken zuzuschreiben sind. N och w eniger kann der em o-


sein Denken « h h f k Semer lan^ ähri8en Freundschaft m it Küng auf
den letzten P§ V m a8, hier erö rtert werden. G erade was diese bei-
S t o S S ' H T ? ' ' darf man ab" TOhl “ R- h - H o ffn u n g d"
Tatsache schöpfen, daß Paps, Benedikt XV I. schon in, ersten H albjahr seines
Die Auseinandersetzung mit Hans Küng
63

Pontifikats den einstigen Weggefährten zu einem langen Gespräch nach Cas


telgandolfo eingeladen hat. Zugleich sollte man dieser Begegnung aber auch
die Mahnung entnehm en, nun die Bitterkeit zu verbannen, die sich in die
Herzen so vieler an dem genannten Erosionsprozeß Beteiligter eingefressen
hat.

„Unfehlbar?“

Hans Küng hatte seine die Unfehlbarkeit des Papstes betreffende „Anfrage“
unmittelbar mit der am 25. Juli 1968 promulgierten Enzyklika Pauls VI. „Hu-
manae vitae“ verbunden. Mit diesem wohlüberlegten Frontalangriff auf ver­
krustete Strukturen der „Amtskirche“ konnte er auf den brausenden Applaus
einer breiten Öffentlichkeit rechnen. Auch zahlreiche andere Theologen und
viele Bischöfe waren unzufrieden mit dem Verhalten Pauls VI. auf dem Konzil
und nun entsetzt über die Art und Weise, wie dieser Papst, das Votum der von
ihm selbst eingesetzten Beratungskommission und die gereizte Atmosphäre
in der westlichen Welt mißachtend, zur komplexen Frage der Geburtenkon­
trolle Stellung nahm . Einen M onat nach Erscheinen der Enzyklika hatten die
deutschen Bischöfe in ihrer „Königsteiner Erklärung“ vom 30. August 1968 die
Sachfragen vorläufig au f Eis gelegt, weitere Gespräche darüber aber in Aus­
sicht gestellt. Was die sich nun neu erhebenden seelsorglichen Schwierigkei­
ten anging, bezogen sie jedoch eine klare Stellung: „Wer glaubt, in seiner pri­
vaten T heorie und Praxis von einer nicht unfehlbaren Lehre des kirchlichen
Am tes abweichen zu dürfen - ein solcher Fall ist grundsätzlich denkbar - ,
muß sich nüch tern und selbstkritisch in seinem Gewissen fragen, ob er dies
vor G ott verantw orten kann“ (Nr. 3). W arum verknüpfte Küng ein nicht als
unfehlbar ausgegebenes W ort des Papstes mit der Frage nach der päpstlichen
Unfehlbarkeit? Inwieweit hätte er die Folgen seines Schritts voraussehen kön­
nen?
Man wird Küng zugute halten müssen, daß er nach neunjährigem Studium
an der G regoriană und intim er Kenntnis römischer Taktiken und Praktiken
eine R ückkehr zu vorkonziliaren Zuständen befürchtete. Vielleicht hielt er
nun den Augenblick für gekommen, keine devoten Verbeugungen vor den
„alten H erren im Vatikan“ m ehr zu machen, sondern mit Macht auf eine die
K onzilsarbeit w eiterführende Lösung der anstehenden Fragen zu drängen,
nötigenfalls am Papst vorbei - etwa im Sinne einer gemäßigten konziliaristi
sehen Theorie, die er schon in „Strukturen der Kirche (1962) und dann wie
der in „Die K irche“ (1 9 6 7 ) vertreten hatte. War ihm aber wirklich nicht be-
wußt, daß er m it zunehmender Inanspruchnahme der ihn bald wie e^ne^ *ar
hofierenden M edien aus dem von ihm in Frage gestellten Umfeld geistlicher
holen - Regensburg (1 9 6 9 -1 9 7 7 )
Ein Versuch, Atem zu
64
• noch weitaus gefährlicheren M achtbereich hinüberwech-
Macht nur in einen hristlichen Glauben, sondern dem Fragen nach
selte, der nicht nur fremder gegenüberstand als n och so hartge-

sottene J
n irh t ahnen, daß er damit drängende Fragen der Kirche vor
der Kontrove™ Fernsehen auslieferte, das differenzierten Beiträgen zu
Natur aus abgeneigt ist und angesichts des rückläufR
e„ nteressesfü,den Streit um d ie,,68er nun geradezu „ach etnetn neuen
Schlachtfeld lechzte - und dank proftlierungssucht tger T heologen » o „ Unk,
und rechts auch fand? Nachdem die N eurotisierung der Ö ffentlichkeit h in­
sichtlich einer „bis ins Schafzimmer anständiger C hristin n en und C hristen
ausgreifenden päpstlichen Autorität“ einmal in Gang gesetzt war, ist es nicht
verwunderlich, daß nun in Rom die Tür für dringend n otw endige klärende
Gespräche zufiel, und bis zu einem gewissen Grade auch verständlich, warum
unter einem Papst von der Statur Johannes Pauls II. die „Pillenfrage“ gerade­
zu einen Spitzenplatz in der „Hierarchie der W ahrheiten“ erob erte52.
Ratzingers Kritik an Küngs Buch „Unfehlbar?“ findet sich in einer von Karl
Rahner herausgegebenen „Quaestio disputata“, die schon im Titel zum Aus­
druck bringt, daß Küng ein in der Tat bestehendes P rob lem an gesprochen
hatte. Dies bestätigen auch alle Beiträge der angesehenen T heologen, die hier
das Wort ergreifen, während sie, was die Schärfe ihrer Stellungnahm en Küng
gegenüber angeht, erheblich voneinander abweichen. Ratzinger selbst bem än­
gelt in seinem Aufsatz - neben der „m ilitan te(n ) S p rach e, die a u f weite
Strecken hin eher das Klima des Klassenkampfes als d er w issensch aftlich en
Analyse oder gar des ‘Fühlens m it der K irche’ a tm e t“ (1 9 7 1 , 9 8 ) - v o r allem
die vielen Widersprüche in Küngs Buch, die er recht detailliert behandelt.
Der Regensburger Dogmatiker räum t zwar zunäch st ein: „K ü n g zeigt hier
durchaus überzeugend, daß von dem au sgesprochen ‘rö m is c h e n ’ Typ von
Theologie her [ ...] die Aussagen der Enzyklika [H u m a n a e vitae] als sachlich
unfehlbar und einem Dogma gleichrangig zu betrach ten sind. M an m u ß ihm
auch noch zustimmen, wenn er fortfäh rt, dies sei ‘die rö m is c h e , w en n v iel­
leicht auch nicht ohne weiteres katholische Lehre [ . . . ] ’“ (e b d . 1 0 2 f .) . „Aus
em Gefängnis des römischen Schultypus h erau szu k o m m en , ist ein e A ufga-
F b °n uu aUC na^ l me‘ner Überzeugung die Ü berleben sch an ce des K atho-
abf “ S' (ebd; ,05>- Mi. N achdruck b e to n . R a tz in g e r d a n n je d o ch ,
da« t a g trotz setner Versicherung, ein „überzeugte, k a ,h o l,sch e r T h e o lo g e “
imbew t D “T A rgu m en t«™ außerhalb des Rahmens der Katholi-
se“ s a h T i“ T U° ! *“ der F' d« Fachkollegen, der erst
den wird, wirkt befandend"“' beS0”derer klrChlKhcr Mirvollmacht beklei-
Die Auseinandersetzung m it Hans Küng
65

Einen zentralen - und von fast allen Teilnehmern an der von Rahner her­
ausgegebenen „Q uaestio disputata“ reflektierten - Punkt stellt die von Küng
in den Vordergrund gerückte Problematik der geschichtlichen Relativität der
Wahrheit v o n Sätzen für die Behauptung der Unfehlbarkeit von Dogmen dar.
Ratzinger b e to n t die „Beständigkeit und [ ...] wesentliche Unüberholbarkeit“
des D o g m a s . D a s bedeute zwar nicht, „daß das Dogma außerhalb der
m e n s c h lic h e n S prache, ihrer notwendigen Vermitteltheit und Begrenztheit
steht [u n d ] n ic h t etw a erw eiterungsfähig, tiefer verstehbar und so auch
s p r a c h lic h besser zu fassen ist. Aber es bedeutet, daß das Dogma in seiner
d u rch alle D e fe k te der m enschlichen Sprache hindurch erkennbaren Grund­
a u sric h tu n g w a h r ist, weil au f die W ahrheit - Jesus Christus - verweisend und
d aß es d a h e r an der Beständigkeit der W ahrheit teilhat“ (ebd. 115).
Diese Feststellu n g greift zu kurz. Den „Verweis auf die Wahrheit - Jesus
C hristu s“ h at eine o rth o d o x e Aussage doch m it jeder Häresie gemeinsam.
Ratzinger präzisiert dann zwar am Schluß seines Beitrags: Kein Dogma ist ein
isolierter Satz. „Vielm ehr ist jedes D ogm a bezogen auf die Sinneinheit des Be­
kenntnisses, als A uslegung u nd Präzisieru ng dieses Ganzen [ . . . ] . Das Be­
kenntnis sein erseits ist b ezogen a u f den Akt des Bekennens als lebendigen
m enschlichen Vollzug, d urch den sich der Mensch ins Ganze der Glaubensge­
m einschaft u nd m it ih r a u f den W eg zu G ott begibt“ (ebd. 116). Auch diese
doppelte „B ezogenh eit“ untersch eid et ein katholisches Dogma aber nicht von
(als h äretisch g elten d en ) Lehraussagen anderer Kirchen und kirchlicher Ge­
m ein sch aften , die das G lau b en sb ek en n tn is von N icäa und Konstantinopel
ebenfalls als verbindlich ansehen.
Die B e to n u n g des Z u sa m m e n h a n g s zw ischen dem (wie das Dogm a satz-
h a ft-p ro p o sitio n a l) fo rm u lie rte n B ekenntnis und dem lebendig vollzogenen
B ekennen (in sein em „sp rach p rag m atisch en “ Charakter) ist zwar ein wertvol­
ler W egw eiser fü r die In a n g riffn a h m e der auch nach Ratzinger „notwendi­
g e ^ ) u nd n o ch w eith in o ffe n e (n ) Aufgabe“, die „doppelte Relation der ein­
zelnen F o rm e l a u f das G an ze des Bekenntnisses und des Bekenntnisses als
Akt zu a n a ly sie re n “ (e b d . 1 1 6 ): K irch lich es Reden ist solange überzeugend,
wie es im E in klan g steh t m it der K raft des Zeugnisses, in dem Kirche als „Leib
C h risti“ tra n s p a re n t w ird . V on sein em Verhältnis zu dieser die W ahrheit Jesu
C h risti z u r b e stä n d ig e n G eg en w art b rin g en d en traditio ist der eigentliche
Sinn d er in L eh rsätzen festg eh alten en T rad ition im m er wieder neu zu erfra­
gen. D iese A u fgab e k a n n ab er d o ch n u r in ein em geduldigen G espräch m it­
ein an d er b ew ältigt w erd en . G erad e im Blick d arau f w irkt der Schlußsatz von
R atzin g ers B e itra g b e d e n k lich : „D ie stark en W o rte u n d die k äm p ferischen
G eb ärd en von K ü n gs B u ch m ö g e n dazu eine H erausford eru ng sein, sie selber
ersch ein en b ei w a ch e m Z u h ö re n d o ch n u r wie ein D on n er, dessen H au p tstär-
„ Ein Versuch, Atem zu holen - « eg en sb u re (1 9 S 9 - 1 9 7 7 )
00

■ ,• , AaR er w eithin v e rn e h m b a r is t“ (e b d .). R a tz in g e r h a tte sch o n


ke d an n liegt, da „ U n fe h lb ar?“ d as n o c h g lim m e n d e FeUer

W ™ » “ “ >'• « > ' ' -ber nicht'


“ e T Jw n .i t solch p o lem isch e, Spruche zu d ie se m u n g lü c k se lig e n P ,MeE

beitrug?

