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Peter Gülke

Auftakte –
Nachspiele
Studien zur musikalischen
Interpretation

Metzler
Bärenreiter
Auftakte – Nachspiele
Peter Gülke

Auftakte – Nachspiele
Studien
zur musikalischen Interpretation

J. B. Metzler · Bärenreiter
Bibliografische Information der deutschen Nationalbibliothek
Die deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der deutschen National-
bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de>
abrufbar.

ISBN 978-3-476-02122-9
ISBN 978-3-476-00165-8 (eBook)
DOI 10.1007/978-3-476-00165-8

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© 2006 Springer-Verlag GmbH Deutschland


Ursprünglich erschienen bei J. B. Metzlersche Verlagsbuchhandlung
und Carl Ernst Poeschel Verlag GmbH in Stuttgart 2006
www.metzlerverlag.de
www.baerenreiter.com
V

Inhalt
Vorwort .................................................................................................. VII
Wissenschaftliche Edition und musikalische Praxis. Defizite, Chancen
und gemeinsame Zuständigkeiten....................................................... 1
Nachruf auf den Urtext? ......................................................................... 14
Zum Thema Historische Aufführungspraxis ............................................ 21
Zur Entwicklung des klassischen Orchesters ............................................ 31
Kunst der Coda. Über Mozarts Umgang mit Beendigungen und
unterschiedlichen Zeitqualitäten ........................................................ 37
Wessen Musik? – oder: Arien als Zwiegespräche ...................................... 46
Taktschlag und musikalischer Atem ......................................................... 50
Zum Verhältnis von Intention und Realisierung bei Beethoven ............... 54
Virtuelles Komponieren und »Deutlichkeit« im Orchestersatz
der Neunten Symphonie ................................................................... 73
»Nicht verzeihen: begreifen«. Zum 100. Todestag des Dirigenten
Hans von Bülow ................................................................................ 77
»Wo Musik ist, muß ein Dämon sein«. Mahler als Interpret...................... 93
Von der Arbeit eines Totalmusikers. Mahler auf dem Weg von der
»Totenfeier« zum ersten Satz der Zweiten Sinfonie............................. 107
Despot gegen Despoten, Dämon ohne Dämonie: Arturo Toscanini .......... 114
Zu Toscaninis Interpretation des ersten Satzes von Beethovens
Fünfter Sinfonie ................................................................................ 119
Der Erwählte. Zum 30. November 2004 ................................................. 124
Hermann Abendroth............................................................................... 145
Erinnerung an Eugen Jochum aus Anlaß seines 100. Geburtstages
am 1. November 2002 ....................................................................... 159
Könner, Macher, Sphinx und Showstar: Herbert von Karajan .................. 167
Günter Wand .......................................................................................... 174
Gelebte, erlittene Musik. Zum Tode von Carlos Kleiber........................... 177
Die Verjährung der Meisterwerke. Überlegungen zu einer Theorie
der musikalischen Interpretation ........................................................ 181
Wandlungen des Dirigentenbildes ........................................................... 193
Nistet der Kommerz schon in unseren Interpretationen? ......................... 199
Klang als theoretischer Gegenstand – Irritationen und Weiterungen ........ 209
VI Inhalt

Momentaufnahmen ................................................................................ 219


Geschehenlassen .............................................................................................. 219
Disziplin in Freiheit, Freiheit durch Disziplin...................................................... 219
Machtgeschützter Innenraum ............................................................................. 222
Flußbegradigung .............................................................................................. 223
Furtwänglers Pianissimo.................................................................................... 224
Der kleine Liebestod ......................................................................................... 225
Nicht zu retten ................................................................................................ 227
So gesteht man schwere Schuld ........................................................................... 228
Schumanns Kokon ........................................................................................... 230
Verlorene Freiheit ............................................................................................. 231
Harlekin und Totentanz .................................................................................... 232
Sie unterschätzen mich...................................................................................... 235
Der Musikfeind ............................................................................................... 236
Verwirrspiele.................................................................................................... 237
Was tun mit Bolero? ........................................................................................ 239
Das richtige Tempo ........................................................................................... 240
Avigail ........................................................................................................... 241
Così 1954...................................................................................................... 242
Anfangen ........................................................................................................ 243
Nochmals: Anfangen ......................................................................................... 244
Nach oben geklappt .......................................................................................... 247
Deutungsresistent ............................................................................................. 248
Terror am Karfreitag ......................................................................................... 251
Traumatisches Pizzikato ................................................................................... 252
Größere Distanz zum Geist .............................................................................. 252
Unbewältigte Biographie ................................................................................... 254
vakat
Das Übernächste .............................................................................................. 256
Instrumentation – Indiskretion ........................................................................... 256
Ich bin blöd, ich fand’s schön .............................................................................. 258
Das unerlaubte Divertimento ............................................................................. 260
Tags drauf ....................................................................................................... 262
Die ominöse Linke ........................................................................................... 263
Nach innen gezogene Musik .............................................................................. 265
Opus-Konstrukte ............................................................................................. 266
Text an der Kasse ............................................................................................ 268
Gratwanderung ................................................................................................ 270
Aufhören ........................................................................................................ 270
Künstliche Paradiese ......................................................................................... 272
Letzte Lieder................................................................................................... 274
Leben, ohne Angst zu haben .............................................................................. 276
Komponierte Improvisation, vollendetes Fragment.................................................. 277
Zweimal Selbstanzeige: Zu viel, zu lang?............................................................ 280
Hommage à Laurence Dale et René Jacobs ........................................................... 282
Integrationsarbeit .............................................................................................. 284
Kindstod und Kammersinfonie ........................................................................... 285
Nachhilfe in Gadamer ...................................................................................... 288
Konjunktive .................................................................................................... 290
Konjunktiv hoch Drei....................................................................................... 290
Cantus non firmus ........................................................................................... 291
Coda in Dur ................................................................................................... 294
VII

Vorwort

Auftakte – Nachspiele, dazwischen die »eigentliche« Musik: So ließe sich ins


Nacheinander ausgebreitet vorstellen, was Musik und Worte sagen, wie sie einan-
der zuarbeiten und aneinander vorbei reden. Musik hat nicht die diskursive Be-
stimmtheit des Wortes, das Wort nicht die der Musik eigene Bestimmtheit, beide
sind dazu verurteilt, die jeweils andere Seite um deren besondere Bestimmtheit zu
beneiden. Zu unserem Glück kann die eine nicht durch die andere ersetzt werden,
um so weniger, als wir eine Sache nur anhand ihrer Begrenzungen erkennen.
Allerdings hat das Schema Schönheitsfehler. Sie beginnen bei der nicht
zufälligen Asymmetrie der Begriffe. Zu Auftakten gehören komplementär Ab-
takte, zu Nachspielen Vorspiele. Und wo wäre die vermeintlich zwischen ihnen
stattfindende Musik ganz bei sich, wo wäre sie »eigentlich«? Am ehesten scheint
das fatale, schwer entbehrliche Beiwort – zu Anführungsstrichen verurteilen uns
Heideggers Weihedunst und Adornos dialektische Verätzung – ersetzbar durch
»absolut«. Damit landen wir bei einem Begriff, welcher in der heute geläufigen
Bedeutung nicht gebräuchlich war zu Zeiten, die wunderbare »absolute« Musik
hinterlassen haben, überdies bei einem Begriff, der zu Hypostasierungen wie
Hanslicks »tönend bewegter Form« oder Strawinskys polemischen Zuspitzungen
einlud. Gegen verabsolutierte Reinheit halten wir es mit semantisch verunrei-
nigter Musik, welche außermusikalische Bedeutungen, Inhalte, Gegenstände
etc. nicht scheut. Müssen Assoziationen, die sich mit einer Melodie verbinden,
müssen die Wellenbewegung im Abschiedsduett von Mozarts Così fan tutte oder in
Beethovens Szene am Bach bereits als Fremdlinge im Reich der Musik angesehen
werden? Jede halbwegs zulängliche programmatische Musik hat auch absolute
Komponenten, noch die vermeintlich absoluteste hat programmatische; bei einem
kompetenten Theoretiker der klassischen Zeit können wir lesen, daß die wahre
Bestimmung der Musik sich nur in Verbindung mit Worten erfülle. Demnach
hätte die Musik, mit der wir das Attribut »absolut« in erster Linie verbinden, in
der damaligen Wertehierarchie nicht obenan gestanden.
Damit entspannt sich die überanstrengte Dichotomie verbal-diskursiver und
musikalischer Zuständigkeiten. Wobei wir nicht zu früh unterscheiden wollen
zwischen komponierten und kommentierenden Texten; auch bei Vokalmusik
kommentieren sich Worte und Töne. Weil die Aussageweise differiert, selbst bei
den glücklichsten, völlige Übereinstimmung suggerierenden Lösungen, gibt es
keinen Anlaß, eine prinzipielle Trennungslinie zu ziehen zwischen komponierten,
ins Werkinnere hereingezogenen und von außen herangetragenen, erläuternden
Texten.
Das wird spätestens deutlich, wo Beschreibungen von Musik jene Differenz
überspringen, mit Nelson Goodman zu reden: vom denotierenden Bezug zum
exemplifizierenden übergehen, affektiv und im Ton der Musik sich anähneln
VIII Zur Bestimmung des Sinfonischen

wollen. Ungenau paraphrasierendes, assoziationssüchtiges Gerede über Musik mag


ärgerlich sein – es hat zumindest den ernsten Hintergrund des Spagats zwischen
Auskünften über das Wie bzw. das Was der Komposition, zwischen nüchtern
strukturbezogenen und affektiv aussagebezogenen. Keine anspruchsvolle Be-
trachtung entgeht dem, nahezu jede reflektiert dies als Sprung, bei dem von der
einen auf die andere Seite kaum etwas mitgenommen werden kann. Das beginnt
damit, daß jede Musikbeschreibung übersetzen muß, sei’s auf dem Umweg über
das Tertium comparationis von Hör-Erlebnissen, Hör-Assoziationen etc., sei’s bei
derVerdeutlichung struktureller Sachverhalte, welche allemal fachterminologisch
belastet ist und zunächst weit entfernt vom Erlebnis dessen, was da klingt.
Auf dieser Linie könnte man, den Leser entmutigend, mit der Suche nach
Entschuldigungsgründen für eine zudringlich-deutungssüchtige Begrifflichkeit
fortfahren, deren die Musik nicht zu bedürfen scheint – von Dichtern nicht
zuletzt beneidet, weil sie, in ihrer puren Vorhandenheit sich selbst genug, nicht
entschuldigt bzw. legitimiert werden muß. Nur zu schnell geriete die Suche an
das problematische Verhältnis von musikalischer Praxis und Theorie, bekäme
also mit dem tiefverwurzelten Mißtrauen gegen die zu tun, welche wissen, wie
es gemacht wird, es aber nicht können. Immerhin könnte es sich auf Prousts
Swann berufen, dessen verworrene Eindrücke beim ersten Anhören von Vin-
teuils Violinsonate »vielleicht die einzig rein musikalischen waren, ... weil er von
Musik nichts verstand«.
Dem widersprach schon Guido von Arezzo im 11. Jahrhundert: »nam qui facit
quod non sapit/ diffinitur bestia« (»... denn wer tut und es nicht versteht,/ sollte
Vieh genannt werden«). Indes, hören wir nicht anders, wenn wir die Passage bei
Proust gelesen, spielen wir nicht anders, wenn wir Carl Philipp Emanuel Bachs
Versuch… oder die Violinschule von Vater Mozart studiert haben? Wie das Nei-
dobjekt Musik den Dichtern wunderbare Formulierungen abgezwungen hat,
so empfing es von deren Seite Anregungen, Einsichten ins eigene Wesen, welche
ihrerseits neue Musik inspirierten. Dantes Himmelschöre projizierten, gewiß in
einen poetisch erblickten Horizont, Erwartungen hinsichtlich der Musik, welche
erst noch eingelöst werden mußten, und Ähnliches ließe sich von den Visionen
der Jenenser Romantiker sagen – zu Tieck/Wackenroders Beschreibungen
scheint Tristan besser zu passen als Johann Friedrich Reichardt. Der neben den
Anforderungen zeitgenössischer Musik in den letztvergangenen Jahrzehnten
wichtigste Zugewinn für die Interpretation, die Auseinandersetzung mit histo-
rischer Aufführungspraxis, ist außer dem Umgang mit alten Instrumenten auch
gründlicher Lektüre der einschlägigen Quellen zu danken.
Andererseits – wenn man bedauern will, daß große Interpreten früherer
Generationen schwerlich beim Studium von Mattheson, Quantz, Tosi, Carl
Philipp Emanuel Bach, Leopold Mozart etc. anzutreffen waren (welche durchweg
vergnüglich zu lesen sind), muß man die Gründe hinzudenken, derentwegen sie
das für überflüssig hielten, vielleicht kaum davon wußten; daß sie sich auf eine
Unterscheidung lebendiger und historischer Musik verließen, deren Schroffheit
IX

zu fragen verhinderte, inwiefern die lebendige nicht auch historisch und die
historische lebendig sein könne. Man blickt nicht auf das Umfeld der Musik,
ohne auch in sie hinein zu blicken; wie sprichwörtlich »des Gedankens Blässe«
immer geworden, wie immer Swann beim zweiten Anhören der Sonate enttäuscht
gewesen sein mag – ich analysiere Musik und spekuliere über sie vor allem,
weil ich sie nicht nur umfassender, besser fundiert, sondern auch direkter schön
finden will als sowieso schon. Der anti-intellektuelle Hintergrund vermeintlich
unbefangener, unvermittelter Hörerlebnisse hilft nicht nur übersehen, daß alle-
mal Vermittlungen mitspielen, daß wir uns ohne stabilisierende Befangenheiten
nicht unbefangen fühlen, ohne ein bestimmtes Quantum Vorurteil nicht urteilen
könnten, er versäumt die spezifischen Chancen und Freiheiten jener »zweiten
Naivität«, ohne die Schiller die sentimentalische Disposition gegen die naive
kaum hätte verteidigen können, bevor sie in Kleists Marionettentheater-Essay
den Namen bekam.
Nicht nur wegen des vielfachen In- und Übereinanders von Tönen und
Worten, emotionalen und rationalen Botschaften ist das Schema »Auftakte
– eigentliche Musik – Nachspiele« relativierungsbedürftig, sondern auch, weil
Auftakte bereits, wie Nachspiele noch, Musik sind – jede Zählzeit Auftakt zur
nächsten und Nachspiel der vorangegangenen. Die Zeitkunst Musik kennt kein
pures, für sich isolierbares Jetzt, ihr nie punktuell wahrnehmbares Sein bleibt
ein Zugleich von Gewordensein und Werden, eine nicht entflechtbare Verkno-
tung von Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft bzw. Erinnerung, Wahrnehmung,
Erwartung. Immerhin hat an den jeweils flankierenden Positionen als erster
reflektierender Ansatz die Frage Anteil, was und im Hinblick worauf da erwartet
bzw. erinnert wird.
Das vorliegende Buch versammelt Arbeiten aus 40 Jahren. Die älteste, auf
einem musikwissenschaftlichen Kongreß (Leipzig 1966) vorgetragen, thematisch
damals ein Novum, riskiert nicht als einzige den Verdacht, verjährt zu sein. Frank
Schneider möge mir verzeihen, daß ich als Überschrift für das finale Sammel-
surium den Titel seines einstmals in der DDR vieldiskutierten Buches aus dem
Jahre 1979 übernehme. Besonderer Dank geht an Oliver Schütze vom Metzler-
Verlag und an den unbeirrbar autorenfreundlichen, bücherinspirierenden Uwe
Schweikert.

