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Landesmuseum
für Technik und Arbeit
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Die Goldenen 20er in Bildern, Szenen
und Objekten

Sonderausstellung des Landesmuseums


für Technik und Arbeit in Mannheim
vom 10. September 1994 bis 31. Januar '1995

Begleithefte zur Ausstellung

Bilder, Szenen H. Steffens/M. Unser


und Objekte

Radio für alle U. Kern/H. Steffens

Literatur und K. Möser/Ch. Kleppel


Buchkultur
Normierung 1 V Benad-Wagenhoff/R. Seltz
Normierung 2 K. Budde

M assensport H. Steffens/M.Unser

Bilderwelten H Steffens
Volksvergnügen H. Steffens/1. Abele

lmpressum

Gestaltung : Heike Morath


Fotoqrafie: Briqitte Grassmann, Klaus
Luginsland, Rainer Paasche, Regina Spät
Textred a kti on : Gerha rd Zweckbronner

@ beim Herausgeber:
Landesmuseum für Technik und Arbeit
in Mannheim
Museumsstraße 1, 68165 Mannheim
Alle Rechte vorbehalten, Mannheim 1994
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des
Museumsvereins f ür Technik und Arbeit e.V

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsauf nahme:

Tanz auf dem Vulkan


Literatur und Buchkultur
Hrsg. vom Landesmuseum für Technik und Arbeit
in Mannheim
Möser, KurVKleppel, Christoph
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Letzle Nuntner des 'Bönett-


blatts fiir dert Deutschen Bucb
handel" (28. Januar 193j) uctr
der Machllibennbnte der Natky
tnlsozialistert

"Was also die lntellektuellen und Künstler zu


erwarten haben, wenn erst das Dritte Reich sicht-
bar errichtet wird, ist klar: Ausrottung. Das er-
warten dann auch die meisten, und wer irgend
unter den Geistigen es ermöglichen kann, be-
reitet heute seine Auswanderung vor. Man hat,
wenn man unter den lntellektuellen Berlins
herumgeht, denn Eindruck, Berlin sei eine Stadt
von lauter zukünftigen Emigranten. "
(Lion Feuchtwanger, Ende 1931)
L iteratur und Buchkultur
Das Jahrzehnt der ProYokationenl
Literatur in der Weimarer Republik

Die Literatur der Weimarer Republik auf den mal Ahnliche oder das politisch-ideologisch
Beqriff oder in getrennte Schubladen zu brin- Trennende hervorgehoben wird, hängt von der
gen, scheint ein aussichtsloses Unterfangen: Fragestellung der späteren Analyse ab.
Zu heterogen war das literarische Leben; po-
litisch, kulturell und stilistisch zu diversifiziert. Unabhängig von den Positionen ist aber eine
Kategorien zur Klassifikation mögen sich für Relevanz des Buchs, des Gedruckten, festzu-
die Anstrengung des späteren Verstehens als halten. Konkurrenzmedien wie Film und Radio
hilfreich erweisen, aber nicht immer wird das befanden sich noch im Anfangsstadium; ihr
Verständnis der konkreten literarischen Kultur Einfluß auf das Gedruckte läßt sich indessen
dadurch erleichtert. nicht übersehen. Verfügbar waren neue, schnell
populär werdende "Printmedien", wie die ll-
Warum das literarische Leben so außerordent- lustrierte; Buchherstel lung und Drucktechni-
lich breitgefächert ist, bedarf selbst der Erklä- ken hatten in der Weimarer Republik vielleicht
rung. Gewiß verstärkt sich in den 20er Jahren den Höhepunkt ihrer Effizienz erreicht. Die
noch die Auffächerung der Kulturen, die im Druckindustrie war leistungsfähig und wurde
Kaiserreich schon angelegt war. Einerseits f in- von allen Fraktionen der Gesellschaft benutzt.
det eine - schon von den Zeitgenossen bekla- Neue Formen der Buchdistribution setzten
gte - "Vermassung" statt, andererseits aber sich durch: Reclams "Bücherautomat" wurde
auch eine zunehmende Fraktionierung der Le- in Bahnhöfen aufgestellt.
benswelten. Zu beobachten ist sowohl eine
Vereinheitlichung des Geschmacks als auch
eine Tendenz zur Herausbildung von besonde- Die Fortdauer des Bisherigen

ren Gruppenkulturen. Die Formen der Reakti- Es sollte nicht übersehen werden, daß sprach-
on auf die beschleunigte Modernisierunq und lich und thematisch konventionelle Literatur
vor allem auf deren traumatisierenden Höhe- nach wie vor einen beträchtlichen Teil des li-
punkt, den Weltkrieg, sind also vielfältig und
terarischen Marktes der 20er Jahre ausmachte.
widersprüchlich. Und natürlich haben die ver- Autorinnen wie Agnes Miegel, Erzähler wie
schiedenen, bei aller Gemeinsamkeit oft feind- Ludwig Ganghofer waren immens populär und
lich sich gegenüberstehenden Teilkulturen ihre verkauften hohe Stückzahlen ihrer Bucher. Da-
eigenen Literaturtypen. Ob nun eher das for- rin kamen Erscheinungsformen der Moderne

2
oder des Zeitgeschehens allenfalls am Rande DhKun$isth
vor; mit 5kepsis, gar mit Ekel wurden das "Ma-
schinenwesen", die zunehmende Verstädte-
rung und die evidenten gesellschaftlichen Um-
brüche betrachtet. Häufiger noch vermied man 'T'TTh-t
geschickt, sie zur Sprache zu bringen.

Diese Autoren spielten also Normalität in Zei-


ten der Verwirrung, verstanden sich als Refu-
gium der stabilen Tradition, als Gegenpol zum Abb. I
Druck scheinbar unzumutbarer Modernisie- Dia "Eßle Itiet ttatiottdle
Dddd-Messe", Berlitt 192O
rungsfolgen. Sie standen in der jahrzehnteal-
ten Tradition einer Verweigerungshaltung
eines wesentlichen Teils der deutschen Litera-
tur. Schon im Kaiserreich hatten viele der Er- werden nicht selten Unterschiede deutlich. Ob
folgsautoren der 20er Jahre gegen die Zumu- der Satz in Fraktur erfolgt oder Bucher moder-
tungen der Moderne angeschrieben - ein Bei- ne Umschlaggestaltung und Antiqua-Schrift ha-
spiel ist Gustav Frenssen. Provokativ war diese ben, zeigt oft schon auf den ersten Blick ihren
Literatur allenfalls dadurch, daß sie sich gera- Ort im kulturellen Spektrum der Weimarer Re-
de nicht auf neuere Entwicklungen einließ. publik.
Auch sprachlich ließ man sich nicht durch den
sprachskeptischen und -innovativen Zeitgeist
verwirren. Vor der Folie solch einer stabilen DAOA, Provokation als Stilmittel
Tradition wirkten die Formen der Provokation, Die Besucher der Internationalen Dada-Messe
von denen nun die Rede sein wird, aber natür- i92O mußten nach einer Schilderung von W.
lich besonders stark, sicher weit stärker als im Rubin durch ein öffentliches Pissoir gehen und
Ruckblick von uns Heutigen. kamen dann an einem wie zur ersten Kommu-
nion weiß gekleideten Mädchen vorüber, das
Ein kleines lndiz für den literarischen Standort obszöne Gedichte rezitierte,[...] und über den
Schon in der Buchausstattung und Typografie ganzen Hof waren verschiedene Objekte ver-

3
teilt, darunter Baargelds Fluidoskeptrik, ein Dada - eine Kunstrichtung, die kein -lsmus sein
gläsernes Aquarium mit blutrotem Wasser, wollte! - betrleb erstmals eine Radikalkritik
auf dem Frauenhaar schwamm[...]. Natürlich oder, noch extremer, eine radikale Lächerlich-
waren die meisten Besucher schockiert; als machung der gesamten Gesellschaft. lhre Pro-
Ventil für ihre Empörung war ein hölzernes Ob- tagonisten entwickelten eine Kultur der Pro-
jekt von Ernst aufgestellt, an dem ein Beil an vokationsformen, die letztlich bis heute in der
einer Kette hing Das Publikum wurde aufge- Kunst Bestand haben und kaum erweitert
fordert, das Objekt zu zertrümmern, und das worden sind: Der Dada-Dandy, der mit bürger-
geschah denn auch (Stationen, 1988,5.157). lichen Konventionalismen spielt; Grenzüber-
schreitungen der Kunst mittels provokativer

ffi
Unverständlichkeit; Collaqen aus widersprüch-
lichen Elementen; Publikumsbeschimpfungen
und Geschmacklosigkeiten; auch der physr-
sche Choc (Walter Benjamin).