Hans Küng beginnt seinen 1974 publizierten Versuch, das „Wesen des C hri­
stentums“ auf eine völlig neue Weise darzustellen, m it ein er U m schreibung
des Adressatenkreises: „Dieses Buch ist geschrieben für alle, die sich, aus wel­
chen Gründen auch immer, ehrlich und au frichtig in fo rm ieren w ollen, um
was es im Christentum, im Christsein eigentlich geht. [ . . . ] Es ist also ge­
schrieben für Christen und Atheisten, G nostiker und A gn ostiker, Pietisten
und Positivisten, laue und eifrige Katholiken, P ro testan ten und O rth o d o xe“
(H. Küng 1974, 11). Der Autor verfaßt dieses W erk also n ich t p rim ä r als
Zeuge für den Glauben an Jesus C hristus, so n d ern als In fo rm a n t eines sehr
weit gefaßten Leserkreises.
Joseph Ratzinger hatte 1975 zunächst in ein er R ezension zu Küngs Buch
Stellung genommen, ergriff ein Jah r später ab er n o ch ein m al das W o rt in
einem von elf Theologen verfaßten Sam m elban d ( 1 9 7 6 , 7 - 1 8 ) . In den von
diesem Sammelband ausgelösten Reaktionen kam der öffentliche D isput um
Hans Küng zu einem ersten Siedepunkt.53 Ich m ö ch te im F o lg en d en erstens
Ratzingers Frage nach dem eigentlichen A d ressaten des B u ch s d a m it ver­
gleichbaren Äußerungen Karl Lehm anns (1 9 7 6 , 1 1 2 - 1 2 1 ) gegenüberstellen
und zweitens ausführlicher a u f seine sch arfe K ritik am m e th o d is c h e n V or­
gehen Küngs eingehen.
(1) Karl Lehmann hebt ausdrücklich die positive A u sstrah lu n g von Küngs
Werk auf eine breite Leserschaft h erv o r: „Es b esteh t kein Zw eifel, daß
H. Küng mit diesem Buch viele M enschen aus ih rer R eserve z u m ü b e rk o m ­
menen Christentum herauslocken und vielleicht n ach vielen Jah ren d er E n t­
fremdung zum erstenmal wieder dem Geist des C h riste n tu m s n äh erb rin g en
konnte. Jeder Buchhändler einer m ittleren o d e r g rö ß e re n S ta d t k a n n d afü r
etc t einzelne Beispiele erzählen. [ . . . ] M it dieser A b sich t h a t H . K ü n g auch

^ H]6 u enSC^en erre'cht> die sich für den ch ristlichen G laub en interessie­
ren als herkommhcherweise unter dem Stichw ort ö k u m e n is c h ’ e rfa ß t wird.

das C b ristb r^ ' ° r^ ° n|’ dem H ' Kün8 in seinem B u ch an setzt, verd ich tet
w /h r t a f t k „i c i f üergJ h 1“ d len kO "fe “ i°n e!len E n g stirn ig k e ite n , die ja
w ahrhaft,g n ,e h , alle aus Ltebe zu r W ah rh eit g e b o re n s in d “ (K . L eh tn an n
Die Auseinandersetzung mit Hans Küng 67

Lehm anns Ausführungen zufolge sind (an „Christ sein" gut verdienende)
Buchhändler in der Lage festzustellen, daß Küng dem überkommenen Chri­
stentum entfrem dete Menschen dem „Geist des Christentums“ wieder „nä­
herbringen konnte . Der ökumenische Erfolg lasse sich daran erkennen, daß
Küng viele M enschen, die sich für den christlichen Glauben interessieren, er­
reicht hat. Der weite H orizont des Buchs „verdichte das Christliche“. Ratzin-
ger setzt andere Akzente. Ihn befremdet „das Gefühl der Bestätigung, das der
Leser am Ende des Buches empfinden wird. Ihm wird nichts zugemutet, was
die Plausibilität seiner Lebens- und Denkgewohnheiten stören würde“
( 1 9 7 5 a, 335). Am Ende seines zweiten Beitrags fragt Ratzinger sich selbst: „Ist
es eigentlich recht, m it vollen Breitseiten auf ein Buch zu schießen, das in sei­
ner Anlage so positiv ist und so vielen Menschen wieder Zugang zu christ­
licher Wirklichkeit ersch ließt?“ (1976,17). „Sollte man nicht [ ...] froh sein
über die Präkatechese[54], die hier in den weiten Raum der kirchlich nahezu
unerreichbaren Pagani [Heiden] der Gegenwart ausstrahlt? Kann man in die­
sem Bereich überhaupt m eh r als zunächst einmal Sympathie für den M en­
schen Jesus wecken, an sein tieferes Geheimnis vorsichtig heranfuhren und so
Bereitschaft zum C hristsein in einer zunächst noch sehr weiträumigen Form
schaffen [ . . . ] ? “ (ebd. 17 f.). R atzinger räu m t ein, daß Küngs Buch in der Tat
„eine großartige P räk atech ese in der guten Tradition der alten ‘Apologeten’
sein { k ö n n t e ) “ (ebd. 18). Aber das W erk sei ja eben nicht nur als eine „Summe |
für die H eid en “ in ten d iert, sondern solle zugleich eine „Summe der Theolo­
gie“ sein. „M it an deren W o rten : Das, was m an den ‘Heiden nicht sagen kann,)
das kann man diesem A nsatz nach überhaupt nicht sagen. Wo aber die Sag-
b arkeit zu den ‘H eid en ’ (die ‘Plausibilität’) zum Leitm aß der Theologie und
des G laub en s ü b e rh a u p t w ird, da sagt m an auch den ‘Heiden’ nicht mehr^
genug u n d n ich t m e h r das R ich tige“ (ebd. 1 8). Erst wenn - wie in der alten
Kirche — sch on in der Phase einer vorläufigen Hinführung klar würde, daß sie
nur die V orbereitung au f den Zeitpunkt einer endgültigen, im Taufbekenntnis
zu bekräftigenden Entscheidung darstellt, hätte die „Präkatechese ihr Ziel er­
reich t u n d w äre der W eg zum eigentlichen Sinn von „Christ sein nicht ver­
sp errt.
(2 ) D a m it k o m m t nun die zw eite, w ichtigere Frage nach dem m eth o d i­
sch en V orgeh en K üngs ins Spiel. Bereits in den vorigen Kapiteln habe ich zu
zeigen versu ch t, wie R atzinger in jeder Phase seines Schaffens die Frage nach
d em Verhältnis von E xegese u n d D ogm a m it je neuem Elan angeht. Im Disput
m it W a lte r K asp er k o n n te er sich n o ch d arau f b esch rän ken , die seit dem
W ied erau fg reifen d er R ückfrage n ach dem „historischen ]esus d urch Käse­
m an n en tstan d en e n eue Problem lage in groben U m rissen zu skizzieren. Nun
ab er h a tte H an s K ü n g diese R ückfrage zu r entscheidenden Grundlage seiner
holen - Regensburg ( 1 9 6 9 - 1 9 7 7 )
Ein Versuch, Atem zu
68
, • rht Auch er wollte zwar nicht m ehr wie die „Leben-Jesu-F0 r_
The° ! ° gle gT d e s letzten Jahrhunderts eine Jesu s-B iograph ie an die
scher bis zum g gmas setzen, sondern nur die Kontinuität zwi-
Stelle des chns und ^ in d er K irch e zu verkünde
sehen
sehen dem his on ^ kritischer W issenschaft verantw orten. De facto
Christus ______________ ___________ _
dabri aber doch die gesamte christliche Tradition in das Prokrustesbett
r t t o r ä « » Fakten“
™ " gezwängt,
S ' « ü dien Küng n ta ü p & n g an
g (in A nknüpfung an die
die zur
zur Zeit
z *
d o n S r e n d e n Lehrmeinungen) rek o m tn u erte nnd (n , M enschen von heute

^ K to T sta n d m it dem von ihm gew ählten V erfah ren n ic h t allein , sondern
schrieb in einem sich schnell erw eiternden U m feld , in d em z u n ä ch st in den
Niederlanden dozierende T heologen wie E d w ard S ch illeb eeck x u nd Piet
Schoonenberg den Ton angaben. A ber er ging rad ik aler v o r als die anderen -
und keiner sonst hatte so deutlich gesagt, d aß alle v o n d e r offiziellen Kirche
proklam ierten „Lehrsätze“ ein er stän d igen k ritisch e n Ü b e rp rü fu n g offen­
stehen. Von daher wird zu einem guten Teil die S chärfe v e rstä n d lich , m it der
Ratzinger gerade gegen Küng vorgeht: „D en K ern des B uch es bildet seine aus­
führliche Darstellung der Gestalt Jesu. Die K ehre des th e o lo g isch e n Denkens,
e r h ™ dem Holländischen K atech ism u s[55] zu g ru n d e lag, ist h ier nun mit
aller Entschiedenheit vollzogen: A lles, w as seit S ch w eitzer, B a rth u n d B u lt­
m ann gegen den ‘historisch en Jesu s’ als th e o lo g is c h e In sta n z g esagt w orden
war, ist radikal entschw unden“ (1 9 7 5 , 3 5 5 ) . „W eil K ü n g das P rin z ip ‘D ogm a’
ablehnt, m uß er n atü rlich a u ch das U rm o d e ll v o n D o g m a , n ä m lich den
Kanon als Kanon im th eo lo g isch en S in n , a b le h n e n u n d k a n n ih n n u r n o ch
[ ...] als die Gruppe von Schriften, die sich h isto risch u n d in ih rer erbaulichen
W irkung als die beste erwiesen h at (a n e rk e n n e n ) ( 1 9 7 6 a , 1 0 ). „D as bedeutet,
daß im inhaltlichen Bereich des G laubens d er G e le h rte an d ie Stelle des P rie­
sters tritt und zur alleinigen V ergew isseru n gsin stan z w ird ; sein e A u to ritä t ist
es, die das Gesagte deckt. [ . . . ] D e r h is to ris c h e Jesu s - e in e ‘R e k o n stru k tio n
also [ . . . ] - wird zum eigentlichen M aß stab des C h ristse in s [ . . . ] ; zu ih m aber
h ält d er H isto rik er (o d e r w er sich d a fü r a n s ie h t) d e n S ch lü sse l in H ä n d e n
(ebd., 1 0 f . ) . 56
M it seiner Andeutung der aus Küngs A nsatz folgen d en K o n seq u en z, daß
die „Schlüsselgewalt“ über den M aßstab für w ahres C h ristse in n u n in die
H ände des den wirklichen Jesus der G eschichte rek onstruieren d en Gelehrten
übergehe, sollte Ratzinger leider in einer Weise recht b ek om m en , die weder er
n och Küng selbst vorausgeahnt haben d ü rften . In sein er „G e sch ich te der
Leben-Jesu-Forschung schreibt Albert Schweitzer über das v on E rn est Renan
1 8 6 3 verfaßte „Leben Jesu“: „Das erste L eb en -Jesu fü r die k a th o lisch e W elt!
[ . . . ] U n d es w ar n ich t bloß ein Ereignis fü r die k a th o lisch e W elt: Renans
Die Auseinandersetzung mit Hans Küng

Leben-Jesu bedeutete ein Ereignis in der Weltliteratur“ (A. Schweitzer 1979

). W ie sich u m R enan eine Vielzahl gebildeter Randsiedler des Katholi’


2 0 8

zism us sch arte, so w urde auch Hans Küng sehr bald zum obersten Hirten
einer G em einde von Intellektuellen, dte nach einer zuverlässigeren Auskunft
über Jesus und seine Botschaft suchten, als das dogmatische Petrefakt Christ
licher Glaubenslehre zu bieten schien.
ner --------------
Aber im laizistisch gewordenen Frankreich zur Zeit Renans hatte es keinen
R ud olf A ugstein gegeben. Die Gebildeten und Halbgebildeten, die sich für
Küngs In te rp re ta tio n ch ristlich er Existenz begeisterten, zählten großenteils
, zu den trpiipsten
auch treu esten K K onsum
onsum enten
enten des
des „SnWpl“ j.
„Spiegel“. Augstein dürfte in Küngs
C h rist sein “ eine w illk om m en e C hance für sein von ihm schon lange ver­
folgtes an tik irch lich es P rojek t erkannt haben. Was er als Wahrheit über den
historischen Jesus in pseudowissenschaftlicher Manier ausbreitete, war unver­
ein b ar m it d e m , w as K ü n g im Einklang m it der dominierenden neutesta-
m entlichen F o rsch u n g b ehauptete. W em sollte man Glauben schenken? Oder
besser: W essen M e in u n g sollte m an in einer Sache teilen, in der sich nur die
Spezialisten d er Schriftexegese auskannten?
K aum ein Jah rz e h n t n ach „C hrist sein“ war auch die Frage nach dem wah­
ren Jesus d er h is to ris c h e n K ritik für die Randsiedler der Kirche obsolet ge­
w o rd en . D ie T o re A u g stein s öffneten sich weit für einen neuen Hirten, der
sow ohl d en C h ris tu s des D o g m as wie auch das klägliche Skelett des „histori­
sch en Jesu s“ b e ise ite sch o b u n d in der Heiligen Schrift den besten Beweis
d afür fan d , w ie re c h t die alten M ythen der verschiedensten Religionen schon
im m er geh abt h a tte n . W e m au ch Eugen Drewermann, dem heiß umschwärm­
ten G u ru w a h re r L ie b e 57, n o c h zu wenig Seelenspeise bot, der fand auf dem
im m e r ü p p ig e r g e d eck ten T isch n euer religiöser Bewegungen ein reiches An­
geb ot a ttra k tiv e r S p iritu a litä t. A ber auch die Leben-Jesu-Literatur erlebt seit
d em E n d e des 2 0 . Jah rh u n d erts einen neuen Boom . Phantasiebegabte Forscher
p ro fitie re n je tz t z w a r v o n d en m ethod isch en Vorgaben der durch Käsemann
e in g eleiteten „ N e u e n S u c h e “. R adikaler n och als die ersten, an Reimarus an­
k n ü p fe n d e n P r o ta g o n is te n lassen sie jed och auch (aus wissensc a ic e
R e d lich k e it u n d /o d e r m a rk tw irtsch a ftlich e n Gründen?) den a p o 'ry p en
S ch riften gleich es R e c h t an gedeihen wie den für den kirchlichen anon „aus­

s o rtie rte n “ Q u ellen .


