Erzähltheorie Textinterpretation
Textinterpretation 2021
Das Ziel der Interpretation ist, aufgrund der Formanalyse den Bedeutungszusammenhang all
der Einzelheiten aufzuzeigen. Den Zusammenhang des Textes gilt es sichtbar und einsichtig
zu machen. Das gelingt, wenn aus den vielen Einzelergebnissen der Formanalyse, der
charakteristischen Textmerkmale, der epochalen Merkmale zu einer allgemeinen Wahrheit
geführt werden kann. Der Text wird auf Allgemeines reduziert.
A) schriftlichen Textinterpretation
1. Aufbau einer Textinterpretation
Einleitung
Enthält eine Kurzinformation für den Leser über:
• Die Art des Textes
• Den Titel des Textes
• Den Namen des Autors
• Das Entstehungsjahr
• Den Kern der Handlung in einem ganz kurzen Ausblick
Schluss / Deutung
Macht die Absicht des Autors deutlich.
Hauptaussagen des Textes werden formuliert.
Text wird persönlich gewertet.
Stellung nehmen
Wirkung der Gestaltungsmerkmale
Interpretation der historischen Hintergründe
2. Allgemein
• Eigene Worte
• Objektiv- distanzierte Schreibhaltung
• Keine Spekulation, Vermutung
• Tempus: Präsens, Vorzeitigkeit: Perfekt
• Kürze: Weglassen des Unwichtigen
Achten Sie auf gelungene Übergänge und gliedern Sie Ihren Text nach Sinnabschnitten.
Untermauern Sie Ihre Argumentation durch die Angabe von Textstellen (Zitate). Beachten
Sie die Zitierregeln bei indirekten und direkten Zitaten.
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Stefanie Wick Widmer
Deutsch
Erzähltheorie Textinterpretation
Textinterpretation 2021
3. Inhaltsangabe
Die Inhaltsangabe gibt den Inhalt eines fiktiven Werkes wieder. Das Ziel ist es in geraffter
Form den Haupthandlungsstrang und die wichtigsten Figuren dem Lesenden bekannt zu
machen. Im Gegensatz zur Rezension darf die eigene Meinung nicht in die Inhaltsangabe
einfliessen.
- Übersichtlicher Aufbau: Einleitung, Hauptteil, (wer, wo, wann, was) Schluss (ev.
Erzählabsicht, Besonderheiten der Sprache)
- Schluss wird verraten.
- Konzentration auf das zum Verständnis Notwendige, nicht auf Einzelheiten.
(Überblick und Distanz)
- Die Inhaltsangabe enthält keine Interpretation. Sie soll inhaltsgetreu, logisch,
nachvollziehbar.
- Chronologisch erzählen
- Wiederholungen sind zu vermeiden.
- Einleitungssatz: Zu Beginn wird der Titel, AutorIn, Textsorte und ev.
Erscheinungsjahr genannt.
4. Sprache / Stil
Beschreiben Sie den Text bezüglich Wortwahl, Stilebene, Satzbau.
Wie ist die Wortwahl? Welcher Stilebene gehören die Wörter zu? Werden Alltagswörter,
Generationenwörter, zeittypische Wörter, Dialekte, Soziolekte, Fachsprachen verwendet?
Wie sind die Sätze gestaltet? Welche Stilmittel (rhetorische Mittel) werden eingesetzt?
5. Zusammenfassend
1) Inhalt (ZOPEF)
2) Motiv – Stoff – Thema
3) Form (Aufbau; Erzählanalyse)
4) Gehalt (zentrales Thema, gedanklicher Kern, allgemeine Problemlage, wichtige
Lebensfragen)
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Stefanie Wick Widmer
Deutsch
Erzähltheorie Textinterpretation
Textinterpretation 2021
C) Übung
Lesen Sie die Ihnen zugeteilte Geschichte und bearbeiten Sie folgende Aufträge.
Präsentieren Sie Ihre Erkenntnisse der Klasse.
D) Formulierungshilfen
a. Einleitung
(Autor, Titel, Textgattung, Benennung Hauptpersonen, Entstehungszeit, Inhaltsangabe)
• Der vorliegende Sachtext „(Titel)“ von (Autor) aus dem Jahr (Entstehungsjahr)
handelt von.../ thematisiert...
• Im vorliegenden Sachtext mit dem Titel „(Titel)“ von (Autor) veröffentlicht am
(Entstehungsdatum) in (Verlag/ Herausgeber) geht es um...
• Die zentrale These/ Intention/ Absicht des Autors scheint ... zu sein.
(Deutungshypothese)
• Inhaltsangabe (kurz) wer, wo, wann, wie, was
b. Hauptteil
ZOPEF; Erzählanalyse (Erzählverhalten, Erzählhaltung, Sichtweise, Darstellungsweise,
Erzählerstandort…); Sprachliche Mittel; Aufbau
• Der Text lässt sich in folgende Sinnesabschnitte einteilen.../ gliedern... Der erste
Abschnitt beginnt in Zeile... und endet in Zeile... Es wird thematisiert…
• Zu Beginn wird beschrieben…
• Im zweiten Abschnitt wird mit der Schilderung der....
• Abschließend wird zusammengefasst, dass.../ schlussfolgert er, dass
• Der Autor/Erzähler/Erzählinstanz stellt die Frage nach.../ umreißt/ interpretiert ... als..
./ erörtert die Frage, ob... / macht sich lustig über.../ ironisiert.../ beantwortet die
Frage, indem...
• Auffällig ist, dass er ignoriert/ betont/ hervorhebt/ kaum erwähnt/ untermauert, dass...
• An folgendem Beispiel wird deutlich gemacht, dass...
• Die Textstelle belegt, dass ... / illustriert .../ karikiert...
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Stefanie Wick Widmer
Deutsch
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Textinterpretation 2021
c. Schluss
Thema abrunden/ eigene Stellungnahme/persönliche Meinung
Hat das Thema in unserer heutigen Zeit bzw. in unserer Gesellschaft noch eine/welche
Bedeutung.
Gibt es noch offene Fragen?
Fazit
Inhalt
1. Die Maschine (Günter Kunert) ........................................................................................ 5
2. Ist der Mensch ein wunderliches Geschöpf (Johann Peter Hebel, 1819) ........................ 6
3. Der Verkäufer und der Elch (Franz Hohler, 1979) ......................................................... 7
4. Streuselschnecke (Julia Frank, 2009) .............................................................................. 8
5. Saisonbeginn (Elisabeth Längesser, 1947)...................................................................... 9
6. Nacht (Sibylle Berg, 2001)............................................................................................ 11
7. Der Traum (Robert Walser, 1914) ................................................................................ 12
8. Zentralbahnhof (Günter Kunert, 1972) ......................................................................... 13
9. Die Küchenuhr (Wolfgang Borchert, 1947) .................................................................. 14
10. Und in Arizona geht die Sonne auf (Sibylle Berg, 2000) .......................................... 16
11. Notfalls Marmelade (Andreas Heidtmann, 2005) ..................................................... 18
12. Vergebliche Flucht (Autor unbekannt) ...................................................................... 20
13. Massnahmen gegen die Gewalt (Bertold Brecht; 1930) ............................................ 21
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Stefanie Wick Widmer
Deutsch
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Textinterpretation 2021
Erhaben und in einsamer Größe reckte sie sich bis unters Werkhallendach; schuf sogleich
die Vorstellung, Monument des Zeitalters zu sein und diesem gleich: stampfend, gefahrvoll,
monoton und reichlich übertrieben. Und vor allem: auch sie produzierte einzig und allein
durch gegensätzliche Bewegung unterschiedlicher Kräfte, durch einen gezähmten
Antagonismus all ihrer Teile. Aber in diesem wundervollen System blitzender Räder,
blinkender Kolben, sich hebender und senkender Wellen, war ein unansehnliches Teil, das
wie von Schimmel überzogen schien und das sich plump und arhythmisch regte. Ein
hässlicher Zusatz an der schönen Kraft. Ein Rest von Mattigkeit inmitten der Dynamik. Als
um die Mittagszeit ein Pfiff ertönte, löste sich dieses Teil von der Maschine und verließ die
Halle, während die Maschine hilflos stehenblieb, zwiefach: in sich und am Ort. Plötzlich
erwies sich, das billigste Teil und das am schlimmsten vernachlässigte war das teuerste und
nur scheinbar ersetzlich. Wo es kaputtgeht, wird es nicht lange dauern, bis über den Beton
Gras gewachsen ist.