Peter Gülke
X

Nachweis der Erstpublikationen


Wissenschaftliche Edition und musikalische Praxis. Defizite, Chancen und gemeinsame Zuständigkeiten, in:
Helga Lühning (Hrsg.), Musikedition – Mittler zwischen Wissenschaft und musikalischer Praxis,
Tübingen 2002, S. 19–30
Nachruf auf den Urtext, Vortrag auf dem Kongreß der Gesellschaft für Musikforschung Lübeck 2003,
in: Die Musikforschung, Jg. 57, 2004, S. 383–388
Zum Thema Historische Aufführungspraxis, in: Jahrbuch des Staatlichen Instituts für Musikforschung
Preußischer Kulturbesitz 1994, hrsg. von Günther Wagner, Stuttgart/Weimar 1995, S. 20–30
Zur Entwicklung des klassischen Orchesters – unter dem Titel »Im Anfang schon so viel Vollendung« in:
Österreichische Musikzeitschrift 2000, S. 354–358
Kunst der Coda. Über Mozarts Umgang mit Beendigungen und unterschiedlichen Zeitqualitäten, in: Acta
Mozartiana, 53. Jg., Heft 1/2, Juni 2006, S. 23–30
Wessen Musik? – oder:Arien als Zwiegespräche, in: Getauft auf Musik. Festschrift Dieter Borchmeyer, hrsg.
von Udo Bembach und Hans Rudolf Vaget, Würzburg 2006, S. 211–214
Taktschlag und musikalischer Atem – bisher unpubliziert
Zum Verhältnis von Intention und Realisierung bei Beethoven, in: Bericht über den Internationalen Beetho-
ven-Kongreß 10.–12. Dezember 1970 in Berlin, hrsg. von Heinz-Alfred Brockhaus und Konrad
Niemann, Berlin 1971, S. 517–532; Nachdruck in: Beethoven. Das Problem der Interpretation, Mu-
sik-Konzepte 8, hrsg. von Heinz-Klaus Metzger und Rainer Riehn, München 1979, S. 34–53
Virtuelles Komponieren und »Deutlichkeit« im Orchestersatz der 9. Symphonie, in: Probleme der sympho-
nischen Tradition im 19. Jahrhundert, Internationales Musikwissenschaftliches Kolloquium Bonn
1989, Kongreßbericht, hrsg. von Siegfried Kross, Tutzing 1990, S. 37–40
»Nicht verzeihen: begreifen«. Zum 100. Todestag des Dirigenten Hans von Bülow, Jahresgabe 1994 der Ge-
sellschaft der Freunde der Berliner Philharmonie e.V.
»Wo Musik ist, muß ein Dämon sein«. Mahler als Interpret, in: Renate Ulm (Hrsg.), Gustav Mahlers Sym-
phonien. Entstehung – Deutung – Wirkung, Kassel u.a./München 2001, S. 186–200
Von der Arbeit eines Totalmusikers. Mahler auf dem Weg von der »Totenfeier« zum ersten Satz der Zweiten
Sinfonie, in: Musik & Ästhetik, 7. Jg., 2003, Heft 28, S. 42–49
Despot gegen Despoten, Dämon ohne Dämonie: Arturo Toscanini, in: Neue Zürcher Zeitung 1996, Nr. 276
(26. November), S. 46
Zu Toscaninis Interpretation des ersten Satzes von Beethovens V. Sinfonie, in: Musik und Gesellschaft 1977,
S. 746–748
Der Erwählte. Zum 30. November 2004, in: Musik & Aesthetik, 9. Jg., 2005, Nr. 34, S. 93–114
Hermann Abendroth – in der vorliegenden Form bisher ungedruckt, in verschiedenen gekürzten Fas-
sungen in:Thüringische Landeszeitung,Weimar, 27. Mai 2006, und in: Festkonzert der Staatskapelle
Weimar zum 50. Todestag von Hermann Abendroth, Programmheft, Weimar, 28. Mai 2006
Eugen Jochum,Vortrag vor der Katholischen Akademie Bayern, München 2002 – in der vorliegenden
Form bisher ungedruckt
Könner, Macher, Sphinx und Showstar: Herbert von Karajan – bisher ungedruckt
Günther Wand – in der vorliegenden Form bisher ungedruckt, ursprünglich im Booklet einer Kassette
mit Aufnahmen von Beethovens Neunter und Bruckners Siebenter Sinfonie, Wuppertal 1996
Gelebte, erlittene Musik. Zum Tode von Carlos Kleiber, in: Musik & Aesthetik, Jg. 8, 2004, Nr. 32, S. 5–8
Die Verjährung der Meisterwerke. Überlegungen zu einer Theorie der musikalischen Interpretation, in: Neue
Zeitschrift für Musik, Jg. 127, 1966, S. 6–12
Wandlungen des Dirigentenbildes – unter dem Titel »Weniger Chancen für Schamanen« in: 10 Jahre
Dirigentenforum des Deutschen Musikrates. 1991–2000, Bonn/Berlin 2001, S. 57–63
Wie sehr nistet der Kommerz schon in unseren Interpretationen?, in: Basler Jahrbuch für historische Musik-
praxis XXVII, hrsg. von Dagmar Hoffmann-Axthelm, S. 23–31
Klang als theoretischer Gegenstand – Irritationen und Weiterungen, in: Der Klang der Sächsischen Staatskapelle
Dresden. Kontinuität und Wandelbarkeit eines Phänomens, Bericht über das Symposium vom 26.
bis 27. Oktober 1998 im Rahmen des 450jährigen Jubiläums der Sächsischen Staatskapelle Dresden,
veranstaltet von der Technischen Universität Dresden, der Sächsischen Staatsoper Dresden und der
Sächsischen Akademie der Künste, hrsg. von Hans-Günther Ottenberg und Eberhard Steindorf,
Hildesheim/Zürich/New York 2001, S. 1–12
Die Momentaufnahmen wurden für den vorliegenden Band geschrieben.
1

Wissenschaftliche Edition
und musikalische Praxis
Defizite, Chancen und gemeinsame Zuständigkeiten

Soll am Beginn von Mozarts Don Giovanni-Ouvertüre das d der Fagotte, Bratschen,
Celli und Bässe im zweiten Takt und das cis im vierten als halbe Note ausgehal-
ten oder den Vierteln der übrigen Stimmen angeglichen werden? Da man sich
schwerlich auf die billige Erklärung zurückziehen kann, Mozart sei unachtsam
gewesen, war die Frage wohl geeignet, Glaubenskriege zu entfesseln. Deren
Fronten verlaufen aber nicht – oder nicht mehr – zwischen pedantisch auf den
Buchstaben des Gesetzes pochenden Editoren und Freiheit reklamierenden Mu-
sikern.Wissenschaftliche Editionsarbeit und musikalische Praxis stehen in einem
freundlicheren, kommunikativeren Verhältnis zueinander, als die herkömmliche
Unterscheidung wissenschaftlicher und praktischer Ausgaben zuzulassen scheint.
Weil wir genauer wissen, wo sich Zuständigkeiten überkreuzen, hat die simple
Unterscheidung von Textstand und der Art und Weise, wie dieser zu lesen und
umzusetzen sei, weitgehend ausgedient. Das bringt für das musikalischeVerständ-
nis vielerlei Gewinn und für die Beteiligten neue Anforderungen mit sich; der
Musizierende kann sich nicht mehr geradlinig auf das verlassen, was geschrieben
steht, der Herausgeber muß hinsichtlich der implizierten Spielräume Hilfestel-
lung geben und damit auf den Eindruck eines eindeutigen, weiteren Zweifeln
enthobenen Resultates verzichten.
Solange dieses als einzige Maßgabe gilt, macht es für den Benutzer den
Nachvollzug über verschiedene Quellen, Lesarten etc. nahezu überflüssig, dem
Postulat der Nachprüfbarkeit kann in den Bleiwüsten der oft schwer erreichbaren
Revisionsberichte Genüge getan werden, eine Pflichtübung, welche den Wissens-
vorsprung des Editors in bezug auf die Quellen eher versteckt als durchschaubar
macht – für wen schon? Praktiker stehen gemeinhin nicht in dem Ruf, sich für
philologische Kleinkrämerei zu interessieren. Ohne die aber geht es nicht. Gäbe
es z.B. Skizzen zum Giovanni-Beginn und würden wir gar ihren Aussagewert
durch die neue Ausgabe nicht für abgegolten halten, wüßten wir über Mozarts
Absichten in bezug auf den zweiten und vierten Takt möglicherweise mehr. Ohne
diese bleibt nur ein offener Disput, dessen Eckpunkte einerseits die vielleicht auf
eine ungeschriebene Regel (s.u.) stützbare Behauptung darstellt, er habe eine
gleichzeitige Beendigung des Akkordes gewollt, und die andere, er hätte, wenn
er gewollt hätte, es leicht genau so notieren können.
Wenige Takte weiter in der Ouvertüre werden wir abermals im Stich gelassen.
Wo das Gegeneinander gleichmäßiger Viertel in den tieferen Streichern und der
Synkopierungen der ersten Violinen beginnt (Takte 12 ff.), setzt Mozart die Bin-
dung für Bratschen, Celli und Bässe auftaktig an und zieht sie über mehr als drei
2 Wissenschaftliche Edition und musikalische Praxis

Takte, innerhalb derer er selbstverständlich einen Bogenwechsel voraussetzt.Wo


soll gewechselt werden? Die durch viele Orchestermateriale belegte Gewohnheit,
dies am Taktbeginn zu tun, hätte wohl Anlaß sein können, den dem ersten Ansatz
entsprechenden, musikalisch plausibleren Wechsel jeweils auf dem vierten Viertel
ausdrücklich anzuzeigen; Mozart hat es nicht getan; er mag die Sachlage für so
eindeutig gehalten haben, daß ihm im Vertrauen auf mitdenkende Musiker die
pauschalierende Anweisung gebundenen Spiels ausreichte.

Bsp. 1: Mozart, Linzer Sinfonie, Introduktion

Viel weniger verfängt die Vermutung der pauschalen Anweisung, wenn Mo-
zart in der Introduktion zur Linzer Sinfonie das Achtelmotiv bei seinem ersten
Eintritt in den Bläsern (Takte 8–10), ›richtig‹ artikuliert – schon, weil es hier
nicht vom selben Instrument sequenzierend wiederholt wird; wenn dies ab
Takt 11 in den Streichern geschieht, setzt Mozart den Bogen im jeweils zwei-
ten (= 12. bzw. 14. Takt) auf der Eins an (Bsp. 1).1 Daß er dennoch keine den

1 Der Notentext der Beispiele ist wiedergegeben nach: Wolfgang Amadeus Mozart. Neue Ausgabe
sämtlicher Werke, Serie IV: Orchesterwerke, Bd. II/8 und II/9, hrsg. von Fr. Schnapp und L. Somfai
bzw. von H. C. R. Landon, Kassel etc. 1971 bzw. 1957.
Wissenschaftliche Edition und musikalische Praxis 3

Bläsern widersprechende Bindung erwartet, mag man nicht zuletzt aus dem
Einsatz jeweils auf dem zweiten Achtel sowie aus den Sforzati (Takte 16–18)
herauslesen. Bleibt die Frage, ob der Herausgeber in einem solchen Fall kom-
mentarlos eine, wie immer durch die Quellen abgesicherte,Version präsentieren
sollte, welche so, wie sie gedruckt steht, nicht gespielt werden darf. Vielleicht
auch sollte er dem Musiker beistehen u. a. in bezug auf die riskante Vermutung,
die strukturelle Logik sei so klar, daß Mozart ihre Verdeutlichung mithilfe
von Bogenwechseln überflüssig erschienen sei, der zufolge wir andererseits
Gefahr liefen, Über-Eindeutigkeiten zu präsentieren – im vorliegenden Fall
z. B., wenn wir im vorletzten Takt der Introduktion, abweichend von den in
Celli/Bässen durchgezogenen und vom Herausgeber durch Strichelung auch
für die übrigen Streicher vorgeschlagenen Bindungen, jedes der drei Sforzati
durch Strichwechsel markierten. Das hieße, möglicherweise rechthaberisch,
Mozart gegen Mozart in Schutz zu nehmen – wie beispielsweise auch in den
Takten 63–65 etc. des Andante der Linzer Sinfonie (Bsp. 2). Daß er in überlangen
Bindungen wie am Beginn der Es-Dur-Sinfonie KV 543 (Takte 7/8) oder in
den Takten 9–11 des Andante der g-Moll-Sinfonie KV 550 die Entscheidung
den Musizierenden anheimgibt, ist klar. Unklar ist hingegen, wie man die
Reichweite des Ermessensspielraums definieren könnte; die verallgemeinernde
Auskunft, dies bestimme jeweils neu der Einzelfall, erscheint nur gerechtfertigt,
wenn alle Anhaltspunkte – Parallelstellen, Differenzen der Quellen etc. – auf-
gearbeitet und in die Entscheidung einbezogen sind.

Bsp. 2: Linzer Sinfonie, 2. Satz

Nicht selten greift die offenkundig den Musizierenden überlassene Regulie-


rung tiefer ein als Veränderungen, hinter denen man spezielle Absichten des
Komponisten vermuten kann. Im Andante-Thema der Es-Dur-Sinfonie KV 543
(Bsp. 3) trennt Mozart die Endnoten der ersten Wendung (Takte 2 und 6) vom
Vorangehenden, nicht jedoch anschließend, wenn – im B-Teil – die Wendung
›durchgeführt‹ wird (Takte 9/10, 11/12, 13/14). Beim Wiedereintritt des A-Teils
kehrt er zur abgesetzten Form zurück (Takte 20/21), bindet jedoch von 24. zum
4 Wissenschaftliche Edition und musikalische Praxis

25. Takt im Gegensatz zu Takt 5/6 über, was sich wohl mit der Moll-Trübung
in Zusammenhang sehen läßt im Sinne einer Betonung des Nichtidentischen in
der identisch bleibenden Wendung. Wenn das Thema wieder eintritt (Takt 68),
hat es die Überbindung ›gelernt‹; nicht nur ist nun stets die Schlußnote der
zweitaktigen Anfangswendung an den ersten Takt angebunden (Takte 68/69,
72/73, 87/88, 91/92), auch der getreppte Aufgang, anfangs (Takte 6/7, 25/26)
nur zwei Töne bindend, befindet sich nun, wie zuvor nur im B-Teil (Takte 10,
12, 14), unter einem großen Bogen (Takte 69/70).Von einem ›Lernprozeß‹ darf
man auch sprechen, weil die Passage in den Takten 39 ff. die größere Bindung
des B-Teils, an den sie direkt anschließt, ihrerseits wiederholt hatte, am Ende gar
forte. Das liegt insgesamt unterhalb jener Grenze, oberhalb derer man bei Verän-
derungen den Komponisten gern hinter sich wüßte, und weit unterhalb dessen,
was Interpreten sich leisten, welche allzu skrupulöse Bedenken im Hinblick auf
die Intentionen des Autors für unangebracht halten – und übrigens auch auf das,
was die Texte im Zuge der Wandlungen des Musizierens, etwa der Kantabilisie-
rung im Verlaufe des 19. Jahrhunderts, erlebten. Von einem Zeitalter, da Stilbe-
wußtsein keine oder kaum eine Rolle spielte, kann man eine die philologische
Pedanterie in unserem Verständnis bedienende Abgrenzung der Zuständigkeit
nicht erwarten, weil man nahezu in ein und demselben Stil – historisch gesehen
– komponierte und musizierte, mithin wenig Anlaß gegeben war, immerfort
nach Erlaubtem und Nichterlaubtem zu fragen. Haydn, Mozart und Beethoven
z.B. haben Orchester von sehr unterschiedlicher Größe akzeptiert, nahmen also
Schwankungsbreiten in Kauf, welche die hier diskutierten deutlich übertrafen
und also unseren Versuch, sie weiter zu verengen, als Pingeligkeit am falschen
Ort zu desavouieren scheinen.