Ein Versuch, Atem zu holen - R egensburg ( 1 9 6 9 - 1 9 7 7 )
70

„ E s c h a to lo g ie - Tod und ewiges Leben“

Abgrenzung von Utopia

1976 konnte Joseph Ratzinger endlich seine „E sch a to lo g ie “ vollenden s8


Hauptziel dieses Buches ist die Suche nach der rech ten M itte zwischen zwei
immer wieder anzutreffenden Extrem en: a u f der einen Seite der Erwartung
einer rein innerweltlichen Vollendung der G esam tgeschichte, a u f der anderen
Seite der Verengung des dogmatischen Traktats „Ü b er die letzten Dinge“ auf
die Frage nach dem individuellen Seelenheil. W ie häufig in seinen Vorlesun­
gen und Vorträgen bemüht sich Ratzinger au ch hier, seine Vermittlung zwi­
schen unvereinbar erscheinenden Positionen d urch Verweise auf aktuell zu­
tage tretende Gestalten solcher E xtrem e an sch au lich zu machen. D adurch
läuft er natürlich Gefahr, daß Vertreter der von ihm als extrem charakterisier­
ten Positionen sich an überspitzten Form ulieru n gen stoß en und die in lang­
jähriger Arbeit erbrachte Leistung des hier vorgelegten W erks übersehen . 59
In die Richtung des ersten E xtrem s weisen R atzin g er zufolge die damals
dominierenden Neuansätze zu r E sch atologie. „D ie n eu e W elt zu schaffen -
das ist die Aufgabe, die nun alle Kräfte an sich zieh t. Die alte Eschatologie
wird dabei unter dem Etikett ‘Seelenheil’ in die E ck e d er V ergangen h eit ge­
drängt; sie scheint kein Beitrag zur ‘P raxis’ ein er n euen Z eit zu sein “ (1 9 7 7 a ,
27). „Der Paukenschlag, der die W ende [g eg en ü b er B u ltm a n n s form aler
Eschatologie der Entscheidung] ankündigte, w ar M o ltm a n n s 1 9 6 4 erschiene­
ne ‘Theologie der Hoffnung’, der alsbald M etz m it sein em P ro g ra m m der
Politischen Theologie folgte“ (ebd. 5 8 ). „D as n eu e P ro g ra m m [ . . . ] hieß,
Christentum als Weltveränderung vom M aßstab d er H offn u n g h er zu prakti­
zieren. Die Fackel, die so den Tatsachen v o ra n g e tra g e n w u rd e , zündete
schnell. Sie wurde zu Politischer Theologie, zu T h eo lo g ie d e r R ev o lu tio n , zu
Theologie der Befreiung, zu schw arzer T h e o lo g ie “ (e b d .). D e r B e g riff des
„Reiches Gottes“ eigne sich aber nicht für einen solch en M aß stab . „D ie H er­
beiführung des Reiches Gottes ist kein p o litisch e r P ro z e ß , u n d w o sie d e n ­
noch als solcher gefaßt wird [ . . . ] , entstehen falsche M essian ism en , die ihrem
I CSCj na„C u " * ZU Totalitarism en w erden“ (eb d . 5 9 ). Bei „ e in e r U m w a n d ­
ung der Eschatologie in politische Utopie*» [w ird] die ch ris tlic h e H offn u n g
depotenziert und „das M ysterium des R eiches G o ttes z u r R e ch tfe rtig u n g

d e W iCk r [ rratl0n ! lt3t m iß b rau ch t“ W o „das U n m ö g lic h e z u m L eitfad en


des I m a n e " GeWalttätigkeit>Zerstörung der N atu r und m it ihr
des Humanen innere Notwendigkeit“ (vgl ebd )

tJ I I ? T “ ara]k,cris! ,k d tr Theologie der H offnung, d er Politischen


Theolog,e, der Theolog,e der Befreiung gerecht? Bere.ts in den ersten Zeilen
„Eschatologie - Tod und ewiges Leben1
71

§ ! h atte R atzin g er m it k ritisch em Unterton festgestellt: Die Eschatologie


^ s c h e in t h eu te „geradezu als d er E ig entü m er des ganzen Geländes der Theo-
w ie m a n d a ra n seh e n m ag , d aß die Synode der Bistümer Deutschlands
°g m] G la u b e n s b e k e n n tn is [?] u n te r d en T ite l ‘Unsere Hoffnung’ gesteüt,
G lau ben aus d er P ersp ek tiv e d er H o ffn u n g beschrieben hat“ (ebd. 18).
G Die V o r la g e für den Text des ersten Synodenbeschlusses6' geht auf J. B.
, , 1-iirk U n te r N r. I, 6 „R eich G o tte s“ h e iß t es dort:
Is/letz zu rü ck.
1 die Verheißungen des Reiches Gottes sind nicht gleichgültig gegen das Grauen
” d den T error ird isch er U ngerechtigkeit und Unfreiheit, die das Antlitz des Men-
U" i L/erstö ren .“62 „ [ ...] Das Reich G ottes ist nicht indifferent gegenüber den Welt-
SL lsp reisen ! D enn och sind seine Verheißungen nicht etwa identisch mit dem In-
1 ' er so zialen und politischen Utopien, die einen neuen Menschen und eine neue
d ^ e in e g e g lü ck te V ollendung der M enschheit als Resultat gesellschaftlich-ge-
r etlicher Käm pfe und Prozesse erwarten und anzielen. Unsere Hoffnung erwartet
SC ' V ollendung der M en sch h eit aus der verwandelnden Macht Gottes, als endzeit-
Lches E reign is, d essen Zukunft für uns in Jesus Christus bereits unwiderruflich begon-
h u Ihm g e h ö re n w ir zu, in ihn sind wir eingepflanzt. Durch die Taufe sind wir
h in ein g eta u ch t in se in neues Leben, und in der Mahlgemeinschaft mit ihm empfangen
'. das ‘pfand der k o m m e n d e n H errlichkeit’. Indem wir uns unter das‘Gesetz Christi’
(Gal 6 2) stellen und in seiner Nachfolge leben, werden wir auch mitten in unserer Le-
benswelt zu Zeugen dieser verw andelnden M acht Gottes .]“. Der „Realismus unse­
res R eich -G o ttes-G ed an k en s läh m t nicht unser Interesse am konkreten individuellen
und gesellschaftlichen L eid en. Er kritisiert nur jene Säkularisierungen unserer christ­
lichen H offnung, die die R eich -G o ttes-B o tsch aft selbst völlig preisgeben, aber auf die
überschw änglichen M aßstäbe, die diese Botschaft für die Menschen und ihre Zukunft
gesetzt hat, nicht verzichten m ö ch ten “ (ebd. 97).

Z um in dest von diesem T ext her wird m an sagen müssen, daß Ratzinger die
th eologischen E n tw ü rfe von H offnung im Anschluß an Moltmann und Metz
zu wenig d ifferenziert darstellt. Eine weitere Beobachtung drängt sich auf Die
G em ein sam e S ynod e von 1971 bis 1975 stand unter dem Präsidium es
sitzenden d er D eu tsch en Bischofskonferenz, Julius Kardinal Döp er, ess
N ach folger als E rz b isch o f von M ü n ch en und Freising Ratzinger 197
In d er A rt u n d W eise, w ie R atzin g er 1 9 7 7 als Professor in Regens ^ 8
diese Synode Bezug nimmt, deuten sich bereits erste Anzeic en jen
zu ein em n ich t u n erh eb lich en Teil des deutschen Episkopats an, ie
1981 b ei d e m P rä fe k te n d e r G lau b en sk ongregation im m er star er
tr a t .63
Ein Versuch, Atem zu holen - Regensburg (1 9 6 9 -1 9 7 7 )
72
Tod - Unsterblichkeit - Auferstehung

Die mit Kap. 2 der „Eschatologie“ beginnenden zen tralen A u s f ü h r u n g


empfinde ich in ihrer theologischen wie sprachlichen Prägnanz noch im * "
als faszinierend. Nicht zuletzt aufgrund eigener früherer Versuche, jn d
theologischen Anthropologie ohne den Begriff „Seele auszukommen, konnte
Ratzinger der in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erneut aufgebroche
nen Kritik an diesem Begriff hier wie in späteren Veröffentlichungen mit be'
sonders geschärftem Auge entgegentreten (vgl. 1 9 7 7 a , 1 9 4 ). Zunächst skiz­
ziert er die geistesgeschichtlichen Vorgaben zur „individuellen Dimension des
Eschatologischen“ generell. Schon aus d er Philosophie Platons bzw. seiner
Darstellung des Sokrates ergibt sich:

„[...] wer auf die Gerechtigkeit setzt, setzt auf das eigentlich Wirkliche. [...] Die Ge
wißheit, daß die Hingabe an die Wahrheit Hingabe an die Wirklichkeit und nicht ein
Schritt ins Nichts ist, ist die Voraussetzung der Gerechtigkeit, die ihrerseits die Lebens­
voraussetzung der Polis und so zuletzt auch die Bedingung für das biologische Über­
leben des Menschen ist“ (ebd. 73 f).

Im Hinblick auf die Frage nach einem Jenseitsglauben im A lten Testament


dominiert weithin leider im mer noch das Klischee, daß v o r dem Aufkommen
des Auferstehungsglaubens in der A pokalyptik d er Tod au ch fü r die F ro m ­
men das Ende sinnvoller Existenz bedeutet habe. R atzin ger b rich t m it dieser
Vorstellung. Das strenge Nein zum A hnenkult und die d a m it verbundene
Entmythisierung der Unterwelt ist zwar V orbedingung fü r die D urchsetzung
des Glaubens an den einen, souveränen G ott in Israel gewesen. G erade dieser
Gottesbegriff stand aber auch dem B eh arren a u f ein em rein diesseitigen
Glück entgegen. Für den Beter von Ps 7 3 ,2 3 - 2 8 spielt die F ra g e „Diesseits
o er jenseits, keine Rolle m ehr: Die eigentliche W irk lich k eit b esteh t in der
Gemeinschaft mit Gott. Dies ist

meisten zu sich ' ^ ^estament am meisten ins Neue übergreift und am

des Todes, die weder a u ^ rT e ch L 'h e ^ o tf T ^ ^ Überwindung


operiert weder mit c i l °ch auf persische Muster zu verrechnen ist. Er

Das Hinschauen auf Gott,laTseTn^^110? ^ Auferstehun 8 sgedanken [ - 1 -


Mensch die Scheol bestehen kan d . m Wlrd hier als der O rt erkannt, wo der
und ihn aufzufressen droht“ (eb d ^ l) m™*116" Seinem Let>en ständig anwesend ist

Schließlich wird das durchlitte


meneutischen Ort, „an dem sich u r n - c?SÜg bestandene Leid zu dem her­
an dem die Gottesgemeinschaft 1 rT lchkeit und Unwirklichkeit scheiden,
wurde“. Daß das 2. Makkabäerbuch wie des wabren L eb en s e rk e n n b a r
„Eschatologie - Tod und ewiges Leben“
73

r in h a ltlich e n A u ffü llu n g m eh r ö stlich e Gedankenmuster (Auferstehung)“ die


W eish eitsb ü ch er h in g egen „ein in G riech en lan d gewachsenes (Seele in Gottes Hand)
heranzieh en, ist d em g eg en ü ber d urchaus sekundär. Das Eigentliche liegt tiefer: in der
E rfahru ng, d aß G o ttesg en iein sch aft Leben ist über den Tod hinaus. Daß es zu dieser in
her Passion des G laubens en tstan d en en E insicht eine innere Parallele in der von Platon
verm ittelten E rfa h ru n g des für die G erech tigkeit sterbenden Sokrates gibt, war das ei­
gentlich V e rb in d e n d e zw isch en d em D en k en der B ibel und demjenigen der platoni­
schen P h ilo so p h ie , so daß von h ie r aus B egegn un g der T rad itionen möglich wurde“

(ebd. 82 f-)-

W as u n t e r s c h e id e t d a s N eu e v o m A lten T estam en t ? Die Grundrichtung


b leib t e rh a lte n . A b e r n u n ist m it Jesus G o tt selbst in die Scheol, die Unterwelt
d er k o m m u n ik a t io n s lo s e n S c h a tte n w e s e n , hinabgestiegen und hat sie „zum
R au m s e in e r A n w e s e n h e it g e m a c h t“ (vgl. ebd. 8 4). Auch hier geht es (anders
als etw a im B u d d h is m u s ) w e d e r d aru m , d en D urst nach Sein als die tiefste
Q u elle d es L e id e n s zu lö s c h e n , n o c h um die Frage des Individuums nach sei­
n em je p e r s ö n lic h e n H e il. „ D a s Unsterblichkeitsverlangen steigt nicht aus der
iso lie rte n , in s ic h v e rs c h lo s s e n e n Existenz auf, die unbefriedigend ist, sondern
[ ] e n ts te h t a u s d e r F o r d e r u n g , d ie das Du an das Ich stellt und umgekehrt.
D ie E n td e c k u n g d e s Lebens schließt ein [ . . . ] Zurücklassen des Ich mit ein. Sie
trä g t s ic h n u r d o r t z u , w o der M ensch sich wegwagt von sich selbst und sich
fallen lä ß t“ (e b d . 8 5 ) . D e m en tsp rich t das Zeugnis für das Christusgeschehen.
„So w ie d as S te r b e n des M enschen nicht auf den Augenblick seines klinischen
T o d e s z u s a m m e n z u z ie h e n ist, so b egin nt Beteiligung an der M artyria Jesu
n ic h t e r s t in d e m A u g en b lick , in d em sich jem and dafür hinrichten läßt“
(ebd. 8 7 ) . Ih re gru n d leg en d e F o rm ist die ständige Bereitschaft, die Wahrheit
und G erech tig k eit ü b e r d en V orteil des eigenen Davonkommens zu stellen.
C hristliche E sch ato lo g ie b esagt n ich t das Ausweichen vor den gemeinsamen
Aufgaben dieser W elt ins Jenseitige, n ich t den Rückzug in die private Seelen­
rettu n g . „D er K o n stru k tio n s p u n k t dieser Eschatologie ist ja gerade die Zu­
w endung zu m g e m e in sa m e n R ech t, wie es uns verbürgt ist in dem , der sein
Leben d em R ech t der ganzen M enschheit geopfert und ihr damit Recht gege­
ben h at“ (ebd. 8 9 ).
Im m er wieder nim m t Ratzinger die auf theologische Gründe gestützte Be­
streitung eines Fortleb en s der Seele nach dem Tode ins Visier, wie sie zu­
nächst im Anschluß an Luther, in der zeitgenössischen katholischen Literatur
aber vor allem unter dem Stichwort „Auferstehung im Tode“ vertreten wurde.
Die vielschichtige, au ch nach 1977 weitergehende Debatte kann hier nicht
noch einm al verfolgt w erden.65 Der springende Punkt in Ratzingers Ausein­
andersetzung besonders m it Gisbert Greshake ist das Argument, daß gerade
bei diesem Versuch, der verengten Auffassung von Heil als „Seelenfrieden zu
Ein Versuch, Atem zu holen - Regensburg ( 1 9 6 9 - 1 9 7 7 )
74

entkommen, die Frage nach der Vollendung von S chöp fu n g und G eschichte
zugunsten des schon im Tode erreichten Endziels des In d ivid u um s v e r g e h
lässigt und damit der M ißachtung w ichtiger tra d itio n e lle r T h em en der
Eschatologie durch die au f das „Prinzip H offnung und eine m arxistisch in­
spirierte revolutionäre Praxis setzenden Theologien weitere N ah ru n g gegeben

werde.
Die entscheidende Gegeninstanz, die Ratzinger ins Feld fü h rt, ist die gleiche
wie in seinen Ausführungen zum „Jenseitsglauben“ im Alten B und. In der Tat
sei es unbiblisch, von einer im Wesen der Seele selbst g rü n d e n d e n U n sterb ­
lichkeit zu sprechen. Seele ist vielm ehr der von G o tt g esetzte A nknüpfungs­
punkt für die von ihm schon seit dem Beginn d er S ch ö p fu n g gestiftete Ge­
meinschaft mit den M enschen. N icht ein b ezieh un gsloses Seibersein macht
den Menschen unsterblich, sondern gerade seine Beziehungsfähigkeit au f eine
Gemeinschaft m it Gott hin, die dieser v o rb eh altlo s u nd m it sein em ganzen
Wesen will. Aus diesem Gesichtswinkel geht R atzin g er au ch die H au p tzeu g­
nisse in Schrift und Tradition für die E in zelp ro b lem e des T rak tats „Ü b er die
letzten Dinge“ durch, w orau f hier n u r u n te r ein igen z e n tra le n Stichw orten
eingegangen werden kann.

