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Jhering und die Freirechtsbewegung. (Glossen zu Jherings 100. Geburtstag.

)
Author(s): Ernst Fuchs and Josef Kohler
Source: Archiv für Rechts- und Wirtschaftsphilosophie, Vol. 12, No. 1 (Oktober 1918), pp.
10-24
Published by: Franz Steiner Verlag
Stable URL: http://www.jstor.org/stable/23683464
Accessed: 18-12-2017 20:54 UTC

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ío h echts- ixnd Staatsphilosopkie

betrachten in der Gewissheit, dass sie alle doch schl


wieder in der Bejahung des hohen Bewusstseins münden
das die Menschheit von ihrem göttlichen Adel im Bus
In dieser Gewissheit hat Adolf Lasson gelebt, und es
beschieden gewesen, dass er noch bei Lebzeiten die E
seines Glaubens hat davon tragen können. Im höchste
alter sah er sich nicht mehr vereinsamt und unverstanden wie
während der Kampfeszeit seiner Mannesjahre. Ein neues geistiges
Leben kündigte sich an, die Sehnsucht nach den von ihm ver
kündeten Idealen wachte auf. Das ungeheure Ereignis des
Weltkrieges betrachtete er als das sichtbare Zeichen für den
Anbruch einer neuen Zeit, und die wundervolle Bewährung des
deutschen Volkes, insbesondere der deutschen jungen Mannschaft,
gab ihm den Beweis für die unvergängliche Lebenskraft der in
dem deutschen Volksgeiste niedergelegten bleibenden geistig
sittlichen Güter. So durfte er, der in jüngeren Jahren oft in
Gefahr stand, bitter zu werden, am Schlüsse seiner Wanderung
dankbar und befriedigt auf seinen Lebensweg und sein Lebens
werk zurücksehen. Das friedevolle Ende, das ihm beschieden
war, ist wie ein Sinnbild für den geistigen Abschluss, den sein
Streben gefunden und von dem er selbst gesungen hat :
Die Zeit klingt aus in sanften Friedenstönen,
Dem Ausgang zu, dem ewigen Versöhnen.
Georg Lasson.

Jhering und die Freirechtsbewegung.


(Glossen zuJherings 100. Geburtstag.)
Yon

Rechtsanwalt Ernst Fuchs, Karlsruhe.

1. Die noch während des ersten Jahrzehnts der Geltung


unseres Planck-Windscheidschen BGB. fast allein herrschende
und noch heute kaum halb überwundene Methode ist die der
sog. Formaljurisprudenz oder Begriffsjurisprudenz1). Drastisch
sagt über sie ein — unter dem Gesichtswinkel der Ewigkeit
sehr lehrreicher — Aufsatz des Notars Bourier in Königshofen
über den Nachweis der vormundschaftsgerichtlichen Genehmi
gung im Grundbuchverfahren (Zeitschr. d. D. Not. Ver. 1918,

') Vgl. dazu den schönen Aufsatz yon Ehrlich: Die juristische Logik im
Arch. f. ziv. Pr. 1917, 125 ff.

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Fuchs, Jhering und die Freirechtsbewegung 1 ]

201) : „Zeigt uns ein Jurist oder gar ein Gericht eine Klippe,
so schwimmen wir Juristen darauf zu wie der Fisch auf
einen Köder. Will uns aber einer eine gefahrlose Rinne
zeigen, so sind wir voller Misstrauen. Man sagt, wenn drei
Juristen beieinander sitzen, gebe es vier Meinungen. Leider
ist an diesem Scherzwort ein wahrer Kern. Warum? Weil
die Juristen vielfach, statt das allein Vernünftige, vom ge
sunden Sinn für die Lebensnotwendigkeiten Eingegebene zu
finden oder nur zu. suchen, sich in juristischen Klaubereien
ohne jedes vernünftige Ziel ergehen, an ihrer eigenen Spitz
findigkeit, an entdeckten Schwierigkeiten, mehr Freude haben,
als an einem einfachen, aber brauchbaren Ergebnis ihres
Forschens. Das ist leider noch immer Juristenart." Ver
gleichen wir die Art, wie die juristischen Kontroversen
handelt werden, mit denen irgend einer anderen Wissenscha
so fällt uns sofort der Unterschied in die Augen. Zwar gib
es auch in den andern Wissenschaften Begriffsformalismu
Nehmen wir als Beispiel die Meinungsverschiedenheit zwisch
zwei Psychiatern, ob eine bestimmte Geistesschwäche ei
„Imbezillität" darstelle. Dann dreht sich auch der Streit um
den Begriff und die Definition der Imbezillität. Ein solche
Streit ist dann genau so unfruchtbar und formalistisch, w
die Kontroversen der Begriffsjurisprudenz, z. B. ob die Sa
miete begrifflich ein obligatorisches oder ein dingliches Rec
ist, oder ob die Hypothek begrifflich ein Pfandrecht oder ei
Realobligation ist. Jede Vorschrift des Gesetzes über die Sac
miete und die Hypothek und jede Auslegung einer solchen
Vorschrift ist gut oder schlecht aus andern Gründen, als a
dem Einpassen unter eine solche Definition. Bei den andern
Wissenschaften, namentlich den praktischen d. h. den wie d
Rechtswissenschaft ins Leben einzugreifen bestimmten, ist d
vorherrschende Charakter der sachliche, nicht der formal
logische Kampf. Wo in einer anderen praktischen Wissen
schaft z. B. in der Medizin oder der Erfindungstechnik Grenz
fälle zu beurteilen sind, da gibt es freilich genau so sicher und
so viele Meinungsverschiedenheiten wie bei den Juristen. In
der gutachtlichen Aeusserung eines unserer ersten Psychiater
über die Zurechnungsfähigkeit (Verantwortlichkeit) einer
Person heisst es: „Die Entscheidung im vorliegenden Falle
liegt an der Grenze des Gebiets zwischen dem Ja und Nein,
so dass ein Auseinandergehen der Meinungen beinahe selbst
verständlich, jedenfalls erfahrungsgemäss in solchen Fällen
die Regel ist." Der juristische Streit über die Unterordnung