Bsp. 3: KV 543, Andante


Wissenschaftliche Edition und musikalische Praxis 5

Wenn nur die Kontexte sich nicht grundlegend gewandelt hätten, wenn das
Polster verlorengegangener Selbstverständlichkeiten nicht so dünn geworden
wäre, worin Werke und Aufführungen seinerzeit gebettet waren und Fehllei-
stungen leicht aufgefangen und korrigiert werden konnten! Ein überbesetztes
Orchester anno 1778 in Paris oder in Haydns Londoner Konzerten konnte im
Hinblick auf das Verständnis ihrer Musik nicht so viel Schaden anrichten wie
hundert oder zweihundert Jahre später. Auch deshalb – von qualitativen Maß-
gaben abgesehen – sind Dirigenten heute zu mehr Pedanterie verpflichtet als
etwa der im April 1791 mit Mozarts g-Moll-Sinfonie gewiß überforderte Salieri,
ein heutiger Verlagslektor zu mehr Pedanterie als ein die Abschriften der Kopi-
sten korrigierender, bei dieser Arbeit offenkundig rasch ermüdender Beethoven.
Dieses verpflichtende Plus betrifft vornehmlich jenen Bereich, in dem praktische
und philologische Aspekte sich so verschränken, daß die Unterscheidung von
praktischer und wissenschaftlicher Ausgabe ihre besten Anhalte verliert – weit
vor der fatalen Trennlinie zwischen einer vornehmlich für das Schriftliche zu-
ständigen Wissenschaft und einer vornehmlich für das Klingende zuständigen
Praxis. Ihr opponieren z.B. die Editionsrichtlinien der Neuen Schubert-Ausgabe
oder etliche revidierte Ausgaben klassischer Werke bei Bärenreiter, Breitkopf,
Eulenburg, Peters etc., indem sie auf die Einsicht reagieren, daß über Wert und
Unwert von Ausgaben in diesem Problemkreis mindestens ebensoviel entschieden
wird wie durch Verläßlichkeit bei der Aufarbeitung der Quellen. Dies bezeugen
die ›Langzeitwirkungen‹ der Editionsarbeit auf die musikalische Interpretation
ebenso wie ein Bewußtseinswandel, dank dessen pauschale Berufung auf eine
aller Rücksichten überhobene Spontaneität des Musizierens weniger Anklang
findet, selbstgefällige Dummheiten der Interpretation sich präziser ahnden und
brandmarken lassen als früher.
Nur zu schnell können ins Ästhetisch-Allgemeine ausgreifende Überlegungen
wie Fluchten vor Irritationen durchs Detail erscheinen. Hat Mozart am Beginn
des Andante cantabile der Jupiter-Sinfonie tatsächlich zwei unterschiedliche
Artikulationen des Themas beabsichtigt (Bsp. 4), oder ist der größere Bogen
im dritten und vierten Takt, später bestätigt durch Bratschen, Celli und Bässe
(Takte 11/12, 13/14 und 64/65) und durch die erstenViolinen (Takte 92/93), als
eine Korrektur zu verstehen, die nachzutragen Mozart vergessen hat? Hat er im
selben Satz bei den in Achteln fortschreitenden Instrumenten der Takte 38 bzw.
86 tatsächlich an unterschiedliche Artikulationen gedacht? Dafür spricht, daß die
abweichend längere Bogensetzung bei Celli und Bässen beidemal die gleiche ist,
dagegen, daß er den Takt 86 vom Takt 38 ›abgeschrieben‹ haben könnte, mehr
noch, daß bei der vornehmlich begleitenden Struktur wenig Anlaß für eine
Differenzierung zu sehen ist, die gar gleiche Stimmverläufe betrifft.Warum ver-
wischt Mozart im zweiten Teil des Trios der g-Moll-Sinfonie KV 550 die vordem
sogar im Wechsel der Gruppen herausgestellte Identität des auftaktigen Motivs
(Bsp. 5)? Würde eine diese Identität herausstellende Korrektur der Artikulation,
wie im Beispiel angedeutet, als pedantische Zurechtweisung erscheinen? Warum
6 Wissenschaftliche Edition und musikalische Praxis

läßt er in Takt 36 die Differenz zwischen 1. Flöte und 2. Fagott einerseits und
1. Oboe andererseits bestehen?

Bsp. 4: KV 551, 2. Satz

Bsp. 5: KV 550, 3. Satz, Trio

Bsp. 6: KV 543, 1. Satz

Wenn ihm an einer sehr speziellen Differenzierung gelegen war, kann er genau
und konsequent notieren, u.a. im ersten Satz der Es-Dur-Sinfonie (Bsp. 6), da in
den Takten 120 und 122 bzw. 277 und 279 paarige Bindungen der Streicher
und ganztaktige der Bläser gleichzeitig laufen. Hingegen fällt bei einer anderen
Differenz zwischen Bläsern und Streichern, beim forte-Einsatz des Final-The-
mas der Es-Dur-Sinfonie KV 543 (in den Takten 9 ff. bzw. 161 ff. gleich notiert),
auf, daß Mozart selbst den Zweisechzehntel-Auftakt der zweiten Phrase bei
den Bläsern nicht absetzt – etwa noch deshalb, weil die Holzbläser zunächst
Wissenschaftliche Edition und musikalische Praxis 7

Bsp. 7: Jupiter-Sinfonie, Andante

unkoordiniert hineingefahren waren? Wiederum verdächtig verallgemeinernd


könnte man sagen, die Identität der Prägung sei Mozart in ausreichendem Maße
sichergestellt erschienen, oft genug hätte er um sie u.a. angesichts instrumen-
tentechnischer Beschränkungen viel eher besorgt sein müssen. Daß er in den
Takten 35/36 des Andante cantabile der Jupiter-Sinfonie g''' und f ''' in der Flöte
und in den Takten 83/84 dieselben Töne bei den Violinen nicht riskierte, bedarf
keiner Begründung. Beide Male verdeutlicht die vorangehende originaleVersion,
daß es sich um eine Ersatzlösung handelt, wie auch beim Fagott in Takt 64 des
ersten Satzes (Bsp. 7), wo ein erstes, in der tieferen Oktav belassenes fis ›ele-
ganter‹ gewesen wäre.Vollends um Begründung verlegen macht Mozart uns im
Andante der Linzer Sinfonie, wenn er das charakteristische Motiv im Takt 22 in
Takt 90 wiederaufnimmt und den Anfangston nach oben oktaviert (Bsp. 8) – da
nimmt das Motiv mehr Schaden, als dem Satz zugefügt worden wäre, wenn der
tiefliegende Anfangston inmitten der begleitenden Sechzehntel der 2.Violinen
gelegen und gegen das vieroktavige c von Bläsern und Pauke noch weniger
Chancen gehabt hätte.
Der damit ins Spiel gebrachte Gesichtspunkt der Hörbarkeit, oft ungebührlich
als Argument bei Revisionen klassischer Partituren strapaziert, bedarf seinerseits
irritierender Einschränkungen. Auch bei kleiner Streicherbesetzung haben die
motivisch wichtigen Oboen und Flöten in der Durchführung des ersten Satzes
der g-Moll-Sinfonie KV 550 (Takte 114 ff.) kaum Chancen, vernommen zu wer-
den (daran ändert auch die nachträgliche Verstärkung durch Klarinetten nicht
viel), ebenso wenig später (Takte 134 ff.) die – wenngleich hochliegende – Flö-
te. Nicht zufällig an entsprechender Stelle in der Jupiter-Sinfonie ergeht es den
Holzbläsern mit dem gegen die – lapidar zweistimmigen – Streicher gesetzten
Marschrhythmus ähnlich, auch in den Takten 136 ff. bzw. 335 ff. des Finale. Wie
wichtig war das? In den Takten 132–138 des ersten Satzes seiner Neunten Sinfonie
8 Wissenschaftliche Edition und musikalische Praxis

Bsp. 8: KV 425, Andante

hat Beethoven einen schlechterdings unhörbaren Part der Oboe durch einen
anderen, ebenfalls unhörbaren ersetzt, und ihm muß angesichts des Kontextes
klar gewesen sein, in welcher Paradoxie er sich bewegte. Mozart läßt in der
Durchführung des ersten Satzes der Prager Sinfonie (Takte 151 ff., Bsp. 9), wo es auf
dynamische Gleichberechtigung der einander sequenzierend überschichtenden
Verläufe der beiden Unterstimmen ankommen sollte, beide Fagotte mit Celli
und Bässen mitgehen, welche der Oktavierung wegen sowieso im Vorteil sind.
Als sei des Übergewichts nicht genug, läßt er im Takt 151 die Bratsche gar noch
den Einsatz der größeren Gruppe mitspielen. Am ehesten mag man das mithilfe
von Convenus der Orchesterbehandlung erklären; Fagotte spielen üblicherwei-
se mit den Bässen, und nach einer piano-Passage sollen bei einem neuen forte
möglichst alle Streicher beteiligt sein. Wie groß wäre, woran bemäße sich das
Sakrileg, wenn man die Bratschen im Takt 151 pausieren und eines der Fagotte
mit den Bratschen spielen ließe? Gewiß wöge es weniger schwer als z.B. eine
mehrmals vorgeschlagene ›Vervollständigung‹ des Partes der Hörner in Passagen
(u.a. der Ecksätze der g-Moll-Sinfonie), wo sie seinerzeit tonartlich nicht mithalten
konnten. Die angestrengte Schärfe des in hohe Kreuztonarten hinauftreibenden
Kontrapunkts daselbst im Finale (Takte 161 ff., besonders 169 ff.) verlöre viel
von der klanglichen Verdeutlichung des riskanten Abseitsweges, würde ihr eine
Horn-Auspolsterung oktroyiert. Man mag hierin Momente einer ›negativen
Musik‹ erkennen, welche sich mithilfe genau umschriebener Verweigerungen
definiert, vorsichtiger gesagt: eines virtuellen Komponierens, welches weniger als
eigene Kategorie begriffen werden sollte denn als Randzone und Außenposten
eines durchaus realen Komponierens und als Ausdruck des Vertrauens, daß die
Intentionalität einer Textur Gemeintes, indem sie den Raum, der ihm zukäme,
präzise umschreibt, so zwingend definieren kann, daß es gewissermaßen bis an
Wissenschaftliche Edition und musikalische Praxis 9

die Grenze seines realen Erklingens heran beschworen erscheint. Das begänne,
genau genommen, schon dort, wo – z.B. in der Introduktion der Prager Sinfonie
– ein auf zwei Tonhöhen fixiertes Paukenpaar durch gut, weniger gut, notdürftig
oder gar nicht passende Tonhöhen verdeutlicht, in welcher Entfernung von der
Haupttonart ein Harmoniegang sich bewegt.

Bsp. 9: KV 504, 1. Satz, T. 151 ff.

Auch bei der Dynamik müssen pauschalierende Notierungsweisen in Anschlag


gebracht, müßte also unterstellt werden, daß öfter, als aus den Anweisungen zu
ersehen, unterschiedliche Stärkegrade z.B. einer zuende gehenden Phrase und
eines neu eintretenden Komplexes einander überlappen. Damit verlöre manches
so hergebrachte wie künstliche subito piano, manches gewaltsam einem Phrasen-
ende auferlegte subito forte Sinn und Ort. Das forte auf der Eins des 14. Taktes
in der Es-Dur-Sinfonie KV 543 (Bsp. 10) sollte nur für die neu eintretenden
Instrumente, bestenfalls noch für die Pauke gelten, für die ersten Violinen also
erst von der zweiten Note an. Der Charakter eines Einbruchs, wie Mozart im
halbwegs analogen Takt 18 verdeutlicht, wäre dann besser getroffen. Ähnlich
verhält es sich in den Takten 94 bzw. 292 im Jupiter-Finale: da z.B. wäre für den
10 Wissenschaftliche Edition und musikalische Praxis

Bsp. 10: KV 543, 1. Satz

Benutzer wichtig zu wissen, daß Mozart im Fagott (Takt 94) ein offenbar ver-
sehentlich analog zu Celli/Bässen dorthin geratenes »for« ausgestrichen, mithin
doch darauf reagiert hat, daß hier eine Linie piano zuende gespielt werden müßte;
unklar bleibt, weshalb er dies durch die forte-Anweisung für Bratschen, Celli
und Bässe erschwert, auch die zweiten Violinen begännen das forte besser nach,
nicht auf der Takteins. In der Reprise (Takt 292) stellt die Frage sich wegen des
Eintritts von Hörnern, Trompeten und Pauke auf der Takteins noch schärfer:
warum forte nicht erst, analog zu Takt 94, auf der zweiten Halben? Hier und bei
entsprechenden Stellen sind zu viele Aspekte im Spiel, als daß man von einer
ausschließlich aufführungspraktischen Fragestellung sprechen dürfte und nicht
z.B. prüfen müßte, inwiefern es sich um die in Erwartung einer differenzierten
Handhabung geschriebene Pauschalanzeige eines forte-Komplexes handele und
also ein ›f‹, einer Stichnote ähnlich, nicht zuweilen nur anzeigen soll, daß eine
andere Stimme bereits forte spielt.
In bezug auf je der Situation angepaßte Schlußnoten trüge man Eulen nach
Athen, wenn selbstverständliche Lösungen nicht oft nahe bei fraglichen lägen.
Wissenschaftliche Edition und musikalische Praxis 11

Daß es sich bei allen Schlußnoten im Komplex des Final-Themas der g-Moll-
Sinfonie KV 550 um kurze halbe Noten handelt (Takte 4, 8, 12, 16, 17, 19 etc.),
bedarf keiner Erörterung; doch schon bei der motivischen Verselbständigung
des Rhythmus’     ⏐ (Takte 49 ff.) könnte eine ausgehaltene Halbe der rhyth-
mischen Verdeutlichung helfen.Wiederum liefert Mozarts Schreibung am Ende
des Hauptthemas des ersten Satzes (Takte 16, 17, 18 bzw. 179, 180, 181, Bsp. 11)
ein Argument gegen generalisierende Lösungen.

Bsp. 11: KV 550, 1. Satz

Angesichts der unzählbaren Schlußnotendifferenzen bei Haydn und Mozart legt


eine quantitative Aufrechnung der Fälle, bei denen man einigermaßen sicher eine
beabsichtigte Unterschiedlichkeit ausschließen kann, die Folgerung nahe, daß am
ehesten der im Nenner der Taktangabe erscheinende Notenwert als variabel und
der jeweiligen Situation anzupassen betrachtet wurde – im Allabreve die Halbe,
im 4/4- oder ¾-Takt Viertel, im 6/8-Takt Achtel. Dieser Faustregel widerspräche
selbstverständlich nicht, daß Mozart am Beginn der Durchführung des g-Moll-
Finales (Takte 137, 141, 145, s. Bsp. 12) konsequent Viertel als Schlußnoten
der ersten Violinen und der solistischen Holzbläser schreibt und damit den ab
Takt 147 ebenso konsequent erscheinenden Halben als ›Neuigkeit‹ besonderes
12 Wissenschaftliche Edition und musikalische Praxis

Bsp. 12: KV 550, letzter Satz

Gewicht gibt, also verbietet, sie unter Maßgaben zu verkürzen, welche ohne
diese Konstellation sehr wohl angewendet werden könnten.
Bezöge man die vermutete Faustregel auch auf ein mit Adagio bezeichnetes
Allabreve, so würde dies die oben diskutierte Kalamität des im 14. Takt der
Introduktion zur Es-Dur-Sinfonie KV 543 verfrühten forte (Bsp. 10) mindestens
abmildern. Drei Längenwerte stehen auf der Takteins übereinander, desgleichen
zwei und vier Takte später; ein volles Viertel liegt als Kompromiß auch nahe,
weil bei entsprechender Handhabung im 2., 4. und 6. Takt der piano-Ansatz der
Bläser auf dem zweiten Viertel frei stünde und überdies die Koordination mit
Hörnern und Trompeten hergestellt wäre. Allerdings hätten wir dann mit takt-
weise unterschiedlich gespielten Halben zu tun, denn an der breiten Ausführung
derer im 1., 3. und 5. Takt kann ernstlich kein Zweifel bestehen. Bleiben die
halben Noten der Violinen in den Takten 9 bis 13, deren erste und letzte für
volle Länge sprechen – jene (Takt 9) wegen des Anschlusses an den Akkord der
Holzbläser, diese kraft der Überbindung in den folgenden Takt.
Etliche der vorstehend angesprochenen Details fallen schwerpunktmäßig
entweder vornehmlich in die Zuständigkeit des Herausgebers oder in die des
Praktikers, keines aber ausschließlich hier- oder dorthin. Es kann also nicht
darauf ankommen, dem Herausgeber oft nur am Instrument entscheidbare
aufführungspraktische Aspekte oder dem Musiker die eingehende Lektüre von
Revisionsberichten aufzunötigen. So sehr beides von Vorteil wäre – wichtiger
und dringlicher erscheint ein Problembewußtsein, welches sich sensibel macht
für Fragen, bei denen sich die Zuständigkeiten notwendig überkreuzen, und für
die Gründe der Überkreuzung. Dies berücksichtigend wird der Herausgeber
Wissenschaftliche Edition und musikalische Praxis 13

am ehesten die Punkte herausfiltern können, bei denen er seinen Vorsprung an


Quellenkenntnis dem Praktiker durchsichtig macht. Das wird – um zwei nicht
behandelte Problemfelder wenigstens zu nennen – Fragen der Angleichung von
Triolen bzw. Punktierungen gewiß weniger betreffen als Abweichungen in der
Artikulation analoger Passagen. Insgesamt wird es konkretere Anhalte ergeben
für den musizierenden Umgang mit der cusanischen Erfahrung, daß, je mehr wir
wissen, wir desto genauer auch wissen, was wir nicht wissen – ein Gewinn nicht
nur im Hinblick auf die genauere Bestimmung von Spiel- und Freiheitsräumen
– nicht zu reden von der konstruktiven Opposition gegen eine der Erbsünden
unserer musikalischen Kultur, dem Schisma von Theorie und Praxis.2

2 Der Charakter der Beschreibung eines Problemfeldes, bei der beliebig viele und unterschiedliche
Exemplifikationen möglich gewesen wären, erlaubte dem Verfasser eine enge Bezugnahme auf
das Kapitel »Geschriebene Noten und klingende Töne« seines Buches: Triumph der neuen Ton-
kunst: Mozarts späte Sinfonien und ihr Umfeld. Kassel usw./Stuttgart/Weimar 1998. Mit teilweise
anderen Gesichtspunkten und Resultaten gehen in die gleiche Richtung zwei ausgezeichnete
Studien von James Webster: The Significance of Haydn’s Quartet Autographs for Performance
Practice. In: The String Quartets of Haydn, Mozart and Beethoven. Studies of the Autograph Manuscripts,
hrsg. von Christoph Wolff und Robert Riggs. Cambridge/Mass. 1980, S. 62–95; The Triumph
of Variability: Haydn’s Articulation Markings in the Autograph of Sonata Nr. 49 in E Flat. In:
Haydn, Mozart & Beethoven: Studies in the Music of the Classical Period. Essays in Honour of Alan
Tyson, hrsg. von Sieghard Brandenburg. Oxford 1998, S. 33–64.
14

Nachruf auf den Urtext?