Hier wird schon klar, daß Dada alles andere


als "Kultur" im traditionellen Sinn wollte. Ge-
preis.tr!rfdtrribrn!
wiß stand ein ästhetischer Impetus dahinter -
!Ber ift ber €gönfte??
die Überzeugung, durch Kunst, und sei es
auch durch radikale künstlerische Provokation
mit antikünstlerischem Anspruch, die Gesell-
schaft zwar nicht ändern, aber doch minde-
stens schockieren zu können. ln einer immer
noch traditionell geprägten Kultur war dies

tud.* &ü6f4.{d I Abb.2


'-ledennann sein eigtrer
Ilie $ozialisisrung
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dsr Partsifonds Frtssball: Eine prouo-
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1919

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Abb.3
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Abb.4
Dadas politisclse Protnka-
äußerst erfolgreich. Dabei wurde " Buchkultur" tiorrctr: (hlla,qe Der eiser
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weit hinter sich gelassen, auch wenn einige Rtuil{l Hdrtsnatnt, 192O
wunderschöne (und heute sehr wertvolle) Bü-
cher aus der "Bewegung" hervorgingen.

Das Satyrspiel nach der Tragödie (Albert Soer-


gel) brachte provokative experimentelle Ge-
dichtformen hervor, wie etwa Lautgedichte
(Hugo Balls "Karawane") oder typografische
Gedichte (Raoul Hausmanns "fmsbw"), deren
Gemeinsamkeit die Ablehnung überkommen-
er Formen, die Entdeckung neuen Spielmate-
rials für die Kunst und die Übersteigung der'
bisherigen Grenzziehungen war. Während ex-
(aott t
pressionistische Voriäufer der Dadakunstler
o
durchaus ernsthaft eine lyrische "Ursprache" s
suchten, betrieben diese eine weit über Sprach-
kritik hinausreichende Attacke auf überkom-
mene gesellschaftliche Werte und nicht zu-
letzt auf den vermeintlich guten Geschmack.
t.fu;*.*

Bald wurde aber klar, daß Dadas Angriffsten-


denzen eine Aufspaltung in eine eher politi-
sche, konsequenterweise linke und in eine äs-
thetisch-spielerische Richtung zur Folge hat-
ten. Während etwa Kurt Schwitters mit neuen hreisenu Htnfrnburg 18 20
Materialien und Techniken arbeitete (lch bin
Malef ich nagle meine Bilder), aber einen

5
Kunstanspruch nie aufgab, überschritten vie- I(riegsedebnls und Konseroative Revolutiofl: Pro-
vokation des humanlstlschen Grundkonsens
le Dadakünstler die Grenze zu Aktion, Perfom-
ance oder Politagitation. Die Grenze zum [...] als där Krieg die Gemeinschaft Europas zer-
harmlosen Ulk wurde nicht selten unterschrit- riß, als wir hinter Fahnen und Symbolen, über
ten, so etwa, wenn der selbsternannte "Ober- die mancher längst ungläubig gelächelt, uns
dada" Johannes Baader Exemplare eines Flug- gegenüberstellten zu uralter Entscheidung. Da
blattes vom Besucherbalkon des Reichstages entschädigte sich der Mensch in rauschender
herabregnen ließ und die Weimarer National- Orgie für alles Versäumte. Da wurden seine
versammlung als Offenbarung des Dadaismus Triebe, zu lange schon durch die Gesellschaft
erklärte. Dada-Kunst und -Literatur waren nie und ihre Gesetze gedämmt, wieder das ein-
eine Breitenbewegung, setzten aber Zeichen zige und Heilige und die letzte Vernunft. Und
für einen respektlosen und experimentellen alles, was das Hirn im Laufe der Jahrhunder-
Umgang mit dem bürgerlichen Werlespektrum. te in immer schärfere Formen gestaltet hatte,
diente nur dazu, dte Wucht der Faust ins
Abb.5 Ungemessene zu steigern (Ernst Junger, Der
Eirt Stttr at( der Aurs:
Unfall als ProL0katknt Kampf als inneres Erlebnis, 1922, S. 15).
bIirgerlicher I h0nanität

Die Geschichte der Schlachten ist zunächst


die der Metamorphose ihrer Wahrnehmungs-
felder(PaulVirilio, 1991, S. 13).

Die Kultur der 20er Jahre ist ohne die Schock-


erfahrung des Ersten Weltkrieges nicht zu ver-
stehen. So pauschal dies klingen mag - aber
{a- die Wirkung von viereinhalb Jahren industriali-
sierten Tötens hatte die Gesellschaften Euro-
pas nachdrücklich verändert. Nach dem lang-
samen Ende, dem Revolutionen und Freikorps-
kämpfe folgten, wurde der Zäsurcharakter des
Krieges unterschiedlich verarbeitet, politisch

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Abb.6
StaJienkänQfe 1919:
Bli rgerkieg als Syntptont
der "uerändefleil Welt"
(ErilstJiitlger)

funktionalisiert und konträr versteh- und be- All diese Positionen finden sich in literarischen
wältigbar gemacht. Texten: Während der prototypische "Bestsel-
ler" der Weimarer Republik, Erich Maria Re-
ln Erinnerungen der Teilnehmer, in der offiziel- marques "lm Westen nichts Neues" (1929),
len Kriegsgeschichtsschreibung, seit Ende der pazifistische Positionen vertrat, wollte Adam
2Oer Jahre auch in einer Flut von Kriegsroma- Scharrer in "Vaterlandslose Gesellen" (1930)
nen fand eine kollektive Sinngebung des Sinn- den Krieg als Unterricht und Vorstufe revolutio-
losen statt: Etwa zehn Jahre nach Kriegsende närer Aktion verstehen. Auch Arnold Zweigs
setzte die breite Welle der literarischen Kriegs- "Erziehung vor Verdun" (1935) betonte den
verarbeitungen ein, in denen der Weltkrieg Charakter des Krieges als "Augenöffner" für
entweder negativ als leidvolle Erziehung zum die Linke. Die Mehrzahl der Kriegsromane
Pazifismus verstanden wurde, als Schule anti- jedoch war von einem hilflosen bis neutralen
kapitalistischen Kampfes, oder aber positiv als Blick auf das Gesamtphänomen geprägt.
nationale, nicht selten als individuell-vitalisti-
sche Erweckungserfahrung. Die "November- Eine ganze Reihe von Autoren gewann aber
ereignisse" - der Zusammenbruch des Kaiser- dem Krieg andere Aspekte ab. Texte von Wer-
reichs und die revolutionären Bestrebungen ner Beumelburg, vor allem aber Ernst Jüngers
1918 - wurden dementsprechend konträr be- "ln Stahlgewittern" (1920), verstanden den
wertet. Weltkrieg als Katalysator für die Überwindung
der bürgerlichen Welt, seine Schrecken als Ge-

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burtswehen des Neuen (Ernst Jünger). Mit kung Deutschlands, sondern bekam eine na-
diesem neuen Typus der Kriegsverarbeitung, turhafte, überhumanen Gesetzen unterwor-
diesem durchaus kühlen Blick auf Leid und fene Faszrnation verliehen; der Kämpfer, Fla-
Schrecken, wurden die "Materialschlachten" neur im Schützengraben, schien der techno-
umbewertet: Man entdeckte in den technik- iden Macht des Krieges nicht passiv ausgesetzt
dominierten Vernichtungsstürmen eine Macht, zu sein, sondern erlebte ihn als Mittel der Er-
die das Neue an der veränderten Welf (Ernst lebnissteigerung. Selbst Leid und Schmerz er-
Jünger) beschleunigt zum Ausbruch brachte schienen in diesem Kontext als quasi-rausch-
und erst deutlich vor Auqen führte. hafte Erfahrungselemente.

Diese Sichtweise ermöglichte auch eine Ein- Daraus resultierte ein antirationalistischer lm-
ordnung der immensen "Blutopfer", wie die petus, der sich sowohl gegen die "bürgerliche"
etwa fünfundzwanzig Millionen Toten des Zähmung von lrrationalismen als auch gegen
Weltkrieges überhöhend bezeichnet wurden. die pazifizierten, fortschrittsorientierten Uto-
Durch Autoren der traditionellen Rechten wie pien linker Positionen wandte. Nach der Mei-
der Konservativen Revolution fand eine Beset-
Abb.7
zung des Erbes der Fronterfahrung statt, eine
Ein Beispiel ,nassen-
nationalistische Beherrschung der Erinnerung u i r ks a rne r c b a u D i n ßt i-
an das "Sperrfeuer um Deutschland" (dies scber literatur
der Titel der populären Kriegsgeschichte von
Werner Beumelburg, 1931). Möglich war nun
eine Ausgrenzung aller, die diese Sinnstiftung
nicht zu teilen bereit waren.