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12 Rechts- und Staatsphilosophie

der Lebensfälle unter gesetzliche Merkmale und unte


sätze — also jeder echte Prozess — ist aber immer ein
Grenzstreit. Nicht also, dass da stets Meinungsverschieden
heiten auftauchen, ist verwunderlich, sondern wie sie geführt
werden. Das Besondere der Formaljurisprudenz zeigt sich
da in zweifacher Richtung. Erstens: sie schafft durch ihren
Wort-, Begriffs- und Definitionskultus erst eine Menge Strei
tereien, die sonst garnicht aufkommen könnten und die also
keinen Lebenswert haben, sondern eine schädliche Energie
vergeudung darstellen und nur Unheil stiften. Zweitens: auch
die wirklich sachlichen Streitfragen werden da nicht, — und
jedenfalls nicht grundsätzlich und offen — aus sachlichen
Gründen entschieden, d. h. nach Zweck, Interessen wägung,
Verkehrsbedürfnis, also nach dem praktisch - vernünftigen
Ergebnis in Verbindung mit dem auf Vertiefung in die be
sonderen Umstände des Falles (sog. „Natur der Sache") ge
gründeten Rechtsgefühl, sondern nach jenen dialektischen
Begriffs- und Definitionsstreitereien. Bei diesen steht das
vernünftige Ergebnis im Einzelfall nicht an erster, sondern
an letzter Stelle oder es spielt überhaupt nur im geheimen
oder halbbewusst mit.
Die juristischen Gehirne werden durch diese scholastisch
formalistische Methode grundsätzlich falsch eingestellt : sie
suchen in erster Linie nach formailogischen Schachtelungen
(„Distinktionen"), statt nach sachlicher Unterscheidung. Und
nach dieser Methode haben auch die Verfasser unseres BGB.
in den juristischen Fragen stets in erster Linie nicht solche
der Lebens- und Verkehrsbedürfnisse, sondern vorwiegend
solche der formalistischen Konstruktion gesehen, wie die
Motive auf Schritt und Tritt zeigen. Kaum hervorgehoben
braucht zu werden, dass etwas ganz anderes die Konstruktion
iin guten Sinn ist d. h. die auf induktiver Forschung be
ruhende Zusammenfassung und systematische Ordnung der
beobachteten Rechtserscheinungen und die wahre juristische
Diagnose.
In allen den tausenden vergangenen, gegenwärtigen und
künftigen juristischen Streitfragen waren und sind stets min
destens zwei logisch begründbare Lösungen möglich. Die
Begriffe treten überhaupt gewöhnlich paarweise auf und
stellen Gegensätze dar. Das polare Gesetz gilt auch auf
geistigem Gebiet. Es gibt, so führt Bergson „Einführung in
die Methaphysik" aus, kaum eine konkrete Wirklichkeit, über
die man nicht zugleich zwei entgegengesetzte Ansichten ver

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Fuchs, Jhering und die Freirechtsbewegung 13

treten könnte und die sich nicht infolge dessen auf diese beiden
widerstreitenden Begriffe bringen liesse. Man müsse daher
an eine Umwälzung der hergebrachten (formalen) Logik gehen.
Denken bestehe jetzt gewöhnlich darin, von den Begriffen zu
den Dingen zu gelangen und nicht von den Dingen zu den
Begriffen. Aber die gewöhnliche Verstandesarbeit sei in Wirk
lichkeit weit davon entfernt, eine unbeteiligte Arbeit zu sein.
Im allgemeinen trachten wir nicht zu erkennen, um zu er
kennen, sondern zu erkennen, um Partei zu ergreifen für eine
Meinung, die wir aus anderen Gründen als aus den logischen
haben. Das geschehe mehr oder weniger unbewusst, und
diese anderen Gründe seien seither, als sie zum klaren Be
wusstsein kamen, entweder ins Innerste verschlossen oder
höchstens, sei es ganz, sei es teilweise, im Schosse des Kolle
giums oder der Amtsverschwiegenheit vergraben worden.
(Von mir sog. Kryptosoziologie.)
Das ableitende (deduktive) juristische Denken von oben
nach unten ist von allen Mittelmässigkeiten mechanisch und
ohne Lust erlernbar und bedarf entfernt nicht in dem Masse
der feinsehenden, feinhörigen und sachkundigen Beobachtung
der Rechtstatsachenwelt und der Menschen wie das nur von
wirklich Begabten durch eisernen Fleiss verbunden mit wahrer
Lust erlernbare soziologische und psychologische (induktive)
juristische Denken von unten nach oben. Es ist eine falsche
Ueberschätzung der „reinen" Denktätigkeit (sog. Intellek
tualismus oder Rationalismus), wenn man glaubt, durch
blosses Nachdenken Wahrheiten zu ermitteln. Bei der Ein
führung der bedingten Begnadigung sind die schlimmsten
Ergebnisse vorhergesagt worden. Der Versuch, die Erfahrung,
strafte die Warner Lügen. Anderseits führt das blosse
unfachkundige Beobachten zu keiner wissenschaftlichen Er
kenntnis. Es gilt, die Erscheinungen zu „studieren", um zu
Schlüssen auf ihre Ursachen und Gesetze zu gelangen. Von
einem einzigen erhabenen Genius (Newton) ist auf diesem
Weg mehr Licht ausgegangen, als ein Jahrtausend vor ihm
hervorzubringen vermochte. (Liebig). Jahrtausende lang
hatte die Menschheit die grausig schöne Erscheinung des
Gewitters beobachtet oder vor ihr gebebt, und doch bedurfte
es erst des klassischen Experiments von Franklin, um Ein
blick in das Wesen des Vorgangs zu gewinnen und um sich dann
praktisch vor ihm schützen zu können. (Braunshausen). Aber
die Kenntnis der Dinge, die Anschauung, ist das erste. „Die
Hauptsache bleibt immer, dass die Anschauungen den Be