Wenn wir anhören, was Johannes Brahms am 2. Dezember 1889 auf den Edison-
Zylinder eingespielt hat, können wir hinter einem aus Knacken, Knistern, Kratzen,
Pfeifen und Rauschen gewobenen Klangvorhang knapp erkennen, um welchen
der Ungarischen Tänze es sich handelt – mehr nicht. Wohl erhaschen wir einen
Schatten von Authentizität, von der physisch-akustischen Gegenwart eines fast
120 Jahre zurückliegenden Klavieranschlags, und mögen erschauern angesichts
der Vorstellung, wir seien, wie immer über gewaltige Abstände hinweg, im Salon
der Familie Fellinger dabei; mitgeteilt wird über die bewegende Paradoxie des
anwesend-abwesenden Brahms hinaus so gut wie nichts. Wir haben ein Doku-
ment, und es hilft wenig, daß wir wissen, worum es sich handelt – wir können
es kaum wahrnehmen geschweige denn entziffern.
Könnte es den musikalischen Texten, die heute auf den Seziertischen der
Editoren präpariert werden, irgendwann ähnlich ergehen wie Brahms’ akustischer
Hinterlassenschaft, könnten wir eines Tages vor den verschlossenen Türen einer
alexandrinischen Bibliothek stehen, deren Nutzwert auf Dokumentation zusam-
mengeschrumpft ist? Angesichts eines immer noch florierenden Musiklebens,
im politisch-öffentlichen Diskurs freilich fast nur noch qua Umwegrentabilität
legitimiert, und eines vielerorts wahllos gefräßigen Musikbedarfs erscheint der
Kassandra-Ruf verfrüht wo nicht überflüssig.
Dennoch gibt es gute Gründe, ihn nicht zu überhören. Sie reichen von
dem Umstand, daß für unsere Zunft die Zeit der großen Gesamtausgaben
– allemal Nagelproben auch für unser Verhältnis zur musikalischen Vergan-
genheit – allmählich zu Ende geht, bis zu der Frage, ob ein Abstand, den der
vor den klavierspielenden Brahms gezogene Klangvorhang ohrenfällig macht,
sich in jenem Verhältnis nicht einnisten könne, ohne daß wir es bemerken.
Sie verlängert sich in der weiterführenden Frage, ob die Bemühung um die
Werke nicht in einem Vertrauen gründe, das wir u. a. aufs Spiel setzen, weil
wir es für nicht erschütterbar halten – dem Vertrauen darein, daß sie, sichern
wir nur die Überlieferung, unbeschadet vorübergehender Verbiegungen und
Mißbräuche prinzipiell imstande blieben, sich authentisch mitzuteilen. Schon
der Hinblick auf ältere Musik zeigt, daß das nicht so ist, daß auch hier jedes
Ding seine Zeit hat. Als Reaktion hierauf erscheint die törichte, neuerdings
seltener beanspruchte Unterscheidung »historischer« und »lebendiger« Musik
noch am ehesten triftig.
Dies zugestanden, wäre weiterzufragen, wie lange die Werke aushalten wer-
den, daß ein eventsüchtiger Kulturbetrieb – mit Ausnahmen – mehr von ihrer
vermeintlichen Offenheit als von ihrer Identität profitiert, wo nicht auf ihnen
herumtrampelt; ob ähnlich, wie in bestimmten Medien Dummheit zugleich
bedient und produziert wird, ein zeitgenössisches Beliebigkeitstheater, welches
Nachruf auf den Urtext? 15

Kreativität mit Respektlosigkeit in eins setzt, den Abstand zu den Werken zugleich
indiziert und befördert – was irgendwann sich auf die musikalische Interpretation
auswirken wird, möglicherweise es bereits tut. Notwendig drängt die Situation
den mit Quellen Beschäftigten in eine Verteidigungsstellung und zwingt, nach
einer Strategie zu fragen und auch nach dem, was da verteidigt werden muß:
Das Musikwerk, im Beieinander von Erklingen und Verklingen der Extremfall
vergegenwärtigterVergangenheit im Sinne Gustav Droysens, ist nicht identisch mit
dem geschriebenen Text. Mit der schwierigen Unterscheidung macht der es sich
zu leicht, der, auf saubere Arbeitsteilung sich berufend, die eigene Zuständigkeit
entweder auf das Geschriebene oder auf seine klingende Umsetzung beschränkt.
Allemal bleibt der Herausgeber Anwalt auch dessen, was in jener Umsetzung
derzeit oder prinzipiell nicht unterkommt.
Im Hinblick auf die allermeisten, ältere und jüngere editorische Leistungen
und deren Bedeutung für das Selbstverständnis der Musikwissenschaft erscheint
die vorwegnehmende Frage »Nachruf auf den Urtext?« als Affront, nur notdürftig
gerechtfertigt als Abwehr eines mittlerweile kurrenten Werbe-Etiketts oder als
Insistieren auf der Frage, wie sehr das Wort von der Ursprünglichkeitsaura der
Kategorie »Quelle« profitiert, wie »ur« ein musikalischer Text überhaupt sein
könne. Die Parallele zur Originalität von Originalinstrumenten (»period instru-
ments« klingt bescheidener und ehrlicher) liegt auf der Hand: Im Sinne einer hier
wie dort prätendierten Authentizität wäre eher als Nachteil zu verbuchen, daß
Texte und Instrumente gespielt werden müssen, und zwar von nicht-originalen
Menschen (»non-period musicians«) von heute.
Andererseits steht hinter dem Etikett auch ein Erfolg der Musikwissenschaft,
insofern Maßgaben und Ansprüche ihrer Arbeit dergestalt ins öffentliche Be-
wußtsein gedrungen sind, daß man mit ihm Geschäfte machen kann. Eine heute
kaum noch statthafte Berechtigung ließe sich aus einer Situation herleiten, in
der das Nebeneinander wissenschaftlicher und praktischer Ausgaben genauere
Kennzeichnungen erforderte, ein Nebeneinander, welches immer noch im
Hintergrund der Diskussion um Sinn und Zweck musikalischer Ausgaben steht.
Nachdem die Quellenforschung dem Kommerz den »Urtext« unfreiwillig-er-
folgreich insinuiert hat, wäre eine Publizität derjenigen Gründe zu wünschen,
die ihm den Appetit daran verleiden.
Die freilich hat keine Chance: Die umwegigen Relativierungen des Urtext-
Anspruchs lassen sich schwer vermitteln im Vergleich mit einer idealtypischen
Zuspitzung, hinter der mit den besten Gründen zudem das Selbstverständnis und
die Arbeitsethik einer ganzen Disziplin stehen. In der Erschließung und Analyse
der Quellen, als Bereitstellung teilweise verschüttet gewesener Erbschaften ist die
Musikwissenschaft zu dem geworden, was sie ist, und wir vermögen sie nicht zu
denken ohne Fundierung im philologischen Handwerk samt deren moralischen
Komponenten – Akribie, Prüfbarkeit der Ergebnisse, Sauberkeit und Konsequenz
der Aufbereitung. Nicht zu reden davon, daß außer beim Musizieren im direkten
Umgang mit den Quellen am ehesten Nähe zur Musik hergestellt und der auf ein
16 Nachruf auf den Urtext?

Werk bzw. eine Quelle Fixierte seine Probleme und Fragestellungen sich nicht
aussuchen kann – anders als die, die analysieren oder spekulative Höhenflüge
veranstalten. Die Verführung zu abgehobenem oder abseitigem Problematisie-
ren liegt nahe genug, um eines Korrektivs in Grundlagenarbeiten und anderen
Ausübungen von Bodenhaftung immerfort zu bedürfen. Ohne diese droht eine
Entwicklung wie in manchen hochkarätigen Orchestern, denen vieles erreich-
bar ist, nur kaum noch die Musik jener Zeit, in der Orchester zu Orchestern
wurden. Wer Haydn verlernt hat, wird bald auch Wagner verlernen; wer sich in
notations- oder satztechnischen Details nicht auskennt, wird bei ausgreifenden
Deutungen unglaubwürdig bleiben.
Nicht aber nur, weil wesentlich in ihr die Identität des Faches gründet und aus ihr
sich nährt, ist Quellenarbeit weiterhin erforderlich, sondern auch – das wissen die
mit ihr Befaßten am besten –, weil die Auseinandersetzung mit den kanonischen
Texten, die philologische wie die deutende, zu keinem Ende kommen wird. Fatal
erscheint die Kategorie »Urtext« vor allem, weil sie in der Illusion eines definitiv
authentischen, allen weiteren Befragungen und Bezweiflungen überhobenen
Textstandes die Möglichkeit solchen Zuendekommens vorgaukelt. Damit gaukelt
sie zugleich Verläßlichkeiten vor, die die Musik nicht bieten konnte und sollte
– die Musik des 15. und 16. Jahrhunderts u.a. in Akzidentiensetzungen; die des
17. Jahrhunderts bei dynamischen Details, die des 18. u.a. bei Phrasierungsbögen
oder Endnoten – und allesamt in Fragen der Besetzung; Schubert in groß ge-
schriebenen Gabeln, welche Akzentuierungen oder Decrescendi anzeigen oder
beides zugleich, Schumann, Brahms oder Wagner in Artikulationsbögen, welche
nur teilweise mit Bindebögen oder Strichanweisungen konvergieren. Derlei
Mißverständnisse oder Unklarheiten wiegen schwer, weil wir heute mehr als je
vordem mit Musik unterschiedlicher Stilistik umgehen, selten mit allen mitge-
meinten Selbstverständlichkeiten vertraut, stärker auf das Niedergeschriebene
angewiesen sind und leicht vergessen, daß, je enger der stilistische Rahmen der
jeweils gepflegten Musik gezogen, desto genauer definiert und stabiler all das war,
was nicht eigens aufgeschrieben, also den Ausführenden überlassen wurde. Noch
bei Mozart verwickelt uns eine so entschuldbare wie törichte Textgläubigkeit
in kaum lösbare Widersprüche und erschwert die fälligen Grenzgänge zwischen
dem Geschriebenen und den ihm stillschweigend mitgegebenen Kontexten; daß
man Bindebögen der Artikulation anpaßt, Endnoten vereinheitlicht etc., wäre
seinerzeit nicht als Grenzgang empfunden worden.
Zu derlei älteren urtextwidrigen Offenheiten kamen zu Zeiten, da man viel
mehr und stärker fixierte, individuell bedingte. Der große Zögerer Brahms ent-
schied bei Kammermusikwerken über Besetzung und Ensemble zuweilen spät
– offenbar nicht nur, weil ihm die kompositorische Struktur wichtiger gewesen
wäre als, allzu simpel hiervon unterschieden, das »Klanggewand«, sondern auch,
weil sich mit der Entscheidung neue kompositorische Herausforderungen
verbinden konnten, Einladungen, die Biegsamkeit der Struktur nochmals zu
überprüfen. Das betrifft selbst Klavierbearbeitungen wie die der Vierten Sinfonie,
Nachruf auf den Urtext? 17

der Serenaden oder des dritten Streichquartetts, welche man am ehesten als Er-
satzlösungen einer eigentlich gemeinten Besetzung ansehen könnte; auch hier
finden sich Abweichungen, welche uns von einem einzigen Original zu sprechen
hindern sollten, mindestens im Sinne eines mit »Urtext« verbundenen Anspruchs
auf Endgültigkeit, einer bis ins letzte Detail unverrückbar ausdefinierten Identität.
Die von ihm mehrmals beschworene »Dauerhaftigkeit«, nicht im Gegensatz zur
minutiösen Durcharbeitung, verstand Brahms auch elastisch.
Wäre es nicht so – nicht nur bei ihm –, müßten wir als kaum verzeihliche
Nachlässigkeit ankreiden, daß bei den meisten im 19. Jahrhundert vorgeschrie-
benen Crescendi ein Ansatz unterhalb des zuvor gültigen Stärkegrades unterstellt
ist, daß Wagner zumeist nach Stringendi oder Ritardandi a tempo anzuweisen
unterläßt (für ihn war klar, wohin es gehört), daß die Tempovorschriften in
etlichen Brucknerschen Sinfoniesätzen nicht aufgehen und der hochpenible
Mahler im ersten, zwei kraß unterschiedliche Komplexe segmentweise ineinander
schneidenden Satz der Fünften Sinfonie die Dirigenten in bezug auf die Tempo-
nahme genau dort im Stich läßt (= Ziffer 18)1, wo sie, weil er die beiden Verläufe
übereinanderkopiert, eines Hinweises besonders dringlich bedürfen. Angesichts
der kompositorisch zugespitzten Situation an dieser Stelle und, nicht ganz so
prononciert, angesichts mancher ähnlichen bei Bruckner erscheint die Vermu-
tung, die Anweisung sei vergessen worden, allzu simpel positivistisch. Könnte
zu der auf einen Extrempunkt zutreibenden musikalischen Logik nicht gerade
gehören, daß sie den Komponierenden zwingt, auf eine Vorab-Festlegung zu
verzichten und die Entscheidung dem Ausführenden zu überlassen? – eine offene
Wunde der Struktur, insofern wir Struktur als möglichst vollständige Fixierung
möglichst vieler Parameter begreifen. In bezug auf den Zwang, die Kongruenz
von Notiertem und Klingendem aufzugeben, bietet sich als Gegenbeispiel jene
dröhnende Tutti-Passage im ersten Satz der Neunten Sinfonie an, in der Beethoven
einen unhörbaren Oboen-Part durch einen anderen unhörbaren ersetzte2.
Die Erörterung solcher Stellen wäre fehl am Platz, würden sie nicht jene Kon-
gruenz durchsichtig bzw. verdächtig machen und zu erkennen helfen, inwiefern das
musikalische Werk mit dem Notentext ebensowohl identisch wie nicht identisch
ist, daß folglich beide über einen eigenen, auf der je anderen Seite nicht auflösbaren
Überschuß verfügen. Musiker, weil immerfort mit der Vorläufigkeit des Hier und
Jetzt umgehend, begegnen dem gelassener als die, die es rational aufzulösen suchen:
Bruckners letztwillige Verfügungen u.a. in bezug auf das Finale der Dritten und

1 Peter Gülke, Fluchtpunkt Musik. Reflexionen eines Dirigenten zwischen Ost und West, Kassel/Stuttgart
1994, S. 43 ff.
2 Ders.,Virtuelles Komponieren und »Deutlichkeit« im Orchestersatz der Neunten Symphonie,
in: Probleme der symphonischen Tradition im 19. Jahrhundert. Internationales Musikwissenschaftliches
Kolloquium Bonn 1989, hrsg. von Siegfried Kross und Marie Luise Maintz,Tutzing 1990, S. 37–40,
im vorliegenden Band S 73–76.
18 Nachruf auf den Urtext?