Neben traditionell-rechtsnationalistischen Po-


sitionen, wie sie Hans Zöberlein im Kriegsro-
man "Der Glaube an Deutschland" (1931)ver-
trat, wurden verstärkt auch individualistisch-
vitalistisch geprägte ldeen vertreten. Der Welt-
krieg bewirkte danach nicht nur eine Erwek-

I
nung dieser Autoren hatte die liberale, durch en Polarisierung in der Weimarer Republik for-
bürgerliche lnstitutionen und Verfahrenswei- mierte sich eine nicht sehr homogene Rechte,
sen geprägte Kultur durch den Krieg ihren in der ehemalige Freikorpsangehörige, Monar-
Todesstoß erlitten; Arbeit, Freizeit, Politik, die chisten, Frontkämpfer, Antisemiten, Deutsch-
Gestalt der Landschaften seien irreversibel ver- nationale - natürlich auch die Nationalsozia-
ändert worden. Ernst Jüngers Essay "Der Ar- listen - vertreten waren und die auch eine ex-
beiter / Herrschaft und Gestalt" von 1932 sy- tensive Literaturproduktion betrieb. Einige
stematisierte diese Position. Traditionell-bür- Werke, wie Hans Grimms "Volk ohne Raum"
gerliche Werte, humane ldeale, demokratische (1926), avancierten zu "Bestsellern" - wie ja
Bestrebungen wurden somit attackiert. überhaupt das Phänomen des populären,
zu Zehntausenden verkauften "Modebuchs"
Solche Positionen der "Konservativen Revolu- so recht erst in den 20er Jahren zum Tragen
tionäre" waren keinesfalls immer deckungs- kommt. Notorisches Massenbuch wurde Adolf
gleich mit traditionell-konservativen, wie sie Hitlers "Mein Kampf " (1925/26), ein Werk,
sich etwa im "Stahlhelm", dem von dem vor '1933 schon 300.000 Exemplare
Bund der Weltkriegskämpfer, verkauft wurden und in dem er sein antidemo-
organisierten. Sie gingen eben- kratisches und antihumanes Programm dar-
sowenig in nationalsozialisti- legte - für die, die es lasen und ernst nahmen.
schen Vorstellungen auf, auch
wenn viele Gemeinsamkeiten
bestanden, wie etwa die Be- R.pott"g.tt und Neue Sachllchkelt: Provokatlon
der tradltlonellen erzähleoden Llteratur
tonung der "Nation", der
" Rasse", des "Volkstums", Der Reporter hat keine Tendenz, hat nichts zu
der " Kriegskameradschaft ", rechtfeftigen und hat keinen Standpunkt. Er
dazu die Ablehnung der hat unbefangen Zeuge zu sein und unbefan-
"Schmach von Versailles" gene Zeugenschaft zu liefern[...] (Egon Erwin
und von Geist und lnsti- Kisch, Der rasende Reporter, 1925, Vorwort).
tutionen der neuen De-
mokratie. lnnerhalb der So wenig unsere Zeit an Literatur im alten Sinn
sozialen und politisch- hervorbringt, so Bedeutendes leistet sie in Be-

9
Abb.8
Die Dicltter etrtdccken die
trcttert illedierr Alfred
Dii blitt dnt sel bslge ba sle I-

nach Erfahrungen, genauer: nach "modernen"


Erfahrungen, und deren Umsetzung: die Erobe-
rung neuer 5ujets f ür die Literatur. Man unter-
nahm die Anstrengung der Synchronisierung
von Literatur mit Erscheinungsformen spezi-
\-. fisch modernen Lebens. Ein Streben nach Ob-
€ jektivität war spürbar, nach möglichst kunstlo-
ser und direkter Wiedergabe der fortgeschrit-
tensten Zeit-Phänomene

zug auf den sachlichen Eilebdsberichf (Ernst Das Erklärungsmuster, dies als Reaktion auf das
Junger, Über die Gefahr, 1931, S. 16). Pathos und den teilweise hohen Ton des Ex-
pressionismus und dessen geballt und gesteilt
Als Hochöfenund Waffenfabriken ihre Arbeit (Walter Mehring) wirkende Sprache zu ver-
begannen, muteten die lyilschen Tiraden welt- stehen, reicht kaum aus. Übrigens lebte diese
fremder Schwärmer zwecklos und lächerlich Form des Expressionismus in der ersten Hälfte
an; wollte etner noch mit Schreiben sein Brot der 20er Jahre durchaus weiter - ein typischer
verdienen, mußte er in den Dienst der Zeit- Vertreter war etwa Georg Kaiser, der Verfasser
macht Presse treten. So entstand [.. ] die Re- der "Gas"-Dramen - und erreichte ein breites
portage (Karl Herrmann, Die Reporter, 1921 , Publikum. Solche Expressionismusreste lösten
s. 166). sich entweder in einer neuen Konvention auf -
wie etwa dem historischen Roman - oder, gün-
Der "rasende Reporter" Egon Erwin Kisch stigstenfalls, in lronie.
machte einen "Spaziergang auf dem Meeres-
boden", Heinrich Hauser umsegelte auf einem Daß diese Kultur der "Neuen Sachlichkeit" -
Großsegler Kap Horn und schrieb darüber so der Titel einer Ausstellung der Kunsthalle
den Bericht "Die letzten Segelschiffe", Bertold Mannheim 1924 - auch stilistische Konsequen-
Brecht begann eine Biografie des Boxers Sam- zen hatte, verstand sich von selbst; die Repor-
son-Körner: Der gemeinsame Nenner solcher tage bedurfte erner anderen Sprache als der
Aktivitäten war der Hunger dieser Literaten Familienroman. Eine ganze Reihe von Literaten

10
der 2Oer Jahre gab dem Gefühl Ausdruck,
daß die bisherige erzählende Literatur einfach
den Entwicklungen der Moderne nicht mehr
angemessen sei, weder thematisch noch stili-
stisch. Eine neue Literatursprache wurde ge-
sucht. Hier kamen nun die neuen Verfahren
zum Tragen: kühler Bericht statt expressioni-
stisches Pathos; Beobachtung statt Appell; da- Abb.9
Roboler Repulcr Ellon
zu die Montage von "Realitätspartikeln" und Etlt,it t Ki-sc lJ. Fr tr tu il ktge
Zitaten in den Text. Typisch hierfür war Edlef tr)tL ()tto thnbeltr, 1929

Köppens Kriegsroman " Heeresbericht " (1 930):


Hier wurde die eigentliche Erzählung durch
einmontierte Zitate, Originaldokumente oder
Verordnungen ergänzt und mit "direkter",'
scheinbar nicht durch literarische Aktivität ge-
formter Wirklichkeit angereichert.

Ein Mißtrauen gegen Literatur äußert sich in


solchen Texten, oder eigentlich eher gegen das
Literarische an ihr. Dagegen findet eine Auf-
wertung des Dokumentarischen statt. Döblins
schon '19'l 3 in " Futuristische Worttechnik" for-
mulierte Forderung, der Dichter müsse außer-
ordentlich nahe an die Realität heran, wurde
nach dem Ersten Weltkrieg ernstgenommen.
Werke mit dem Anspruch einer Totalsicht ent-
standen: Erik Regers Ruhrgebietsroman "Uni-
on der festen Hand" (1930) versuchte einen
universellen Blick auf die sozialen und wirt-
schaftlichen Vorgänge in einem Stahlkonzern

11
dieser Modelandschaft (Heinrich Hauser) der Es liegt auf der Hand, daß diese neusachliche
2Oer Jahre. Die Konsequenz war einerseits Literatur sich eng an journalistische Methoden
eine Abwertung des Poetischen traditioneller und Haltungen anlehnte. Man lernte von der
Prägung, andererseits basierte die neusach- in den 2Oern außerordentlich boomenden Pres-
liche Literatur auf der Überzeugung, daß mit se; der Blick der neugeschaffenen "lllustrier-
"wirklichkeitsträchtiger" Literatur neuen Typs, ten" auf die Welt, selbst eng an reproduktions-
deren Leistung zur Abbildung der modernen und drucktechnische Fortschritte angebunden,
Welt gesteigert ist, viel erreicht werden kann. wurde vorbildlich. Film und Radio traten zur
Literatur in Konkurrenz und spielten ihre medi-
alen Vorzüge aus: Simultane Vorgänge konn-
ten nicht nur nacheinander, sondern parallel,
etwa durch Montage, gezeigt werden. Kaum
verwunderlich, daß solche Effekte nachdrück-
lich die konventionelle Literatur provozierten.
5ie zeigten neue Möglichkeiten auf und be-
einflußten Techniken und Verfahren vieler Li-
teraten. Alfred Döblins Roman "Berlin Alexan-
derplatz" (1929) ist ohne das Vorbild filmisch-
er Techniken kaum denkbar. Seine Rezeption
setzte aber ein Lesepublikum voraus, das sol-
che Filmtechniken verstehen. schätzen und ge-
nießen konnte. Neu waren auch die sehr ho-
hen Zahlen des Lesepublikums: Die literarische
Massenkultur für die Massengesellschaft ent-
Abb.10 stand.
Kurt, Güntber:
Der Radionßt, 1927
Temtrcra auf I'Iolz Es fand also eine neue Sicht auf neue Gegen-
stände für eine neue Leserschaft statt. Die
Zahl der Dichter wuchs, die sich mit Begeiste-
rung auf die Faszinationen der technischen

l2
Abb. II
Bttcbunscbldge trcrulen
jounnlßtßcber:
Eicb Krnufs "Reporta-
gerrRoman"
"Ca ira!", Berlin 193O