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griffen vorhergehen, aber nicht unigekehrt, wie die


wöhnliche, aber ebenso ungünstige Fall ist, wie we
Kind zuerst mit den Beinen oder ein Yers zuerst mit dem
Reim auf die Welt kommt." (Schopenhauer). In dem Satz
das Römers: jurisprudentia est diviuarum atque humanarum
rerum notitia (und dann erst — justi atque injusti scientia),
ist das rerum zu unterstreichen. Es heisst rerum, der Dinge,
nicht der Worte oder Begriffe. Damit ist natürlich nichts
gegen Begriffe selbst gesagt, sondern nur gegen die Ueber
schätzung des dem vielgestaltigen Leben gegenüber stets un
vollkommenen Worts und gegen den, Begriffe nicht wie ver
besserbare Hilfsrichtlinien, sondern wie Naturdinge betrachten
den Begriffsrealismus.
Machen wir uns den Unterschied der beiden Methoden
an einem Beispiel aus einem andern Gebiet klar. Es ist ein
bekannter Streit, ob die deutsche Schrift (Fraktur) oder die
Lateinschrift (Antiqua) leichter erkennbar sei. Durch blosses
Nachdenken wurden von den einander gegenüberstehenden
Parteien alle möglichen Gründe für und gegen beigebracht.
Diese deduktive (scholastische)—von Comte die „metaphysische"
oder abstrakte genannte — Methode wog diese logischen
aprioristischen Gründe durch gründliches Nachdenken gegen
einander ab und gewann daraus ihre Ueberzeugung, soweit
sie nicht bewusst oder nnbewusst damit ihr schon vorher
gefasstes Vorurteil stützte. Die induktive (moderne) — von
Comte „positive" oder exakte genannte — Methode stellte Ver
suchsreihen an. Und da ergaben sich merkwürdige, vorher
von niemand erdachte Verschiedenheiten, je nach dem es sich
um Anfänger oder Erwachsene, um einzelne Buchstaben oder
um ganze Wörter bandelte. Schliesslich stellte man mit Hilfe
einer besonders dazu erfundenen Brille fest, dass eine ge
wöhnliche Buchzeile in deutscher Schrift durchschnittlich mit
5 Augenbewegungen, in Lateinschrift aber mit 7 Augenbe
we; ungen überflogen wird.
Macaulay nennt die Metaphysik eine Philosophie der
Worte („Begriffsdichtung"), den Positivismus (im philophischen
Sinn, also dem Bacons und Comtes) eine Philosophie der Werte.
(Ich brauche hier das Missverständnis nicht zu widerlegen,
als wollte irgend etwas gegen eine echte Rechtsphilo
sophie gesagt sein, von der eine juristische Erkenntnistheorie
gerade ein wertvolles Hauptstück bildet). Dass unsere seit
herige dogmatische Jurisprudenz noch überwiegend nicht eine
Wissenschaft der Werte, sondern der Worte ist d. h. in der

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Fuchs, Jhering und die Freirechtsbewegung } 5

deduktiven Stufe steckt, die auch bekanntlich die Natur


wissenschaften und die Heilkunde durchgemacht haben, können
wir an jedem beliebigen Kapitel einer jeden beliebigen ju
ristischen Lehre aufzeigen. Nehmen wir dazu ein Kapitel aus
der Beweislastlehre. Zuerst war herrschende Lehre : Wenn
unter den Parteien streitig ist, ob ein ziffermässig bestimmter
oder ein angemessener Preis vereinbart sei, so trifft den auf
den Preis klagenden Verkäufer die Beweislast. Aber, obwohl
Eccius (Gruchots Beitr. 45, 272! es geradezu als verwunderlich
bezeichnet, dass dieser Satz hat streitig werden können, ver
langen Mittelstein, Fitting, Koffka nnd Oertmann vom Käufer
die Widerlegung der Behauptung des Verkäufers, wonach zum
angemessenen Preis verkauft sei. Wer hat die streitigen, bei
Abschluss des Vertrags getroffenen Nebenabreden zu beweisen?
Danz, Laband, Staub sagen: der sie behauptende Beklagte;
Stölzel dagegen : der den Abschluss des regelmässigen Ge
schäfts behau})tende Kläger. Rassow nennt (Gruchot 43, 783)
die Kritik der Stölzelschen Gründe durch Staub eine geradezu
vernichtende. Das RG. 57, 46 billigt Staub gegen Stölzel,
Stölzel fertigt (Büsch s Z, 35, 1 ff) dieses Urteil als mit der
gesamten Rechtsprechung des RG. in Widerspruch stehend
ab. Meyerowitz entgegnet (JW. 13, 236), keine einzige der
von Stölzel herangezogenen Entscheidungen sage das, was
Stölzel herauslesen wolle. Dagegen hat das RG. 68, 305 den
von Rassow, Könige, Staub, Stranz, Rosenberg u. a vertretenen
und von der seitherigen Praxis überwiegend eingenommenen
Standpunkt abgelehnt. Es kommt zu dem Ergebnis : der auf
Darlehensrückzahlung Klagende muss den von ihm behaupteten
fristlosen Vertragsinhalt beweisen. Meyerowitz (a. a. 0.)
widerlegt dies eingehend und bezeichnet diese Rechtsauffassung
des RG. geradezu als eine Prämie für schlechte Zahler, was
den reinen Begrifflern ganz gleichgültig ist. Anstelle jener
endlosen begrifflichen Streitereien, die alle ungefähr gleich
scharfsinnig und formallogisch völlig unwiderlegbar sind,
sagt Kohler (Holtzendorf Énzykl. 6. Aufl. 114) treffend, der
Richter könne sich durch ein verständiges Walten über die
ganze Lehre von der Beweislast hinwegsetzen. Die neue
Rechtswissenschaft anerkennt mit Dernburg (Bürg. R 3. Aufl.
1, 19), dass die Beweislast vom Richter nach der „Natur der
Sache und nach der Zweckmässigkeit zu bestimmen sei. Sie
sucht induktiv allgemeine Grundsätze (die „Gesetze") dieser
Natur der Sache. Darüber ist sachlich Kampf und Ver
ständigung möglich. Die Begriffsjurisprudenz kommt dagegen