Heil für alle K reatur?

Die systematische Mitte von Ratzingers T heologie bleibt in d er gesam ten Ent­
wicklung seines Denkens der B egriff v o m „Leib C h ris ti“. D ies lä ß t sich nicht
nur anhand seiner Aussagen zur C hristologie, zu r S a k ra m e n te n le h re und vor
allem zur Ekklesiologie aufweisen, sondern gilt ebenso für seine Eschatologie.
Die von Gott gestiftete G em einschaft m it den M e n sch e n h a t bei d e r Vollen­
dung der Proexistenz Jesu im äußersten A kt seines „ S e in s-fü r“ ihre letztgülti­
ge Gestalt gewonnen. W ie Paulus selbst, so n u tzt au ch R atzin g er die sym b oli­
sche Tiefe dieses Leib-Begriffs: An die Stelle d er p erso n ifiziert als C h ao su n g e­
heuer und Urschlange vorgestellten, die M en sch en im T ode v ersch lin gen d en
Scheol ist nun der durch seine Selbsthingabe die M ä ch te des T odes v ersch lin ­
gende C hristus als neuer S tam m vater aller V ö lk e r u n d H e ils ra u m fü r alle
M enschen getreten (vgl. 1 Kor 1 5 ,5 4 f.). A u f dieser G ru n d lag e k an n R atzinger
as er ä tnis zwischen dem im Tode sch o n d efin itiv g e w o rd e n e n neuen
Leben d er C hristu s N achfolgenden und ih re r n o c h a u s s te h e n d e n A u fe rste ­
h un g bei der Vollendung der Welt klären (vgl. z .B . 1 9 7 7 a , 1 0 1 f, 1 0 8 - 1 1 0 ) und
nie t zuletzt die eigentliche Basis der Lehre v o m „ F e g e fe u e r“ a u fw eisen : D er
„ ieim gungsort i s t - i m schon bergenden R au m „des C h ris tu s “ (vgl. 1 Thess
, 1 6 ) . , d * S Z u - Ende- Le'den unserer irdischen H in terlassen sch aft (von der
wir nicht durch eine „Auferstehung im Tode“ gleichsam abgehoben w erden),
„ E sch ato lo g ie - Tod und ewiges Leben“ 75

• der Gew ißheit des endgültigen Angenom m enseins, aber zugleich in


„schon ind lich en sch w e re d er sich en tzieh en d en G egenw art des Geliebten“
def ^ d 156). Die Idee von der L äuteru ng nach dem Tod erweist sich gewis-
^Vgl V e n als verm ittelndes m etaphysisches Glied zwischen dem platonischen
serf V n der U nsterblichkeit d er Seele und der Auferstehung (vgl. ebd. 184).
G |S ch w ie rig erw eist sich allerdings, die an verschiedenen Stellen des Bu-
A ^ m a c h t e n A ussagen ü b er die schließliche R ettung aller M enschen m it
Ch£S Beharren au f d er tradition ellen H öllenlehre in Einklang zu bringen. Den
dClTf h ru ngen des O rig en es ü b er den au f die H eilung auch noch des letzten
AUS ken Glieds seines Leibes h arren d en C hristus (vgl. e b d .1 5 2 -1 5 4 ) läßt Rat-
<ra „cötylich d en H inw eis a u f die buddhistische Idee von dem Bodhisatt-
7inger zu^t* ^ 1AV'
I en „d er sich w e ig e rt, d as N irv a n a zu b etreten , solange ein M ensch in
der Hölle'ist. M it so lch em W a rte n rä u m t er die Hölle aus, weil er das Heil, das
ihV g eb ü h rt, erst a n n im m t, w en n sie leer gew orden ist“ (ebd. 1 5 5 f.). „ [ ...]
die Ganzheit des H eils ist n ic h t ein g etreten , solange es nur antizipativ in Gott
feststeht und n ich t d en le tz te n L eid en d en real erreich t h at“ (ebd. 15 7 ). „Leib
C hristi h eiß t [ . . . ] , d a ß alle M e n s c h e n ein O rg an ism u s sind und daß daher
das Schicksal des G a n z e n e in es je d e n eigenes Schicksal ist“ (ebd. 1 5 7 ). „Wie
könnte eine M u tte r g lü c k lic h se in , v o lle n d s, h em m u n g slo s, solange eines
ihrer K ind er leid et?“ (e b d . 1 5 5 ) . D e n n o c h h ält R atzinger am Ende u nerbitt­
lich an der in der „ G ro ß k irc h e “ v o rh e rrsch e n d e n Tradition fest:

„Alles Deuteln nützt nichts: Der Gedanke ewiger Verdammnis, der sich im Judentum
der beiden letzten vorchristlichen Jahrhunderte zunehmend ausgebildet hatte [ ...] ,
hat seinen festen Platz in der Lehre Jesu [ ...] wie in den Schriften der Apostel [...] . In­
sofern steht das D ogm a auf festem G rund, wenn es von der Existenz der Hölle [...]
und von der Ewigkeit ihrer Strafen [ ... ] spricht“ (ebd. 176). „Die großkirchliche Tra­
dition hat einen anderen Weg genom m en [als Origenes und eine stattliche Reihe ihm
folgender früher T heologen]; sie m ußte zugeben, daß die Erwartung der Allversöh­
nung aus dem System folgt, aber nicht aus dem biblischen Zeugnis“ (ebd. 177).

Der Behauptung einer Allversöhnung stehe die gottgeschenkte Freiheit des


Geschöpfs en tgegen :

„Darin liegt der Unterschied zwischen dem schönen Traum vom Bodhisattva [...] und
seiner Verwirklichung: Der wahre Bodhisattva, Christus, geht in die Hölle und leidet
sie leer; aber er behandelt die M enschen nicht als unmündige Wesen, die letztlich ihr
eigenes Geschick nicht veran tw orten können, sondern sein Himmel beruht auf der
Freiheit, die auch dem Verdam mten das Recht läßt, seine Verdammnis zu wollen. Das
Besondere des C hristlichen zeigt sich hier in seiner Überzeugung von der Größe des
Menschen: Sein Leben ist ein Ernstfall; es wird nicht alles durch die List der Idee zu­
letzt zu einem M om ent von G ottes Plänen um gebaut; es gibt das Unwiderrufliche,
auch die unwiderrufliche Zerstörung“ (ebd. 1 7 7 f.).
Ein Versuch, Atem zu holen - Regensburg (1 9 6 9 -1 9 7 7 )

M erkwürdig, daß Ratzinger in diesem Z u sa m m e n h a n g n irg en d s in e ine


Auseinandersetzung m it seinem v ertrau ten F reu n d H ans U rs v on B alth asar
ein ritt. Eine von diesem gem achte Aussage ü b er d ie „ F u r b .tte d er H e ,ligen
beim R ich ter“ wird in den K ontext der F e g feu e rle h re v e r w e s e n (vgl. ebd .
189). Fragm ente, die seiner T heologie e n tn o m m e n sem k ö n n te n , w erden am
Ende der Höllenaussagen zwar au fg en o m m en , a b e r au ffalle n d an d ers als bei
von Balthasar interpretiert:
[ 1 bei Johannes vom Kreuz, in der Frömmigkeit des Karmel und besonders wieder
bei Therese von Lisieux [hat] das Wort von der Hölle eine ganz neue Bedeutung und
eine ganz neue Form gewonnen. Es ist für sie [...] eine Aufforderung, [...] dem Licht
des Herrn dadurch nahe zu kommen, daß sie sem Dunkel teilen und dem Heil der
Welt dienen, indem sie ihr Heil zurücklassen für die anderen“ (ebd. 178). [Die hier zu­
tage tretende] „Hoffnung kommt nicht aus der neutralen Logik des Systems, aus der
Verharmlosung des Menschen, sondern aus der Preisgabe der Harmlosigkeit und dem
Bestehen der Realität an der Seite Jesu Christi. Solche Hoffnung aber wird nicht zu
eigenmächtiger Behauptung; sie legt ihre Bitte in die Hände des Herrn hinein und läßt
sie dort. Das Dogma behält seinen realen Gehalt; der Gedanke der Barmherzigkeit, der
es in der einen und anderen Form während der ganzen Geschichte begleitete, wird
nicht zur Theorie, sondern zum Gebet des leidenden und hoffenden Glaubens“ (ebd.
178 f.).

Verglichen mit der Eschatologie von Balthasars klingen solche Sätze eigen­
tümlich. Hätte es nicht näher gelegen, au f der G rundlage des D ogm as vom
wahren Gott- und Menschsein Jesu Christi in A nknüpfung an die schönen
Worte des Origenes über das wartende „H au p t des Leibes“ w eiterzufragen
nach dem Wesen Gottes selbst? Wird ein Jota von dessen G erechtigkeit weg­
genommen, wenn man sie von dem ewigen Entsch lu ß seiner Liebe her ver­
steht, die Freiheit des Menschen auch dann in sich auszuleiden, wenn sie sich
zu einem endgültigen Nein versteifen möchte? Der wirklich endgültigen Un­
endlichkeit Gottes steht die menschliche Freiheit zwar in ein er unabschließ­
baren Unendlichkeit möglichen N ein-Sagens gegenüber. D ieses kann sich
aber von sich her nie zur Endgültigkeit vollenden, so n d ern sp rich t u nau s­
weichlich in den Raum des Ja-W ortes G ottes hin ein , von d em alles Reden
und Tun seiner Geschöpfe im m er schon und a u f ewig u n te rw a n d e rt und
getragen ist. 66
Ratzinger argumentiert in seiner „Eschatologie“ m it überzeugenden G rün­
den gegen die Theorie von einer „Auferstehung im Tode“. Diese erlaubt nicht,
die Frage nach dem Heil der Individuen in ein an gem essen es V erhältnis zu
bringen zu der Frage nach der Vollendung von S chöp fu n g u nd G esch ich te:
„Der Mensch, der stirbt, tritt selbst aus der Geschichte heraus - sie ist für ihn
(vorläufig!) abgeschlossen; aber er verliert n ich t die B ezieh u n g a u f die Ge-
„Eschatologie - Tod und ewiges Leben“
77
schichte, weil das Netz der menschlichen R elation alst zu seinem Wesen ee
hört“ (ebd. 152). Der Behauptung Greshakes: „Die Materie ‘an sich’ Tst
unvollendbar“ hält Ratzmger entgegen:

„Es ist nicht einzusehen, warum die Christen, die im Credo die Auferstehung des Flei
sches bekennen, hier hinter marxistischen Denkern wie Bloch und Marcuse zurück
bleiben sollten, die ganz entschieden von einer neuen Welt auch einen neuen Status
der Materie erwarten; dies folgt für sie aus der Einsicht, daß nur so die geschichtlichen
Entfremdungen wirklich überwindbar sind“ (ebd. 159). „Es gibt keine Vorstellbarkeit
der neuen Welt. [ ... ] Aber es gibt die Gewißheit, daß die Dynamik des Kosmos auf ein
Ziel z u fü h rt, auf eine Situation, in der Materie und Geist einander neu und endgültig
zugeeignet sein werden“ (ebd. 160).

W ie lä ß t sich e in s o lc h e r Hinweis auf die „Dynamik des Kosmos“ 67 aller­


dings m it an d eren Aussagen vereinbaren, in denen es im Anschluß an apoka­
lyptische V o rstellu n gen h e iß t:

„ [...] nicht etwa eine höchste geschichtliche Reife (bereitet) den Übergang ins Ende
vor ( ...) , sondern [ ... ] gerade der innere Zerfall der Geschichte, ihre Unfähigkeit gegen
das Göttliche, ihr Widerstand (verweisen) paradoxerweise au f das Ja Gottes [ ...] “ (ebd.
163, meine H ervorh.). „ [ ...] die Welt ist im m erfort von Kriegen und von Katastro­
phen zerrissen worden und nichts läßt erhoffen, daß etwa ‘Friedensforschung’ diese
Signatur des M enschlichen grundlegend aufheben könnte“ (ebd.). „Wenn Martin
Heidegger [ ... ] m eint, angesichts der Lage, in die die Menschheit sich verfahren hat,
könne nur noch ein G ott uns retten, und wenn er folglich als die einzige uns bleibende
Möglichkeit ansieht, ‘eine Bereitschaft vorzubereiten für die Erscheinung des Gottes’,
dann kann in einer solch nachchristlich-heidnischen Äußerung vielleicht etwas von
dem sichtbar werden, worum es in der Tat geht. [...] Die Bereitschaft ist [...] anders,
je nachdem ob sie ins Leere hinausw artet oder ob sie dem entgegensieht, den sie in
seinen Zeichen erkennt, so daß sie gerade im Zerfall ihrer eigenen Möglichkeiten seiner
Nähe gewiß w ird ‘ (ebd. 165, meine Hervorh.).