, .:. 1...'-

Kultur einließen. Zugleich aber formierte sich der Schönste!/ Tue uns Gewalt anl Du Sachli-
die Kritik an solch neuer Faszination durch cher!/ Lösche aus u.nser lch!/ Mache uns kol-
die "veränderte Welt", an simplem Authenti- lektiv!/ Denn nicht, wie wir wollen./ Sondern,
zitätsstreben. Niemals war der Respekt vor wie du willst [...].
dem 'Stoff' größer, naiveL kurzsichtiger. Er ver-
schuldet die zweite furchtbare Verwechslung: lnsgesamt waren aber diese neuen Literatur-
des Simplen mit dem Unmittelbaren; der Mit- tendenzen breitenwirksam. Debatten um ihre
teilung mit dem Bericht; des photographierten Akzeptanz verliefen quer durch die politisch-
Moments mit dem andauernden Leben; der en Fronten. Revolutionäre Autoren des linken
Aufnahme' mit der Realität. Also verlieft selbst wie des rechten Lagers gebrauchten Montage-
das Dokumentarische die Fähigkeit, authen- und Reportagetechniken, mit unterschiedlich-
tisch zu sern (Joseph Roth, Schluß mit der en Argumenten natürlich; "Traditionalisten"
"Neuen Sachlichkeit" !, 1930, 5.3). beider Lager lehnten sie ab.

Auch Bertold Brecht, der ja selbst durchaus


nicht frei war von ähnlichen Faszinationen, kri- R"ro"r, Songs, Bilderbücher: Provokatlon der
Schrlftkultur
tisiert in dem Gedicht "700 lntellektuelle be-
ten einen Öltank an" Erscheinungsformen der Schon heute gibt es kaum einen Vorgang, der
Neuen Sachlichkeit: 1../ Du Häßlicherl Du bist Menschen von Bedeutung scheint, auf den
nicht das künstliche Auge der Zivilisation, die nung. Die visuell orientierte Breitenkultur wies
photographische Linse, gerichtet lst. 50 ent- dem aktuellen, in hohen Auflagen reprodu-
stehen oft Bilder von einer mathematischen zierten Lichtbild hohe Bedeutung zu. Gerade
Dämonie, durch die das neue Verhältnis des um Ereignisse aus Politik, Sport und Kultur
Menschen zur Gefahr auf eine besondere verfüg- und verstehbar zu machen, wurde die
Weise sichtbar wird (ErnsI Jünger, Über die Sprache verkürzt und, zugunsten von Abbil-
Gefahr, 1931,5. 16). dungen, zurückgedrängt. Symptomatisch war
die Popularität und der ästhetische Avantgar-
Schon vor 1914 war in der europäischen Kunst dismus von lllustrrerten wie der "Arbeiter-lllu-
der Hang zum Gesamtkunstwerk unüberseh- strierten-Zeitung", der " AlZ" . ln Ernst Jüngers
bar: Verbindungen von bildender Kunst, Dich- Bilderbuch "Die veränderte Welt" von 1932
tung, Musik oder Tanz waren Merkmal der kulminierte schließlich das Bestreben, eine
Avantgarde. Doch solche Grenzüberschreitun- neue "Bildgrammatik" zu finden, um mit nicht-
gen blieben im Radius der "hohen" Kunst sprachlichen Mitteln politische Aussagen zu
damit elitär; erst nach dem Krieg wurde diese machen.
Bewegung breit und populär. Das Bauhaus in
Weimar, später in Dessau, heute als typisches Etwas Vergleichbares hatte die Werbung schon
Phänomen der 2Oer geltend, ist hierfür sym- vorher unternommen. lllustrationen und Ty-
ptomatisch: Seine Vertreter erstrebten einen pographie wurden zunehmend aufgewertet.
gesamtkünstlerischen Ansatz, der Hohes und Reklame beeinflußte damit Literatur und Kunst,
Populäres, Handwerkliches und Serielles, Ob- nicht nur umgekehrt: Eine ganze Reihe von
lektbezogenes und Spirituelles integrieren Autoren fühlte sich in den 20ern von diesem
wollte. Die Literatur, die "Wortkunst", konnte neuen ästhetischen Teilbereich angezogen -
definitionsgemäß nur ein Teilphänomen eines und dies, so ist zu vermuten, nicht allein aus
umfassenden Kunstbegriffs sein. Wie schon bei wirtschaftlicher Notwendigkeit. Ein typischer
den Dada-Veranstaltungen waren die Gren- Fall war Kurt Schwitters, der, obwohl pro-
zen zwischen den Kunstgattungen aufgelöst. vokativer Dada-Künstler, die Werbung für die
Hannoverschen Stadtwerke und für die Schreib-
Bezeichnenderweise war in den 20er Jahren warenfabrik Pelikan gestaltete.
das Bilderbuch eine verbreitete neue Erschei-

14
Ein weiteres Breitenphänomen des "provo- tigkeit, Komplexität und der als Chaos wahr-
kativen Jahrzehnts" waren die populären Re- genommenen modernen Erscheinungswelt
vuen und Cabarets. Noch weit stärker als zu- mußten die künstlerischen Mittel - worunter
vor im Kaiserreich prägten sie die Großstadt- die traditionelle Literatursprache nur eines
kultur. Die Dada-Abende, Walter Mehrings war, nicht einmal das privilegierte - endlich
" Politisches Cabaret" (1921) oder Kurt Tuchol- adäquat werden. Die Leistungsfähigkeit der
skys Chansons überschritten ebenso die tra- Bilder wurde zunehmend höher eingeschätzt.
ditionellen Gattungsgrenzen der Lyrik wie das Von verschiedenen Seiten wurde die Domi-
Theater seine Erscheinungsform ausweitete: nanz des Worts angezweifelt und angegriffen
Erwin Piscators Revuen oder Bertold Brechts Selbst die innovativste Literaturgattung der
"Dreigroschenoper" wandelten und ergänz- 20er Jahre, die neusachliche Reportage, be-
ten das traditionelle Sprechtheater. Pantomi- durfte oft der visuellen Ergänzung durch lllu-
me und Tanz wurden gegenüber dem Sprech- strationen. Für den.neuen Typus der flüchtige-
theater aufgewertet, Oskar Schlemmers "Tria- ren und kühleren Wahrnehmung der moder-
disches Ballett" beispielsweise adaptierte Ab- nen Welt schien die Literatursprache untaugli-
straktionstendenzen für das Tanztheater. Häu- cher als das Bild.
fig wurden die Mittel der Satire eingesetzt,
um in den Bühnenshows "multimedial" eine Die modernen Medien hatten bei diesem Pro-
kritische Breitenwirkung zu erreichen. zeß natürlich, wie schon erwähnt, eine wich-
tige Funktion. Das lyrische Wort, das mittels
lnsgesamt zeigte sich also in den 20er Jahren Radiowellen in den Ather ging, wie etwa
eine verbreitete Überzeugung von der Untaug- Brechts Lindbergh-Hörspiel "Der Ozeanflug"
lichkeit bisheriger (Sprach-)Kunst für die adä- (1927), war eben nicht mehr dasselbe, das
quate Darstellung der "veränderten Welt". der lntimität eines Gedichtbändchens sich er-
lnsofern berührten sich eine ganze Reihe der freute. Ebenso wertete der Film - und das
erwähnten Erscheinungen, wie Dada, Repor- war in den 20ern Stummfilm! - Handeln, Ge-
tagen, Bilderbücher und Revuen: Um "absolut stik, Visuelles auf Kosten des Wortes auf . Ernst
modern sein" zu können, künstlerisch wie Jüngers "Linsenoptik" rst bemerkt worden.
gesellschaftlich, reichte die Sprache und die Das "Kunstwerk im Zeitalter seiner techni-
Schriftkultur nicht mehr aus. Der Vielschich- schen Reproduzierbarkeit" (Walter Benjamin)