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Stefanie Wick Widmer
Deutsch
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Textinterpretation 2021
2. Ist der Mensch ein wunderliches Geschöpf (Johann Peter Hebel, 1819)
Einem König von Frankreich wurde durch seinen Kammerdiener der Namen eines Mannes
genannt, der das 75. Jahr zurückgelegt habe und noch nie aus Paris herausgekommen sei.
Er wisse noch auf diese Stunde nicht anderst als vom Hörensagen, was eine Landstrasse
sei oder ein Ackerfeld oder der Frühling. Man könnte ihm weismachen, die Welt sei schon
vor zwanzig Jahren untergegangen. Er müsse es glauben. Der König fragte, ob denn der
Mann kränklich oder gebrechlich sei. »Nein«, sagte der Kammerdiener, »er ist so gesund wie
der Fisch im Wasser.« Oder ob er trübsinnig sei. »Nein, es ist ihm so wohl wie dem Vogel im
Hanfsamen.« Oder ob er durch seiner Hände Arbeit eine zahlreiche Familie zu ernähren
habe. »Nein, er ist ein wohlhabender Mann. Er mag eben nicht. Es nimmt ihn nicht wunder.«
Des verwunderte sich der König und wünschte diesen Menschen zu sehen. Der Wunsch
eines Königs von Frankreich ist bald erfüllt, zwar auch nicht jeder, aber dieser, und der König
redete mit dem Menschen von allerlei, ob er schon lange gesund und wohlauf sei. »Ja,
Sire«, erwiderte er, »allbereits 75 Jahre.« Ob er in Paris geboren sei. »Ja, Sire! Es müsste
kurios zugegangen sein, wie ich anderst hineingekommen wäre, denn ich bin noch nie
draussen gewesen.« – »Das soll mich doch wunder nehmen«, erwiderte der König. »Denn
eben deswegen hab' ich Euch rufen lassen. Ich höre, dass Ihr allerlei verdächtige Gänge
macht, bald zu diesem Tor hinaus, bald zu jenem. Wisst Ihr, dass man schon lange auf Euch
Achtung gibt?« Der Mann war über diesen Vorwurf ganz erstaunt und wollte sich
entschuldigen. Das müsse ein anderer sein, der seinen Namen führe, oder so. Aber der
König fiel ihm in die Rede: »Kein Wort mehr! Ich hoffe, Ihr werdet in Zukunft nicht mehr aus
der Stadt gehen ohne meine ausdrückliche Erlaubnis.« – Ein rechter Pariser, wenn ihm der
König etwas befiehlt, denkt nicht lange, ob es notwendig sei und ob es nicht auch anderst
ebensogut sein könnte, sondern er tut's. Der Unsrige war ein rechter, obgleich, als auf
seinem Heimweg die Postkutsche vor ihm vorbeifuhr, dachte er: »O ihr Glücklichen da
drinnen, dass ihr aus Paris hinausdürft!« Als er nach Hause kam, las er die Zeitung wie alle
Tage. Aber diesmal fand er nicht viel drin. Er schaute zum Fenster hinaus, das war auf
einmal so langweilig. Er las in einem Buch, das war auf einmal so einfältig. Er ging
spazieren, er ging in die Komödie, in das Wirtshaus, das war so alltäglich. So das erste
Vierteljahr lang, so das zweite, und mehr als einmal im Gasthaus sagte er zu seinen
Nachbarn: »Freunde, es ist ein hartes Wort, fünfundsiebenzig Jahre kontinuierlich in Paris
gelebt zu haben und jetzt erst nicht hinauszudürfen.« Endlich im dritten Vierteljahr konnte
er's nimmer aushalten, sondern meldete sich einen Tag um den andern wegen der
Erlaubnis: das Wetter sei so hübsch, oder es sei heut' ein schöner Regentag. Er wolle sich
gern auf seine Kosten von einem vertrauten Mann begleiten lassen, wenn's sein müsse,
auch von zweien. Aber vergebens. Nach Verlauf aber eines schmerzlich durchlebten Jahrs,
gerade am nämlichen Tage, als er abends nach Hause kam, fragt er mit bösem Gesicht die
Frau: »Was ist das für ein neues Kaleschlein im Hof? Wer will mich zum besten haben?«
»Herzensschatz«, antwortete die Frau, »ich habe dich überall suchen lassen. Der König
schenkt dir das Kaleschlein und die Erlaubnis, darin spazieren zu fahren, wohin du willst.«
»Ma foi!« erwiderte der Mann mit besänftigter Miene, »der König ist gerecht.« – »Aber nicht
wahr«, fuhr die Gattin fort, »morgen fahren wir spazieren aufs Land?« – »Ei nun«, erwiderte
der Mann kalt und ruhig, »wir wollen sehn. Wenn's auch morgen nicht ist, so kann's ein
ander Mal sein, und am Ende, was tun wir draussen? Paris ist doch am schönsten
inwendig.«
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Stefanie Wick Widmer
Deutsch
Erzähltheorie Textinterpretation
Textinterpretation 2021
Kennt ihr das Sprichwort „Dem Elch eine Gasmaske verkaufen“? Das sagt man in Schweden
von jemandem, der sehr tüchtig ist, und ich möchte jetzt erzählen, wie es zu diesem
Sprichwort gekommen ist.
Es gab einmal einen Verkäufer, der war dafür berühmt, dass er allen alles verkaufen konnte.
Er hatte schon einem Zahnarzt eine Zahnbürste verkauft, einem Bäcker ein Brot und einem
Obstbauern eine Kiste Äpfel. „Ein wirklich guter Verkäufer bist du aber erst“, sagten seine
Freunde zu ihm, „wenn du einem Elch eine Gasmaske verkaufst.“ Da ging der Verkäufer so
weit nach Norden, bis er in einen Wald kam, in dem nur Elche wohnten. „Guten Tag“, sagte
er zum ersten Elch, den er traf. „Sie brauchen bestimmt eine Gasmaske.“ „Wozu?“, fragte
der Elch. „Die Luft ist gut hier.“ „Alle haben heute eine Gasmaske“, sagte der Verkäufer. „Es
tut mir leid“, sagte der Elch, „aber ich brauche keine.“ „Warten Sie nur“, sagte der Verkäufer,
„Sie brauchen schon noch eine.“ Und wenig später begann er, mitten in dem Wald, in dem
nur Elche wohnten, eine Fabrik zu bauen. „Bist du wahnsinnig?“, fragten seine Freunde.
„Nein", sagte er, „ich will nur dem Elch eine Gasmaske verkaufen.“
Als die Fabrik fertig war, stiegen so viel giftige Abgase aus dem Schornstein, dass der Elch
bald zum Verkäufer kam und zu ihm sagte: „Jetzt brauche ich eine Gasmaske.“ „Das habe
ich gedacht“, sagte der Verkäufer und verkaufte ihm sofort eine. „Qualitätsware !“sagte er
lustig. „Die andern Elche“, sagte der Elch, „brauchen jetzt auch Gasmasken. Hast du noch
mehr?“ (Elche kennen die Höflichkeitsform mit „Sie“ nicht.) „Da habt ihr Glück“, sagte der
Verkäufer, „ich habe noch Tausende.“ „Sag mal“, fragte der Elch, „was machst du in deiner
Fabrik?“ „Gasmasken“, sagte der Verkäufer.