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10 Rechts- und Staatsphilosophie

auch hier niemals vom Fleck. Alle ihre Ergebnisse


mit mindestens gleich grossem formalen Scharfsinn
wieder von einem andern widerlegt.
Die Begriffsjurisprudenz hat sich nun am heft
ausgetobt in dem Jhering vor seiner Bekehrung zur
soziologie. Jhering kam nach Giessen im selben Jahr
als Liebig von -'ort nach München berufen wurde. Von
aus hatte Liebig durch seinen herrlichen „Chemischen
die Welt mit seinem Ruhm erfüllt. Die „höhere Jurisp
wie Jhering (Geist d. röm. R.) seine überstiegene B
jurisprudenz benannte, beruft sich ausdrücklich auf die
als Analogie. Aehnlich ist sein späterer, im Grundged
gleich verkehrter „Kampf ums Recht" ein falscher A
von Darwins „Kampf ums Dasein". Der „Geist des r
begann nach langer Vorbereitung 1858 zu erscheinen.
licher, zeitlicher und ursächlicher Zusammenhang der
jurisprudenz als juristische Chemie ist unverkenn
Nur so versteht man, wie Jhring seine „Mathematik des
Rechts" eine „naturgeschichtliche" nennen konnte, während
eine wahrhaft naturwissenschaftliche Beobachtung des Menschen
als Gattung gerade die völlige Verschiedenheit des Gegenstands
der Rechtswissenschaft von dem der Chemie gezeigt hätte.
Jhering wurde von dieser juristischchemischen Verirrung
bekanntlich bekehrt, als er seine auf eine Digestenstelle
gestützte, in einer Abhandlung ausgesprochene Begriffs
jurisprudenz über den doppelten Verkauf der nämlichen, dann
durch Zufall untergegangeneu Sache praktisch als Spruch
richter anzuwenden zurückschauderte und in heftiger Gemüts
erregung nicht ruhte, bis er für das entgegengesetzte Ergebnis
eine von ihm selbst als untergeordnet bezeichnete „Konstruk
tion" fand. („Stellen gibt es hier nicht ") Dieses Erlebnis
machte ihn zum Satiriker gegen die reine Begriffsjurisprudenz
(„Scherz und Ernst") und damit zu einem an dem alten
Gebäude rüttelnden Vorläufer der modernen Rechtswissenschaft.
Wie wenig er zu einer psychologisch-soziologischen Rechts
wissenschaft vordrang, zeigt wohl am besten seine in diesen
Bekenntnissen eines Bekehrten niedergelegte Ansicht, dass die
Tat- und Beweiswürdigungsfrage nichts eigentlich juristisches
sei. Aber er rang sich mindestens zur Erkenntnis durch:
das praktische Ergebnis müsse das „Korrektiv" des theo
retischen Denkens sein. Damit blieb die Begriffsjurisprudenz
auf ihrem Thron, wie die ganze folgende Entwickelung in
Deutschland gezeigt hat. Es entstand die unwissenschaftliche,

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Fuchs', Jhering und die Freirechtsbewegung 17