15
ließ in den 20er Jahren schon viel von den Ent- ten, die hinter einem solchen Programm stan-
wicklungen ahnen, die bis zum Jahrhundert- den. Symptomatisch dafür ist die Entwicklunq
ende noch bevorstanden des "rasenden Reporters" Kisch, der seine vor-
her zitierte Forderung, daß der Reporter keine
Tendenz habe, ein paar Jahre später revidier-
Proletkult, Provokation der Bürgerkultur te.Er schrieb nun, in einer Modifikation des

lm März 1926 schrieb die "Rote Fahne": /n Diktums von Emile Zola, uns ist die Kunst ein
Deutschland gibt es fast keine Romane, die den Stück Wahrheit, gebrochen durch ein revolu-
Arbeiter im Klassenkampf unterstützen. Wir tionäres Temperament (Klein, 1976, 5. 59).
brauchen dringend Romane und Erzählungen,
die die Probleme der Gegenwart vom prole- Was hier so einfach formuliert ist, war aber

tarischen Standort beleuchten. in der Praxis weniger unumstritten. Denn letzt-


lich existrerten zwei Arbeiterliteraturen: die
Was hier zunächst einmal als Defizit festge- eine "Arbeiterdichtung" - Vertreter ist etwa
stellt und als Postulat formuliert wurde, ist die Heinrich Lersch - war eher sozialdemokratisch
Forderung innerhalb der "revolutionären Lin- geprägt und identifizierte sich mit der Wei-
ken" nach einer eigenständigen Kunst und marer Republik, die andere betrieb fundamen-
Literatur, nach Parteilichkeit und antibürger- tale Kritik. Darin spiegelte sich die Spaltung
licher Zielrichtung. Man erwartete von den der Arbeiterbewegung in SPD und KPD. Ent-
Literaten das "Prinzip der Organisiertheit und sprechend verschieden waren ihre Zielgruppen :

Kollektivität". Thematisch sollte der revolu- Die einen "Arbeiterdichter" wollten immer auch

tionäre Kampf der Arbeiterschaft zur Sprache das traditionell-bürgerliche Lesepublikum er-
kommen; dazu strebte man Breitenwirkung reichen, während die anderen insbesondere
ohne abschreckende formale Experimente an. für die entstehende linke Gegenkultur schrie-
Das große Vorbild Sowjetunion wurde immer ben. Beiden gemeinsam war ihre Konzentra-
wieder zitiert, die Entwicklung ihrer Literatur tion auf die sozialen und ökonomischen Fol-
zum Vorbild erklärt. gen der Modernisierung.

ln der Tat gab es in der zweiten Hälfte der Aber der politischen Fraktionierung entsprach
20er Jahre eine immer größere Zahl von Litera- nur in der Theorie, nicht immer in der Pra-

16
xis, eine Fraktionierung des literarischen Ge- um die adäquaten literarischen Verfahren nie
schmacks und der tatsächlichen Lektüre. auf. Wie sollte man mit den Experimenten der
"Klassenbewußte" Arbeiter lasen eben nicht Moderne umgehen? Sie adaptieren oder ern-
nur Willy Bredel, sowjetische Autoren oder en konventionelleren sozialistischen Realismus
Sinclair Lewis, sondern auch Karl May oder Na- propagieren? Es entwickelte sich eine Debatte
talre Eschstruth. Um dies zu ändern, wurde um die als "Formalismus" diffamierte Literatur-
eine populäre proletarische Literatur propa- avantgarde, die auch im Exil fortgesetzt wurde.
giert - wiederum eine Konstante in der Kultur Experimente wie etwa Montaqetechniken er-
der Weimarer Republik: die intendierte Auf- fuhren dabei sehr kontroverse Bewertunqen.
lösung derTrennung von hoher und "lesbarer"
Literatur. Auch inhaltliche Fragen erzeugten Auseinan-
dersetzungen. Hier ist wieder ernmal die Ver-
Kompliziert wurde die Lage aber noch da- arbeitung des Weltkrieges das symbolische
durch, daß von einer Reihe von Linken die Feld, auf dem Konflikte sichtbar wurden. Lud-
Notwendigkeit und Möglichkeit einer eigen- wig Renns Roman "Krieg" galt als "links",
ständigen proletarischen Literatur überhaupt doch die Unterschjede zur "völkischen" Kriegs-
bestritten wurde. Franz Mehring hatte schon schilderung bestanden zunächst einmal im
im Kaiserreich behauptet, daß erst nach einer Ausbleiben eindeutiger affirmativer Sinnge-
Revolution eine solche möglich sei. Vorher bungen oder mindestens Einordnungen, an-
müsse man die bürgerlichen Klassiker als be- ders als in Adam Scharrers "Vaterlandslose Ge-
sonders geeignet für die Arbeiterklasse pro- sellen" (1930), dem ersfelnl Kriegsbuch eines
pagieren, da sie die revolutionäre Phase des Arbeiters, wie der Untertitel lautet.
Bürgertums verträten. Diese Linie wurde nun
ansatzweise revidiert, die Skepsis gegen die Trotz dieser Probleme entwickelte sich die pro-
Möglichkeit stilistisch avantgardrstischer und letarische Literatur besonders in der späten
thematisch revolutionärer Dichtung aufgege- Weimarer Republik stark. Denn in den frühen
ben. 20er Jahren war politisch alles im Fluß: Als
eine deutsche Räterepublik noch wahrschein-
Trotzdem hörten die Debatten nicht nur um die lich schien, war das Problem einer linken Ge-
"politisch korrekten" Themen, sondern auch genkultur unerheblich; nach der Revolution

17
wurde sie quasi automatisch entstehen. Viru- tung hatten. Dada-Kunstwerke hingen in der
lent wurde die Schaffung von "Proletkult" - Ausstellung "Entartete Kunst" neben expres-
eine Abkürzung von proletarischer Kultur - sionistischen und neusachlichen Bildern. Linke,
erst in der Stabilisierungsphase der Weimarer judische und liberale Künstler wurden vernich-
Republik. Agitpropbewegung und Arbeiter- tet oder ins Exil gezwungen: Die Vielfalt der
korrespondenten bewegu n g (sch rei ben de Ar- Weimarer Kultur wurde abrupt unterdrückt.
beiter) entstanden erst dann. Auch die "Links-
kurve", das Organ des BPRS, des "Bundes Kurt Möser
proletarisch-revolutionärer Schriftsteller", wu r-
de erst 1928 gegrundet. Wichtige Texte wie
Willy Bredels "Maschinenfabrik N & K" (1930)
wurden in dieser Spätphase geschrieben;
ebenso Friedrich Wolfs Dramen, die sich mit
der Revolution auseinandersetzten ("Die
Matrosen von Cattaro", 1930), oder Brechts
Lehrstücke, in denen es um die Qualitäten
der neuen revolutionären Persönlichkeit ging.

Insgesamt war gegen Ende der Weimarer Re-


publik eine Bewegung vieler bisher eher indif-
ferenter Literaten nach links zu beobachten,
auch wenn sie mit den literaturpolitischen Vor
gaben der KPD nicht immer konform gingen.
Gemeinsam war ihnen eine Abwehrhaltung
gegen den erstarkenden Nationalsozialismus.
Der Bücherverbrennung durch Nazi-Studenten
am 10. Mai 1933 fielen deswegen Werke der
wichtigsten und besten Autoren der Weimarer
Republik zum Opfer, die eine marxistische, pa-
zifistische oder radikaldemokratische Ausrich-

18
Die Bildung der Werktätig€n als Aufgabe:
Buchgemelnschaften der Arbeiterbewegung
in der Weimaref Republtk

Llterarische Konsumgemeinschafiten weder von der Geschäftsleitung bestimmt


Schon die Ursprünge der beiden ersten Buch- wurde, ein "Pflichtbuch", oder das aus den je-
gemeinschaften der Arbeiterbewegung zei- weiligen Neuerscheinungen ausgewählt wer-
gen, daß ihre Tätigkeit ganz im Dienste des den konnte, ein "Auswahlbuch". Die Mrtglie-
Bildungsgedankens stand: Die " Buchergilde der finanzierlen mit ihrem Beitrag die Produk-
Gutenberg" ging aus dem "Bildungsverband tion demnach vor. Aufgrund der Abnahmever-
der Deutschen Buchdrucker" hervor; der "Bü- pflichtung konnte der Absatz besser geplant
cherkreis" entstand wahrscheinlich im "Reichs- werden; gewisse Risiken des Marktes entfielen
ausschuß f ür sozialistische Bildung " der 5o- somit. Die Gemeinschaften waren daher in
zialdemokratischen Partei oder im parteieigen- der Lage, die Bücher entweder preisgünstiger
en Dietz-Verlag. oder in einer besseren Ausstattung als ver-
gleichbare Ausgaben im Buchhandel anzubie-
Die ldee, Leser in einer genossenschaftsähnli- ten. Die Ersparnis mußte fur Mitglieder einer
chen Form zu versammeln, kannte in Deutsch- Buchgemeinschaft nicht immer so groß ausfal-
land bis zum Beginn der Weimarer Republik len wie bei der Ausgabe von Oskar Maria
nur wenige Vorläufer - etwa den "Allgemein- Grafs Autobiographie "Wir sind Gefangene",
en Verein für deutsche Literatur" (1873), den welche die " Büchergilde Gutenberg " 1928
"Verein für Bücherfreunde" (1891) oder die in Lizenz veröffentlichte. Gegenüber dem La-
"Deutschnationale Hausbücherei" (1916, ab denpreis von 15 Mark bezahlten die Gilden-
1924 miI dem Namen "Deutsche Hausbüch- mitglieder 3 Mark. Die Bände der Jack London-
erei"). In den Jahren nach der überwindung Reihe waren immerhin noch 80 Pfennig bil-

der lnflation kam es dann zu einer Gründungs- liger als im Buchhandel.