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Stefanie Wick Widmer
Deutsch
Erzähltheorie Textinterpretation
Textinterpretation 2021
Der Anruf kam, als ich vierzehn war. Ich wohnte seit einem Jahr nicht mehr bei meiner
Mutter und meinen Schwestern, sondern bei Freunden in Berlin. Eine fremde Stimme
meldete sich, der Mann nannte seinen Namen, sagte mir, er lebe in Berlin, und fragte, ob
ich ihn kennen lernen wolle. Ich zögerte, ich war mir nicht sicher. Zwar hatte ich schon
viel über solche Treffen gehört und mir oft vorgestellt, wie so etwas wäre, aber als es
soweit war, empfand ich eher Unbehagen.
Wir verabredeten uns. Er trug Jeans, Jacke und Hose. Ich hatte mich geschminkt. Er
führte mich ins Café Richter am Hindemithplatz und wir gingen ins Kino, ein Film von
Rohmer. Unsympathisch war er nicht, eher schüchtern. Er nahm mich mit ins Restaurant
und stellte mich seinen Freunden vor. Ein feines, ironisches Lächeln zog er zwischen
sich und die anderen Menschen. Ich ahnte, was das Lächeln verriet. Einige Male durfte
ich ihn bei seiner Arbeit besuchen. Er schrieb Drehbücher und führte Regie bei Filmen.
Ich fragte mich, ob er mir Geld geben würde, wenn wir uns treffen, aber er gab mir keins,
und ich traute mich nicht, danach zu fragen. Schlimm war das nicht, schließlich kannte
ich ihn kaum, was sollte ich da schon verlangen? Außerdem konnte ich für mich selbst
sorgen, ich ging zur Schule und putzen und arbeitete als Kindermädchen. Bald würde ich
alt genug sein, um als Kellnerin zu arbeiten, und vielleicht würde ja auch noch eines
Tages etwas Richtiges aus mir. Zwei Jahre später, der Mann und ich waren uns noch
immer etwas fremd, sagte er mir, er sei krank. Er starb ein Jahr lang, ich besuchte ihn im
Krankenhaus und fragte, was er sich wünsche. Er sagte mir, er habe Angst vor dem Tod
und wolle es so schnell wie möglich hinter sich bringen. Er fragte mich, ob ich ihm
Morphium besorgen könne. Ich dachte nach, ich hatte einige Freunde, die Drogen
nahmen, aber keinen, der sich mit Morphium auskannte. Auch war ich mir nicht sicher,
ob die im Krankenhaus herausfinden wollten und würden, woher es kam.
Ich vergaß seine Bitte. Manchmal brachte ich ihm Blumen. Er fragte nach dem Morphium
und ich fragte ihn, ob er sich Kuchen wünsche, schließlich wusste ich, wie gern er Torte
aß. Er sagte, die einfachen Dinge seien ihm jetzt die liebsten - er wolle nur
Streuselschnecken, nichts sonst. Ich ging nach Hause und buk Streuselschnecken, zwei
Bleche voll. Sie waren noch warm, als ich sie ins Krankenhaus brachte. Er sagte, er hätte
gerne mit mir gelebt, es zumindest gerne versucht, er habe immer gedacht, dafür sei
noch Zeit, eines Tages - aber jetzt sei es zu spät. Kurz nach meinem siebzehnten
Geburtstag war er tot.
Meine kleine Schwester kam nach Berlin, wir gingen gemeinsam zur Beerdigung. Meine
Mutter kam nicht. Ich nehme an, sie war mit anderem beschäftigt, außerdem hatte sie
meinen Vater zu wenig gekannt und nicht geliebt.
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Stefanie Wick Widmer
Deutsch
Erzähltheorie Textinterpretation
Textinterpretation 2021
Die Arbeiter kamen mit ihrem Schild und einem hölzernen Pfosten, auf den es genagelt
werden sollte zu dem Eingang der Ortschaft die hoch in den Bergen an der letzten
Passkehre lag. Es war ein heißer Spätfrühlingstag die Schneegrenze hatte sich schon hinauf
zu den Gletscherwänden gezogen. Überall standen die Wiesen wieder in Saft und Kraft die
Wucherblume verschwendete sich der Löwenzahn strotzte und blähte sein Haupt über den
milchigen Stängeln Trollblumen, welche wie eingefettet mit gelber Sahne waren, platzten vor
Glück und in strahlenden Tümpeln kleinblütiger Enziane spiegelte sich ein Himmel von
unwahrscheinlichem Blau. Auch die Häuser und Gasthöfe waren wie neu: ihre Fensterläden
frisch angestrichen, die Schindeldächer gut ausgebessert, die Scherenzäune ergänzt. Ein
Atemzug noch: dann würden die Fremden, die Sommergäste kommen die Lehrerinnen, die
mutigen Sachsen, die Kinderreichen, die Alpinisten, aber vor allem die Autobesitzer in ihren
großen Wagen…Ford und Mercedes, Fiat und Opel, blitzend von Chrom und Glas. Das Geld
würde anrollen. Alles war darauf vorbereitet. Ein Schild kam zum anderen, die
Haarnadelkurve zu dem Totenkopf, Kilometerschilder und Schilder für Fußgänger: Zwei
Minuten zum Café Alpenrose.
An der Stelle, wo die Männer den Pfosten in die Erde einrammen wollten, stand ein
Holzkreuz, über dem Kopf des Christus war auch ein Schild angebracht. Seine Inschrift war
bis heute die gleiche, wie sie Pilatus entworfen hatte: J. N. R. J., die Enttäuschung darüber,
dass es im Grunde hätte heißen sollen: er behauptet nur, dieser König zu sein, hatte im Lauf
der Jahrhunderte an Heftigkeit eingebüßt. Die beiden Männer, welche den Posten, das
Schild und die große Schaufel, um den Pfosten in die Erde zu graben, auf ihren Schultern
trugen, setzten alles unter dem Wegkreuz ab; der dritte stellte den Werkzeugkasten,
Hammer, Zange und Nägel daneben und spuckte ermunternd aus.
Nun beratschlagten die drei Männer, an welcher Stelle die Inschrift des Schildes am besten
zur Geltung käme; sie sollte für alle, welche das Dorf auf dem breiten Passweg betraten,
besser: befuhren, als Blickfang dienen und nicht zu verfehlen sein. Man kam also überein,
das Schild kurz vor dem Wegekreuz anzubringen, gewissermaßen als Gruß, den die
Ortschaft jedem Fremden entgegenschickte. Leider stellt sich aber heraus, dass der Pfosten
dann in den Pflasterbelag einer Tankstelle hätte gesetzt werden müssen, eine Sache, die
sich selbst verbot, da die Wagen, besonders die größeren, dann am Wenden behindert
waren. Die Männer schleppten also den Pfosten noch ein Stück weiter hinaus bis zu der
Gemeindewiese und wollten schon mit der Arbeit beginnen, als ihnen auffiel, dass diese
Stelle bereits zu weit von dem Ortsschild entfernt war, das den Namen angab und die
Gemeinde, zu welcher der Flecken gehörte. Wenn also das Dorf den Vorzug dieses Schildes
und seiner Inschrift für sich beanspruchen wollte, musste das Schild wieder näherrücken am
besten gerade dem Kreuz gegenüber, so dass Wagen und Fußgänger zwischen beiden
hätten passieren müssen.
Dieser Vorschlag, von dem Mann mit den Nägeln und dem Hammer gemacht, fand Beifall.
Die beiden anderen luden von neuem den Pfosten auf ihre Schultern und schleppten ihn vor
das Kreuz. Nun sollte also das Schild mit der Inschrift zu dem Wegekreuz senkrecht stehen;
doch zeigte es sich, dass die uralte Buche, welche gerade hier ihre Äste mit riesiger Spanne
nach beiden Seiten wie eine Mantelmadonna ihren Umhang entfaltete, die Inschrift im
Sommer verdeckt und ihr Schattenspiel deren Bedeutung verwischt, aber mindestens
abgeschwächt hätte.