Der einzige Bereich, in dem „in dieser Welt die Berührungsstelle mit Gott
aus(ge)drückt (w erden) d a r f 1, ist Ratzinger zufolge die Liturgie: „Die Parusie
ist höchste Steigerung und Erfüllung der Liturgie; die Liturgie aber ist Paru­
sie, parusiales G eschehen m itten unter uns.“ „ [ ...] eben diese Kirche, die in
der Liturgie ganz nach innen zu blicken scheint, (stößt) damit in die tragende
M itte des K osm os v o r ( . . . ) , und (w irkt) auf seine befreiende Verwandlung
hin ( . . . ) “ (vgl. ebd. 16 7 ). In „der Liturgie soll die Kirche gleichsam im Gehen-
m it-ihm ihm W ohnungen bereiten in der Welt“ (ebd. 168).
In Verbindung m it seiner h arten Kritik an nachkonziliaren Theologien, in
denen die Frage nach der Zukunft der Geschichte m it der nach angemessener
p olitischer P raxis v ersch rän k t w ird, wirken solche Aussagen tatsächlich wie
ein Rückzug in den Blick der Kirche „ganz nach innen“ und scheint sich auch
78 Ein Versuch, Atem zu holen - Regensburg ( 1 9 6 9 - 1 9 7 7 )

ein Perspektivenwechsel gegenüber dem frühen, an Augustinus orientierten


Liturgiebegriff Ratzingers anzudeuten (vgl. Kap. 2 ). M an wird berücksichti­
gen müssen, daß es an diesen Stellen vor allem um eine sachgerechte Inter­
pretation der apokalyptischen Begriffswelt im Neuen T estam ent geht. Den­
noch vermißt man einen Hinweis darauf, daß der einzige neutestamentliche
Kontext, in dem ausführlich der Sinn der Eucharistiefeier them atisiert wird
den Blick von einer liturgisch-sakramentalen Verengung gerade nach „außen“'
lenkt. Dem Apostel Paulus zufolge k onk retisiert sich die Verkündigung des
Todes des Herrn im Warten auf seine W iederkunft bei der Feier der Euchari­
stie (vgl. 1 Kor 11,26) in einem „ h o rizo n talen “ W arten a u f die A rm en (vgl.
11,21.33 als Rahmen um die E rin n eru n g an das A bendm ahlsgeschehen)
Wenn diese durchaus gesellschaftliche Im plikation der gem einsam en Teilhabe
an Christi Leib ausbleibt, findet ü b erh au p t kein „H e rre n m a h l“ statt (vgl.
1 1 ,2 0 ). Zumindest in dieser H insicht sch ein t m ir das oben angeführte Zitat
aus dem ersten Beschluß der G em einsam en Synode der B istü m er in der
Bundesrepublik Deutschland dem Paulinischen Eucharistieverständnis näher
zu stehen: „Das Reich Gottes ist nicht indifferent gegenüber den Welthandels­
preisen!“
Teil II:
Nachfolger der Apostel
(von München nach Rom)
Achtes Kapitel:
Vorbemerkungen zum zweiten Teil

Am 25. März 1977 wurde Joseph Ratzinger von Papst Paul VI. zum Erzbischof
von München und Freising, am 25. Novem ber 1981 von Papst Johannes
Paul II. zum Präfekten der Kongregation für die Glaubenslehre ernannt. Der
Versuch, seinen Denkweg in diesen 28 Lebensjahren bis zur Annahm e der
Papstwahl am 19. April 2005 zu verfolgen, stöß t au f Schwierigkeiten, die bei
der Darstellung seiner vierzig „Lehr- und W anderjahre“, von der Gymnasial­
zeit in Traunstein bis zur Beendigung seiner Lehrtätigkeit an der Universität
Regensburg, nicht gegeben waren.
Schwierigkeiten bereitet vor allem die komplexere Gestalt des Lehrens, die
sich aus der Übernahme des bischöflichen Dienstes ergab. Joseph Ratzinger
hat als Apostelnachfolger sein Engagem ent in der akadem ischen Forschung
und Lehre ebensowenig aufgegeben, wie er als aktiver Universitätsprofessor
davon Abstand genommen hatte, für alle Kirchenbesucher verständliche Pre­
digten zu halten. Die Leidenschaft, m it der er auch im bischöflichen Am t als
Wissenschaftler an die Öffentlichkeit getreten ist, m ach t geradezu ein Spezifi­
kum seiner Theologie aus, erklärt zum Teil aber auch die erh öh te Spannung
zur „akademischen Szene“, der sich Ratzinger in M ü nch en und erst recht in
Rom ausgesetzt sah. Ich versuche, diese B eobach tu n g zu näch st durch einige
geschichtliche Rückblicke zu verdeudichen.
Seit der Emanzipation der Philosophie beim A ufblühen d er m ittelalter­
lichen Kathedralschulen ist das christliche Abendland m it Spannungen ver­
traut, die sich aus dem Gegenüber von „Dialektikern“, die ihre „akadem ische
Freiheit“ betonen, und der für die Einheit im Glauben verantw ortlichen Hie­
rarchie unausweichlich ergeben. Nach der Reform ation ist eine analoge Span­
nung der katholischen Theologie erst wieder infolge der Säkularisation in
Deutschland aufgetreten. Dazu trug vor allem bei, daß von n un an au ch die
Ausbildung der katholischen Theologen an staatlichen U niversitäten zu erfol-
gen hatte, man in einigen Bistümern jedoch energisch die a u f dem KonzÜ von

Die h i e ^ T i n? Pnesterausbildung an bischöflichen Sem inaren fortsetzte,


und dem A ! T n Unmheherde ""» « le n n ach d em E rste n V atikanum
Zwdten v l ,m ° , T ten: Streit“ ZW3r WeitSehend - s t i c k t . N ach dem
baren Stärke wieder auf. 00211 flam m ten sie aber in ein er n ic h t v o rau sseh -
Vorbemerkungen zum zweiten Teil
81

Das Phänomen innertheologischer Polarisierung, mit dem Ratzinger fast


ein Vierteljahrhundert lang als Präfekt der Kongregation für die Glaubensleh­
re vor allem in Deutschland konfrontiert war, stellt ein völliges Novum in der
Geschichte der katholischen Kirche dar. Wir haben uns im ersten Teil dieses
Buchs ausführlicher mit einigen Gründen für diese Polarisierung beschäftigt.
Der unerträgliche Zustand, der schließlich daraus resultierte, ist aber nur zu
einem geringen Teil gegensätzlichen Den/crichtungen zuzuschreiben, sondern
v0 r allem der Unbeküm m ertheit, mit der sich Vertreter der verschiedenen
theologischen „Fraktionen“ dem in Deutschland erst seit kurzem populär ge­
wordenen M edium Fernsehen anvertrauten. Das Ausstrahlen von differen­
ziert geführten Gesprächen ist von einer Fernsehgesellschaft, die sich an die
gesamte Bevölkerung wendet, generell nicht zu erwarten. Es müssen in ak­
tuellen Streitfragen kampfeslustige „Fachvertreter“ mit geringer Sensibilität
für die tiefer liegenden Gründe der Probleme gegeneinander ins Feld geführt
werden. Im Hinblick auf die nachkonziliare Situation bedeutete dies, daß die
theologische „Avantgarde“ sich erst dann richtig in Szene zu setzen vermoch­
te, wenn ihr als H üter der Rechtgläubigkeit Redner vom Format des Fuldaer
Erzbischofs Dyba entgegentraten. Infolge solcher Schaukämpfe erschien auf
der einen Seite im Gesichtswinkel der Öffentlichkeit Rom mehr und mehr als
die letzte Bastion glob al-au toritärer M achtausübung. Zu dieser Blickveren­
gung trugen gereizte Reaktionen von Seiten des Vatikans auf noch unausge­
gorene theologische Neuansätze leider häufig genug bei. Dadurch wurde der
Anschein verstärk t, die Spitze der H ierarchie sei noch immer vorwiegend
damit beschäftigt, die H eerscharen des Katholizismus auf dem ganzen Erd­
kreis in Schritt und Tritt zu halten.
Auf der anderen Seite bildete sich bei den Theologen, die ihren Mut gegen­
über dem höchsten L ehram t durch die Information aller Gesellschaftsschich­
ten über die w ahren Verhältnisse in der Kirche bewiesen, das Selbstbewußt­
sein heraus, erheblich zur Em anzipation des Gottesvolkes von einer jahrhun­
dertelangen B evorm u n du n g beizutragen. Dies war nun allerdings kein völlig
neuartiges P h än o m en . Im Konflikt m it gewissen gnostisierenden Kreisen in
Korinth hat der Apostel Paulus deutlich gemacht, wie leicht das Gefühl, in das
oberste Stockw erk th eologisch er Erkenntnis aufgestiegen zu sein, m it m an­
gelnder R ü ck sich tn ah m e au f solche Glaubensgenossen einhergeht, die sich
n ich t zu diesen H ö h e n aufzuschw ingen verm ögen. Paulus unterstreicht die
falsche E rk en n tn isth eo rie, die diesem Verhalten zugrunde hegt, und betont,
daß eine ad äq u ate E rk en n tn is in den für das m enschliche Zusam menleben
en tsch eid en d en B ereich en n u r über das (A n-)Erkanntw erden durch einen
Anderen m öglich ist (vgl. 1 Kor 8 , bes. Vv 2 - 3 ; 13 ,1 2 ). Für diesen Sachverhalt
hatte Joseph R atzinger sch on in seinen Studienjahren ein feines Gespür über
Vorbemerkungen zum zweiten Teil
82
J ,. i„0icrhen Philosophie entwickelt. Dort wurde der
die Begegnung mit der dm ^ rstehensraster; in das der hebräische Erkennt-
biblischem Denken tre ins Griechische eingezwängt worden war,
nisbegriff bei semer Uberseuu g Kap. 10) Als N achfolger im
erstmals mit Entschie ® n8.ch t zuletzt in dem von Paulus gewiesenen
Apostelamt hat er s e m e ^ ^ Um fdd theologischer Dispute der Boden
Sinne verstanden. Zeichen der Zeit“ so weit verlassen
christlicher Trad^ e° ^ z i e h e n d e katholische Einheit nicht m ehr gegeben
S S er dieser Bedrohung kirchlicher communio unter Einsatz seiner gan-
war, ist er u ch wenn man ihn deswegen des W ider-

P Wie läßt sich angesichts dieser hier nur grob skizzierten Situation die Frage
nach der Entwicklung von Ratzingers Denken in den nächsten Kapiteln me­
thodisch angemessen weiterfuhren? Ich werde mich für die Darstellung seines
Denkwegs grundsätzlich auf kein offizielles Dokument stützen das von ihm
als Präfekt der Glaubenskongregation herausgegeben wurde Uber die Frage,
inwieweit man den Kardinal selbst als Autor solcher Schriftstücke ansehen
darf, kann man nur Spekulationen anstellen. Dam it ist das Problem aber
noch nicht gelöst. Selbst hinsichtlich persönlicher Äußerungen des Theolo­
gen Joseph Ratzinger während dieser Zeit wird man annehmen dürfen, daß er
eigene Gedanken, die nicht in Übereinstimmung m it offiziellen Äußerungen
des Vatikans standen, zu Recht in noch höherem M aße für sich behalten hat,
als dies für ihn als Erzbischof von München zutraf. Auch von dieser Seite er­
scheint es schwierig, den Weg, den sein Denken nach 1981 genom m en hat,
unverkürzt in den Blick zu bekommen.
Bei der Frage nach einer Lösung dieses Problem s ist allerdings die Beo
achtung einer bemerkenswerten Kontinuität in Ratzingers Denken hilfreich.
Im Unterschied zu manch anderem theologischen Zeitgenossen m achte er
sich schon vom Beginn seiner Lehrtätigkeit an den Grundsatz zu eigen, nichts
an die Öffentlichkeit zu bringen, was zur Verwirrung über die von der katho­
lischen Kirche als allgemein verpflichtend verkündete Lehre beitragen könn­
te. Er hat sich durch seine Leidenschaft für das wissenschaftliche Hinterfragen
von geltenden Lehrmeinungen nicht dazu verführen lassen, sein H irten am t
zu vernachlässigen, in das er sich bereits durch die W eihe zum „einfachen
Priester“ gestellt sah. Ich habe mich off genug an dieser prinzipiellen Haltung
gestoßen, die m ir zuweilen positivistisch vorkam . N ur zu gut erin n ere ich
m ich z.B ., wie m ir Ratzinger in einem D oktorandensem inar in M ü n ster an
dem Punkt, wo wir im Disput über die Frage nach der Begründung von D og­
men zu keinem befriedigenden Ergebnis kamen, schlicht entgegenhielt: „Und
was fangen Sie m it den beiden letzten M ariendogm en an?“ M ein eigener
Vorbemerkungen zum zweiten Teil 83

, anders verlaufen als der seinige. Ich bin auch weiterhin der
1)cn gu Ung, daß eine Religionsgemeinschaft, die das sokratische Fragen
t ^ b i s ins Äußerste hinein ertragen kann, irgendwann in Fundamenta-
n' C erstarrt - und froh, daß Joseph Ratzinger mich persönlich zumindest
Jisrnus seines Wirkens in dieser Eigenheit ertragen hat. Die „Kunst,
'n a c , 7U bleiben“, beruht wohl nicht zuletzt auf dem immer wieder
katno ^ustarjeren zwischen dem „akademisch-wissenschaftlichen“ Element
neuen uncj j er Verantwortung des Lehramts, auch unbequeme Fragen
*^er Maße auszuhalten, wie sie nicht die Rücksichtnahme auf alle Glieder
in dem c h r isti verletzen. Ich selbst habe inzwischen aber gelernt, das, was
des Lei es „positivistisch“ einschätzte, differenzierter zu sehen
ich früher anzu 5.----- „ , , .........v -» ■7UI01t o n Teil 7n c i
darum dieses Buch, gerade auch seinen zweiten Teil, zu schreiben
und nur
Neuntes Kapitel:
„Schriftauslegung im W iderstreit“

Historische Exegese in der Kirche:


Ein „Problem meiner Autobiographie“

Wie wohl kein anderer katholischer Theologe des 20. Jahrhunderts hat Joseph
Ratzinger schon vom Beginn seines Theologiestudiums an (1 9 4 7 ) das zen­
trale Dilemma der historisch-kritischen Exegese klar erkannt. Wenn er anläß­
lich des hundertjährigen Bestehens der Päpstlichen Bibelkommission vom
10. Mai 2003 sagt: „Das Thema meines Referats [„Die Beziehung zwischen
Lehramt der Kirche und Exegese“] ... gehört sozusagen auch zu den Proble­
men meiner Autobiographie“ (2003 a, 5) und in diesem Zusam m enhang
nachdrücklich auf seinen von kirchlichen M aßnahm en zutiefst verletzten
Lehrer Friedrich Wilhelm Maier verweist (s. S. 2 2 ), so benennt er recht genau
den Ursprung seines spannungsvollen Verhältnisses zur Exegese. Was ihn von
Theologen wie Karl Barth und Hans Urs von Balthasar unterscheidet, ist die
Einsicht, daß die systematische Theologie trotz aller Problem atik im ein­
zelnen nicht auf eine ernsthafte Auseinandersetzung m it der historischen
Kritik verzichten darf. Wo hingegen nach dem Konzil die grundsätzliche An­
erkennung der historischen Kritik unter zumindest partieller Aufnahm e der
„neuen Suche nach dem historischen Jesus“ geradezu als eine selbstverständ­
liche Sache angesehen wurde, ging oft zugleich die Spannung nach der ande­
ren Seite hin verloren: Dogmatik m utierte dann allzu leicht zur D ogm enge­
schichte; die unerschütterliche Treue zur kirchlichen Tradition, die Ratzinger
m it der Generation seiner Lehrer teilt, geriet sozusagen a p rio ri, oh ne daß
m an näher hinzusehen brauchte, unter den Verdacht des Fundamentalismus.
Zunächst hatte auch Ratzinger — gestützt vor allem a u f im Lager B ult­
m an n s und seines Schülerkreises kaum beachtete, aber in tern atio n al ange­
sehene Autoren wie Joachim Jeremias - die Frage nach „authentischen Jesus­
w o rten im Rückgang hinter die kirchlich anerkannten Z eugen in seine
C h risto lo g ie zu integrieren versucht . 68 In der T übinger Phase w ar er dann,
wie b ereits in Kap. 6 angemerkt, auch in exegetischer Hinsicht von einer Krise
b e t r o f fe n . Das ihm vor Augen stehende Problem v erm och te e r zu näch st nur
in n e g a t iv e r H insicht zu m eistern, näm lich d urch eine klare A bgrenzung
Zur Interpretation der Konzilsaussagen g5

gegenüber der „neuen Suche“ nach dem „historischen Jesus“ So hatte er


schon in der Diskussion mit Walter Kasper (s. S. 49-52) und noch deut
licher dann in der Auseinandersetzung mit Hans Küngs Buch Christ sein“
(s. S. 6 7 -6 9 ) unterstrichen, was über die Rezeption des Lessingschen Diktums
vom „garstigen breiten Graben“ durch Soren Kierkegaard zum Gemeingut
der „Dialektischen Theologie“ geworden war: Die bestenfalls wahrschein­
lichen Ergebnisse der historisch-kritischen Analyse der neutestamentlichen
Texte taugen nicht als Basis für die unbedingte Entscheidung des Glaubens zu
dem „Ein-für-aUem al“ der in Jesus Christus ergangenen Offenbarung. Mit
dem Bultm ann-Schüler Ernst Käsemann betonte zwar auch Ratzinger die
Notwendigkeit, die Glaubensentscheidung nicht fideistisch auf sich beruhen
zu lassen, diese vielm ehr angesichts der Frage der kritischen Vernunft nach
dem einsichtigen G rund, w orauf sich christliches Hoffen stützt, zu verant­
worten. Anders als die meisten seiner Zeitgenossen auch in der katholischen
Theologie lehnte er aber eine Wiederaufnahme der Frage nach dem „histori­
schen Jesus“ in den Spuren der Postbultmannianer ab. Damit erhebt sich na­
türlich die Frage, wie Ratzinger selbst das Verhältnis zwischen kritisch-histo­
rischer Exegese und verbindlichen Glaubensaussagen zu bestimmen sucht.
Für die B eantw ortung dieser Frage empfiehlt es sich, zunächst auf die wohl
bekanntesten Aussagen zurückzugreifen, die er während seines Dienstes als
Präfekt der Glaubenskongregation, aber ausdrücklich als Wissenschaftler im
Gespräch mit seinesgleichen gemacht hat.

Zur Interpretation der Konzilsaussagen

Nach langem Ringen hatte das Zweite Vatikanische Konzil in Kap. III, Art. 12
der „D ogm atisch en K onstitution über die göttliche Offenbarung Dei Ver­
bum 69“ das Verhältnis zwischen wissenschaftlicher Auslegung der Heiligen
Schrift und deren Aufnahm e als Gotteswort im Glauben der Kirche folgen­
derm aßen bestim m t:

„Da Gott in der Heiligen Schrift durch Menschen nach Menschenart gesprochen hat
[...], muß der Schrifterklärer, um zu erfassen, was Gott uns mitteilen wollte, sorgfältig
erforschen, was die heiligen Schriftsteller wirklich zu sagen beabsichtigten un
Gott mit ihren Worten kundtun wollte. ,.
Um die Aussageabsicht der Hagiographen zu ermitteln, ist neben an ere
literarischen Gattungen zu achten. Denn die Wahrheit wird je an ers arge eg
ausgedrückt in Texten von in verschiedenem Sinn geschichtlicher, prop etisc er o
dichterischer Art, oder in anderen Redegattungen. Weiterhin hat tr ‘
dem Sinn zu forschen, wie ihn aus einer gegebenen Situation heraus der Hagiograph
„Schriftauslegung im W iderstreit
86

den B edingu ngen sein er Z eit und K u ltu r en tsp re ch e n d - m .t H t fe d e r d a m a ls ü b ­


lichen literarisch en G attungen - hat au sd rü ck en w ollen u n d w trk h ch zu m A u sd ru ck
g e b ra ch t hat [ . . . ] . W ill m an rich tig v ersteh en , was d e r h e th g e V erfa sser m sein er
Sch rift aussagen wollte, so m u ß m an sch ließ lich genau a u f d ie v o rg eg eb en en u m w elt­
b ed ing ten D e n k -, Sp rach - und E rz ä h lfo rm e n a c h te r, d ie z u r Z e it d es V erfassers
h e rrsc h te n , w ie a u f die F o rm e n , d ie d am als .m m e n s c h l.c h e n A llta g sv e r k e h r ü b lich
w a ren j 701

D a die H eilige S ch rift in dem G eist gelesen und a u sg eleg t w erd en m u ß , in d em sie
geschrieben wurde [ . . . ] , erford ert die rech te E rm ittlu n g d es S in n e s d e r h e ilig e n Texte,
d aß m an m it n ich t g erin g erer S o rg fa lt a u f d en In h a lt u n d d ie E in h e it d e r g an zen
S ch rift achtet, un ter B erü ck sichtig u ng d er leb en d ig en Ü b e r lie fe ru n g d e r G e sa m tk irc h e
und d er A n alo gie des G lau ben s. A u fg ab e d er E x e g e te n is t es, n a c h d ie s e n R e g e ln a u f
e in e tiefere E rfassu n g und A u sleg u ng d es S in n e s d e r H e ilig e n S c h r if t h in z u a r b e ite n ,
d am it so gleichsam a u f G ru n d w issen sch a ftlich er V o ra rb e it d as U rte il d e r K irc h e reift!
A lle s , was die A rt d er S ch rifte rk Järu n g b e trifft, u n te rs te h t le tz tlic h d e m U rte il d e r K ir­
ch e, deren g otterg eb en er A uftrag und D ie n st es ist, d as W o r t G o tte s z u b e w a h re n und
auszulegen

Am 27. Januar 1988 hielt R atzin ger in N ew Y ork die jä h rlic h stattfin d en d e
„Erasm us lecture“, die diesmal u n ter den Titel „B iblical In te rp re ta tio n in C ri-
sis: On the Question o f the F o u n d a tio n s an d A p p ro a ch e s o f E xeg esis T oday“
gestellt war und in einem zweitägigen W o rk sh o p m it G eleh rten v ersch ied en er
christlicher Konfessionen weiter d isk u tiert w u rd e. S ein en V o rtra g h a t R a tz in ­
ger 1989 zusam m en m it R eferaten von G eo rg e L in d b e ck , R a y m u n d E. B row n
und W illiam H . L azareth - d u rch ein V o rw o rt e rg ä n z t - a u f D e u ts c h als
„Q uaestio d isp u tata“ u n ter d em T itel „ S ch rifta u sle g u n g im W id e rs tre it“ h e r­
ausgegeben. In diesem V ortrag faß t e r d en o b e n z itie rte n A rtik e l (D V 1 2 ) wie
folgt zusam m en:
„Die Konstitution über die göttliche Offenbarung hat versucht, die beiden Seiten der
Interpretation, das historische ‘Erklären’ und das ganzheitliche ‘V erstehen’ in einen
ausgewogenen Zusammenhang zu bringen. Sie hat zum einen das R echt, ja die N ot­
wendigkeit der historischen Methode betont, die sie au f drei wesentliche Elem ente zu­
rückführt: au f das Beachten der literarischen G attungen, a u f die E rfo rsch u n g des hi­
storischen (kulturellen, religiösen usw.) Umfelds und a u f die U n tersu ch u n g dessen,
was m an Sitz im Leben zu nennen pflegt. [Zu A rt. 12, Abs. 3 :] G leichzeitig hat aber
das Konzilsdokument auch am theologischen Charakter der Exegese festgehalten und
die Schwerpunkte der theologischen M ethode in der A uslegung des Textes benan n t:
D ie Grundvoraussetzung, a u f der theologisches Verstehen d er Bibel b e ru h t, sei die
Einheit der SchriÜ; dieser Voraussetzung entspreche als m eth od isch er W eg die ‘an alo ­
gia fidei, d.h. das Verstehen der Einzeltexte aus dem G anzen h erau s. D azu k o m m en
zwei weitere methodische Hinweise. Die Schrift ist eins von ih rem d u rchgeh en d en ge­
schichtlichen Träger her, von dem einen Volk Gottes. Sie als Einheit lesen, h eiß t daher,
ste von d er Kirche als von ihrem Existenzort her lesen und den Glauben der Kirche als
Zur Interpretation der Konzils;»aussaeen

s c h e I n s t r u m e n t a r b e t r a c h t e t R a tz in g e r v ie lm e h r als eine eigenständ ige


G r ö ß e , d ie e r a ls e in e v o n zw ei Seiten der Interpretation au ffaß t und als h i­
s t o r is c h e s ‘ E r k l ä r e n ’ “ v o m „ g a n z h e it lic h e n ‘V ersteh en ’“ bzw. der „th e o lo g i­
sc h e n M e t h o d e in d e r A u s le g u n g d es T e x te s“ ab h e b t, von dem erst’im d ritten
A b sa tz d e s g e n a n n t e n A rtik e ls d ie R ed e sei.
A u c h h in sich tlich des d ritte n Absatzes von Artikel 12 setzt Ratzinger neue
A k z e n t e . D o r t sta n d : „die re c h te E rm ittlu n g des Sinnes der heiligen Texte
(e r fo rd e rt), d a ß m a n m it nicht g erin g erer Sorgfalt auf den Inhalt und die Ein­
h eit d er g a n z e n S c h rift a c h te t, u n te r B erücksichtigung der lebendigen Ü ber­
lieferung d er G e sa m tk irch e u n d d er Analogie des Glaubens“ (meine Hervor­
h e b .). In d e r I n te r p r e ta tio n d ieses A bsatzes d urch Ratzinger findet sich
n ich ts m e h r v o n d ie s e r G le ich g e w ich tu n g der exegetischen Arbeit im enge­
ren S in n u n d d e r S u c h e n a c h d e m V ersteh en der einzelnen Schrifttexte im
G a n z e n d e r T r a d iti o n . D e m K o n z ils te x t zufolge ging es um eine doppelte
A u fg ab e d e r E x e g e te n , d e re n E rfü llu n g a u f ein tieferes Erfassen des Sinnes
d er H e ilig e n S c h r ift g e r ic h te t ist u n d so g leich sam au f Grund wissenschaft­
lich er V o ra rb e it zu g rö ß e re r Reife des U rteils der Kirche beizutragen vermag.
R a tz in g e rs K o m m e n ta r lä ß t w en ig v o n d er gem einsam en Last erkennen, die
d as e x e g e tis c h e F o r s c h e n m it d e m M ü h e n des L ehram tes u m die Auslegung
d er S ch rift v e r b in d e t . 71
D ie h ie r g e n a n n te n B e o b a c h tu n g e n w erden von vielen w eiteren Äußerun­
g en zu d ie s e r T h e m a tik b e s tä tig t. R a tz in g e r sieh t in der Tat die Aufgabe der
„ F a c h e x e g e te n “ e n g e r, als dies im K o n zilstext der Fall ist.7- D en Schlüssel für
d ie se s e ig e n a r t ig e P h ä n o m e n k a n n m a n v ie lle ich t in ein er einleitenden B e­
m e r k u n g A . G rillm e ie rs in se in e m K o m m e n ta r zu D ei Verbum, A rt. 12 finden.

„V erschiedene K onzilsväter h aben [in DV 12] die sogenannte rationale und die
eigentlich ‘theologische’ Exegese unterschieden. Diese Unterscheidung ist nicht g üc
lieh. Da es in jed em Fall u m den sensus divinus [die Aussageintention Gottes] im sen-
sus h u m a n u s [in der m enschlichen Aussageintention] geht, handelt es sich immer um
th eologisch e Exegese. D a die Schrift im m er in der Kirche gelesen werden mu ,
„Schriftauslegung im Widerstreit

. Trennung zwischen dem ersten [in DV 12, Abs. 1 -2 beschriebenen] Und


auch keine'
[dem in DV 12, Abs 3 beschriebenen] zweiten Weg gem acht werden, sofern beide
[dem in u v nx»- — lo , 7
1 . u /k 1Qn7. .i j Z ).
recht begangen werden“ (A. Grdlme.er 1967,552).