das Adagio der Achten Sinfonie sind nicht die besten3; Mahlers Umgang mit eige-
nen Partituren erscheint wie ein unabschließbares Plädoyer gegen Ansprüche auf
Endgültigkeit, definitive Fassungen gibt es bei ihm nicht, sondern lediglich, durch
Aufführungsdaten und am Ende seinen Tod bedingt, zufällige Fassungen letzter
Hand. Jedes seiner Konzerte hat die Identität der jeweiligen Musik nicht nur als
klingende Prozessualität, sondern auch im Textstand neu verflüssigt und in Frage
gestellt. In der gegenüber der vormaligen Totenfeier kompositorisch radikalisierten
ersten Durchführung des ersten Satzes der Zweiten Sinfonie reagiert der kompo-
nierende Mahler auf Erfahrungen des dirigierenden, in der instrumentatorisch
radikalisierten zweiten Durchführung der dirigierende auf den komponierenden,
der die Vorgeschichte i.e. erste Durchführung verändert hat – ein Wechselspiel,
welches die Arbeitsteilung zwischen res facta und klingendem Vollzug so radikal
aufbricht, daß ihm, weil es mit jeder weiteren Aufführung wieder begonnen hätte,
Vollendung im Sinne von Ankunft bei einer Endfassung prinzipiell verwehrt ist4.
»Kann ungefähr so bleiben« – diese in den Augen jedes verantwortlichen Her-
ausgebers haarsträubende Bemerkung findet sich in der Partitur eines Musikers,
den mit Mahler mehr verband, als er wahrhaben wollte – Wilhelm Furtwängler.
Sie hätte auch bei Ziffer 18 im ersten Satz von Mahlers Fünfter Sinfonie stehen
können, Niederschlag nicht zuletzt einerVerantwortung in bezug auf Festlegung,
die angesichts der essentiell unfestlegbaren Konstellation abzudanken gezwungen
ist. Wenn die Not am größten, wird die Lösung, so blind wie sicher vertrauend,
der allein sich selbst bzw. dem Hier und Jetzt verantwortlichen Unmittelbarkeit
des Musizierens zugeschoben. »Je nachdem, wie es klingt«, lautete, genauso fol-
gerichtig haarsträubend, Furtwänglers Antwort, als ihn der junge Celibidache
nach dem Tempo eines kniffligen Übergangs fragte5.
Nicht, um eine bald 200jährige Erfolgsgeschichte herunterzureden, welche
der Kategorie »Urtext« als Maßgabe und Richtpunkt bedurfte, kommen hier
solche Details zur Sprache, sondern, um die Arbeitsteilung zwischen den für
den geschriebenen Text und den für seine Realisierung Verantwortlichen als
pragmatisch bedingte Umgehung jener Problematik auszuweisen, welche den
Prüfstand jeglichen Fixierungsanspruchs bildet, anders ausgedrückt: um jenen

3 Zur viel und kontrovers diskutierten Frage der Fassungen Bruckners vgl. u.a. Manfred Wagner,
Der Wandel des Konzepts. Zu den verschiedenen Fassungen von Bruckners Dritter, Vierter und Achter
Sinfonie, Wien 1980; Bruckner Symposion »Die Fassungen«, Bericht, hrsg. von Franz Grasberger,
Linz 1981;Thomas Röder, Neues zur Fassungsfrage bei Anton Bruckner, in: Neues musikwissen-
schaftliches Jahrbuch I, hrsg. von Franz Krautwurst,Augsburg 1999, S. 115–137; Doris Sennefelder,
»Freilich habe ich Ursache, mich zu schämen«. Zum Problem der Fassungen bei Bruckner, in:
Die Symphonien Anton Bruckners. Entstehung, Deutung, Wirkung, hrsg. von Renate Ulm, Mün-
chen/Kassel usw. 1998, S. 53–58, überall dort weitere Literatur.
4 Peter Gülke,Von der Arbeit eines Totalmusikers. Mahler auf dem Weg von der »Totenfeier« zum
ersten Satz der Zweiten Sinfonie, in: Musik und Ästhetik 2003, Heft 3, im vorliegenden Band
S. 107–113.
5 Joachim Matzner, Furtwängler. Analyse, Dokument und Protokoll, Zürich/Gräfelfing 1986,
S. 105.
Nachruf auf den Urtext? 19

Pragmatismus als kaum noch haltbar herauszustellen. Sie kann sich ebenso als
ästhetische Frage zu Wort melden, wo das Musikwerk seine Wirklichkeit habe,
woran man sich also letzten Endes orientieren müsse, wie als praktisch-edito-
rische Frage, etwa, wenn entschieden werden muß, ob es sich bei abweichenden
Artikulationen des gleichen Themas um bewußte Nuancierungen handele, um
ein Vertrauensvotum an Musiker, die es schon richten werden, oder um pure
Nachlässigkeit. Jede Niederschrift ist eine Wegweisung und bringt als solche
partielle Verantwortungen auch für jenen Teil des Weges mit sich, für den der
Herausgeber im engeren Verständnis nicht verantwortlich zeichnet.
Eben auf dieser philologisch-aufführungspraktischen Grenze kann er sich im
eingangs angesprochenen Sinn verteidigen und der Unterstellung wehren, er
ziehe sich bequem darauf zurück, daß der Text für sich spreche. Das Vertrauen
in eine zeitenthobene, oberhalb aller Mißbräuche garantierte Dauerhaftigkeit
der Werke – im Terminus »Denkmal« verbirgt sich auch Neid auf das materiell
gegenständliche Überdauern von Bildern, Skulpturen, Bauwerken – gehört
zu den zwar ehrenwerten, dennoch fragwürdigen Hintergründen der Urtext-
Ideologie: »Für sich« sprechen können die Werke nur als Widerhall und im Wi-
derhall, nur in einem dank gemeinsamer Erfahrungen, Erlebnisse, Gesinnungen
resonanzfähigen Hallraum. Nicht erst an der Grenzlinie der Schriftlichkeit sollte
der Herausgeber verteidigen, sondern im Vorfeld; er sollte dem Benutzer, statt
seine Gewissenhaftigkeit in der oft wenig einladenden Bleiwüste der Revisi-
onsberichte zu demonstrieren, den Wissensvorsprung, den die Arbeit mit den
Quellen mit sich bringt, durchsichtig machen, ihn auf wichtige Unterschiede
zu bisher gespielten Fassungen bzw. Materialien hinweisen und in Zweifelsfäl-
len über die Gründe seiner Unsicherheit informieren – in manchen Fällen teilt
er sie mit dem Komponisten, ginge dann also mit Unsicherheiten um, welche
authentischer sind als jede Sicherheit. Daß man die Materiale der Neuen Bach-
oder der Neuen Mozart-Ausgabe oder der von Robbins H. Landon redigierten
Haydn-Sinfonien den Musikern nicht unbesehen auf die Pulte stellen kann
(man sollte es sowieso nicht), taugt als Vorwurf nicht; eher schon, daß keine
durch Quellenkenntnis fundierten Hinweise zur Lösung von Unstimmigkeiten
gegeben und damit praktizistische Handhabungen begünstigt, billige Vorbehalte
gegen praxisferne Philologie befördert werden. Bei Zweifelsfragen, denjenigen
u.a., ob es sich in Beethovens Siebenter Sinfonie bei den Vierteln, die im Gegensatz
zu korrespondierenden Stellen in den Takten 154/55 des Finales auftauchen,
oder bei der differierenden Dynamik des zweiten Themas daselbst im Allegretto
(Takte 101 ff. bzw. 224 ff.) um bewußte Abweichungen oder um Nachlässigkeiten
handele, ob der Quellenbefund rechtfertige, daß die unterschiedliche Schreibung
der Punktierungen im ersten Satz unterschiedliche Artikulationen anzeigen soll,
erscheint die Hilfestellung des Herausgebers unentbehrlich.
Als Folge jenes Schismas von Theorie und Praxis lassen sich einschlägige
Beweisfälle verdächtig leicht verengen auf die Frage, ob man denn höre, daß aus
einer neuen Ausgabe gespielt wird oder nicht. Nur zu oft, wenn nicht markante
20 Nachruf auf den Urtext?

Details herausragen, hört man es nicht – und hätte trotzdem keine Handhabe zur
Polemik gegen die Detailklauberei der Editoren. Bei großer Musik gibt es keine
Kleinigkeiten, und selbst wenn langwierige Quellenarbeit kaum Ergebnisse zeitigt,
welche von bereits vorliegenden Ausgaben kaum abweichen, war sie, weil sie das
betreffende Werk auf solidere Füße stellte, nicht umsonst. Im übrigen erscheinen
derartige Argumentationen essentiell überholt durch eine Entwicklung, welche
einerseits »Urtext« zum Werbe-Etikett machen konnte, andererseits einen Wandel
im Umgang mit der Musik der Vergangenheit herbeiführte, worin die Anteile
gewissenhafter Interpreten und Philologen ununterscheidbar konvergieren. Die
letzteren können sich auf Langzeit- und Fernwirkungen ihrer Arbeit sicher
verlassen, indessen können sie Abstände und Wartefristen verkürzen.
Es gibt etliche Chancen, das dem fast unhörbar gewordenen Klavier spie-
lenden Brahms vergleichbare Schreckbild einer Situation zu widerlegen, in der
uns die großen Werke in vorzüglichen Ausgaben zur Verfügung stehen, sie sich
jedoch kaum noch mitteilen. Das freilich wird nicht gelingen ohne eine innigere
Kooperation von Praktikern und Philologen, innerhalb derer jene gut lesen und
zuhören, diese stärker noch als bisher sich als Dolmetscher der Texte verstehen.
21

Zum Thema Historische Aufführungspraxis

Wie schön wäre es, wenn wir in einem zeitaufhebenden Salto mortale Herrn
Johann Sebastian Bach hierher zitieren und einladen könnten, uns bei unseren
Versuchen über die wahre Art, Bach zu spielen, beizustehen – ein frommer, ein hi-
storistischer Wunsch: Nach vielen Erörterungen der Aufführungspraxis und nach
vielen Versuchen wissen wir nur zu genau, daß der Begriff von Authentizität, den
allein wir als Richtschnur benutzen können, historisch vermittelt sein muß, daß
uns die Dialektik der Aneignung früherer Musik, konsequent wahrgenommen,
zu dem Ergebnis zwingen müßte, Johann Sebastian Bach, wenn er hier unter uns
säße, wäre nicht sein authentischster Interpret. Er würde uns über viele Details
Auskunft geben können und würde viele unserer Fragen nicht verstehen, am
wenigsten die sehr grundsätzlichen – und würde auf diese vermutlich genauso
unwirsch reagieren wie seinerzeit gegenüber der Leipziger Obrigkeit.
Wenn einer, über die Situation der Pflege alter Musik redend, sich der Sucht
ergäbe, alles problematisch zu finden, könnte er leicht übersehen, wieviel in
diesem Bereich geschehen ist, wieviel hier geleistet wurde, welchem Reichtum
an Möglichkeiten wir uns gegenübersehen. Das beginnt damit, daß wir, der
sogenannten »alten« Musik uns nähernd, nicht in erster Linie zu vergegen-
wärtigen haben, was wir bei ihr im Vergleich zu jüngerer nicht tun dürfen, und
setzt sich in dem schönen Tatbestand fort, daß es heute mit großer Kompetenz
arbeitende Interpreten und Ensembles gibt, die unter Berufung auf historische
Quellen auf sehr glaubwürdige Weise bei gleichen Werken zu außerordentlich
unterschiedlichen Versionen und Darstellungen kommen. Und das mündet in
die Folgerung, daß die – von vornherein fragwürdig gewesene – Unterscheidung
von »historischer« und »lebendiger« Musik sich überlebt hat: »historische« kann
sehr lebendig sein, und »lebendige« ist stets auch historisch, und mit besonders
»lebendigen« Komponenten der sogenannten »historischen« Musik, besonders
den Freiräumen für improvisatorische Praktiken, haben Ungeübte gar beson-
dere Schwierigkeiten. Wir fühlen uns freier in der Begegnung mit alter Musik,
wodurch auch weitgehend das Odium der Spezialisten entfiel, welche früher vor
allem auf Terrassendynamik, rasselnde Motorik und ähnliche einschüchternde
Vorstellungen eingeschworen waren.
Nicht zu vergessen: Eben in diesem Bereich sind neue Wege der Erschließung,
Erkundung und Realisierung von Musik beschritten worden – wenn wir an die
englischen oder niederländischen Ensembles denken oder an den Concentus mu-
sicus –, wichtige Auskünfte und Ergebnisse sind allein der Auseinandersetzung mit
den Instrumenten, mit der Mechanik des Zusammenspiels etc. zu danken, nicht
mehr schlechtweg der Realisierung von Vorlagen oder von Theoretiker-Aus-
künften, nicht selten weitab von der Normalsituation, daß da Noten vorhanden
sind und wir von vornherein ziemlich genau wissen, wie sie zu spielen sind. Das
22 Zum Thema Historische Aufführungspraxis

schließt nicht zuletzt eine neuartige »Demokratie« innerhalb der Ausführenden


ein: Ein Text läßt sich schwerlich bis in einzelne Nuancierungen eines Tons neu
erkunden, neu aufschließen, ohne daß ein neues Verhältnis zwischen Musiker
und Dirigierendem entstünde. So können wir nicht sicher sein, ob eine künftige
Geschichte der Interpretation unserer Tage nicht die Differenzen der derzeit
amtierenden Götter des Medienhimmels beispielsweise bei der Interpretation
einer Brahms-Sinfonie viel weniger wichtig finden wird als das, was bei der
Auseinandersetzung mit älterer Musik an neuen interpretatorischen Ansätzen
entstand. Man kann nicht zufällig finden, daß einige der von hier kommenden
Musiker bei ihrem historischen Vormarsch mittlerweile bei Berlioz, Brahms und
Johann Strauß angekommen sind. Nicht zuletzt profitieren sie von der Anstren-
gung, noch einmal, mindestens der Intention nach, ganz von vorn begonnen,
jede Note und jede Auskunft neu überprüft und nicht sich verlassen zu haben
auf jene Tradition, von der Mahler gesagt hat, sie sei Schlamperei.
Andererseits drängt sich bei aller Freude darüber, daß wir sehr genaue, recht
sicher vermittelte Vorstellungen selbst von Machauts Messe haben und nach
deren Aufführung ein Programm zum Beispiel auf ein zeitgenössisches Werk um-
steuern können, die Frage auf, wieviel unterschiedliche Musik der Mensch denn
vertrage, auch: welche Art von Identifizierung man unter solchen Umständen
leisten kann – die Frage also, ob nicht die Verbreiterung des Repertoires erkauft
sei durch Verlust an – pauschal gesprochen – »Tiefe«. Über die längste Zeit der
Musikgeschichte kannten die Menschen vornehmlich oder gar ausschließlich die
Musik ihrer eigenen Zeit – mit Ausnahmen wie etwa der Unterscheidung von
prima und seconda prattica im 16. Jahrhundert oder Bachs bewußter Wahrnehmung
eines Stile antico. Die Menschen befanden sich in einem engeren »Regelkreis«,
wohingegen wir in unserer musikalischen Erfahrungswelt eine Art »kritischer
Masse« erreicht haben mögen. Gewiß, wie aufregend und erhellend, Machaut
oder Ockeghem neben Webern hören zu können, Bach neben Wagner, eine
Dufay-Messe neben einem Stück von Henze! – Andererseits muß das Folgen
haben für unsere Rezeption, für unsere Hör- und Fühlweise. Die Berichte über
deren sehr andersartige Beschaffenheit sollten wir genauso gründlich lesen wie
die Theoretiker und die Notentexte, wir würden auf schwer verständliche Re-
lationen stoßen zwischen objektiven Momenten wie dem Bezug auf Affekte,
musikalische Figuren, Typologien von vielerlei Art einerseits und andererseits
einer fast hemmungslosen Hingabe an Affekte und Empfindungen. Da kann
einem in Frankreich reisenden italienischen Geigenvirtuosen bei langsamen
Sätzen regelmäßig der Bogen entgleiten, weil die Rührung ihm alle Kontrolle
raubt – oder er dies simuliert –, da kann Jean-Jacques Rousseau beim Anhören
der überaus dünnblütigen Musik seines Devin du village in Versailles Tränen
vergießen – und er nicht allein; gewiß, es kann sich hier teilweise auch um
Zwecklügen handeln; doch bliebe dann immer noch zu untersuchen, weshalb
man gerade in diese Richtung »lügt« und die quellende Träne als Beglaubigung
der Musik für unersetzbar hält – einer Musik, die für uns teilweise tief in den
Zum Thema Historische Aufführungspraxis 23