Es blieb daher nur noch die andere Seite neben dem Herrenkreuz, und da die erste, die in
das Pflaster der Tankstelle überging, gewissermaßen den Platz des Schächers zur Linken
bezeichnet hätte, wurde jetzt der Platz zur Rechten gewählt und endgültig beibehalten. Zwei
Männer hoben die Erde aus, der dritte nagelte rasch das Schild mit wuchtigen Schlägen auf;
dann stellten sie den Pfosten gemeinsam in die Grube und rammten ihn rings von allen
Seiten mit größeren Feldsteinen an.
Ihre Tätigkeit blieb nicht unbeobachtet. Schulkinder machten sich gegenseitig die Ehre
streitig, dabei zu helfen, den Hammer, die Nägel hinzureichen und passende Steine zu
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Stefanie Wick Widmer
Deutsch
Erzähltheorie Textinterpretation
Textinterpretation 2021
suchen; auch einige Frauen blieben stehen, um die Inschrift genau zu studieren. Zwei
Nonnen, welche die Blumenvase zu Fuße des Kreuzes aufs Neue füllten, blickten einander
unsicher an, bevor sie weitergingen. Bei den Männern, die von der Holzarbeit oder vom
Acker kamen, war die Wirkung verschieden: einige lachten, andere schüttelten nur den Kopf,
ohne etwas zu sagen; die Mehrzahl blieb davon unberührt und gab weder Beifall noch
Ablehnung kund, sondern war gleichgültig, wie sich die Sache auch immer entwickeln würde.
Im Ganzen genommen konnten die Männer mit der Wirkung zufrieden sein. Der Pfosten,
kerzengerade, trug das Schild mit der weithin sichtbaren Inschrift, die Nachmittagssonne glitt
wie ein Finger über die zollgroßen Buchstaben hin und fuhr jeden einzelnen langsam nach
wie den Richtspruch an einer Tafel…
Auch der sterbende Christus, dessen blasses, blutüberronnenes Haupt im Tod nach der
rechten Seite geneigt war, schien sich mit letzter Kraft zu bemühen, die Inschrift
aufzunehmen: man merkte, sie ging ihn gleichfalls an, welcher bisher von den Leuten als
einer der ihren betrachtet und wohl gelitten war. Unerbittlich und dauerhaft wie sein Leiden,
würde sie ihm nun für lange Zeit schwarz auf weiß gegenüberstehen. Als die Männer den
Kreuzigungsort verließen und ihr Handwerkszeug wieder zusammenpackten, blickten alle
drei noch einmal befriedigt zu dem Schild mit der Inschrift auf. Sie lautete: "In diesem Kurort
sind Juden unerwünscht."
(aus: Elisabeth Langgässer, Der Torso, Hamburg: Claasen 1947, S.15-18, www.europa-
literaturkreis.net/pdf/Langgaesser_Saisonbeginn.pdf)
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Stefanie Wick Widmer
Deutsch
Erzähltheorie Textinterpretation
Textinterpretation 2021
Sie waren mit Tausenden aus unterschiedlichen Türen in den Abend geschoben. Es war eng
auf den Straßen, zu viele Menschen müde und sich zu dicht, der Himmel war rosa. Die
Menschen würden den Himmel ignorieren, den Abend und würden nach Hause gehen.
Säßen dann auf der Couch, würden Gurken essen und mit einem kleinen Schmerz den
Himmel ansehen, der vom Rosa ins Hellblaue wechseln würde, dann lila, bevor er
unterginge. Eine Nacht wie geschaffen, alles hinter sich zu lassen, aber wofür? Sie
funktionierten in dem, was ihnen Halt schien, die Menschen in der Stadt, und Halt kennt
keine Pausen, Regeln, keine stille Zeit, in der Unbekanntes Raum hätte zu verunsichern mit
dummen Fragen.
Das Mädchen und der Junge gingen nicht nach Hause. Sie waren jung, da hat man
manchmal noch Mut. Etwas ganz Verrücktes müsste man heute tun, dachten beide
unabhängig voneinander, doch das ist kein Wunder, denn bei so vielen Menschen auf der
Welt kann es leicht vorkommen, dass sich Gedanken gleichen. Sie gingen auf einen Berg,
der die Stadt beschützte. Dort stand ein hoher Aussichtsturm, bis zu den Alpen konnte man
schauen und konnte ihnen Namen geben, den Alpen. Die hörten dann darauf, wenn man sie
rief. Die beiden kannten sich nicht, wollten auch niemanden kennen in dieser Nacht, stiegen
die 400 Stufen zum Aussichtsturm hinauf. Saßen an entgegen gesetzten Enden, mürrisch
zuerst, dass da noch einer war. So sind die Menschen, Revierverletzung nennt man das.
Doch dann vergaßen sie die Anwesenheit und dachten in die Nacht. Vom Fliegen, vom
Weggehen und Niemals-Zurückkommen handelten die Gedanken, und ohne dass es ihnen
bewusst gewesen wäre, saßen sie bald nebeneinander und sagten die Gedanken laut.
Die Gedanken ähnelten sich, was nicht verwundert, bei so vielen Menschen auf der Welt,
und doch ist es wie Schicksal, einen zu treffen, der spricht, was du gerade sagen möchtest.
Und die Worte wurden weich, in der Nacht, klare Sätze wichen dem süßen Brei, den
Verliebte aus ihren Mündern lassen, um sich darauf zum Schlafen zu legen. Sie hielten sich
an der Hand, die ganze Nacht, und wussten nicht, was schöner war. Die Geräusche, die der
Wind machte, die Tiere, die sangen, oder der Geruch des anderen. Dabei ist es so einfach,
sagte der Junge, man muss nur ab und zu mal nicht nach Hause gehen, sondern in den
Wald. Und das Mädchen sagte, wir werden es wieder vergessen, das ist das Schlimme.
Alles vergisst man, was einem gut tut, und dann steigt man wieder in die Straßenbahn,
morgens, geht ins Büro, nach Hause, fragt sich, wo das Leben bleibt. Und sie saßen immer
noch, als der Morgen kam, als die Stadt zu atmen begann. Tausende aus ihren Häusern, die
Autos geschäftig geputzt, und die beiden erkannten, dass es das Ende von ihnen wäre,
hinunterzugehen ins Leben. Ich wollte, es gäbe nur noch uns, sagte der Junge. Das
Mädchen nickte, sie dachte kurz: So soll das sein, und im gleichen Moment verschwand die
Welt. Nur noch ein Aussichtsturm, ein Wald, ein paar Berge blieben auf einem kleinen Stern.
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Stefanie Wick Widmer
Deutsch
Erzähltheorie Textinterpretation
Textinterpretation 2021
Ich habe einen traurigen, freudlosen Traum gehabt in der vergangenen Nacht.
Wohl sechsmal erwachte ich davon, aber immer wieder, so, als sollte ich stets von neuem
geprüft werden, fiel ich hinunter in die Gewalt der düsteren Einbildungen, in die Macht des
fieberartigen Traumes. Mir träumte, daß ich in eine Art von Anstalt und Institut
hineingekommen sei, in einen Sonderbund, in eine verriegelte, unnatürliche Absonderung,
welche von höchst kalten und eigentümlichen Verordnungen regiert wurde.
Elend war mir zumute, und eiskalter Schauder rieselte mir durch die entsetzte, angsterfüllte
Seele, die sich vergeblich sehnte, ein Verständnis zu finden. Alles war mir unverständlich,
doch das Grausamste war, daß sie nur über die Ratlosigkeit und Hilflosigkeit lächelten, in der
sie mich sahen. Nach allen Seiten schaute ich mich mit flehenden Augen um, damit ich ein
freundliches Auge sähe, doch ich sah nur den offenen mitleidlosen Hohn mich mit seinen
Blicken messen.