Man darf wohl vermuten, daß Ratzinger zu jener Gruppe von Theologen
gehörte die Grillmeier hier als „verschiedene Konz.lsväter bezeichnet. Dafür
spricht z B sein Beitrag „Die Bedeutung der Väter für die gegenwärtige Theo­
logie“ Hier bemerkt Ratzinger, in dem doppelten Ja des Zweiten Vatikanums
- zur historisch-kritischen Methode und zur Auslegung von der Überliefe­
rung, vom Glauben der Kirche her - verberge sich der

„Antagonismus zweier Grundeinstellungen, die in ihrem Ursprung wie in ihrer Ziel­


richtung einander durchaus gegenläufig sind. Der Konzilstext sieht als das Wesen des
zweiten Weges das Verständnis der Schrift als einer inneren Einheit an, in der eins das
andere trägt, in ihm steht und so das einzelne nur je vom Ganzen her gelesen und ver­
standen werden kann. Damit ist in der Tat die Kernidee patristischer Exegese getrof­
fen, deren zentraler exegetischer Gedanke die Idee der Einheit war [ ...] . Das Geschäft
des Historikers aber ist zunächst nicht das Vereinigen, sondern das U nterscheiden,
nicht das Suchen nach dem einen Pneuma, das der Glaube in der ganzen Bibel wirk­
sam weiß, sondern das Fragen nach den vielen M enschen, die je au f ihre Art an diesem
bunten Gewebe gewirkt haben. Seine Aufgabe ist also gerade das, was die Väter
‘fleischliche Lektüre nach Art der Juden’ genannt haben [ . . . ] “ (1 9 6 8 b , 142). „Die
Frage nach der Aktualität der Väter hat uns damit vor die Zerreißprobe der heutigen
Theologie überhaupt gestellt, die ihr von ihrem A usgespanntsein zwischen zwei Wel­
ten - Glaube und Wissenschaft - auferlegt wird. Und freilich ist es nun doch auch wie­
der nichts gänzlich Neues, [ ...] sondern nur eine verschärfte Wiederkehr des alten
Dilemmas von auctoritas und ratio, das im m er schon ihren besonderen Weg und ihre
besondere Schwere ausgemacht hat“ (ebd. 143, m eine H ervorheb.).

Insbesondere der Hinweis auf das D ilem m a zwischen auctoritas und ratio
legt nahe, auf die Arbeit(en) zu Bonaventura zurü ckzu greifen , d er geradezu
„Pate für Ratzingers Position in dieser Frage gestan d en zu h aben scheint.
Das deutete sich schon in der H abilitationsschrift an (s. S. 2 6 ) , n o ch klarer
aber in dem Vortrag „Wesen und Weisen der au cto ritas im W erk des heiligen
Bonaventura“ von 1959. Hier heißt es:

„Die Apostel sind die eigentlichen Träger hierarchischer Gewalt, die Evangelister
übermitteln dagegen bloß den Inhalt der rechten Lehre. Die Zweiheit dieser Prinzipier
urc zieht in der Form der Zweiheit von fides - scriptura [Glaube - Schrift] das ganze
er onaventuras. Dabei ist unter fides zunächst das Symbolum fidei, das apostoli-
f n 3U ,enS e enntn‘s ZU verste*len>das (so glaubt Bonaventura mit seiner Zeit
[ J) von den zwölf Aposteln geschaffen wurde [...] . Das von den Aposteln geschaffe-

«bende N f ^ f
aUt0ritativen Einsetzung und ist daher die richtung­
gebende Norm des Glaubens; die Schrift hat demgegenüber bloß erzählenden Charak-
„Kanonische Exegese”

ter und ist nach der apostolischen Norm zu interpretieren. [.. 1 Nur nebonK»' u
hier darauf hingewiesen werden, daß mit dieser Überordnung der fides übe T
Schrift der wesentliche Kern dessen gegeben ist, was man späterhin als das kathol sche
Traditionsprinzip bezeichnen wird - nicht die Schrift ist ‘die’ auctoritas, sonde n die
fides, in der die aposto ische auctoritas selber gegenwärtig ist. [...] [D]as Symb^
kann ex auctontate eccles.ae [aufgrund der Autorität der Kirche] auch erweitert we7
den, d.h. die K irche hat das Recht zu Dogmatisierungen, die eine genauere Bestim
mung der fides mit sich bringen. So ist aber [...] die fides keine völlig abgeschlossene
Buchstabenautontat, sondern ist mit der lebendigen Kirche untrennbar verschmolzen
und nur eben als solche, die in der Kirche lebendig ist, ist sie die wahre auctoritas“
( 1960b, 6 2 f.).73

W ie versucht R atzinger sein Verständnis der Beziehung zwischen wissen­


schaftlicher Exegese und der Bibelauslegung im Gesamtvollzug kirchlicher
Ü berlieferung m eth o d isch , im Dialog m it der „akademischen“ Exegese zu
verantworten? Auch dazu gibt es interessante Hinweise in seinem New Yorker
Referat.

„Kanonische Exegese“

Im V orw ort zu d em Sam m elband „Schriftauslegung im Widerstreit“ bemerkt


der K ardinal: „Im d e u tsch en S p rach rau m noch wenig beachtet ist die be­
sonders in A m erik a an G ew icht zusehends gewinnende Theorie d er‘kanoni­
schen Exegese’, deren zen trale These besagt, daß der vom Exegeten zu verste­
hende und au szu legen d e T ext der kanonische Text der Bibel als Einheit und
Ganzheit ist“ (1 9 8 9 a, V o rw o rt 8 A nm . 2 ). Ratzinger weist hier auf einen von
Brevard S. C hild s als „ c a n o n ica l ap p ro ach “ und von James A. Sanders als
„canonical criticism “ bezeichneten Zugang zur Bibelexegese hin, der von die­
sen b eid en G e le h rte n e rstm a ls A nfang der siebziger Jahre zur Diskussion
gestellt w u rd e . 74
Die (u n te re in a n d e r teilweise b eträchtlich differierenden) Ansätze zu einer
„kanonischen E xegese“ w aren vor allem durch die historisch-kritische Unter­
suchung des „A lten“ Testam ents ausgelöst worden, die durch ein immer kom­
p lexer w erd en d es W ü h le n n ach den ursprünglichen Quellen der einzelnen
Schriften sich zu so etw as wie ein er Filialdisziplin der Chirurgie bzw. Anato­
m ie en tw ick elt h a tte . D aß diese S chriften Spiegel einer kontinuierlichen,
w enn au ch ä u ß e rs t sp a n n u n g sreich en H eilsgeschichte sind, geriet dabei fast
völlig aus d em B lick . In so fern die k anonische Exegese die Frage nach dieser
vergessenen E in h eit w ieder ins G edächtnis rief, durfte m an in ihr einen wirk­
lichen F o rts c h r itt in d er exegetischen W issenschaft und zugleich einen wert
vollen D ienst am L eben des G ottesvolkes sehen. Insofern aus christlicher Per-
90 „Schriftauslegung im W iderstreit“

spektive die Heilsgeschichte Israels als Teil eines weit umfassenderen Plans
Gottes mit den Menschen anzusehen ist, bekam damit zugleich die schwierige
Frage ein neues Gewicht, wie das „Alte Testam ent“ au f Christus hin gelesen
werden kann, ohne im gleichen Atemzug das besondere Verhältnis Jahwes zu
seiner „Braut Israel“ an den Rand zu drücken. Diese Frage kann hier nicht
weiter verfolgt werden.
Für die Einschätzung des Werts der „kanonischen Exegese“ im Blick auf
das Neue Testament speziell ist allerdings von großem Gewicht, ob die Beto­
nung der „Einheit“ und „Ganzheit“ des sich in der apostolischen Tradition
ausfaltenden Lebens nicht zu Lasten der Tatsache geht, daß m it dem Kanon
neutestamentlicher Schriften im entschiedenen Nein zu gnostisierender Re­
duktion und zügellos-poetischer Ausfaltung der Botschaft Jesu vor allem fest­
gelegt wurde, daß das Evangelium Jesu Christi nur durch das Prism a von vier
Evangelien hindurch (keinem weniger und keinem m eh r) erk an nt werden
kann. Hiermit ist ein zentraler Punkt in der Position Ratzingers zum Verhält­
nis von „Historie und D ogm a“ angesprochen. Dies trat deutlich in dem span­
nungsvollen Dialog zwischen ihm und zu m indest einem Teil der M itglieder
der Päpstlichen Bibelkommission zutage.

„Die Interpretation der Bibel in der Kirche“

M it Bezug au f die Diskussion seines New Y orker V ortrags von 1988 n otiert
Ratzinger seine Verwunderung über die nahezu vollständige Zustim m ung der
evangelischen Kollegen. „Bei den katholischen Teilnehm ern w ar - wenigstens
anfangs - noch eher ein Zögern zu versp ü ren “ (1 9 8 9 a , V o rw o rt 12). Was die
beiden protestantischen Gelehrten Lindbeck und L azareth an geht, w ar v o r­
auszusehen, daß es kaum einen Dissens in der für R atzinger zentralen Frage­
stellung geben würde. Lazareth geht in seinem B eitrag gar n ich t a u f Problem e
ein, die sich von der historischen K ritik h er für den G lauben ergeb en . Lin d ­
beck bem üht sich um eine an die p o stm o d ern e Situ ation an gepaß te W ied er­
belebung der klassischen H erm en eu tik bzw. p rä m o d e rn e n B ib elau slegu n g,
die ihm eine n arrative Bibelauslegung m öglich zu m ach en sch ein t. W ie R at­
zin ger weist auch er eine in d er N achfolge d er A u fk lärun g b e trie b e n e R ü ck ­
frage nach dem „wahrhaft H istorischen“ h inter die in einer In terp retatio n sg e­
m einsch aff gewachsene Bibellektüre ab. In m an ch en Passagen seines V ortrags
w ird m a n an R atzin gers K ritik der von H an s K ü n g v erfo lg te n M e th o d e
e rin n e rt . 75

D e r Präfek t d er G laubenskongregation ist gleichzeitig P räsid en t d er P ä p st­


lichen B ib elk om m ission , deren vom Papst berufene M itglied er ih ren Sekretär
„Die Interpretation der Bibel in der Kirche“
91
selbst w äh len . Als R atzin g er bald nach seinem Vortrag von 1988 A' v
nrission d ie E r a rb e .tu n g eines die T h em atik der New York« r a * * * ? W
n e h m e n d e n D o k u m e n ts v o rsch lu g , dürfte er kaum g e a h n tb a h "‘ T / f
K o m m is s io n 1 9 9 1 d en Je su ite n A lb ert Vanhoye zu ihrem S e w ’
w ü rde. A lb e rt V a n h o y e , N e u te stam e n tle r und von 1 9 8 4 bis 19% RekT d "
Päpstlichen B ib e lin s titu ts , g e h ö rte zu den K ritikern Ratzinae^s d $
Workshop v o n 1 9 8 8 .- Auf diesem H intergrund wird n a c h v o l l z i e h b a r , «
das 1 9 9 3 e r s c h ie n e n e D o k u m e n t, dessen Aussagen teilweise nur s c h w e r T t
den A n s ic h te n R atzin g erszu v erein b aren sind, in einer Ansprache Johann
P auls I I. geradezu enthusiastisch b e g rü ß t, vom Präfekten der Glaubenskon­
g r e g a tio n ab er m it e in e m e h e r k ü h le n G eleitw ort auf den Weg geschickt
wurde. D arin w ird e ig e n s b e to n t, d aß die Päpstliche Bibelkom m ission „kein
Organ d es L ehram ts, s o n d e rn ein e K om m ission von Gelehrten“77 ist.
Was tragen diese D etails zum Verständnis der Position Ratzingers bei? Es
sind vor allem zwei P unkte, die in Ratzingers Aussetzungen an „der histo­
risch -k ritisch en M e th o d e “ ständig wiederkehren: Erstens zerlege sie den für
den G lauben gru n dlegend en Text der Bibel in kleinste Stücke, um möglichst
nahe an den „w ah ren U rsp ru n g “ heranzukommen. „Am Ende erfährt man
nicht m ehr, was der Text sagt, sondern was er sagen sollte und auf welche Be­
standteile m an ihn zurückführen kann“ (1989 b, 16). Dabei sei zweitens Glau­
be „kein B estandteil d er M ethode und Gott kein Faktor historischen Gesche­
hens, m it d em sie re ch n e t“ (ebd. 17). Aus dieser doppelten Engführung resul­
tiere die Frage: „H at die M ethode erst einmal mit ihrer Anatomie die Historie
zum T oten g e m a c h t, w er kann sie dann wieder auferwecken, daß sie als Le­
bendige m it m ir s p rich t?“ (eb d .) Ratzingers Antwort: „Wenn‘Hermeneutik’
überzeugen soll, m u ß d er innere Zusammenhang zwischen historischer Ana­
lyse und h e rm e n e u tis c h e r Synthese gefunden werden“ (ebd). Besonders an
dieser Stelle w ird ein em schm erzlich das mehr als ein Jahrhundert lang uner­
füllte D e sid e ra t b e w u ß t, die w ichtige Diskussion zu den hier anstehenden
prinzip iellen F ra g e n au fzu arb eiten , wie sie auf hohem Niveau 1902/03 (also
sch on zu B egin n des so g en ann ten „Modernismusstreits ) in dem Briefwech­
sel zw ischen M au rice Blondel und Alfred Loisy geführt wurde.78
Ratzingers H auptaugenm erk ist allerdings nicht mehr auf die aus der Quel­
lenkritik resultierenden Probleme gerichtet, die zu Anfang des 20. Jahrhun­
derts in der M odernism uskrise vorrangig erschienen. Das damit verbundene
Ziel, dem C h ristu s des D ogm as eine Darstellung des „wahren Jesus der Ge
schichte“ entgegenzuhalten, war im Verlauf des Ersten Weltkriegs praktisch
aufgegeben w orden, während die wichtigste Frucht dieser Kritik, die Lösung
der „synoptischen F rage“ durch die Zwei-Quellen-Theorie, seit langem
allgemein zum anerkannten Instrum entar der exegetischen Forsc ung
92 „Schriftauslegung im Widerstreit“