halbuneingestanden im geheimen betriebene, aber unter


begriffliche Konstruktionen verhüllte Kryptosoziologie, die
neben der kräftig fortlebenden Formaljurisprudenz einherging.
Es war dies eine ähnliche Halbheit und also Falschheit wie
die in Jhering's „Zweck im Recht" vorgetragene Lehre des
reinen Utilitarismus.
So geriet unsere Ziviljurisprudenz in die Aera Wind
scheid und Planck und damit wieder in blühende reine
Begriffsjurisprudenz.J) Windscheid bezeichnete es bekanntl
geradezu als die eigentliche Aufgabe der modernen Rech
wissenschaft, die Begriffe in ihre Bestandteile aufzulösen,
in ihnen enthaltenen Denkelemente aufzuweisen und in der
Zerlegung der Begriffe möglichst weit zu gehen. (Pandekten
I, § 24). Man merkt auch hier die Chemie. Aus diesem
Geist heraus wurde unser BGB. geboren. Ein gutes Zivil
gesetzbuch muss eine Sammlung goldener sprachmarkiger
Regeln sein wie das Schweizerische und nicht wie unseres,
ein doktrinäres, dem Volk schon sprachlich völlig unver
ständliches, pedantisch abstrakt-kasuistisches Schlinggewächs.
Die DJZ. (1909, 954) veröffentlichte eine ihr von „authentischer"
Seite zugegangene Darstellung über das Wirken Windscheids
bei Abfassung des BGB. Selbstverständlich, heisst es da,
hätten die Pandekten Windscheids, wie damals auf alle
Juristen, so auch auf die Mitglieder der 1. Kommission einen
erheblichen Einfluss ausgeübt, was ja auch Planck bestätigte.
Aber Windscheid habe gleich in der ersten Sitzung vor Beginn
der Beratungen den Wunsch ausgesprochen, seine Pandekten
bei der Erörterung beiseite zu lassen, weil er kaum noch
die Hälfte von dem glaube, was darin stehe.
Das ist ein sehr wertvolles, viel zu wenig beachtetes Ge
ständnis. In der Tat ist nämlich die — wie wir noch sehen
werden : romanistische — Begriffsjurisprudenz eine Art
orthodoxer Theologie, die jenseits echter Wissenschaft liegt
und an der man daher — wie schon Jhering — den „Glauben"
verlieren kann. Eine solche Jurisprudenz stellt sich bewusst
dem natürlichen, im Volk lebenden Recht entgegen. „Die

*) Aus dem grossen Strauss, den man alljährlich hier noch pflücken
kann, nur eine Prachtblüte aus allerjüngster Zeit. Das RG. muss aussprechen
(JW. 1918, 375), dass der Oeffentlichkeitsgrundsatz nicht verletzt ist, wenn
bei einer Grubenbesichtigung wegen der schwierigen Raumverhältnisse des Leiter
schachtes und der Ruhebühnen nicht in jedem Augenblick alle Prozessbeteiligten
sich an diesen Punkten aufhalten können, geschweige denn Publikum! Ueber so
etwas kann bei uns noch veröffentlichungsreif bis ans RG. gestritten werden.
Archiv für Rechtsphilosophie. Bd. XII.

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18 Rechts- und Staatsphilosophie

natürliche Auffassung! Was ist sie andres, als der


Versuch des Sehens und folglich die völlige Abhä
eines blöden, ungeübten Auges vom äusseren Schein."
Geist d. r. R. Teil. 2 Abt. 2 S 329). So wurde die
die Rezeption eines fremden Rechts bei uns gegrabe
heure Kluft zwischeu Volk und Recht noch durch eine
formallogisch orientierte, sophistische Jurisprudenz erweit
und vertieft.
2. Der zweite Grundfehler der noch herrschenden Juris
prudenz ist die falsche Rechtshistorik, wie wir sie im Gegensatz
zur wertvollen Rechtsgeschichte nennen können. Sie hat in
den sich selbst im bonitarischen Eigentum habenden Latini
Juniani Vangerow's und im Bovigus Huschkes ihre Gipfel
punkte von höherem Blödsinn erreicht. Sie ist noch heute
nicht ausgestorben. Während des Weltkrieges, wo die Rechts
probleme unseres Wirtschafts- und Gesellschaftslebens in
überreicher Fülle auf uns einstürmen, ist ein über und über
gelehrtes Buch von Henle über den Unus casus (Leipzig 1915)
erschienen. Henle findet mit dem grössten Scharfsinn, dass
die actio prohibitoria die Eigentumsklage gegenüber der
baulichen Störung sei („als prohibitoria des nuntiierenden
Eigentümers und als prohibitoria unter Miteigentümern") und
dass die prohibitoria des nuntiierenden Eigentümers der unus
casus sei. Die Rechtshistorik hat durch die Papyrusaus
grabungen einen neuen, kräftigen Antrieb erhalten. Kürzlich
erschien eine Schrift über „die Digestenfragmente ad formulam
hypothecariam und die Hypothekarrezeption" von Dr. Ebrard,
der darin die gesamte geschichtliche Grundlage unseres
modernen Hypothekenrechts einer Revision unterwirft. Der
Verfasser gelangte dabei, so heisst es in der Ankündigung,
zu dem nicht wenig aufsehenerregenden Ergebnis, dass
entgegen bisheriger, viele Jahrhunderte alter Lehre, gerade
die massgeblichsten einschlägigen Rechtssätze nicht dem
römischen Recht entstammen, sondern byzantinische Schul
weisheit seien. Was aber wird durch diese aufsehenerregende
Aufklärung eines solchen Jahrhunderte alten Irrtums in der
Welt der Wirklichkeiten, also für unser lebendes Recht dar
getan? Immerhin liefert ein solcher Nachweis einen lehr
reichen Beitrag zur Vertreibung des besonderen römischrecht
lichen Aberglaubens für die, die von diesem noch besessen sind.
Ich brauche auch hier das Missverständnis nicht abzu
wehren, als wäre nicht alles Recht geschichtlich entstanden
und als hätte die Rechtsgeschichte nicht für sich als Wissen