Alle, die da waren, musterten mich auf so sonderbare Weise, auf so rätselhafte Weise.
Meine Angst vor der ringsum herrschenden Ordnung, deren Wesen mich mit Grauen erfüllte,
wurde von Minute zu Minute größer, und mit ihr vergrößerte sich die Unfähigkeit, die ich
offenbarte, mich in die seltsamen, absonderlichen Verhältnisse zu schicken. Deutlich
erinnere ich mich, wie ich bald zu diesem, bald zu jenem Beamten in kummervoller, bittender
Tonart sagte, daß ich "alles das", so drückte ich mich in der höchsten Herzbeklemmung aus,
ja ganz und gar nicht verstehe, und daß man mich doch lieber hinaus in die Welt ziehen
lassen wolle, damit ich meinen Mut und meinen angeborenen Geist wiederfände.
Doch statt mir zu antworten, zuckten sie nur die Achseln, liefen hin und her, zeigten sich sehr
in Anspruch genommen, gaben mir zu verstehen, daß sie keine Zeit hätten, sich näher mit
mir und mit meinem Unglück zu beschäftigen, und ließen mich in all der unaussprechlichen,
fürchterlichen Bestürzung stehen. Augenscheinlich paßte ich gar nicht zu ihnen. Warum
denn nun war ich zu ihnen hineingekommen in diese enge und kalte Umgrenzung? Durch
viele Zimmer und Nebenzimmer tastete ich mich; ich schwankte hin und her wie ein
Verlorener.
Mir war, als sei ich im Begriff, in dem Meer der Befremdung zu ertrinken. Freundschaft, Liebe
und Wärme waren verwandelt in Haß, Verrat und Tücke, und das Mitempfinden schien
gestorben seit tausend Jahren oder schien in unendliche Entfernung gestoßen. Eine Klage
wagte ich nicht zu äußern. Ich hatte zu keinem, zu keinem dieser unverständlichen
Menschen ein Vertrauen. Jeder hatte seine strenge, enge, stumpfe, wohlabgemessene
Beschäftigung, und darüber hinaus stierte er wie in eine grenzenlose Leere. Ohne Erbarmen
mit sich selbst kannten sie auch kein Erbarmen mit einem andern. Tot, wie sie waren,
setzten sie nur Tote voraus. Endlich erwachte ich aus all dem Hoffnungslosen. O wie freute
ich mich, daß es nur ein Traum war.
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Stefanie Wick Widmer
Deutsch
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Textinterpretation 2021
An einem sonnigen Morgen stösst ein Jemand innerhalb seiner Wohnung auf ein amtliches
Schreiben: es liegt auf dem Frühstückstisch neben der Tasse. Wie es dahin kam, ist ungewiss.
Kaum geöffnet, überfällt es den Lesenden mit einer Aufforderung.
Sie haben sich, befiehlt der amtliche Druck auf dem grauen, lappigen Papier, am 5.
November des laufenden Jahres morgens acht Uhr in der Herrentoilette des
Zentralbahnhofes zwecks Ihrer Hinrichtung einzufinden. Für Sie ist Kabine 18 vorgesehen.
Bei Nichtbefolgung dieser Aufforderung kann auf dem Wege der verwaltungsdienstlichen
Verordnung eine Bestrafung angeordnet werden. Es empfiehlt sich leichte Bekleidung, um
einen reibungslosen Ablauf zu garantieren.
Wenig später taucht der solchermassen Betroffene verzagt bei seinen Freunden auf. Getränke
und Imbiss lehnt er ab, fordert hingegen dringlich Rat, erntet aber nur ernstes und
bedeutungsvolles Kopfschütteln. Ein entscheidender Hinweis, ein Hilfsangebot bleibt aus.
Heimlich atmet man wohl auf, wenn hinter dem nur noch begrenzt Lebendigen die Tür wieder
zufällt, und man fragt sich, ob es nicht schon zuviel gewesen ist, sie ihm überhaupt zu öffnen.
Lohnte es denn, wer weiss, was alles auf sich zu laden für einen Menschen, von dem in
Zukunft so wenig zu erwarten ist?
Der nun selber begibt sich zu einem Rechtsanwalt, wo ihm vorgeschlagen wird, eine Eingabe
zu machen, den Termin (5. Nov.) aber auf jeden Fall einzuhalten, um Repressalien
auszuweichen. Herrentoilette und Zentralbahnhof höre sich doch ganz erträglich und
vernünftig an. Nichts werde so heiss gegessen wie gekocht. Hinrichtung? Wahrscheinlich ein
Druckfehler. In Wirklichkeit sei „Einrichtung“ gemeint. Warum nicht? Durchaus denkbar findet
es der Rechtsanwalt, dass man von seinem frisch gebackenen Klienten verlange, der solle
sich einrichten. Abwarten. Und vertrauen! Man muss Vertrauen haben! Vertrauen ist das
wichtigste.
Daheim wälzt sich der zur Herrentoilette Beorderte schlaflos über seine durchfeuchteten
Laken. Erfüllt von brennendem Neid lauscht er dem unbeschwerten Summen einer Fliege. Die
lebt! Die hat keine Sorgen! Was weiss die schon vom Zentralbahnhof?! Man weiss ja selber
nichts darüber ... Mitten in der Nacht läutet er an der Tür des Nachbarn. Durch das Guckloch
glotzt ihn ein Auge an, kurzfristig, ausdruckslos, bis der Klingelnde kapituliert und den Finger
vom Klingelknopf löst.
Pünktlich um acht Uhr morgens, betritt er am 5. Nov. den Zentralbahnhof, fröstelnd in einem
kurzärmeligen Sporthemd und einer Leinenhose, das leichteste, was er an derartiger
Bekleidung besitzt. Hier und da gähnt ein beschäftigungsloser Gepäckträger. Der Boden wird
gefegt und immerzu mit einer Flüssigkeit besprengt.
Durch die spiegelnde Leere der Herrentoilette hallt sein einsamer Schritt: Kabine 18 entdeckt
er sofort. Er schiebt eine Münze ins Schliesswerk der Tür, die aufschwingt, und tritt ein. Wild
zuckt in ihm die Gewissheit auf, dass gar nichts passieren wird. Gar nichts! Man will ihn nur
einrichten, weiter nichts! Gleich wird es vorüber sein, und er kann wieder nach Hause gehen.
Vertrauen! Vertrauen! Eine euphorische Stimmung steigt ihm in die Kehle, lächelnd riegelt er
das Schloss zu und setzt sich.
Eine Viertelstunde später kommen zwei Toilettenmänner herein, öffnen mit einem
Nachschlüssel Kabine 18 und ziehen den leichtbekleideten Leichnam heraus, um ihn in die
rotziegeligen Tiefen des Zentralbahnhofes zu schaffen, von dem jeder wusste, dass ihn
weder ein Zug jemals erreicht noch verlassen hatte, obwohl oft über seinem Dach der Rauch
angeblicher Lokomotiven hing.
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Stefanie Wick Widmer
Deutsch
Erzähltheorie Textinterpretation
Textinterpretation 2021
Sie sahen ihn schon von weitem auf sich zukommen, denn er fiel auf. Er hatte ein ganz
altes Gesicht, aber wie er ging, daran sah man, dass er erst zwanzig war. Er setzte sich
mit seinem alten Gesicht zu ihnen auf die Bank. Und dann zeigte er ihnen, was er in der
Hand trug.
Das war unsere Küchenuhr, sagte er und sah sie alle der Reihe nach an, die auf der
Bank in der Sonne saßen. Ja, ich habe sie noch gefunden. Sie ist übriggeblieben. Er hielt
eine runde tellerweiße Küchenuhr vor sich hin und tupfte mit dem Finger die blau
gemalten Zahlen ab.