Schatten dessen geriet, was danach kam. Da haben Verhältnisse zwischen der
Musik und ihrer Rezeption geherrscht, die wir nicht oder nur teilweise nach-
vollziehen können, und der Umstand, daß diese Verhältnisse unmittelbar die Art
und Weise der Darbietung bestimmen, muß uns doppelt aufmerksam sein lassen
im Hinblick auf den Umstand, daß es Musik betrifft, die uns so selbstverständlich
entgegenkommt, uns nur zu gern vergessen läßt, welch große Veränderungen
im musikalischen Hören stattgefunden haben müssen. Womit nicht zuletzt
deutlich wird, welche Grenzen unseren Bemühungen um eine angemessene
Aufführung gezogen sind.
Auf diese Weise die Historizität von Musik, deren Rezeption und deren Auf-
führung zu bedenken, sie immer neu zu prüfen – allgemeine Standpunkte helfen
hier wenig im Vergleich mit der Exemplifizierung am einzelnen Fall, der Frage
etwa, wie der Affektgehalt einer barocken Arie noch mitgeteilt werden könne
–, erscheint dringlich im Gegenzug gegen einen Standpunkt, welchen man am
wenigsten dadurch erledigt, daß man ihn »unhistorisch« schilt, am häufigsten cha-
rakterisiert durch das Diktum: »Ich kenne keinen Unterschied zwischen älterer
und jüngerer, sondern nur den zwischen guter und schlechter Musik.« Zum – wie
immer oft wenig reflektierten – Privileg, Credo oder Hintergrund einer großen
Interpretengeneration gehörte, daß es einen Schatz zeitenthobener, gewissermaßen
unmittelbar an die Ewigkeit bzw. ideal gedachte Nachwelt adressierte Musik gäbe,
der man kleinliche historische Rücksichtnahmen ersparen könne und mit einer
stets ähnlichen, vor allem von der Subjektivität des Interpreten her beglaubigten Art
des Zugangs beikommen könne – gleichgültig, ob es sich um die Matthäus-Passion
oder um eine Bruckner-Sinfonie handele. Wie leicht, dies mit den Argumenten
eines historischen Denkens zu denunzieren! – und wie offen die Frage, ob diese
Denunziation uns nicht einen Bärendienst erweise! Steht nicht zum Beispiel hinter
jenem Diktum auch die Verteidigung eines Identifizierungsbedürfnisses, welches
wir – möglicherweise partiell »Klügeren« – zu verlieren im Begriffe sind, diente
die ungerechte Unterscheidung von historischer und lebendiger Musik nicht auch
dazu, einen gleichen Grad von intellektueller wie emotionaler Identifizierung,
subjektiver Beglaubigung mit jeglicher großer Musik zu behaupten, egal, ob es
sich um ein barockes Recitativo secco oder um ein Stück Walküre handelt?
Diese Behauptung steht übrigens auch hinter den Bach-Instrumentationen
von Schönberg oder Webern – und die Musikwissenschaft, da sie WebernsVersion
des Ricercars aus dem Musikalischen Opfer vor allem als hörbar gemachte Analyse
deutete, hat ungewollt jene Behauptung und implizite einen ihr recht fremden
ahistorischen Standpunkt verteidigt. Ich habe das Stück, wenn ich es dirigierte,
viel weniger als hörbar gemachte Analyse empfunden denn als sehr eindrucks-
volle Aneignung für eine aus dem 19. Jahrhundert herkommende Musizier- und
Hörweise. Analysiert wird das Tema regium, wenn es am Beginn unter mehrere
Instrumente aufgestellt wird, nicht unbedingt – nicht jede Zerlegung ist analytisch,
und selbst wenn diese am Anfang einer auf bequeme Kohärenzen ausgehenden
Hörweise entgegenarbeitet, so geschieht später in dem Stück – und sehr logisch
24 Zum Thema Historische Aufführungspraxis

aus diesem Beginn entwickelt – doch ganz anderes, und man darf fragen, ob den
Bearbeitern Webern oder auch Schönberg nicht auch der Anspruch die Feder
führe (Schönberg hat es in einem anderen Fall auf sehr imperatorische Weise
ausdrücklich formuliert), der Musik zu einer Art des Erklingens, einer tönenden
Definition zu verhelfen, welche die ihr eigentlich angemessene sei. Wobei man
anfügen muß, daß Schönberg Händel nahezu mit dem Anspruch bearbeitet hat
(von Monn ganz zu schweigen), der Musik überhaupt erst zu der ihr angemes-
senen Struktur zu verhelfen. Nachdem wir die Erfahrung machen konnten, daß
ein historisch beglaubigtes Klanggewand keine Distanzierung mit sich bringen
muß, läßt sich um so leichter sagen: Jegliches Bestreben, Musik »heranzuholen«,
up to date zu bringen, Historisches an ihr vergessen zu machen, hat seine Berech-
tigung, und sei es das illusionäre Bestreben, sie der Geschichte, der Erosion durch
die Zeitläufe zu entziehen. Zu musikalischer Interpretation gehört in jedem Fall,
daß sie historischen Abstand aufhebt wie, daß sie seiner sich bedient. Wenn ich
eine Bach-Invention am Klavier spiele, ist Geschichte sowohl aufgehoben wie
evoziert – und ich habe im übrigen Anlaß zu überlegen, ob nicht die Verräum-
lichung unserer Vorstellungen von Geschichte und Gegenwart (Gegenwart auf
alle Fälle das Nähere) mehr mit der Verbindung von Historie und Ferne, Distanz
etc. zu tun habe als das, was ich beim Spielen der Invention tatsächlich erlebe;
ob nicht, anders gesagt, die Assoziation von Historie und Distanz im Kehrwert
sich bestätigen müßte daran, daß ich jedes jüngere Stück Musik und ganz und
gar jedes zeitgenössische als mir näher empfinden müßte.
Das freilich hilft uns wenig dabei, die schwierige Ambivalenz von Geschich-
te-Aufheben und Geschichte-Evozieren zu handhaben, schwierig zum Beispiel,
wenn bestimmte Äußerlichkeiten bei der Erfüllung stilkritischer Maximen zum
Qualitätskriterium für das Gelingen einer Interpretation avancieren, gar mit
ihr verwechselt werden. Wir belächeln, wie manchem in den zwanziger Jahren
motorische Rasselei oder perfekt durchgehaltene Terrassendynamik als Gewähr
dafür erscheinen konnte, den Geist Bachs oder Händels beschworen zu haben
– und haben solche Dinge heute doch auch; wir demonstrieren unsere Sachkunde
in Übertreibungen bei Verzierungen, messa di voce oder Notes inégales auf eine
Weise, die der Musik nicht guttut. Im übrigen tun die Konkurrenzverhältnisse
im Hinblick auf die Medien eben genug, um den zu begünstigen, der es auf alle
Fälle anders macht und seine Kenntlichkeit als Abweichler unterstreicht; Pro-
filneurose freilich ist beim Musizieren kein guter Ratgeber. Im übrigen kommt
es zu merkwürdigen Segmentierungen der historisch orientierten Musizier-
Aufmerksamkeit: In der Laxheit bei der Handhabung zum Beispiel von Appog-
giaturen können in bezug auf historisches Instrumentarium anregende Musiker
zuweilen mit manchem herkömmlich gesinnten Dirigenten konkurrieren; das
angemessene Instrumentarium bildet kein Alibi in bezug auf Wahrnehmung von
Tempi oder Appoggiaturen.
Wir haben uns das Nebeneinander einer per intentionem Geschichte wahrneh-
menden und einer Geschichte ignorierenden Interpretation nicht aussuchen kön-
Zum Thema Historische Aufführungspraxis 25

nen, wir sollten es als Entgegensetzung freilich nicht überstrapazieren; zwischen


Furtwängler und Harnoncourt beispielsweise gibt es mehr Berührungspunkte, als
jene Polarität zuzulassen scheint. So sehr nun einerseits die oben angesprochene
Gefahr der »kritischen Masse« auftaucht, als Gefahr, daß unsere Rezeption der
Masse dessen, was uns entgegenklingt oder als Musikern abverlangt wird, nicht
gewachsen ist, so sehr andererseits bietet dieser Zustand ungeheure Chancen
– wie sie übrigens kompositorisch schon wahrgenommen wurden zu Zeiten, da
er eben im Begriffe war, sich herzustellen –, so etwa in Spohrs in verschiedenen
Stilen komponierter Sinfonie: Die Epochen, Komponisten und Werke kommen
innerhalb des Programms miteinander ins Gespräch, sie erklären einander wech-
selseitig. Nach einem Schönberg dirigiere oder höre ich einen Beethoven anders,
Bartók setzt mir Mozart in ein neues Licht – und immer auch umgekehrt. Doch
nicht nur das: Interpretationsweisen, Haltungen, Hörerfahrungen, zu denen mich
Schönberg oder Bartók oder Webern gezwungen haben, arbeiten auch dem zu,
was recht pauschal »historische Treue« genannt wird – denken wir etwa an das
Insistieren auf Beethovens Metronomisierungen im Schönberg-Kreis, welches
ohne Anregung durch die Beschäftigung mit der in eben diesem Kreise ent-
standenen Musik kaum zu denken ist: Zeitgenössische Musik als Katalysator für
mehr Gewissenhaftigkeit, für mehr »Treue« bei älterer.
Die Universalität, die Breite offenzuhalten, welche jenen Dialog der Epochen,
Komponisten und Werke ermöglicht, ist nicht leicht. Es kann mir passieren, daß
ich zu einem prominenten Orchester gerufen werde und Sacre du printemps in
anderthalb Proben halbwegs auf die Beine bekomme, dann aber meine liebe Not
habe mit einer, oberflächlich verstanden, spieltechnisch viel leichter erreichbaren
mittleren Haydn-Sinfonie – einer Musik also, an der sich das Orchester als For-
mation überhaupt erst gebildet hat. Zu oft, gerade in großen Städten, wird sie
von vornherein den Spezialensembles zugeschanzt, was nur zu begrüßen wäre,
würde sie nicht dadurch den »normalen« Orchestern, welche an den Abenden
davor und danach vielleicht mit Verdi oder Wagner befaßt sind, weggenommen,
würden damit die Musiker nicht ausgeschlossen von der Auseinandersetzung mit
einer Musik, die zu ihrer eigenen Ahnengalerie nicht nur im historischen Sinne
gehört, sondern auch in einem sehr elementaren: im Sinne eines Prüfungsfalls,
der nicht oft genug wiederholt werden kann. Die Spezialisten haben in diesem
Felde die »normalen« Dirigenten allzu oft »links überholt«.
Nicht ohne Gestehungskosten. Denn mit den – freilich oft überpointierten
– Schwierigkeiten bei der Adaptation der historischen Aufführungspraxis im
normalen Orchesterbetrieb stehen vergleichbare gegenüber in bezug auf die
Adaptation hier gewonnener interpretatorischer Erfahrungen dort. Natürlich
nimmt Klemperer bei Beethoven die meisten Tempi »zu langsam«; mit diesen aber
auch das zu verwerfen, was er damit erreicht, sollte nicht nur dem schwerfallen,
der sich vergegenwärtigt hat, mit welcher unbeirrbaren Sicherheit Klemperer
zum Beispiel im ersten Satz der Eroica bei jeder Wiederkehr des ersten Themas
die bei diesem erstmals genommenen Viertel = 126 MM wiedererreicht und so
26 Zum Thema Historische Aufführungspraxis

dem Satz schon von dieser Seite her eine innere Stringenz und Notwendigkeit
verschafft, welche sie vielen Deutungen überlegen macht, Deutungen, die sich in
Einzelmomenten viel sicherer und »objektiver« auf historische Bürgschaften be-
ziehen können. Es gibt so etwas wie ein historisches Sediment interpretatorischer
Erfahrungen, das schwer zu handhaben ist, aber eben auch: schwer zu vergessen,
glücklicherweise. Wie schön, einerseits sich dem Klangbild nahe zu wissen, das
den Hörern der Uraufführung der Eroica im Lobkowitz-Palais entgegenkam
– und wie schwer, es mit interpretatorischen Erfahrungen zu verbinden, die zu
verachten nur der sich leisten kann, der von musikalischer »Fernsicht«, von dem,
was Musiker den »großen Bogen« nennen, nichts weiß. Die großen Werke der
Vergangenheit müssen einerseits gelesen und studiert werden, als begegneten
wir ihnen zum ersten Mal; andererseits stellen sie Gefäße dar, in denen sich
interpretatorische Erfahrungen akkumuliert haben, nicht zuletzt Erfahrungen
aus dem Vergleich mit späterer Musik.
Wir können von der Positivität der Tempo-Auskünfte aus falsch finden und
können dennoch nicht ignorieren, wie Furtwängler das Adagio in Beethovens
Neunter Sinfonie musiziert hat; in dem »zu langsamen« Tempo sind Welten erschlos-
sen worden, haben sich mit dieser Musik Dimensionen verbunden, die ich nicht
missen möchte, so weit ich davon immer entfernt bin, dies für wiederholbar zu
halten. Furtwängler konnte nicht ignorieren, daß durch Wagner und Bruckner
Aussagen von letztem Ernst an sehr langsame Tempi gekettet worden sind, daß
Beethovens Adagio allein schon von hier aus gesehen die Konkurrenz derjenigen
von Bruckners Siebenter, Achter oder Neunter Sinfonie zu bestehen hat – als einen
Kontakt, den wir nicht einfach wegwünschen können aus Gründen, angesichts
derer nur leichtsinnig argumentiert erscheint, die Fehler großer Leute seien
allemal interessanter, enthielten mehr Wahrheit als die Wahrheiten der kleinen.
Eher schon wäre von der Höhenlage der Vermittlung zu sprechen, als welche
Furtwänglers Generation den Organismus eines Musikwerks begriffen hat.
Celibidache hat Furtwängler einmal gefragt, wie ein bestimmter Übergang am
besten zu machen sei, und erhielt die sibyllinische Antwort »je nachdem, wie es
klingt«. Das hört sich fürs erste so banal oder auch geheimnistuerisch an, daß wir
es kaum nachvollziehen können, rätselhaft fast wie ein japanisches Koan – und ist
es doch nicht ganz: In einem Augenblick, da Musik in einen Übergang geführt,
eine neue Richtung eingeschlagen wird, ist das Zusammenspiel der Kompo-
nenten, weil es gewissermaßen neu geordnet werden muß, besonders wichtig,
da spielt mehr als sonst mit, wie der Raum klingt, wie zuvor möglicherweise
einer ein Solo angeboten und was der Dirigent aus dem Angebot gemacht hat,
wie möglicherweise eine Tempoveränderung ausfällt; die Musik bewegt sich in
offenerem Gelände, und weniger als anderswo kann der Dirigent vorauswissen,
wie sich das Zusammenspiel der Komponenten herstellen wird. Daher also »je
nachdem, wie es klingt«. Entsprechend lassen sich in mancher faszinierenden,
aber auch faszinierend rechthaberischen Interpretation Exemplifikationen man-
gelnder Vermittlung finden:Wenn René Leibowitz in die Coda des ersten Satzes
Zum Thema Historische Aufführungspraxis 27

der Neunten Sinfonie einbiegt und die ungeheure Kurve zu den chromatisch
abschreitenden Bässen ignoriert, weil er das Tempo halten und offenbar demon-
strieren will, daß man gerade hier nicht nachgeben darf, dann ist zwar dem Tempo
gegeben, was des Tempos ist, aber alle Vermittlung verschenkt, dann erscheint
die Musik in diesem Augenblick nicht realisiert, sondern eher nur zitiert. Viel
seltener findet derlei sich bei dem Freunde, auf den Leibowitz sich beruft, bei
Rudolf Kolisch. Die erhaltenen Aufnahmen seines Streichquartettes bezeugen
erstaunliche Elastizitäten, so daß man fragen muß, ob die in Schönbergs Kreis
formulierten strengen Maßstäbe nicht auch bezogen werden müssen auf eine
gängige Interpretationsweise, die mit romantischen Freiheiten verschwenderischer
umging, als wir uns vorstellen können. Immerhin gehörten dazu auch die von
Zemlinsky dirigierten partiellen Rubati, Übertragungen des Chopinschen Ver-
fahrens, die rechte Hand die gleichmäßig spielende Linke zuweilen überholen,
zuweilen hinter ihr zurückbleiben zu lassen.
Besonders interessant und im Hinblick auf ein angemessenes Verständnis
gefährlich erscheinen Veränderungen der Rezeption, über die wir uns kaum
Rechenschaft geben können, weil die zu ihnen gehörige Musik uns so selbst-
verständlich geworden ist.Viele Zeugnisse sprechen dafür, daß genau in der Pe-
riode, die unsere Konzertprogramme am stärksten prägt, in der Zeit der Wiener
Klassik, sich grundlegende Veränderungen, nahezu ein Paradigmenwechsel des
musikalischen Hörens vollzogen haben. Das läßt sich schon erkennen an dem
vor zwanzig Jahren von Carl Dahlhaus eindringlich beschriebenen Unterschied
zwischen musikalischer Praxis und musikalischem Denken um 18001, nicht nur
einem Unterschied zwischen praktizierendem Süden und theoretisierendem
Norden: Wackenroder, Tieck und die in ihrer Nachfolge Schreibenden bis hin
zu E. T. A. Hoffmann haben Musikerlebnisse geschildert – um nicht zu sagen:
entworfen –, bei denen wir frühestens den letzten Schubert, viel eher noch
Späteres bis hin zu Tristan assoziieren. Angeregt hierzu aber waren sie durch
Haydn-Sinfonien und erklärtermaßen auch durch nicht eben bedeutende Musik
wie Johann Friedrich Reichardts Macbeth-Ouvertüre – Musik, mit der wir, die
Frage der Qualität außer acht gelassen, die geschilderten Erlebnisse beim besten
Willen nicht zusammenbringen können. Da spielt unverkennbar ein ungeduldig
vorgreifendes Bedürfnis nach bestimmten Erlebnissen mit, eine Ungeduld, welche
imstande ist, Dinge in eine hierfür nicht unbedingt tragfähige Musik hineinzu-
interpretieren, welche ihr auch dann schwerlich zugesprochen werden können,
wenn wir berücksichtigen, daß ihren Zeitgenossen die spätere romantische Mu-
sik noch nicht bekannt war. Gerechterweise muß man hinzufügen, daß das in
der Musikgeschichte des öfteren geschehen ist. Ähnliche Vorgriffe gab es schon
im 13. Jahrhundert in Dantes Divina commedia, auch sie musikalische Visionen
vorausnehmend, die wir uns frühestens bei Landini erahnt vorstellen können