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Fuchs, Jhering und die Freirechtsbewegung 19

schaft ihre grosse Bedeutung. Als könnten nicht erlesene


Geister aus den Tiefen der Rechtsgeschichte Schätze heraus
holen, die auch unser heutiges Recht, seine Einrichtungen,
seine Wissenschaft und seine Pflege befruchten. Aber selbst
die Geschichte der Philosophie konnte nicht verhindern, führt
Liebig in seinen chemischen Briefen aus, dass man Menschen
als Zauberer verbrannte und, als sich der grosse Keppler
nach Tübingen begab, um seine Mutter vom Feuertod zu
retten, konnte er nur beweisen, dass ihr die wahren Erfordernisse
zu einer Hexe völlig abgingen. Die grossen Fortschritte in
den Wissenschaften und in der Kultur gehen nicht von ge
schichtlichen Studien aus. „Die chemischen Untersuchungen
Liebigs waren für die Landwirtschaftslehre von weit höherem
Wert, als die gelehrteste Sammlung der Pflüge von den
ältesten Zeiten her. Es gehört mit zu den Voraussetzungen
für ein wissenschaftliches Rechtsdenken, zu erkennen, dass
man Pflüge und Gesetze vergleichen kann." (Ofner). Vor
allem aber ist etwas anderes als die wissenschaftliche Rechts
geschichte jene öde Rechtshistorik, mit der wenig hervor
ragende Köpfe selbst die praktische Rechtspflege heimsuchen.
In der berühmten strafrechtlichen Entscheidung über das
Preiskegelspiel (RG. Strafs, 40,21) wird die z i v i 1 rechtliche
Behandlung des Spiels bis in das graueste Altertum zurück
verfolgt. S. 33 ist eingeschaltet: „Dies wird hinsichtlich
des älteren deutschen Rechts mit dem Bemerken näher aus
geführt, dass es für das älteste deutsche Recht bis zum
13. Jahrhundert an Rechtsquellen über das Spiel vollständig
fehlt." Dann setzt es ein mit dem Sachsenspiegel, dem
Magdeburger Stadtrecht von 1261 usw. Umgekehrt wird in
der zivil rechtlichen Entscheidung über die Klage auf Wider
ruf einer Ehrverletzung (RG. Zivils. 60, 12) die strafrecht
liche Behandlung der restitutio famae in den Sächsischen
Konstitutionen von 1572 ab durch die einzelstaatlichen Straf
gesetzbücher vom Anfang des vorigen Jahrhunderts hindurch
behandelt. Diese Verirrung der Rechtsprechung hat im letzt
genannten Fall des RG. zu einem unerhöhrten, den Geist
römisch-aktionenrecbtlicher Gebundenheit atmenden Fehlurteil
geführt (vgl. meinen Aufsatz: „Ein Musterfall einer rechts
scholastischen Entscheidung" in Recht und Wirtschaft 1917,
225). Hätte der Richter, der dieses Urteil vorgeschlagen
und verfasst hat, statt seinen öden Notizenkram in alten
Schmökern der Bücherei zu sammeln, einen Spaziergang in
den grünen Wald gemacht und hätte er dort seine Beobachtungen

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20 Rechts- und Staatsphilosophie

unserer Welt geistig verarbeitet, so hätte er die ver


Entscheidung gar nicht verfehlen können. Es gibt n
derblicheres für die Rechtsprechung, als eine bew
sozusagen krampfhaft gelehrte Geschichtsfexerei Mitte
Wer aus der Erkenntnis der heutigen Verkehrsbedü
heraus urteilt, der macht selbst unbewusst Geschich
mag — wenn frühere Zeiten über eine Frage anders d
getrost einem echten Rechtsgeschichtler überlassen
weisen, wie und warum sich das Recht geändert hat
Die mächtigste Stütze der dialektisch - historischen
Jurisprudenz und das grösste Hinderniss gegen ihre Ver
wandlung in eine moderne Rechtswissenschaft ist das römische
Recht in der Form des gemeinrechtlichen Romanismus, weshalb
ich auch diese ganze Art von spielerisch-mathematischer und
rechtsaltertümlicher Jurisprudenz die Fandektologie getauft
habe. Jhering hatte früher gemeint, wir könnten das Studium
des römischen Rechts „noch nicht" lediglich den Gelehrten
überlassen, aber „endlich einmal" werde das Studium des
römischen Rechts entbehrlich werden. (Geist d. r. R. I 13).
In diesem Punkt kam er noch ganz zur Besinnung, aber
nur insgeheim, wie wir jetzt ans seineu „Briefen an seine
Freunde" (1913) erfahren. Bis jetzt nicht in Erfüllung ge
gangen, aber doch stark ihr entgegengereift ist Jherings in
seinen genannten Briefen ausgesprochene Weissagung, das
römische Recht gehe zur Neige und pfeife auf dem letzten
Loch, Romanisten seien in 30—50 Jahren (die sind jetzt gerade
abgelaufen !) komische Figuren, vorweltliche Tiere, die man
ins Museum stecke. „Ich habe Momente," schreibt er am
15. 10. 58 an Gerber, wo ich die ganze Jurisprudenz
— wenigstens unsere a n ti qu a r is ch - th e o r e
tische — zum Teufel wünsche. Es steckt gar zuviel un
gesundes Zeug darin. Könnte ich noch einmal meinen Beruf
wählen, ich würde schwerlich Jurist werden, wenigstens
keinRomanist und überhaupt keinTheoretiker.
Unter „Theorie" verstand man nämlich damals in der Rechts
wissenschaft nicht, wie das bei einer praktischen Lebens
wissenschaft selbstverständlich wäre, die wissenschaftliche
Beobachtung, Durchdringung und Gestaltung unserer Recbts
erscheinungen, sondern eben jene dialektisch-historische, vor
allem romanistische Scholastik. In meiner Studentenzeit —
zweiten Hälfte der 70er Jahre — sagte man : die Jurisprudenz,
das sind die Pandekten und die Pandekten, das ist Windscheid.
Der grosse Wandler und Erneuerer Weltkrieg muss uns

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Fuchs, Jkering und die Freirechtsbewegung 21

endlich von dieser alten Kette des Romanismus befreien.