Sie hat weiter keinen Wert, meinte er entschuldigend, das weiß ich auch. Und sie ist
auch nicht besonders schön. Sie ist nur wie ein Teller, so mit weißem Lack. Aber die
blauen Zahlen sehen doch ganz hübsch aus, finde ich. Die Zeiger sind natürlich nur aus
Blech. Und nun gehen sie auch nicht mehr. Nein. Innerlich ist sie kaputt, das steht fest.
Aber sie sieht noch aus wie immer. Auch wenn sie jetzt nicht mehr geht.
Er machte mit der Fingerspitze einen vorsichtigen Kreis auf dem Rand der Telleruhr
entlang. Und er sagte leise: Und sie ist übriggeblieben.
Die auf der Bank in der Sonne saßen, sahen ihn nicht an. Einer sah auf seine Schuhe
und die Frau sah in ihren Kinderwagen. Dann sagte jemand:
Sie haben wohl alles verloren?
Ja, ja, sagte er freudig, denken Sie, aber auch alles! Nur sie hier, sie ist übrig. Und er hob
die Uhr wieder hoch, als ob die anderen sie noch nicht kannten.
Aber sie geht doch nicht mehr, sagte die Frau.
Nein, nein, das nicht. Kaputt ist sie, das weiß ich wohl. Aber sonst ist sie doch noch ganz
wie immer: weiß und blau. Und wieder zeigte er ihnen seine Uhr. Und was das Schönste
ist, fuhr er aufgeregt fort, das habe ich Ihnen ja noch überhaupt nicht erzählt. Das
Schönste kommt nämlich noch: Denken Sie mal, sie ist um halb drei Stehengeblieben.
Ausgerechnet um halb drei, denken Sie mal.
Dann wurde Ihr Haus sicher um halb drei getroffen, sagte der Mann und schob wichtig
die Unterlippe vor. Das habe ich schon oft gehört. Wenn die Bombe runtergeht, bleiben
die Uhren stehen. Das kommt von dem Druck.
Er sah seine Uhr an und schüttelte den Kopf. Nein, lieber Herr, nein, da irren Sie sich.
das hat mit den Bomben nichts zu tun. Sie müssen nicht immer von den Bomben reden.
Nein. Um halb drei war etwas ganz anderes, das wissen Sie nur nicht. Das ist nämlich
der Witz, dass sie gerade um halb drei stehen geblieben ist. Und nicht um Viertel nach
vier oder um sieben. Um halb drei kam ich nämlich immer nach Hause. Nachts, meine
ich. Fast immer um halb drei. Das ist ja gerade der Witz.
Er sah die anderen an, aber sie hatten ihre Augen von ihm weggenommen. Er fand sie
nicht. Da nickte er seiner Uhr zu: Dann hatte ich natürlich Hunger, nicht wahr? Und ich
ging immer gleich in die Küche. Da war es dann fast immer halb drei. Und dann, dann
kam nämlich meine Mutter. Ich konnte noch so leise die Tür aufmachen, sie hat mich
immer gehört. Und wenn ich in der dunklen Küche etwas zu essen suchte, ging plötzlich
das Licht an. Dann stand sie da in ihrer Wolljacke und mit einem roten Schal um. Und
barfuß. Und dabei unsere Küche gekachelt. Und sie machte ihre Augen ganz klein, weil
ihr das Licht so hell war. Denn sie hatte ja schon geschlafen. Es war ja Nacht.
So spät wieder, sagte sie dann. Mehr sagte sie nie. Nur: So spät wieder. Und dann
machte sie mir das Abendbrot warm und sah zu, wie ich aß. Dabei scheuerte sie immer
die Füße aneinander, weil die Kacheln so kalt waren. Schuhe zog sie nachts nie an. Und
sie saß so lange bei mir, bis ich satt war. Und dann hörte ich sie noch die Teller
wegsetzen, wenn ich in meinem Zimmer schon das Licht ausgemacht hatte. Jede Nacht
war es so. Und meistens immer um halb drei. Das war ganz selbstverständlich, fand ich,
dass sie mir nachts um halb drei in der Küche das Essen machte. Ich fand das ganz
selbstverständlich. Sie tat das ja immer. Und sie hat nie mehr gesagt als: So spät wieder.
Aber das sagte sie jedes Mal. Und ich dachte, das könnte nie aufhören. Es war mir so
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Erzähltheorie Textinterpretation
Textinterpretation 2021
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10. Und in Arizona geht die Sonne auf (Sibylle Berg, 2000)
Der Asphaltcowboy mit Sporen an den Stiefeln: Nur im Auto ist der Mann noch ein
Mann. Es ist zu früh zu hell, das Hemd scheuert an seinem Hals, die Krawatte würgt ihn.
Er möchte sich kratzen, kratzen, kratzen, bis der Abend kommt. Der ist noch weit und er
sitzt am Tisch. Er schubbert ein wenig sein Bein am Stuhl. Dass es nicht auffallen möge,
sie ihn wieder ansehen, mit diesem Blick, der sagt: Was macht der Hund bei Tisch? Seine
Tochter redet über Kleider, seine Frau redet über Kleider, er kennt diese Personen nicht.
Sie sehen ihn nicht. Er versteht nichts von wichtigen Dingen. Von Musik, Büchern,
Blumen und von Kleidern, gar nichts. Sie geben ihm das Gefühl, etwas Störendes zu sein,
zu laut, zu derb, nicht schön.
Er stört. Überall. Wenn er auf dem Sofa lümmelt und Bier trinken möchte, Sport schauen,
stundenlang, ist er im Weg. Seine Bierflasche hinterlässt Ringe auf den Kunstbüchern, die
auf dem Beistelltisch liegen. Seine Füße verschieben den Teppich, seine Chips krümeln,
sein Atem macht schlechten Dunst. Scheißleben! Geduldet nimmt er sein Frühstück ein, es
mag nicht recht rutschen in der trockenen Kehle. Was fühlst du, was denkst du, warum bist
du so grob, warum fühlst du nichts, denkst du nichts? Nie genügt er. Nie mag seine Frau
ihm glauben, dass er gar nichts denkt, nichts fühlt. Dass er glücklich ist, Sport zu schauen,
zur Decke zu starren, in einer Kneipe zu hocken und mit anderen Männern zu schweigen.
Endlich ist das Frühstück zu Ende, ein flüchtiger Kuss, Vater geht in die Welt, vielleicht
kommt er nie zurück.
Er geht zu seinem Auto. Er steigt ein, nimmt Platz, das Auto begrüßt ihn: Hey, umziehen!
Und endlich trägt er auch außen die Kleidung, die er innerlich immer anhat: speckige Jeans,
Stiefel, Lederweste, Cowboyhut.
Die Sporen an den Stiefeln scheppern, er tritt das Gaspedal. Die Maschine arbeitet, gehorcht
ihm. Sie bettelt um Beherrschung, will sich unterwerfen. Er steuert, er lenkt. Die starke
Maschine, so viele Pferde, sie tragen ihn über die Prärie, den Ozean, ist doch egal. Endlich
ist er wer. Ein einsamer Mann, der mit muskulösen Armen die Zügel hält. Seine Pferde
reiten, schneller, besser als alle anderen. Keine greinenden Weiber, er und die Maschine, und
in Arizona geht die Sonne auf. Freiheit, die ich meine, summt er und raucht in Gedanken
eine fette Zigarre. Hier ist seine wahre Heimat. Vergessen mit jedem Kilometer die Weiber,
die Kunstbücher, die Ringe vom Bierglas, das ist sein Wagen und wenn er da Bier reinstellt,
ist es seine Sache. Da hat ihm keiner dreinzureden.