welle: Allein zwischen 1924 und 1928 entstan-
den zwölf weitere Buchgemeinschaften, die Ein Argument fur eine Mitqliedschaft war fer-
häufig weltanschaulich gebunden waren. ner, daß der literarische Markt gewissermaßen
vorstrukturiert wurde. Aus dem unüberschau-
Was zeichnete diese /iteranschen Konsurnge- baren Angebot und der großen Zahl von Neu-
meinschaften, wie Alfred Döblin sie nannte, erscheinungen - 1920 waren es 32.245 Bü-
aus? Die Mitglieder erhielten f ur einen monat- cher, rund ein Viertel davon schöne Literatur -
lichen Beitrag pro Quartal ein Buch, das ent- boten die Programme der einzelnen Buchge-

19
meinschaften eine Auswahl, die nach bestimm- zwei Jahre nach der Grundung im September
ten Vorgaben erfolgte und einem damit die 1926 - gegründete Mitteilungsorgan "Die Gil-
Muhen der Marktbeobachtung abnahm. Au- denstimme" führte vor Augen, daß die ehren-
ßerdem erhielten die Mitglieder für ihren Bei- amtliche Tätigkeit ledoch weiter reichte: Neben
trag eine Zeitschrift, die wenigstens bei den Ratschlägen für die Werbung oder Betreuung
Buchgemeinschaften der Arbeiterbewegung von Mitgliedern beinhaltete das Blatt ausfor-
über die bloße Programminformation weit mulierte Vortragstexte über Autoren aus dem
hinausging: Diese Magazine hatten den Cha- Programm.
rakter von Literaturzeitschriften, deren Beiträ-
ge sich allgemein kulturellen und künstleri- Welche Bedeutung die Buchgemeinschaften
schen, aber auch politisch-gesellschaftlichen insgesamt für den literarischen Markt in der
Themen widmeten; das aktuelle Programm Weimarer Republik hatten, läßt sich an der
lieferte die jeweiligen Stichworte und Schwer- Zahl von insgesamt 1,5 Millionen Mitgliedern -
punkte. und damit Haushalten - ablesen, die in regel-
mäßigen Abständen mit Lektüre versorgt wur-
Buchgemeinschaften lag die ldee einer genos- den. Die mitgliederstärksten Vereinigungen
senschaftlichen Organisation zugrunde. Wäh- waren am Ende der 20er Jahre der 1919 ge-
rend jedoch zwischen den großen bürgerlichen gründete "Volksverband der Bücherfreunde"
Gemeinschaften und ihren Mitgliedern in er- (600.000 Mitglieder) und die "Deutsche Buch-
ster Linie eine einseitige Abnehmerbeziehung Gemeinschaft" von 1924 (500.000 Mitglieder).
bestand, verwirklichten die Buchgemeinschaf- lm Vergleich zu diesen beiden bürgerlich-kon-
ten der Arbeiterbewegung das Genossen- servativen Gemeinschaften waren jene Buch-
schaftsprinzip auch auf der Abgabeseite. Die gemeinschaften, die aus Organisationen der
Struktur des "Bücherkreises" ebenso wie der Arbeiterbewegung hervorgingen, deutlich we-
"Büchergilde Gutenberg" war geprägt durch niger mitgliederstark. Die "Büchergilde Guten-
ein Netz aus sogenannten Vertrauens- oder berg" führte 85.000 Mitglieder in ihren Regis-
Obleuten. Eine ihrer Aufgaben war es, die Bei- tern; der sozialdemokratische "Bücherkreis"
träge zu kassieren und die bestellten Bücher zählte zum Ende der Weimarer Republik rund
auszuliefern. Das von der "Büchergilde" eigens 45.000 Mitglieder; die "Universum-Bücherei
für ihre Vertrauensleute - rund 540 waren es für Alle", die der KPD nahestand. kam (je nach

20
Abb. 12
G ttl i t t du t t 64s ue rs a n t nt I u n g:
V?fi releridll des Bi Idu ngs
t,erbatu les d o' De t il sc lse rt
Buc bdtlrcker int Au!!tst
1921

Quelle) auf 25.000 bis 40.000, die anarcho- Attraktivität weiter zu steigern. Ab 1927 konn-
syndikalische "Gilde freiheitlicher Bücherfreun- ten die Mitglieder anstelle des "Pflichtbuches"
de" schließlich auf 1.200 Mitglieder. in jedem Quartal unter mehreren Büchern
eines auswählen. Um den unterschiedlichen
finanziellen Möglichkeiten der Mitglieder ent-
Das schöne Buch, das gute Buch: gegenzukommen, wurden zwei zusätzliche
Dle "Büchergllde Gutenberg"
Reihen eingerichtet, mit denen unterschiedli-
Es waren Bruno Dreßler und Ernst Preczang, che Beitragssätze korrespondierten: Neben der
die auf dem Vertretertag des "Bildungsverban- Normalreihe mit Büchern zu 3 Mark, was drei
des der Deutschen Buchdrucker" im August Monatsbeiträgen entsprach, entstanden die
1924 die Gründung einer Buchgemeinschaft "Kleinen Gildenbucher" zu 1,50 Mark und die
für werktätige Leser vorschlugen. Eine eilig bibliophilen Ausgaben zu 4,50 Mark.
gestartete Werbeaktion, die bis Oktober 1924
schon 5.000 Mitglieder brachte, wandte sich In Bezug auf die Ziele blieben Satzung wie frühe
noch ausschließlich an Buchdrucker. Jedoch Werbeankündigungen, 1a selbst das in den er-
wurde darauf verzichtet, eine berufsständisch- sten Band hineingeschriebene Be-
gewerkschaftliche Orientierung in den Statu- grüßungswort an die Mitglie-
ten festzuschreiben. So konnte die "Bücher- der vage: Die For-
gilde Gutenberg" in der Folge weit über den
M itgliederkreis des B ildungsverbandes hinaus-
wachsen. 1928 waren von den 45.000 Mit-
gliedern mehr als 16.000 Nicht-Buchdrucker;
der Mitgliederstand von 1932 (85.000) über-
traf den des Bildungsverbandes um das Drei-
fache.

Der mit dem kräftigen Mitgliederzuwachs ein-


hergehende kommerzielle Erfolg gestattete es
der "Büchergilde" schnell, eine Reihe von An-
gebotsinnovationen vorzunehmen und so die

2l
de lediglich irn Hinblick auf die Ausstattung der
Bücher etwas präzisiert, ohne sich auf pro-
grammatische Schwerpunkte festzulegen. Die-
Ocr lcu$fembe r$outn se zu bestimmen, war die Aufgabe des Lektors,
unb nnbe re t{tour[[e n der mit dem Literarischen Beirat zusammenar-
,1]on 0rnft Ttctdong beitete.
Orrlnq brlBiidltrrlilbc 6ufcnbtrq I ttilt
Schon der Umstand, daß sich die kommerziell
noch nicht besonders sicher stehende Gilde
überhaupt ein Lektorat leistete, verdient Beach-
tung. Die Besetzung mit Ernst Preczang erwies
sich zudern als Glücksgriff : Dieser genoß auf-
Irr
lruölrnf f grund seiner eigenen dichterischen Tätigkeit
li,llllil
bei Autoren großes Ansehen. Nach dem Ab-

rinfl$n[il,] itlrril. li,rIl inl Gnri\irlusr ürr


schluß seiner Buchdruckerlehre lBBB und eini-
llciIcn $crirlfrici. ira lll(lt ertr lt({i!t,ridrr lil l(r }l.rill'
ll[l Iclilllr irdr il[ fiit trir!. rullÜtr lar ilir nu [nÖlirI t\lr. gen, durch Arbeitslosigkeit bedingten Jahren
:llit,trf irn J[,](n. rrf drridt unl utr,llilrb$. t\lidl..s lnll nlli
f r[ !ti(, lcr xinnr lrill !rri.I i']ti unr\ iI cillruGL]ir 6roq der Wanderung hatte sich Preczang noch in
rnllrtc, tulb ilui trlc lL\rrln, Nrc iritr.!na Iluiir u[ü lnrd]lqc
Jricl nil nril'!tkrl\nnür.Inünr Iu']. Cm'lw'jtidr$rn!!tnq. den neunziger Jahren der Schriftstellerei zuge-
lrrt nui
wandt und f ür sie bald das Arbeiterdasein auf-
gegeben. Seine Biographie gleicht damit der
anderer Arbeiterdichter, die ebenfalls früh aus
dem Produktionsprozeß ausschieden und ihr
Geld als Berufsliteraten, Redakteure und der-
gleichen verdienten.