Fragwürdig erschien Ratzinger hingegen die A rt und Weise, wie von der
durch Martin Dibelius und Rudolf Bultmann in d.e neutestamentliche Exege.
se eingeführten formgeschichtlichen Methode Gebrauch gemacht wurde. Diese
Methode verleitet dazu, den Sinn einzelner Textstucke - etwa bestim mter
Wunder„geschichten“ oder Jesus zugeschriebener Reden - aus dem „Sitz im
Leben“ der frühen Ortsgemeinden, in denen sie geprägt wurden, zu rekon­
struieren, um diesen „ursprünglichen Sinn“ der Bedeutung, die sie dann im
Endtext angenommen haben, besserwisserisch gegenüberzustellen. Seit der
mit Käsemann einsetzenden „neuen Rückfrage nach dem historischen Jesus
(s. S. 4 9 f.) wurde dieses problematische Vorgehen dadurch erheblich ver­
schärft, daß man im eklatanten Gegensatz zu Bultmann nun doch wieder den
von Lessing aufgewiesenen „garstigen breiten Graben“ m ißachtete. Die Resul­
tate der form- und traditionsgeschichtlichen Analyse sollten zwar nicht mehr
dazu dienen, eine Jesus-Biographie zu erstellen. Aber rek on stru ierte Frag­
mente der „authentischen Stim m e“ (ip sis sim a v o x ) und der „wirklichen
Taten“ (ipsissima facta) Jesu von Nazaret wurden zu m indest als wertvolle
Orientierungspunkte für eine rational zu verantw ortende Christusverkündi­
gung angesehen.
Der Kritik Ratzingers an diesen Entw icklungen hatten die M itglieder der
Päpstlichen Bibelkommission schon deswegen nichts W esentliches entgegen­
zusetzen, weil es sich hier im Grunde um Folgerungen der system atischen
Theologie handelt, die über die Zuständigkeit d er E xegeten hinausgehen.
Aber sie brachten in einigen Punkten ihres D ok u m en ts von 1993 doch ent­
schieden andere Akzente ein, vor allem durch Betonung des p o sitiv en Beitrags
der formgeschichtlichen Forschung für ein genaueres Verständnis der kanoni­
schen Texte:

„(An und für sich führte diese Methode] zum Ergebnis, daß deutlich wurde, wie die
neutestamentliche Überlieferung ihre Herkunft]79] in der christlichen Gemeinschaft
hatte, und ihre Form von der Urkirche empfing [...]. Zur Formgeschichte gesellte sich
die Redaktionsgeschichte [...]. Diese versuchte, den persönlichen Beitrag jedes Evan­
gelisten und die theologische Ausrichtung, die seiner Redaktionsarbeit zugrunde lag,
hervorzuheben. Durch die Anwendung dieser letzten Methode wurde die Reihe der
verschiedenen Schritte der historisch-kritischen Methode vollständiger: von der Text­
kritik kommt man zur Literarkritik, die die Texte zerlegt (Quellenforschung), dann zu
einer kritischen Erforschung der Formen und schließlich zu einer redaktionsge-
sc ichtlichen Analyse, die dem Text als ganzem ihre Aufmerksamkeit schenkt. So
wurde ein klareres Verständnis der Absicht der Verfasser und der Redaktoren der Bibel
möglich, und dadurch auch der Botschaft, die sie den ersten Empfängern vermitteln
wollten (ebd. 32). „Als analytische Methode [hilft die historisch-kritische Methode]
dem Exegeten, vor allem in der Erforschung der Redaktion der Texte, den Inhalt der in
der Bibel enthaltenen göttlichen Offenbarung besser zu erfassen“ (ebd. 33). „Während
Normen der Schriftausleigung
93

m an in den früheren S e h n t en versucht hat, den Text in seinem Werden in einer dia
ch ron en Perspektive zu erklären, so schließt dieser letzte Schritt [sc. die Redaktion,"
kritik] m it ein er syn chron en U ntersuchung: man erläutert nun den Text als solche"
- und betrachtet ihn unter dem Gesichtspunkt einer Botschaft, die der Verfasser J
nen Z eitgenossen verm .tteln w ill“ (ebd. 34). „Denn der Text in seiner Endgestalt und
nichtt in irgendeiner früheren Fassung ist der Ausdruck von Gottes Wort“ (ebd 35)

Hier spielen die Verfasser des Dokuments wahrscheinlich auf die Enzyklika
D ivino a ffla n te Spiritu von 1943 bzw. auf Kap. III, Art. 12, der Offenbarungs­
konstitution D ei V erbum an. Mit der Betonung, daß die Redaktionskritik als
letzte Stufe historisch-kritischer Exegese dem „Ausdruck von Gottes Wort“
auf der Spur ist, wird der theologische Charakter dieser wissenschaftlichen Ar­
beit unterstrichen. D am it steht das Dokument der Päpstlichen Bibelkommis­
sion in einer kaum zu übersehenden Spannung zu dem ein Jahr zuvor veröf­
fentlichten „Katechismus der Katholischen Kirche“, in dem von den Früchten
der historisch-kritischen Exegese kaum noch etwas aufzufinden ist.80

Normen der Schriftauslegung

Im ersten A bschnitt dieses Kapitels haben wir Unterschiede zwischen Ratzin-


gers E in sch ätzu ng h istorisch -k ritisch er Exegese und den diesbezüglichen
Aussagen des Zweiten V atikanum s (wie auch deren Interpretation durch
A. G rillm eier) festgestellt. Dabei ergab sich, daß diese Divergenzen nicht erst
in Ä u ß eru n gen w äh ren d seiner Zeit als Präfekt der Glaubenskongregation,
sondern sch on in ein em bald n ach Konzilsende veröffentlichten Beitrag zu­
tage treten , der uns d an n a u f n och frühere Texte im Zusammenhang seiner
Arbeit an B onaventura zurückgreifen ließ. Von besonderem Interesse ist seine
am 28. Juni 1963 - w enige Tage nach der Wahl Papst Pauls V I .- i n Münster
gehaltene A n trittsv o rle su n g (1 9 6 5 a, 2 5 -4 9 ) . Infolge des Verzichts auf aus­
führliche Q uellenverw eise hinsichtlich der patristischen bzw. scholastischen
Tradition tritt hier die Position deutlicher zutage, die Ratzinger schon vor den
heftigen D ebatten u m die Form ulierung der ersten drei Kapitel der „Dogma­
tischen K onstitution über die göttliche Offenbarung Dei Verbum - insbeson­
dere w ährend der beiden letzten Konzilsphasen (1 9 6 4 -1 9 6 5 ) - vertreten hat .81
Zu B egin n sein er V orlesung k o m m t Ratzinger kritisch auf ]. R. Geisel
m an n s T hese von der „m aterialen Suffizienz der Schrift“ zu sprechen, die zu
heftigen D eb atten u n te r den K onzilsvätern geführt hatte. Gerade dies wird
m an als H in tergru n d für seine wachsende Betonung der Rolle des kirchlichen
L ehram ts bei d er Auslegung der Schrift im Auge behalten müssen. Er unter
streicht zu R echt:
94 „Schriftauslegung im Widerstreit“

„Schrift kann gehabt werden, ohne daß O ffen barun g gehabt w ird. [ . . . ] O ffenbarung
ist vielmehr erst da angekomm en, wo außer den sie bezeugenden m aterialen Aussagen
auch ihre innere W irklichkeit selbst in der Weise des G laubens w irksam geworden ist.
Insofern gehört in die Offenbarung bis zu einem gewissen G rad auch das em pfangen­
de Subjekt hinein, ohne das sie nicht existiert. [ ...] Sie ist eine lebendige W irklichkeit,
die den lebendigen M enschen als O rt ihrer Anw esenheit verlangt“ (1 9 6 5 a, 35).«3

Um das Verhältnis von Schrift und Tradition näher zu bestim m en, unter­
scheidet Ratzinger zwischen einer „neutestam enthchen“ und einer „kirch­
lichen Theologie des Neuen Testaments, die wir D ogm atik heißen. [ ...] Das
eigentümliche ‘M ehr’, das [ ...] die D ogm atik von der biblischen Theologie
unterscheidet, nennen wir in einem präzisen Sinn die Tradition“ (ebd. 43). Er
betont, daß die kirchliche Theologie des Neuen Testaments, obgleich sie über
die innere historisch erfaßbare neutestamentliche Theologie hinausgreiff, die­
ser dennoch „nichts bloß Äußerliches ist. Denn auch hier beginnt schon mit­
ten im Neuen Testament selber der Vorgang der kirchlichen Auslegung des
Überlieferten; die kirchliche Theologie des Neuen Testaments reicht als Pro­
zeß mitten in das Neue Testam ent selbst hinein, wie sich etwa an der Ge­
schichte der synoptischen Ü berlieferung aufs deutliche zeigen ließe“ (ebd.
43 f.).
Diese knappen Ausführungen sind im H inblick a u f die weitere Entw ick­
lung von Ratzingers Denken h ö ch st b em erkensw ert. Schon hier m öch te er,
wie weiter unten zu zeigen sein wird, einen V orrang des D ogm as bzw. der re-
gula fid ei (N orm des G laubens) gegen üb er dem bloßen B uchstaben der
Schrift heraussteilen. Dabei m iß t er, zum einen, in diesem Z usam m enhang
der historischen Exegese in sich aber noch einen theologischen Stellenwert bei.
Zum anderen - und dies ist ein w irklich erstau n lich es F ak tu m - bewegt er
sich allem Anschein nach im U m kreis ein er th eo lo g isch überbew erteten
form - bzw. traditionsgeschichtlichen F o rsch u n g , die er sp äter äu ß erst skep­
tisch betrachten wird. „Das Neue T estam en t“ k ennen w ir d o ch erst seit der
kanonischen Festlegung b estim m ter S ch riften , die „in n eu testam en tlich er
Z eit“ entstanden sind. Das vielfältige M aterial der frühen T radition (en ) über
Jesus von Nazaret - in dem von Ratzinger anvisierten Beispiel die „Geschichte
d er synoptischen Ü b erlieferun g“ - g e h ö rt n ich t d azu. A u f dieses M aterial
h aben M arkus und dann, v o r allem a u f sein E vangeliu m g estü tzt, M atth äu s
und Lukas zw ar zurückgegriffen. Sie haben d arau s m it k ritisch em B lick eine
A usw ahl g etroffen , es ü b erarb eitet und k o m m e n tie re n d e rg ä n z t. Jene den
Evangelien vorausgehende, d urch h isto risch -k ritisch e A nalyse in ein em sehr
b egren zten U m fan g rek on stru ierbare Jesu s-T rad ition d a rf ab er n ich t als Teil
des Prozesses verstanden w erden, den R atzin ger h ier als „T rad itio n im p räzi­
sen Sinn , d .h . die „kirchliche Theologie des N euen T estam en ts, die w ir D og-
Normen der Schriftauslegung
95
matik heißen“, begreift. Diese hat es allein mit den Zeuen
selbst als authentische Verkündigung allgemein-kirchlich ak ü T ^
kannt hat, nicht mit dem apokryphen Schrifttum das h aner“
lieh“ entstanden, oder „vor-neutestamentlichen“ Übe’r l i e f e r J t?” ent’
weise wohl auch in hohem Grade als „apokryph“ einsestuft „ ^ ^ ^
wie etwa die kritische Behandlung bereits vorliegender W u n d " ^ ™ SSm'
lu rch die Evangelisten zeig t.- ^ Wund«geschichten
Ratzinger kom m t mit der skizzierten Unscharfe im Traditionsbegriff dem
theologischen G rundfehler der zweiten, von Käsemann eingeleiteten PhaTe
der Rückfrage nach dem historischen Jesus nahe (s. S. 49f.). Um den Nach-
weis einer Kontinuität zwischen dem „historischen Jesus“ und dem verkün
digten C hristus“ bem üht, haben Käsemann und die ihm folgenden Theolo­
gen zu wenig die Kluft berücksichtigt, die vom Historiker rekonstruierte frühe
Jesus- T ra d itio n en von für den Glauben verbindlichen Zeugnissen über Jesus
von Nazaret scheidet . 85 Allein aus dem Zusammenhang dieser Zeugnisse her­
aus (Tradition im umfassenden Sinn authentischer Überlieferung) vermochte
sich eine b estim m te G em einschaft als Kirche Jesu Christi zu erkennen und
den Kanon des N euen Testaments als allgemein verpflichtend, gleichsam als
am besten id en tifizierbare Selbstobjektivation des Zeugnisses von Jesus
C hristus, zu b estim m en . Diesen Sachverhalt hat Ratzinger selbst treffend im
R ückgriff au f die m eh rfach e Bedeutung des neutestamentlichen Terminus
p a r a d o s is ltr a d itio um schrieben. Traditio meint zunächst das zentrale Gesche­
hen der „A uslieferung“ u nd „Selbsthingabe“ des Sohnes, ein Geschehen, das
sich d an n als „Ü b erlieferun g“ in die Kirche als Leib Christi fortzeugt. Diese
„G esam tw irklichkeit, die in der Überlieferung überliefert wird, (ist) die ent­
scheidende G rundw irklichkeit, die allen Einzelexplikationen, auch denen der
S chrift, jew eils v o rau s ist und das eigentlich zu Überliefernde darstellt“
(1 9 6 5 a , 4 5 ).
1963 u n tersch eid et R atzinger zu wenig zwischen der Jesus-Überlieferung,
die d urch die Festlegung des Kanons als authentisches Zeugnis der ursprüng­
lichen Z eugen bezeugt w urde, und der wissenschaftlich-hypothetischen Re­
k o n stru k tio n der den n eutestam entlichen Schriften vorausliegenden „ur­
sp rü n glich eren “ T rad ition. Ist hier ein Grund dafür zu suchen, daß er später
die fo rm - und traditionsgeschichtliche Arbeit als solche negativ bewertet und
ihren N u tzen fü r die redaktionskritische Ermittlung der je spezifischen Theo­
logie (in sb eso n d ere) der vier Evangelisten kaum beachtet hat? Für diese An
n äh m e gibt es in d er Tat einige Anhaltspunkte. In den Studienjahren und der
kurzen Z eit d an ach , als R atzinger n och nicht durch seine Arbeit für das Kon­
zil ü b erlastet w ar, galt als „redaktionskritische bzw. „redaktionsgesc ic
liehe“ A rb eit das, was B u ltm an n in se