Dass wir da ein Stück unverdaulichen Fremdstoffs in unserem
geistigen Blut stecken haben, hat schon vor mehr als zwei
Menschenaltern der Rostocker Oberappellationsrat Schmidt
(„Der grundsätzliche Unterschied des deutschen und römischen
Rechts") glänzend dargetan. Soweit das römische Recht
wirklich noch bei uns lebt, führt er aus, ist es nicht unserm
Leben angeglichen, sondern unser Leben, unsere juristische
Anschauungsweise, hat sich dem römischen Recht anbequemen
müssen. Das römische Recht sei nicht eingedeutscht worden,
sondern unser Leben und unsere Anschauung sei verrömert
worden. Selbstsucht ist der Grundzug des römischen Wesens
und zwar eine grossartige Selbstsucht. Und darum sah
Jhering in den Römern das für die Kultur des Rechts vorher
bestimmte Yolk; denn nach ihm ist das Recht „die Religion
der Selbstsucht". Weib und Kinder gehören zum Vermögen
(familia) des Römers, wie seine Sklaven und Sachen. Das
römische Recht ist — bei aller Betonung des aequitas im Einzel
fall — grundsätzlich gänzlich unsozial. Es geht von der Vor
aussetzung aus, dass die Menschen einander fremd und
pflichtlos gegenüberstehen wie Wölfe. Das germanische Recht
dagegen geht, wie Schmidt im einzelnen darlegt, gerade um
gekehrt von dem Grundsatz aus, dass die Menschen verpflichtet
sind, einander beizustehen. Recht und Beruf des germanischen
Hausvaters war die, wie jeder germanischen Obrigkeit: „das
Recht zu stärken, das Unrecht zu kränken und dem Hause
vorzustehen nach seinem Recht." Zweimal betont das römische
corpus juris, die Täuschung des Vertragsgegners sei ein
natürliches Recht : In emendo et vendendo naturaliter
concessum est, se invicem circumscribere, ita in locatio
quoque et conductionibus juris est. (Paulus in 1 22 § 3
locati 19. 12). Jdem Pomponius ait in pretio emtion
venditionis naturaliter licere contrahentibus se circumvenire
(L 16 § 4 D de minoribus 4, 4). Die gründliche Ausscheidung
dieses ganzen gesellschaftswidrigen, unserem Wesen und
unserer Kultur widersprechenden, zum Teil widerlich rabu
listischen Sklavenherrenrechts und seine gänzliche Abschaffung
als Prüfungsgegenstand ist ein dringendes Gebot der Stunde.
Die neue deutsche gesellschaftskundige (soziologische)
Rechtswissenschaft (auch, vielfach missverstanden, Freirechts
schule genannt) wird von Stammler (Rechts- und Staats
theorien der Neuzeit § 18) völlig irrig mit der bekannten
konfusen Gefühlsjurisprudenz des französischen Gerichts

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22 Rechts- und Staatsphilosophie

Präsidenten Magnaud zusammengeworfen. Das


unbegreiflicher, als die vielfach geübte geheim
Konstruktionen verhüllte Gefühlsjurisprudenz in
schiedener Weise von der neuen Bewegung bekämp
wie die Formaljurisprudenz. (Vgl. meinen Jur. Kul
3. Abschnitt.) Die soziologische Rechtsschule ist
gekennzeichnet : durch die Erkenntnis, dass alles —
Gültigkeit keineswegs von ihr geleugnete — gefor
nicht ein stillstehendes, starres und lückenloses Sy
sondern naturnotwendig — weil es ein lebendes, o
Gebilde ist — mit dem fliessendeu Leben selbst sich vorwärts
bewegt ; durch die Erkenntnis, dass das gesetzte Recht
keineswegs das lebende und in der Gesellschaft wirkende
Recht deckt und erschöpft; durch den Wert, den sie den
vom Gesetz zu ordnenden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen
Verhältnissen, den sog. Rechtstatsachen, beilegt, sowie den
Lebens- und Verkehrsbedürfnissen, aus denen das Recht ent
springt und den Zwecken, Anwendungsformen und Wirkungen
des Gesetzes im Leben ; durch ihre offen gesetzte Aufgabe,
unter Abwägung der einander gegenüberstehenden Belange im
jeden Fall nach dessen besonderen Interess'enlage, nach allen
seinen tatsächlichen Umständen das in ihm wohnende natürliche
Recht hervorzuziehen — modernes Naturrecht im Sinn
Kohlers, im Gegensatz zum alten, unwandelbaren, Natur
recht — und die gegenüber dem reichen und stets neue
Verwickelungen hervorbringenden Leben stets über und über
lückenhaften Normen nach ihren wahren Zwecken und nach
den Lebensbedürfnissen auszulegen, zu ergänzen und fortzu
bilden ; durch den Wert, den sie der Seelenkunde und Ver
nehmungskunst bei der Erforschung und Feststellung des
Tatbestands beimisst, weil sie erkennt, dass weitaus die
Hauptsache in der Rechtsfindung — vielleicht 90°/0 in den
Rechtsstreitigkeiten — von einer richtigen Feststellung der
Tatsachen und von einer richtigen tatsächlichen Be
urteilung abhängt ; durch die Schaffung einer auf fortgesetzte
genaue Beobachtung, Sichtung und Verarbeitung der Lebens
verhältnisse und Rechtserscheinungen gestützten, jetzt noch
ganz zurückgebliebenen gesetzgeberischen Rechtswissenschaft
(Rechtspolitik) ; endlich durch die darnach gebotene Erneuerung
der Forschungs- und Lehrweise der Rechtsfakultäten und
der Ausbildung der Rechtsjünger. Montaigne sagte von den
Studierenden der Medizin und Jurisprudenz seiner Zeit: den
Galen kennen sie wohl, aber den Kranken gar nicht. Sie