Mit sicherern Gespür f ur Symbolik eröffnete


Preczang das Gildenprogramm mit einer 5amrn-
lung von Mark Twain-Erzählungen unter dem
Titel "Mit heiteren Augen": der Leiter ein Buch-
drucker, der Lektor ein Buchdrucker, und der

aa
MAX BAI1ID€L
Deutßhtsnd
.4ichtbitDerttnD
Sclrattoiriflt cirtnticiß

Abb.15
Nuntt'rt:tt et lrt'l: Alt dcr
:u,eiten At{.f1(rye l.)iali (let
\l,ithltb, ttrt lJ. I tzt!'(D
Srictr emilD c tiutenfi errt
Sertin;9e6 a,
D[E I )ie I3ttttnttttIlltJltlic ko'

EISE,Rri\lE
F- i;r lfi F
i- ,L!'\\Ji
^> .,

@
Brbffi'üffiffiMR
erste veröffentlichte Autor ebenfalls ein Br-rch-
drucker. Weitere Publikationen lener f ruhen
Jahre - zunr Beispiel von Max Barthel, Josef
Luitpold oder Martin Andersen-Nexö sowie
Preczangs eigene Bucher - lassen erkennen,
wo sich der Schwerpr-rnkt des Programnrs ein-
pendelte: auf der sogenannten Arbeiierdich- 1927 währte,
tung, das heißt auf lenenr Teil der Arbeiter- wurden vor
literatur, der im Umfeld der Sozialdemokratre allem lene bei-
anzusiedeln ist Als Zielvorgabe fur die Gilden- den Stützbal-
arbeit formulierte Preczang. Wrr wollen keinen kerr eingezogen,
billigen Biicherbezug für'lntellektuelle' schaf- die fur den öko-
fen, sondern wir wollen literarrsch einwand- nomischen Erfolg der Gilde auch nach seinem
freie Werke brtngen, die der Weltanschauung Ausscheiden von großer Bedeutung blieben.
und dern Herzen der Proletarier etwas geben. Der erste war die Übernahrne der Rechte vorr
Deshalb gelte die Devise: Wir wollen volkstüm- Jack Londons Werken, welche die "Büchergil-
lich sein (Scholl, 1983, S. 892) Wie schon de" bis 1932 als Volksausgabe rn 28 Bänden
die wenig konkreten Formr-rlierungen der Sat- nach und nach veröffentlichte. Die zweite
zunq, so verdeutlichen auch diese Worte, daß große Lektoratsleistung stellte die Entdeckung
nran ein Programm aus proletarisch-revolutio- B. Travens dar. Hinter diesem PseLrdonym ver.
närer Literatur nicht irn Auge hatte - womit barg sich der politische Publizist Ret Marut. Er
man sich im Rahmen des gewandelten Kultur- gehörte zu den führenden Köpfen der Mün-
verständnisses bewegte, das die Weinrarer chener Raterepublik. Nach deren Niederschla-
Sozia ldemokratie kennzeichnete. gung wurde er zunächst verhaftet; er konnte
jedoch flüchten und ließ sich im Sornmer 1924
in Mexiko nieder. Den dort unter dem Pseud-
Stütrbulk"r des Erfolgs: onym entstandenen Roman "Die Baumwoll-
Jack London und B. Traven
pflucker" druckte die sozialdemokratische
Während Preczangs Agrde, dre bis zum Rück- ZeitLrng "Vorwärts" im luni Lrnd JLrli 1925 in
tritt aus gesundheitlichen Gründen im lahr Fortsetzungen. Begeistert schrieb Preczang an

23
Abb.16, 17, 18
G rap b ß c b e Soz ial hit i k:
Di e 1 9-3 2 uercffe nt I ic htet,
Ho I z sc b ni tte Ka rl Aössings

Aufgabe darin, das Gildeprogramm deutlicher,


als dies bisher der Fall war, zu politisierenlDre
'Büchergilde Gutenberg' hat nur dann eine Da-
seinsberechtigung, wenn sie hilft, die gegen-
wä rt i g e G ese I I sch aftso rd n u ng u mzu ba uen
(Scholl, 1983, S. 896). Dies paßt in dieTendenz
der späten 20er Jahre. Der Literatur wurde
den Autor und bat ihn, seine Werke exklusiv verstärkt eine politische Funktion zugewiesen.
bei der "Büchergilde Gutenberg" zu veröffent- Über die Ambitionen Knaufs muß es innerhalb
lichen. der Führungsebene der "Büchergilde" zu Di-
vergenzen gekommen sein: Schönherr und
Mit der Zustimmung Travens begann eine Zu- Dreßler etwa betonten auch weiterhin die po-
sammenarbeit, die bis zum Ende der freien litische Neutralität der Gemeinschaft. So ver-
Gilde zu acht Erstausgaben und einem Sam- wundert es nicht, daß die Pläne Knaufs nur
melband führte, von denen allein das "Toten- teilweise in die verlegerische Praxis umgesetzt
schiff " zwischen 1925 und 1930 eine Auflage wurden.
von 100.000 Exemplaren erreichte. Ganz un-
getrübt verlief diese Zusammenarbeit jedoch Zeitgenössische sozialkritische Romane fanden
nicht: lm Verhältnis zwischen Traven und zwar verstärkt Aufnahme, die stärkere Kon-
Bruno Dreßler gab es mehrfach Spannungen; zentration auf ausländische Werke hob die in-
sie aufzulösen fiel Preczang zu, der insbeson- ternationale Ausrichtung hervor, und bei den
dere gegenüber Traven eine Position des un- Sachbüchern wurden neue Akzente gesetzt.
eingeschränkten Vertrauens genoß. Nach Knauf selbst steuerte im Jahre 1930 sein Buch
dem von vornherein als Übergang verstande- "Qa ira!" bei, einen "Reportageroman" über
nen einjährigen Lektorat Johannes Schönherrs den Kapp-Putsch, ferner zwei kunsthistorische
übernahm im Juli '1928 Erich Knauf die Stelle. Bände. Doch zeigen die mehrbändigen Aus-
Der vormalige Redakteur der "Plauener Volks- gaben von Dostojewski oder Goethe sowie die
zeitung", der in Beiträgen schon häufig die Bücher von Storm und Schiller:, die im gleichen
Rolle der Künste im Prozeß der revolutionären Zeitraum erschienen, daß man auch weiterhin
Umgestaltung hervorgehoben hatte, sah seine auf ein vielgesteltiges Programm setzte, das

24
dem Postulat der Offenheit verpflichtet blieb.
Ohnehin wäre es falsch, zu erwarten, daß aus
Abb. 17
dem gewerkschaftlich oder sozialdemokratisch
orientierten Lager proletarische oder explizit
revolutionäre Literatur hervorging. Schriftstel-
ler, die ihre Kunst dahingehend verstanden,
gehörten anderen künstlerischen Richtungen - KullurvertriebsA-G
Dada oder Expressionismus - an, publizierten
bei Häusern wie etwa dem Malik-Verlag, des-
sen große Nähe zur Kommunistischen Partei
ihren politischen Präferenzen weit mehr ent-
sprach, sofern sie überhaupt in das Raster
einer politischen Partei paßten.

Der Blick auf das Sachbuchprogramm der KPD-


nahen "Universum-Bücherei für Alle" macht
den Unterschied zwischen der Gilde und einer
ihrem Sel bstverständ n is nach " proleta rischen "
Buchgemeinschaft deutlich: Hier erschienen
beispielsweise theoretische Schriften von Rosa
Luxemburg und Franz Mehring sowie eine
Volksausgabe Lenins. Die kulturellen Positio-
nen der Weimarer Sozialdemokratie und ihr
nahestehender Organisationen zeigen dage-
gen starke Affinitäten zu bürgerlichen Vorstel-
lungen.
zlläle ln derPraxlt

Zeigte die Gilde in ihrer Veröffentlichungspo-


litik fast gar keinen Mut zum Unkonventionel-
99
len - wofür kaufmännische Erwägungen aus-

25
Ahh. ra

anstalteten Wettbewerb "Die 50 schönsten


Bücher" fanden sich stets Ausgaben der "Bü-
chergilde": bis 1932 insgesamt neun.