1 C. Dahlhaus, Romantische Musikästhetik und Wiener Klassik, in: Archiv für Musikwissenschaft 29,
1972, S. 167–181, auch in: ders., Klassische und romantische Musikästhetik, Laaber 1988, S. 86–98.
28 Zum Thema Historische Aufführungspraxis

– hier freilich auch Beantwortungen der sehr bekannten Divina commedia. Daß
die Magna Charta des romantischen Musikdenkens ausgerechnet an einem so
real bezogenen Werk wie Beethovens Fünfter Sinfonie exemplifiziert wird, daß
E. T. A. Hoffmann die Bezüge auf französische Revolutionsmusik ignorieren oder
unwichtig finden konnte, bezeugt die Ungeduld und Kraft des Vorgriffs.
Die neue Ästhetik, die Apologie des Unaussprechbaren, eines aller banalen
Realität enthobenen Absolutums hatte auch reale Hintergründe – den kulturellen
Aufstieg des Bürgertums, die Einrichtung von Konzertsälen, Singakademien,
das Herandrängen einer neuen, breiteren Schicht an die anspruchsvolle Musik,
eine Schicht, die einfach zu groß war, als daß sie jene Art von Vorbildung noch
hätte tragen können, die der kleinere aristokratische Zirkel selbst ohne spezielle
musikalische Ambitionen und bei weniger Sinn für die ästhetische Dignität der
Musik realisieren konnte. Und jene Vorbildung betraf nicht zuletzt vielerlei Ob-
jektives in der Musik, die Topoi, Figuren, die fixierten musikalischen Bilder – als
eine Verständigungsebene, die zugunsten der von den Romantikern betonten
Gefühlsunmittelbarkeit immer mehr aufgegeben wurde, ohne daß das eine das
andere ausgeschlossen hätte. Die romantische Apologie des Unaussprechbaren
gab also auch den ästhetischen Rechtstitel für das, was dem neuen Publikum an
den Wundern der Musik als nicht verständlich bzw. nicht verstehbar entgegen-
trat, und sie ermutigte, insofern sie die Rechte des fühlenden Menschenherzens
reklamierte: Das Beste, Wichtigste der Musik ohnehin nun mehr dem Herzen
als dem Verstande erreichbar.
Für derlei Wandlungen, die auf leisen Sohlen daherzukommen pflegen, mag
die Bezeichnung »Paradigmenwechsel« als unnötig dramatisierendeVerknappung
erscheinen – geeignet indessen, das Prinzipielle der Veränderung anzudeuten in
einer Zeit, in der fortwährend Meisterwerke hervorgebracht werden, welche
uns von dieser Veränderung nichts erzählen. Dies einzuklagen hieße aber auch
bestimmen, auf welche Weise die Musik dies bezeugen könnte. Wir sind auf
mancherlei marginales Dokument angewiesen, auf Schuberts Abscheu etwa ge-
genüber dem früher üblich gewesenen »vermaledeyten Hacken«, welches nicht
nur als Äußerung eines genuinen Melodikers verstanden werden sollte, vielmehr
im Kontext einer Entwicklung, die das Diskontinuierliche in der Strukturierung
der klassischen Musik im Sinne größerer Kontinuität, eines »Stroms« zu überwin-
den suchte und noch im Bestreben der Verlage sich niederschlägt, im Druck in
Zweifelsfällen (und die begegnen seinerzeit angesichts der Fertigungsumstände
zuhauf ) zugunsten von mehr Bindung und Kontinuität zu entscheiden. Dem
mag entsprochen haben, daß man legato als Spielanweisung wörtlicher nahm
als vordem, da es – zum Beispiel noch mit dem von Leopold Mozart voraus-
gesetzten Geigenbogen – oft mehr nur angedeutet werden konnte, daß man
nunmehr die Töne mehr aneinanderzuleimen bestrebt war und darüber die
Kunst verlernte, einen legato-Eindruck dadurch herzustellen, daß ein vor einer
winzigen Unterbrechung klingender Ton in Farbe, Ansatz, Stärke etc. haarscharf
so endete, wie der nach der Zäsur folgende einsetzt – eine Spielweise, welche
Zum Thema Historische Aufführungspraxis 29

etwa bei Beethovens großgeschwungenen »Humanitätsmelodien« undenkbar


erscheint. Insgesamt mag das potentielle Moment in der Musik und beim Mu-
sizieren stärker entwickelt gewesen sein – negativ bewiesen durch das plötzliche
Ungenügen an den Instrumenten, welches zu Beginn des neuen Jahrhunderts
einen kräftigen Schub bei technischen Neuerungen veranlaßte.Vordem mag man
das Gemeinte auch verstanden haben, obwohl es nicht ganz in Klang umgesetzt
war, mag gerade die Begrenzung zu seiner Bestimmung beigetragen haben: wenn
eine Linie – wie bei Beethoven oft – weit oben oder unten – »ungeschickt«
abbricht und in eine bequemere Oktavlage wechselt, mag besonders deutlich
werden, was gemeint ist.
Die Barriere jener technischen Neuerungen verdeutlicht, daß und inwiefern
wir, mit und ohne historische Instrumente, nicht zurück können – eine Re-
chenschaft, die früh begonnen hat, etwa bei einem Detail wie dem Viotti-Strich,
der den Charakter einer leichten Attacke beim Anstrich insbesondere kleiner
Punktierungen mit neuen Mitteln zu erhalten suchte, nachdem klar wurde, wie
sehr der viel höhere Druck der Stahlsaiten auf dem Corpus des Streichinstru-
mentes dessen Einschwingverhalten veränderte. Neue Mittel für altgewohnte
Wirkungen – nach denen zu fragen gibt die Musik des Barockzeitalters immer
wieder Anlaß, Anlaß auch, die Theoretiker auf ihre Absichten hin zu lesen und
nicht bei der Meinung stehenzubleiben, weshalb Leopold Mozart nahezu als ein
Abstrichfetischist erscheint, inwiefern man, um die von ihm intendierten Wir-
kungen zu erzielen, anders verfahren muß, als er empfiehlt.Wenn man dergestalt
nach den Intentionen fragt, spielt freilich der historische Abstand sofort eine
größere Rolle, muß man etwa auch reflektieren, daß gleichmäßige Sechzehntel
einen Hörer heute rascher ermüden könnten als einen Zeitgenossen etwa von
Quantz, wir also möglicherweise das Recht haben, in deren wechselvoller, stets
auf die melodischen Gestalten schauenden Artikulation und Phrasierungen gar
ein wenig weiterzugehen, als die Zeitgenossen dies taten. Auf beträchtliche Frei-
räume in dieser Hinsicht deutet nicht zuletzt die Differenz in der Ausfertigung
von Solo- und Orchesterstimmen hin: Daß in diesen nach der Maßgabe jener
ergänzt wurde, steht außer Frage. Musik war seinerzeit generell soviel stärker
usuell eingebunden, als »Umgangsmusik«, Kirchenmusik, Tanzmusik, gesellige
Musik, Tafelmusik etc., daß wir wohl fragen dürfen, inwiefern sie heute, ohne
jene Bindung und Legitimation, als ästhetische Schöpfung für sich stehend, einer
stärkeren Prononcierung bedürfe. Im Zeichen der usuellen Bindung war geboten,
was heute unverzeihlich, wenn nicht von vornherein als Contradictio in adiecto
erscheint: Meisterschaft im Durchschnittlichen, der Generalbaß unter anderem
auch eine Methode, um Musik auch ohne inspirative Höhenflüge solide über
die Runden zu bringen. Und die Legitimation der Musik begann auch in einem
anderen Sinne bereits weiter »unten«, in einem Sinne, der sich in Zeiten der All-
gegenwart und vollkommenen Verfügbarkeit von Musik schwer nachvollziehen
läßt: Jedes Erklingen von Musik etablierte das Wunder des artifiziell hergestellten
Klangs neu, als ein unalltägliches Erlebnis auf dem Hintergrund:Wann werde ich
30 Zum Thema Historische Aufführungspraxis

Musik, wann werde ich dieses Werk wiederhören? Wir hören, ob wir wollen oder
nicht, zuviel Musik, als daß wir den ganzen Wert des Materialreizes, das Wunder
des artifiziell hergestellten musikalischen Tons noch nachvollziehen könnten, als
daß wir noch realisieren könnten, wie sehr jedes Werk auch als neue Evokation
dieses Wunders erlebt wurde.
Ich breche hier ab, nicht zuletzt in der Überzeugung, daß noch jede Interpreta-
tion von Rang ein wenig von jenem »Wunder« bewahrt und daß alle Bemühung
dorthin zielen muß: auf das musikalische Ereignis von etwas Wohlverbürgtem
und Beglaubigtem, doch hier und jetzt auch Neuem und Einmaligem, angesichts
dessen alles kommentierende Gerede überflüssig wird.
31

Zur Entwicklung des klassischen Orchesters

Nach jenem dreieinhalbstündigen Konzert am 22. Dezember des Jahres 1808,


in dem – im ungeheizten Theater an der Wien – Beethovens Fünfte und Sechste
Sinfonie uraufgeführt wurden, hatte als gewiß kompetenter Berichterstatter
Johann Friedrich Reichhardt über die erstere in einer ausführlichen Rezen-
sion lediglich zu sagen, daß sie »zu lang« sei: Als das, was sie sehr bald danach
und seither unangefochten der Musikwelt bedeutet, ist Beethovens Fünfte bei
ihrem ersten Erscheinen also nicht erkannt worden. Weil man hierfür nicht
nur, wie etwa bei der Eroica, den Schock der ersten Begegnung verantwortlich
machen kann, muß man nach den Umständen fragen, unter denen seinerzeit
Orchesterwerke solchen Anspruchs ins Leben traten – und wird rasch alle Vor-
stellungen von einem harmonischen Verhältnis zwischen dieser Musik und der
Kultur des klassischen Orchesterspiels fahrenlassen, die sie in so einzigartiger
Weise repräsentiert.
Fast alle Beethovenschen Orchesterwerke sind unter Bedingungen urauf-
geführt und zunächst wiederaufgeführt worden, die heute auch drittrangige
Institute nicht mehr verschulden würden; einen Überrest einstmaliger Gepflo-
genheiten mag man noch in der Bezeichnung »Generalprobe« insofern finden,
als diese »generelle« Probe endlich alle am Konzert Beteiligten vereinigen sollte.
Was der Begriff »Orchester« für uns selbstverständlich einschließt – vom Status
der Beteiligten über die Arbeitsweise bis zu deren Maßgaben –, war seinerzeit
keineswegs selbstverständlich. Immer wieder hat Beethoven für seine Sinfonien
Umstände hinnehmen müssen, die denkbar schlecht zu alldem passen, was wir
über den rigorosen, kompromißlosen Mann wissen; er hat darüber hinaus so
unterschiedliche Bedingungen akzeptiert, daß man nicht umhin kann zu fragen,
worin der unantastbare Kern seiner Forderungen bestanden habe; im Orche-
sterbereich mußte er oft genug Dinge akzeptieren, die den mit Klavierschülern
wie Ries oder mit dem Schuppanzigh-Quartett um jedes Detail verbissen
Ringenden geradezu desavouieren. Und das bedeutet auch: seine heute popu-
lärsten Werke hat er kaum je oder überhaupt niemals so gespielt erlebt, daß der
Eindruck ihm, auch im Hinblick auf mögliche Nachbesserungen, kompetente
Aufschlüsse geben konnte.
Gewiß war es seinerzeit in Wien um das Orchesterspiel, speziell um die Mög-
lichkeit, die besten Musiker zusammenzubringen, schlecht bestellt; das jedoch
war keineswegs eine Ausnahme, und also bleibt die Frage, wieviel von dem, was
heute »Orchester« bedeutet, schon damals als fest etabliert gelten konnte. Es war
wenig genug, und die oft beschriebenen Paradefälle des 18. Jahrhunderts, in
Deutschland etwa Dresden oder Mannheim, bestätigen eher als Ausnahmen die
Regel. Oft erscheint geradezu rätselhaft, auf welche Weise manche der glaubwür-
dig bezeugten Glanzleistungen zustandekamen, oder auch – hier ist immer von
32 Zur Entwicklung des klassischen Orchesters

Ensembles, nicht von einzelnen Musikern die Rede –, wem eine Literatur wie
Mozarts spieltechnisch unerhört schwierige Divertimenti zugedacht war.
Im übrigen gab es Toleranzen, die man sich angesichts mancher pharisäischen
Debatte um aufführungspraktische Fragen immer wieder vor Augen führen
sollte. Manche Darbietung in Vivaldis Ospedale oder eines Händelschen Con-
certo grosso stand besetzungsmäßig den gewiß in vieler Hinsicht fragwürdigen
Aufführungen der Furtwängler-Ära näher als derjenigen durch Ensembles, die
heutzutage, oft gegen eigenen Willen und eigene Einsicht, öffentlich darauf
vereidigt sind, historisch getreu zu verfahren. Haydn spielte in Esterháza mit
drei ersten Violinen, in London mit zwölf; Mozart berichtet 1781 an seinen
Vater von einer Aufführung mit insgesamt zwanzig Violinen, zehn Bratschen,
acht Celli, zehn Kontrabässen, sechs Fagotten und verdoppelten Bläsern; und in
den Uraufführungsstimmen von Beethovens Vierter Sinfonie finden sich zeitge-
nössische, möglicherweise gar vom Komponisten initiierte Eintragungen, welche
zweifelsfrei auf etwas verweisen, womit man sich bei diesem Stück heutzutage
fast unvermeidlich eine Kritikerrüge einhandelt:Verdoppelung der Bläser.
Wo man aus dem Vollen wirtschaften konnte, tat man das nur allzu gern
– was freilich wiederum nicht heißt, daß die Kompositionen erst in den großen
Besetzungen zu sich selbst gekommen wären. Das Verhältnis von musikalischer
Struktur und Realisierung war von einer Toleranz bestimmt, welche, weitab
vom Anspruch, die einzig mögliche Darstellung zu geben, die jeweiligen Ge-
gebenheiten ihr Wort mitreden läßt und mit negativer Akzentuierung, etwa als
Indifferenz, gründlich verkannt wäre: viel zu selbstverständlich war ein kreatives
Verständnis des Auftrages der Musizierenden, das die Linie der Partitur auf sehr
verschiedene Weise in klingende Wirklichkeit zu verlängern gestattete, wenn
nicht gebot. Die Besetzungen erscheinen hierbei viel eher als Funktion jener
Gegebenheiten, zumal des für die Aufführung vorgesehenen Raumes, denn als
Funktion der Partitur.
Überlegungen zu den Normativen eines ideal proportionierten und besetzten
Orchesters – man findet sie in Quantz’ Auskünften zum Verhältnis von Bläsern
und Streichern ebenso wie in Beethovens Äußerung, er benötige etwa 60 Musiker
– mußten einigermaßen platonisch erscheinen, solange die Gegebenheiten, selbst
am gleichen Ort, so sehr differierten und man überhaupt nur in Opernhäusern
Räume besaß, welche eigens für Musikaufführungen gebaut waren. Eine Auffüh-
rung beispielsweise der Eroica durch auch nur 60 Musiker in dem Saal, in dem
sie uraufgeführt worden war, hätte Beethovens Forderung eher widerlegt.
Was sich nachmals, von den Organisationsformen bis hin zur kompositorischen
Struktur, als klassische Orchesterkultur etablieren sollte, hat sich aus Teilmomenten
sehr allmählich zusammengefügt – dies eine Aussage, die als Allgemeinplatz er-
scheinen müßte, hätte man die Vereinzelung dieser Momente stärker reflektiert
und deren Risiken recht gewogen (erst der historische Rückblick macht sie zu
Gliedern eines einzigen Entwicklungszusammenhanges). Der wichtigste Teil des
einschlägigen Repertoires ist, wie aus dem eingangs zitierten Beispiel erhellen
Zur Entwicklung des klassischen Orchesters 33