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Fuchs, Jhering und die Freirechtsbewegung 23

haben auch schon mit Gesetzen den Kopf ganz ausgefüllt,


worauf es aber bei eurem Rechtstreit ankommt, davon wissen
sie noch gar nichts. Mit dem medizinischen Studium ist das
heute anders geworden, noch nicht mit dem juristischen.
Das, was Jhering für nichts juristisches hielt, die Wahrheits
findung, muss zu dem ersten, und das, was ihm nur als das
praktische „Korrektiv" der juristischen Theorie erschien, muss
zum zweiten Hauptgegenstand der Rechtswissenschaft und
Rechtskunst werden. Auch im Strafrecht ist gleichzeitig eine
parallele soziologische Revolution gegen die alte Begriffs
jurisprudenz im Gange. Der grosse moderne Jurist ist vor
allem der grosse Rechtstatsachenforscher, Rechtspsycholog,
Gegenwartsrechtsfortbildner und Gesetzkünstler. Was die
Zeit von unserer Wissenschaft verlangt, ist Klarheit über die
Wirklichkeit, nicht logische Konstruktion, sagt der Schwede
Kjellen in seiner gegen die begriffs-juristische Staatsrechts
wissenschaft (Labandismus) geschleuderten Schrift „Der Staat
als Lebensform" (übersetzt: Leipzig 1917), an deren Spitze
er die Worte des finnischen Forschers Wikman stellt: „In
der Entwicklung jeder Wissenschaft gibt es einen Augenblick,
da sie haltmacht, wie um Atem zu holen und sich zu besinnen,
da die Selbstprüfung eintritt und es zu einer Abrechnung
kommen muss; in diesem Augenblick kommt die Methode
zur Diskussion." Dieser Kampf ist heute in unserer Wissen
schaft ausgebrochen. Er wird nicht nur ausgefochten, um
die Forschungsart und Lehrweise, sondern geradezu um das
wahre Wesen unserer Wissenschaft. Ueberblicken wir das
Schlachtfeld dieses Kampfes seit dem letzten Jahrzehnt, so
sehen wir an dem mächtigen Vorrücken der neuen Lehre —
die wie alles Neue erst verhöhnt, dann verlästert, dann
bekämpft, dann trotz Ablehnung mit Worten, in der Wirklich
keit immer mehr befolgt wurde — schon heute deutlich vor
uns : den Sieg der soziologischen Rechtswissenschaft über die
philologische Jurisprudenz. Und wir können mit Professor
Ehrenzweig (Jur. Blätter 1918, 149) sagen : die Bewegung hat
sich durchgesetzt. Wir stehen an der Pforte einer neuen
Rechtskultur.

Nachwort.
Von

Josef Kohler.

Ein Jurist wie Jhering, der den Spruch der Portia


ungerecht angegriffen und auf solche Weise den ethis

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24 Recbts- und Staatsphilosophie

Rechtsfortschritt verkannt, ein Jurist, der nicht ver


hat, wie die Rechtsfortbildung sich vielfach mit Scheing
behilft (Portia), wenn ihr der gerade Weg gesperrt i
Jurist, der den englischen Opportunismus Benthams
deutsche Wissenschaft verpflanzen wollte, ein Jur
schliesslich die Rechtskonstruktion, die nur eben auf
nicht auf unrichtige Grundlagen aufgebaut werde
verwarf, kann weder als Rechtsphilosoph, noch al
historiker, noch als Rechtsdogmatiker vor dem U
Geschichte bestehen. Die wahre Rechtsgeschichte aber
uns zeigt, dass ein guter Teil des so hoch verehrten rö
Rechts byzantinisch, und dass ein guter Teil des m
alterlichen usus pandectarum deutsch ist und dass di
Savignyschule, soweit sie modernes Recht geben wol
Yerirrung war, ist natürlich hoch zu schätzen.
K o h 1 e r.

Sittlichkeit und Billigkeit im deutschen


bürgerlichen Recht.
Ein im deutschen Gymnasium in Lodz am 24. März 1918
gehaltener Vortrag.
Von

Otto Fischer.
(Schluss.)
Wenn es so hier und da zweifelhaft sein kann, ob die
Rechtsprechung für die Sittenwidrigkeit und die Bestimmung
ihrer Folgen das richtige getroffen hat, so beweist das nur,
dass diese Aufgabe recht schwierig ist und hohe Anforderungen
an Auffassung und Urteilsgabe stellt. Im grossen und ganzen
befindet sie sich aber, wie ich schon bemerkte, sicher auf dem
richtigen Wege.
Und nun zu der besonderen Darlegung der Billig
keitsgrundsätze, die, wie ich schon hervorhob, eigentlich
nur ein Ausschnitt aus dem allgemeinen Gebiete der guten Sitten
sind. Vor allem ist die Durchführung der Billigkeit für das
grosse Gebiet des Schadensersatzes gewährleistet durch die
prozessrechtliche Bestimmung, dass die Frage des Daseins und
der Höhe eines Schadens ganz vom richterlichen Ermessen
abhängt, unter Befreiung von den sonst bestehenden Yer

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