Yeahl sagt er leise, schießt den Gang rein, das Auto stöhnt dankbar. Die anderen Männer auf
den schwächeren Pferden „—1 abgehängt. Der letzte Kampf, den einer noch schlagen
darf in einer Welt voller Schwuchteln und Frauen, die zetern und greinen: den Wagen mit
ruhiger Hand zu Höchstleistungen treiben, vorantreiben, alle abhängen, besiegen, zeigen, wo
der Hammer hängt. Unter seiner Hand wird das Auto ein Boot, ein Panzer, ein Formel-1-
Geschoss — egal was, Hauptsache, Metall, Holz, Kolben, die Öl fressen und arbeiten
wie ein Glied, wie ein Mann, verdammt, es ist so wenig, was er braucht, Den Hut, das Pferd
und seine Ruhe. Warum gibt es das nur hier? Weil die Welt falsch geworden ist, weil keiner
Respekt hat vor der Arbeit eines Mannes, weil sie ihn auslachen zu Hause, wenn er sich mit
mit Kunstbüchern nicht auskennt.
Und er rast über die Stadtautobahn. Vor ihm die Sioux, hinter ihm Apachen. Ein größeres
Auto wäre toll. Größeres Auto, größere Freiheit, größere Geschwindigkeit und Macht und
weit weg damit und nie zurück. Nie zurück zu seiner Familie, die ihn nicht versteht, zu
Dingen, die ihn nichts angehen. Manchmal, wenn er sich selbst nicht sieht, möchte er
weinen, so kotzt es ihn an, das Leben, das ihm einer heimlich in die Tasche gesteckt hat und
das er verdammt nicht will. Er kennt den Typ nicht, der im Anzug mit seiner Frau ins
Theater geht.
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Stefanie Wick Widmer
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Erzähltheorie Textinterpretation
Textinterpretation 2021
Seiner Frau, die mal blond war, ihn bewundert hat. Lacht ihn aus inzwischen. War auch gar
nicht blond. Gefärbt, betrogen, ausgelacht. Verdammt will er sein, ein anderes Leben haben,
eines, das er sich als Junge immer vorgestellt hat. Er war ein Held gewesen in seinen
Träumen. Und ist nun einer, der gelbe Haut hat und gelbe Finger vom Rauchen, vom Trau
rigsein. Das Auto umschließt ihn, ist ein Himmel für ihn allein, gibt ihm Halt in einer
gottverdammten Welt, die aus den Fugen geraten ist. Rasen und kuppeln, das Chrom, das
Leder, und dann beginnt er zu fliegen. Über die Straße, die anderen Wagen klein, die Straßen,
die
Luft unter dem Auspuff, fliegen, eine Runde drehen, da ist sein Haus, winzig klein, darin
zwei Frauen, die er nicht versteht, in einem Leben, das er nicht verdient, in einer Welt, die
nicht mehr gemacht ist für einen wie ihn. Er dreht ab, schräg über den Berg über die Prärie,
da steht die Sonne und er lächelt. Zum ersten Mal an diesem Morgen.
(Aus: Sommer, Theo; Kuenheim von, Haug: ZEIT Punkte 3/2000. Bewegte Welt, Hamburg
2000, s. 34)
Anmerkung: Sibylle Berg, geboren 1962 in Weimar, lebt in Zürich und Tel Aviv. Sie schreibt für diverse
Magazine, veröffentlichte eine Reihe von Theaterstücken, aber auch Romane. In dem Bändchen „Das
Unerfreuliche zuerst. Herrengeschichten" schildem Anti-Helden aus ihrer Perspektive, wonach sie sich sehnen
und wie sie scheitern.
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Stefanie Wick Widmer
Deutsch
Erzähltheorie Textinterpretation
Textinterpretation 2021
Der Aufzug ist ohne Zwischenstopp abwärts gerauscht. Wir sind unten. „Endstation", sage
ich und steige aus. Das Kind lacht. Der, der ihm am ähnlichsten sieht, ist auf und davon, und
die einzigen Briefe, die uns erreichen, sind Mahnungen. Die Wohnung ist zu klein, um all die
Mahnungen zu stapeln. Manchmal greift sich der Wind ein Blatt und trägt es durchs offene
Fenster hinaus. Unterdessen kaufe ich dem Kind Schuhe und lande im Soll. Selbst die
Marmelade beschert uns rote Zahlen. Dahinter steckt ein Gesetz. Man wird uns das Wasser,
das uns bis zum Hals steht, abdrehen. Ein Glück! Man wird den Strom kappen, so dass wir
uns wärmer anziehen müssen, aber wer bezahlt die wärmere Kleidung? Ich renne ins
Kaufhaus und verlange Pullover, Handschuhe und wollene Socken, während das Minus auf
dem Konto wächst. Ohne Strom, weiß mein Kind, können wir keine Nachrichten sehen.
Unsere Unwissenheit nimmt täglich zu. Fragt mein Kind, wer regiert unser Land, antworte
ich: „Wir haben keinen Strom." Weil die schönen Schuhe so teuer sind, weil die Marmelade
ein Vermögen kostet, weil die Zeitung unbezahlbar ist, haben wir keinen Strom, und weil wir
keinen Strom haben, sage ich, klaffen in unseren Köpfen Informationslücken, so dass wir
nicht wissen, wem wir unsere liebe Not verdanken.
Meine Haare kann ich ohne Strom nicht föhnen. Ich laufe mit einer Unfrisur herum. Wie soll
ich ohne Föhn eine Anstellung finden? Der Chef, der nicht mein Chef werden wird, schüttelt
den Kopf. Vor lauter Gedanken an meine Unfrisur habe ich vergessen, was die Firma
produziert. Vielleicht stellt sie Haarföhne her. Oder sie verkauft Strom. Wüsste ich
wenigstens, wie die Firma heißt. Ich könnte den Chef, der keine Informationslücken hat,
überzeugen. So bleibt alles wie es ist und ich gehe ohne Anstellung nach Hause. Geknickt
wie ich bin kommen große Sprünge nicht in Frage. Meine Freundin sagt: „Ohne Strom ist für
euch der Tag um vier gelaufen." — „Wir zünden Kerzen an", sage ich. „Falls ihr sie bezahlen
könnt", sagt sie. „Während andere arbeiten oder an langen Abenden lesen, tappst du mit
deiner Tochter im Dunkeln." Meine Freundin hat Recht. Ich hocke ungeföhnt im Dunkeln,
lese nicht und weiß nicht, wer unser Land regiert. Mein Kind wird nicht in die reguläre Schule
kommen. Es kann nur mit roten Zahlen rechnen und leckt die Marmelade vom Finget. Es
muss dorthin, wo die Dümmsten der Dümmsten büffeln. Sogar die Dümmsten wissen, es
geht leichter hinunter als hinauf. Am Ende bleibt nur das Souterrain. „Das• Souterrain", sage
ich zum Kind und deute mit dem Daumen nach unten. Egal, wie ich es drehe, das
Haushaltsloch wird immer größer. Selbst dort, wo die Schuhe meiner Tochter stehen,
gähnen zwei kleine Haushaltslöcher. Der Haushalt steckt voller Ungeheuer, die, gefräßig wie
Staubsaugerschlüssel, jeden Cent verschlingen.
Der Briefträger reicht mir die Post, deren Empfang ich quittieren muss. Ich
schreib meinen Namen und sage: „Bitteschön." Es ist die Kündigung. „Es ist die
Kündigung", sage ich und gebe meiner Tochter den Brief. „Wer hat uns
gekündigt?" fragt sie. „Das Leben", sage ich. Hatte meine Freundin es nicht
prophezeit? In Windeseile nehme ich meine Tochter an die Hand und laufe mit
ihr hinaus. Wir atmen flach, obwohl die Luft nichts kostet. Wir werden
verschwinden, ehe man uns die Wohnung nimmt. Was wir nicht haben, wird uns
niemand nehmen. Die Sterne sind weit weg. Wir unterqueren den Mond, der gut
Lachen hat. Wäre ich an seine Stelle, bräuchte ich weder einen Föhn noch
Strom. Die Nacht wäre unser Haus,
„Wir sind ab heute ohne Anschrift", sage ich dem Kind. Aber es versteht nicht. Es zählt seine
Schritte in den teuren Schuhen. Doch selbst wenn es nicht seine Schritte zählte, wäre es weit
davon entfernt, das Einmaleins des Lebens zu begreifen. „Dein neues Zimmer hat Wände aus
Luft", sage ich. Wir werden einfach geradeaus laufen. Irgendwann ist die Welt zu Ende.