I(onkurrenz im eigenen Lager: Der "Bücherkrels"

An dieselbe Zielgruppe wie die "Büchergilde


Kurlore Gegend Gutenberg" wandte sich der ebenfalls im
Herbst 1924 gegründete sozialdemokratische
"Bücherkreis". ln dem Bewußtsein, daß hier
9i! eine Konkurrenzsituation entstand, versuchten
noch im selben Jahr führende Mitglieder bei-
der Buchgemeinschaften, eine Vereinigung zu
erreichen, was jedoch scheiterte.

schlaggebend gewesen sein dürften -, so war Der "Bücherkreis" blieb bei der Formulierung
sie gegenüber lungen, nicht etablierten Rich- seiner Ziele ähnlich allgemein wie die "Bücher-
tungen der Buchgestaltung vollkommen offen. gilde Gutenberg" [...] neue, vorbildlich aus-
Da ihre Wurzeln in der Buchdruckergewerk- gestattete Bücher schöngeistigen und populär-
schaft lagen, strebte sie danach, technisch und wissenschaftlichen lnhalts wolle man, so die
graphisch hochwertige Bücher zu publizieren. Gründungssatzung, verlegen; die revidierte
Hierf ur beauftragte sie eine Vielzahl namhafter ,1926
Fassung von sprach von Werke[n], die
Kunstler: So statteten unter anderem Georg bleibenden Wert für den schaffenden Men-
Belwe, Jan Tschichold, Georg Trump oder Curt schen unserer Zeit besitzen. Auch hier wurde
Reibetanz die Bücher aus; Holzschnitte kamen also auf die Festschreibung einer politischen
beispielsweise von Karl Rössing oder Frans Perspektive verzichtet.
Masereel. Künstler aus der Generation der um
1900 Geborenen durften in Gildeproduktionen Genossenschaftliche Züge traten beim "Bü-
ihr Können beweisen. Bei dem ab 1929 von cherkreis" im Vergleich zur "Büchergilde Gu-
der Deutschen Buchkunststiftung jährlich ver- tenberg" insofern etwas stärker hervor, als die

26
Mitglieder wenigstens formal Mitwirkungs- der Dichtung (Emi9, 1981 ,5.411). Die durch
möglichkeiten bei der Programmgestaltung be- einen personellen Wechsel ausgelöste Neu-
saßen. Durch Obleute in einzelnen Städten formulierung der Ausrichtung verlief also bei
sollte den beiden Exekutivorganen - dem Lei- Bücherkreis und Büchergilde zeitlich parallel.
tenden Ausschuß und dem Literarischen Beirat
- über die Wünsche der Mitglieder berichtet Schröder übernahm als Einzelperson die Auf-
werden (5 8 der Satzung von '1926). gaben des Literarischen Beirats, der aber nach
Wendels Rücktritt bedeutungslos wurde und
Die den "Bücherkreis" maßgeblich prägenden in der Satzung von '1931 dann ganz fehlte lm
Gestalten waren die beiden Redakteure der Programm des "Bücherkreises" fanden sich
Mitgliederzeitschrift, Friedrich Wendel (1924- nun Veröffentlichungen etwa von Adam Schar-
1928) und Karl Schröder (1928-1933); ihnen rer und Franz Jung: Weggenossen Schröders
fiel die Zusammenstellung des Programms zu. aus seiner Zeit bei der Kommunistischen Ar-
Nach Wendels Dafürhalten sollte sich die Ge- beiter-Partei Deutschlands (KAPD), wo er zwi-
meinschaft zu einer Bildungsorganisation für schen 1920 und 1922 eines der führenden
das Proletariat (Emig, 1981, 5. 470) entwickeln, Mitglieder war, ehe er zur 5PD zurückkehrte,
was sich auch in der diskursiven Funktion der der er früher schon einmal angehört hatte.
Mitgliederzeitschrift spiegelt, die das Buchpro- Der Mitgliederzeitschrift merkte man die neue
gramm thematisch begleitete und zur kulturel- programmatische Orientierung stärker an als
len Bildung der Mitglieder beitragen sollte. dem Buchprogramm. Schröder verwandte gro-
Gleichzeitig wurde sie als Diskussionsforum ße Energien darauf, sie zu einem inhaltlich
ve rsta n den. anspruchsvollen Magazin zu machen, das bei
stark vermehrtem Umfang - 80 anstelle von
Dies änderte sich mit dem Eintritt Karl Schrö- 16 Seiten - ab 1930 nurmehr vierteljährlich er-
ders in die Leitungsebene. Sein Eintritt kün- schien. Jede Ausgabe widmete sich einem li-
digte dre Hinwendung zur proletarisch-sozial- terarischen oder - noch häufiger - einem poli-
istischen Gegenwartsliteratur an. Neben die tischen Schwerpunktthema (zum Beispiel "Na-
Satzung traten Schröders Grundprinzipien, tionalsozialismus", " Produktivkräfte", " Krimi-

deren erster Punkt lautete: Erzieherische Arbeit nalität und Gesellschaft"). Werktätigen, die
innerhalb der Arbeiterklasse durch das Mittel autodidaktisch schreiben gelernt hatten, wur-

27
de nun regelmäßig Platz eingeräumt, so gleich kriegsroman "Der große Befehl", letzte Publi-
in der ersten von Schröder betreuten Ausgabe kation der "Büchergilde", beschlagnahmten
im Januar 1929. die Nationalsozialisten sofort nach Erscheinen

Anders als bei der "Büchergilde", die ihre Mit- Die Züricher Geschäftsstelle der Gilde vollzog
gliedszahlen ab 1928 nochmals knapp verdop- schnell die rechtliche Loslösung von der Berlin-
peln konnte, stagnierte im "Bücherkreis" die er Zentrale und begründete noch im Mai 1933
Zahl der Mitglieder bei etwa 45.000 Über die die "Genossenschaft Büchergilde Gutenberg
genauen Gründe kann nur spekuliert werden: Zürich" , welche die Arbeit fortsetzte. Bruno
War das Programm nicht mehr ausreichend Dreßler, der sich nach der Entlassung aus der
attraktiv, war die Resonanz des "Bücherkrei- Schutzhaft im Juni 1933 ins Schweizer Exil be-
ses" in parteifremden Kreisen zu gering, war gab, übernahm wieder die Geschäftsführung
das Zielpublikum ökonomisch zu labil und und sorgte so für personelle Kontinuität. Für
daher stärker von der einsetzenden Rezession einige Monate war auch Preczang wieder Li-
betroffen, oder lag es an der mangelhaften terarischer Leiter, zog sich dann aber nach Dif-
Unterstützung durch die SPD? ferenzen zurück. Erich Knauf blieb in Berlin,
wo er 1944 aufgrund des Vorwurfes der Wehr-
kraftzersetzung zum Tode verurteilt und hinge-
F"tiftl"fr" 1933: Abruptes Ende der Arbeit richtet wurde. Der letzte "Bücherkreis"-Lektor,
Die Arbeit der Buchgemeinschaften der Ar- Karl Schröder, war von 1936 bis Ende 1940
beiterbewegung endete abrupt im Frühjahr in Zuchthaus- und Konzentrationslagerhaft;
1933. Die Geschäftsstelle des "Bucherkreises" 1950 starb er an den Folgen.
in Berlin wurde wohl kurz nach dem Reichs-
tagsbrand am 27. Februar von den Nationalso- Von den Buchgemeinschaften der Arbeiterbe-
zialisten besetzt. Die "Büchergilde Gutenberg" wegung wurde allein die "Büchergilde Guten-
vermochte noch bis zum2. Mai 1933 unab- berg" nach dem Kriege wiederbegründet.
hängig zu arbeiten. An diesem Tag besetzte die
SA im gesamten Reich die Gewerkschaftshäu- Christoph Kleppel
ser, somit auch den Sitz der Gilde, das Berliner
Buchdruckerhaus. Johannes Schönherrs Anti-

2a
zltlefie und welterführende Literatur

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ln: Bucholtz, Ferdinand (Hg.): Krieg und Kino. Logistik der Wahrnehmung
Der gefährliche Augenblick. Eine Sammlung Frankf urt a.M. 1991(2. Aufl.).
von Bildern und Berichten.
Berlin 193'l.
Blldnachwelse

Titelbild Rückseite
Thomas lvlann vor einem Grammophon der Firma Electrola Titelblatt der 2. Auflage des erfolgreichsten
in seiner Müncher Wohnung 1930. aller Malik-Bücher (mit Lesebändchen und Feigenblatt)
Bundesarchiv, Koblenz Leihgabe: Margit Unser, Heidelberg

Abb. 1

Berlinische Galerie,
Museum für Moderne Kunst. Photographie Weitere Bilder von:
und Architektur, Berlin
Stadtarchiv. Mannheim
Abb.2 Erste lnternationale Dada-Messe, Katalog-Titelseite
.Jedermann sein eigener Fußball
Jg 1,Nr. 1 vom i5. 2. 1919, Titelseite

Abb.3
Andr6 Nakov Paris

Abb.4
Mus6e national d'art moderne, Paris

Abb. s,6
Bucholtz, Ferdinand (Hg.):
Der gefährliche Augenblick. Eine Sammlung
von Bildern und Berichten.
Berlin 1931.

Abb. 7,8
Sch iller-Nationalmuseum
Deutsches LiteraturarchiV Marbach a.N

Abb.9
Deutsches lnstitut für Filmkunde e.V, Frankfurt a.M.

Abb.10
Bildarchiv Preußischer Kulturbesitz, Berlin

Abb. 11, 12, 13, 14, 15, 16, 17, 18


Leihgaben der Büchergilde Gutenberg, Frankfurt a.M.
Aufnahmen: Landesmuseum f ür Technik
und Arbeit in Mannheim
UPTON SINCLAIR

PFTRO LEUM
ROMAN

rg.-53. Tauscnd

T{ALI K - VE RL AG / B E RLI n*

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