Jedenfalls kommt irgendwann ein Meer oder ein Parkplatz. Irgendwann ist Schluss.
Wir werden gehen, bis es nicht mehr weitergeht. Mein Kind träumt. Es träumt von einer
Kinderparty mit bunten Luftballons. Die Kinder können nicht stolpern, weil überall Lampions
brennen. Die Straße verjüngt sich hinter den letzten Häusern, aber weder das Meer noch ein
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Stefanie Wick Widmer
Deutsch
Erzähltheorie Textinterpretation
Textinterpretation 2021
Parkplatz ist in Sicht. Wir können Mais von den Feldern essen. Rüben aus dem Boden graben.
Niemand muss in einer solchen Gegend hungern. Hinter den Feldern beginnt ein Wald. Dort
suche ich für uns eine Lichtung. Wer hat schon so einen wunderbaren Blick in den
Nachthimmel wie wir? Der Mond ist hell und kostet keine Energie. Vielleicht kommt ein Ritter
in einem roten Ferrari und nimmt uns mit in sein Penthouse. Vielleicht kommt auch nur ein
Verrückter und sticht' uns sein Messer ins Herz. Die Birken lachen. Wie soll ein roter Ferrari
auf einer Waldlichtung parken? Auf meine Fantasie ist kein Verlass. Ich laufe dem Kind zurück
zur Straße und sage: „Ich habe mich geirrt, der Wald ist nicht unsere Zukunft." Wir müssen
winken, damit endlich ein Auto hält. Bremsen quietschen. Das Gesicht eines Mannes dreht
sich im matten Licht zu uns herauf. „Bitte, fahren Sie uns in die Stadt", sage ich. Wir haben
uns verlaufen. Der Wagen ist nicht rot. Es ist auch kein Ferrari. Das Auto ist rostig und klappert,
aber es fährt uns zur Wohnung. „Wollen Sie nicht mit heraufkommen?", frage ich. Mein Kind
braucht mehr als nur
mich. Drinnen legen wir das Kind ins Bett. Es wird von den Birken der Lichtung träumen. Wenn
Kinder träumen, erzählen die Bäume Geschichten. Ich lächle unseren Retter an. Er sieht
hungrig aus, und ich suche etwas zu essen aus den Schränken. Wir lieben uns leise, damit
das Kind nicht erwacht. Ob et die Ungeheuer bändigen und unsere Haushaltslöcher stopfen
kann? Ich hoffe es. Alles ist einfacher, wenn man weiß, neben wem man am anderen Tag
erwacht.
Zu dritt essen wir am Morgen die letzte Marmelade. Unser neuer Freund ist
zufrieden. Er hat es nicht eilig und kann es sich leisten, nirgends sein zu
müssen.
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Stefanie Wick Widmer
Deutsch
Erzähltheorie Textinterpretation
Textinterpretation 2021
Es lebte einmal ein Kaiser von China, Sohn des Himmels und mächtigster Herrscher der
Welt. Eines Abends ging er über die blühenden Terrassen seiner kaiserlichen Gärten und
erfreute sich an der Schönheit seiner Rosenbüsche und dem Duft ihrer Blüten.
Da stürmte plötzlich sein oberster Gärtner die Treppe herauf und stürzte dem Kaiser vor die
Füße. „O allmächtiger Herr“, rief er, „eben, als ich dort unten deine Rosenbüsche begoss,
sah ich vor mir den leibhaftigen Tod. Hinter einem Baum spähte er hervor und drohte mir mit
der Faust, sicher will er mir an das Leben! Leihe mir, Herr, dein schnellstes Ross, das
rascher ist als der Westwind, und lass mich nach deinem verborgenen Schloss Tschanga
entfliehen, das du in den Bergen versteckt hast; dort wird mich der Tod nicht finden. Noch
vor Aufgang des Mondes kann ich dort sein.“
„Nimm das Ross“, sagte der Kaiser. „Um sein Leben zu bewahren, muss man alles
einsetzen.“ Der Gärtner stürmte davon nach den Ställen. Bald hörte man den Hufschlag des
entfliehenden Rosses, und wie der Blitz verschwand es in der Ferne.
Sinnend ging der Kaiser weiter. Aber plötzlich sah auch er den Tod dicht vor seinem Weg
mitten in den Rosen. Doch der Kaiser fürchtete sich nicht, sondern trat ihm rasch entgegen
und fuhr ihn an: „Warum erschreckst du mir meinen Gärtner und bedrohst mir meine Leute
hier?“ Tief verneigte sich der Tod und sagte: „Erhabener Herr, Sohn des Himmels, verzeihe
mir, dass ich dich erzürnte. Ich habe deinen Gärtner nicht bedroht. Als ich ihn so unerwartet
hier vor mir in deinen Rosen sah, konnte ich mir ein Zeichen der Verwunderung nicht
unterdrücken. Denn heute früh, als der Herr des Himmels, Euer Gebieter und der unsere,
seinen Dienern seine Befehle gab, da gebot er mir, diesen deinen Gärtner heute Abend beim
Mondaufgang in deinem Schloss Tschanga abzuholen. Darum wunderte ich mich, dass ich
ihn hier traf, so weit von jenem Schlosse entfernt.“
Da verneigte sich der Kaiser ehrfürchtig vor dem unsichtbaren Herrn über Leben und Tod,
blickte lange in den roten Kelch einer Rose und dachte: „Da rast nun der Mann auf dem
schnellsten Pferd, das niemand einholen kann, vor dem Schicksal fliehend, seinem Schicksal
entgegen.“
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Stefanie Wick Widmer
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Erzähltheorie Textinterpretation
Textinterpretation 2021
Als Herr Keuner, der Denkende, sich in einem Saale vor vielen gegen die Gewalt
aussprach, merkte er, wie die Leute vor ihm zurückwichen und weggingen. Er blickte
sich um und sah hinter sich stehen - die Gewalt. "Was sagtest du?" fragte ihn die
Gewalt. "Ich sprach mich für die Gewalt aus", antwortete Herr Keuner. Als Herr
Keuner weggegangen war, fragten ihn seine Schüler nach seinem Rückgrat. Herr
Keuner antwortete: "Ich habe kein Rückgrat zum Zerschlagen. Gerade ich muss
länger leben als die Gewalt." Und Herr Keuner erzählte folgende Geschichte:
In die Wohnung des Herrn Egge, der gelernt hatte, nein zu sagen, kam eines Tages
in der Zeit der Illegalität ein Agent, der zeigte einen Schein vor, welcher ausgestellt
war im Namen derer, die die Stadt beherrschten, und auf dem stand, dass ihm
gehören solle jede Wohnung, in die er seinen Fuss setzte; ebenso sollte ihm auch
jedes Essen gehören, das er verlange; ebenso sollte ihm auch jeder Mann dienen,
den er sähe. Der Agent setzte sich in einen Stuhl, verlangte Essen, wusch sich, legte
sich nieder und fragte mit dem Gesicht zur Wand vor dem Einschlafen: "Wirst du mir
dienen?" Herr Egge deckte ihn mit einer Decke zu, vertrieb die Fliegen, bewachte
seinen Schlaf, und wie an diesem Tage gehorchte er ihm sieben Jahre lang. Aber
was immer er für ihn tat, eines zu tun hütete er sich wohl: das war, ein Wort zu
sagen. Als nun die sieben Jahre herum waren und der Agent dick geworden war vom
vielen Essen, Schlafen und Befehlen, starb der Agent. Da wickelte ihn Herr Egge in
die verdorbene Decke, schleifte ihn aus dem Haus, wusch das Lager, tünchte die
Wände, atmete auf und antwortete: "Nein."
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Stefanie Wick Widmer