mag, nicht als Ergebnis der Entwicklung einer neuen Musizierform entstanden,
sondern eben als deren Teilmoment, ist also beträchtlichen Risiken und Rei-
bungen überall dort ausgesetzt gewesen, wo andere Momente zurücklagen.
Anders als in Wien gab es z.B. in den Pariser Concerts spirituels oder im
Leipziger Gewandhaus organisatorische Vorgriffe, denen die zugehörige Mu-
sik noch fehlte: die Programme waren bunt bis zu bloßen Willkür; eine ganze
Sinfonie anzuhören, sofern man eine zur Verfügung hatte, wäre einer Zumu-
tung gleichgekommen. Vom Standpunkt reiner substanziellen Entsprechung
aus gesehen erscheint durchaus richtig, daß die Concerts spirituels mit Haydns
Pariser Sinfonien zu der ihnen eigenen Musik gekommen wären – wie Salomons
Londoner Konzerte mit den für sie komponierten; gerade aber der avancierten
aufklärerischen Ästhetik gab Haydn unlösbare Probleme auf, was bis zu der
grotesken Empfehlung ging, man möge seine Sinfonien als Steinbrüche betrach-
ten, aus denen die einzelnen Brocken zu holen und ihrer wahren Bestimmung,
einer wortgebundenen, der Nachahmungsästhetik gefügigen, zuzuführen wären.
Derselbe Grétry, der so redet, nennt andererseits aber das Orchester in einer
erstaunlichen Antizipation (hinter der man die Orientierung am Chorus der
antiken Tragödie vermuten darf) die Stellvertretung der Menge der Zuhörenden
und steht mit dieser Auskunft, ohne es zu wissen, als Prophet einer Musik da, bei
deren Anhören er sich späterhin die Ohren zuhalten wird.
Jene Sinfonien nun, mit denen die Concerts spirituels, idealtypisch gedacht,
inhaltlich zu sich selbst kamen, stammten aus dem »Experimentalstudio« der
Esterházyschen Hofkapelle, mithin aus der Privatsphäre eines großen Herrn, für
den ein Besuch der Pariser Konzerte gewiß auch peinliche Seiten gehabt hätte.
Doch eben gerade dort waren ihr, in keineswegs immer erfreulichen Einschrän-
kungen, jene Bedingungen garantiert, unter denen Haydns Genie sie entwickeln
und in bewundernswert folgerichtigen Planspielen voranbringen konnte, unter
denen er nach eigenen Worten »original … werden mußte«. Nur hier konnte er
so unbehelligt sein »trial and error« praktizieren, die Rückkoppelung zwischen
Komposition, Erarbeitung,Aufführung und Wirkung auf die Zuhörenden wahr-
nehmen – diametral entgegen den anhand der Uraufführung von Beethovens
Fünfter geschilderten Umständen.
Schwerlich freilich ließ sich in Esterháza die Projektion in die große Dimen-
sion – des Apparates, des Saales, der Masse der Zuhörenden – erproben, und so
hat Haydn die Wirkungsweise der großen sinfonischen Form nicht zuletzt auf
Umwegen reflektiert – über den französischen goût fürs Programmatische, den
englischen Hang zum »Popularen« oder über Sonderanforderungen wie die mit
den Sieben Worten des Erlösers verbundenen. Mit welcher Sicherheit jedoch tritt
er aus dem »Experimentalstudio« hinaus in die bürgerliche Öffentlichkeit, wie
umfassend ist er gerüstet für diesen Grenzübertritt, der vor dem Erscheinungsbilde
seiner Musik nur allzuleicht soziologisch überpointiert erscheint!
Will man dergestalt verfolgen, wie die Momente der klassisch-bürgerlichen
Orchesterkultur zusammenkamen, so sieht man sich leicht zu idealtypischen
34 Zur Entwicklung des klassischen Orchesters

Zuspitzungen verführt wie den »eigentlich« nach Paris oder London gehörigen
Haydn-Sinfonien bzw. zur Vernachlässigung von Gesichtspunkten, unter denen
die Concerts spirituels etwa auch zuvor die Musik hatten, die ihnen entsprach;
Grétrys zitierte Empfehlung verrät über Umwege auch, daß Sinfonien anzuhören
erst gelernt werden mußte.Viel leichter fällt es, zu belegen, inwiefern die Um-
stände für Beethoven zurückblieben hinter dem, was seine Musik erheischte. Und
eben seine Sinfonien nun geben das seltene Beispiel einer Musik, die sich die ihrer
Darstellung angemessenen Umstände so allmählich wie unabdingbar erzwang
– und damit zugleich einen Wandel von durchaus historischen Dimensionen.
Der Vorgang verbindet sich in erster Linie mit dem Namen François Ha-
benecks, der beim Studium Beethovenscher Sinfonien mit bewundernswerter
Unnachsichtigkeit mit dem Conservatoire-Orchester die Ansprüche einer mo-
dernen Orchesterkultur postulierte und durchsetzte – zum Staunen des gewiß
nicht unverwöhnten jungen Mendelssohn, der seinerseits in Deutschland zum
Propheten der neuen Standards wurde. Technologisch-spieltechnische Zwänge
wirkten hierbei ebenso wie musikalisch-substanzielle. Mit herkömmlichen
Arbeitsformen war diesen Stücken nicht beizukommen; ebenso wie die neuen
Anforderungen schwerlich ohne die Autorität eines anerkannten Kapellmeisters
durchgesetzt werden konnten, konnte ohne einen solchen z.B. der erste Satz der
Fünften Sinfonie nicht gelingen – daß man mit althergebrachten Praktiken, d.h.
mit der Direktion vom Konzertmeisterpult, immer noch rechnen mußte, bestätigt
E. T. A. Hoffmanns Auskunft, dies sei hier nun nicht mehr möglich.
Nicht aber nur als Autorität und als für die Koordinierung der Mitwirkenden
Verantwortlicher war der Kapellmeister gefordert, sondern darüber hinaus – und
hier lagen von vornherein Glanz und Elend eng beieinander – als Verkörperung
des immer deutlicher als solches sich artikulierenden musikalischen Subjekts, als
Flucht- und Sammelpunkt ebensowohl für die Spielenden wie die Zuhörenden.
Als zwischengeschaltete Instanz und offenbar notwendiger Dolmetsch verweist er
freilich zugleich auf unvermeidliche Gestehungskosten jener Demokratisierung
der Musik, in deren Zusammenhang die Entstehung des modernen Orchesters
gehört. Bei den Vielen, die nun in die Konzerte drängen – die Geschichte der
bürgerlichen Konzertgesellschaften, Singvereine, Musikvereine etc. gibt hier-
über eindrucksvoll Auskunft – konnte gewiß mehr Interesse und Engagement,
jedoch weniger Kenntnis vorausgesetzt werden als bei den Privilegierten, denen
die gehobene Musikausübung zuvor weitgehend reserviert war; und überdies
unterscheiden sich die Mittel, mit denen man auf eine große Zuhörerschaft
wirkt und möglichst auf Anhieb ein Werk durchzusetzen sucht, erheblich von
den bisher benutzten – Oper und barocke Repräsentationsmusik am ehesten
ausgenommen.
Das nunmehr vielgestaltig erklingende Lob der Sprache des Gefühls bzw. des
Herzens, des unverkünstelt-direkten Zugangs zu einer Musik, die kaum einer
Vorbildung bedürfe (die man zuweilen, Rousseau nachsprechend, als Verbildung
verdächtigt), übertönt und verdrängt zunehmend den Sinn für die fast zur Voka-
Zur Entwicklung des klassischen Orchesters 35

bel geronnenen »nüchternen« Informationen, welche bislang eine große Rolle


gespielt hatten. Wenn die Musik der vorklassischen Zeit heute oft allzu harmlos
anmutet, wenn wir verwundert feststellen, welche und wieviel Intention mit ihr
verbunden war, so nur zum Teil der erdrückend übermächtigen Klassiker wegen,
die es kurz danach soviel besser machten; mindestens ebensosehr liegt es daran,
daß die Musik vordem mehr objektive Information transportierte, welche uns
vornehmlich deshalb auf eine noch frühere Zeit fixiert erscheint, weil diese sie
teilweise zu kodifizieren versucht hatte – als Figuren-, Affektenlehre usw.
Dieses Repertoire lebt durchaus und keineswegs nur latent bei den Wiener
Klassikern fort, deren Anstrengungen nicht zuletzt darauf gerichtet waren, es der
Verdinglichung zur fixierten Vokabel zu entreißen und in einer neuartigen Un-
mittelbarkeit zum Sprechen zu bringen – kennzeichnend hierfür u.a. Beethovens
bewußte Distanz zum programmatischen Abmalen. In der Szene am Bach der
Pastorale reproduziert er einen überlieferten Topos und bringt ihn zugleich auf
eine Weise zum Sprechen, die, auf die überlieferte Bedeutung nicht angewiesen,
die äußere zur inneren Landschaft macht, das Bild zur Chiffre einer psychischen
Befindlichkeit.
Weil die neue Musik nicht mehr notwendig auf das objektivierte semantische
Repertoire zurückverweist, breitet sie allmählich den Schleier des Vergessens
darüber.Womit uns zu fragen aufgegeben ist, inwiefern mit jener Demokratisie-
rung ein Wandel des musikalischen Hörens einhergegangen sei, und ob wir uns
dessen wahren Umfang nur deshalb so gut verhehlen können, weil uns die davor
liegende Musik anzuhören so wenig Schwierigkeiten bereitet. Vieles indessen
spricht dafür, daß wir, könnten wir genau rekonstruieren, in welche semantischen
Koordinaten die damalige Musik eingetragen war, erschrocken wären ob des
Unterschiedes zu unseren Eindrücken – als eine weitestgehend unkorrigierbare
Abweichung, welche von vornherein alle jene Abirrungen übertrifft, welche
uns heute stilwidrige Aufführungen bescheren. Die Schnelligkeit übrigens, mit
der Haydn als harmloser Papa und Mozart als erdferner Ephebe mißverstanden
wurden (den »realistischen« Mozart mußte Otto Jahn neu erarbeiten), bezeugt
die Radikalität jenes Wandels.
Nicht nur in bezug auf solche Gestehungskosten haben wir mit Unbekannten
zu tun, sondern – aus ganz anderen Gründen – auch hinsichtlich der Errungen-
schaften.Alle noch so eingehenden Beschreibungen der neuen orchestralen Mittel,
der erweiterten Farbpalette, des größeren dynamischen Ambitus usw. bleiben in
äußerlicher Quantifizierung stecken (welche auch der diskreteren Farblichkeit im
18. Jahrhundert Unrecht tut), solange nicht gefragt wird, inwiefern diese Quan-
titäten qualitativ wahrgenommen und das Orchester als dialektisches Gegenüber
zum kompositorischen Vorwurf begriffen ist; »sinfonisch« kann nicht schlecht-
weg gleichgesetzt werden mit »weiträumig«. Die Pastorale läßt sich schwerlich
analytisch verstehen, wenn man daran vorbeisieht, wie »naturhaft«, wie sehr als
Naturwesen Beethoven das Orchester hier begreift, wie er in den Klang als in
etwas Gegebenes hineinhört und ihm abzulauschen sucht, wohin er »will«, wie
36 Zur Entwicklung des klassischen Orchesters

er seine artifizielle Musik möglichst nah heranführt an die Beschwörung des


reinen Naturlauts, welcher in den Vogelrufen am Ende des zweiten Satzes eben
nicht mehr zitiert erscheinen soll.
Der rigorose Konstrukteur weiß, warum er hier locker konstruiert und sich
in Wiederholungen und an den Klang zu verlieren scheint, und ebenso weiß er,
weshalb in der Sinfonie, im Allegretto der Siebenten, erlaubt wenn nicht geboten
ist und das Medium Orchester besonders eindringlich zur Erscheinung bringt,
was im Quartettsatz nicht anginge – die mehrmalige Wiederholung eines im
Einheitsablauf dahinziehenden 24taktigen Komplexes. Da ist die musikalische
Idee nicht von vornherein präsent und mit ihrer Darstellung identisch, da wird
sie vielmehr allmählich angeeignet, immer tiefer in die Dimension des Orche-
sters hereingenommen, welches am Immergleichen des Themas seine Tiefenper-
spektive ausleuchtet; da steigert die stufenweise vorangehende Materialisation
der musikalischen Idee im großen Apparat das Prozessuale der musikalischen
Darstellung samt der ihr eigenen Paradoxie, daß Erklingen immer zugleich
Verklingen ist und eine fixierte Identität jener Idee nur oberhalb des real Klin-
genden gedacht werden kann. In derlei Lösungen erscheint Grétrys oben zitierte
Auskunft realisiert, daß das Orchester die Masse der Zuhörenden repräsentiere.
Auf ganz andere Weise gilt das auch für ein so kompliziertes Gebilde wie das
Thema des Adagios der Neunten Sinfonie, welches sich als Widerspiel der Grup-
pen der Streicher und Bläser darstellt, als deren allmähliches, von einer reinen
Echofunktion der Bläser ausgehendes Zueinanderkommen, bzw.: das Orchester
als Instanz des Zusammenwirkens »entsteht« erst im Verlaufe dieses Themas, wird
von diesem erst geschaffen.
Was angesichts der historischen und analytischen Beflissenheit hier mögli-
cherweise zu lange außer acht blieb: wie große Musik, und die klassische zumal,
noch in der falschesten Konstellation und über die gräßlichsten Mißverständnisse
hinweg den Durchblick zu eröffnen vermag auf einen idealen Ort, wo alles richtig
wäre, für sie wie für diejenigen, die ihr lauschen.
37

Kunst der Coda


Über Mozarts Umgang mit Beendigungen
und unterschiedlichen Zeitqualitäten1

Eines der populärsten Sinfoniethemen, u.a. von Austrian Airlines beim Lande-
anflug auf Wien-Schwechat bevorzugt, ist nach Wesen und Prägung kein Sinfo-
niethema: Die g-Moll-Sinfonie KV 550 beginnt wie eine Aria agitata. Cherubino
könnte zu dieser Musik, mindestens anfangs, sein »Non sò più cosa son, cosa faccio«
singen; Dorabellas »Smanie implacabili«, wie Cherubino in Es-Dur, paßt zwar
prosodisch nicht, teilt mit ihm jedoch die ostinat fortstürmende, überrennende
Bewegung. Einerseits fegt Mozart die Frage nach den Kriterien eines sinfonie-
gemäßen Themas als abstrakt beiseite, andererseits reflektiert er sie unzweideutig:
Kurz vor Ende des Satzes (Takte 281 ff.) steigert und schärft er die Folge von
chromatischem Aufwärts und Punktierungen, welche schon die Schlußgruppe
der Exposition eingeleitet hatte (Takte 66 ff.), und entläßt aus der kurzen, harten
Kulmination eine Episode, deren kontrapunktische Fügung man vor allem als
gesteigertes Singen wahrnimmt. Als wolle er andeuten – mehr ist an dieser Stelle
nicht erlaubt –, was aus dem Thema auch hätte werden können, erstattet er ihm
einiges von der Kantabilität zurück, der er in sonatengemäßen Kontrastierungen,
Verdichtungen, Modulationen etc. viel schuldig bleiben mußte; auf eigene Weise
ausgesungen hat sich die Melodie im Satz nirgends.
Daraus folgt erstens, daß ein Thema für eine Sonatenabhandlung nicht unbe-
dingt prädisponiert sein muß, sondern auch die Nicht-Eignung zum Gegenstand
der Abhandlung werden kann; zweitens, daß sie, indem sie das eingesteht, eine
spezifische Glaubwürdigkeit gewinnt; und drittens, daß sie dem Paradox ausgesetzt
ist, dies gestehen zu sollen, im Geständnis jedoch nicht mehr Abhandlung ist.
»An dieser Stelle nicht erlaubt« – die Behauptung wird durch die Konstellation
des ersten Satzes der g-Moll-Sinfonie erleichtert, weil das Thema als präsumptive
Arie wenigstens andeutungsweise zu sich kommt, nachdem das thematische
Procedere zu einem Ende gebracht ist, von hierher also keine entfremdenden
Funktionalisierungen mehr drohen. Der Erzähler tritt aus der Erzählung heraus,
blickt auf sie von außen, aus bislang nicht bekanntem Abstand, und gesteht, was er
seinem »Helden« antun mußte. Gewiß könnte man hier auch mit der Psychologie
der Erinnerung operieren: Erinnerung, auch im älteren Sinne von Anmahnung,
an etwas, was versprochen war und nicht stattgefunden hat.
Ästhetisch entspricht dem der Übertritt von wiederholbarer zu unwiederhol-
barer Musik. In Coden wie dieser ist unzweideutig klar, daß Abschied genommen,

1 Der Aufsatz knüpft an Überlegungen an, welche der Verfasser in seinem Buch »Triumph der
neuen Tonkunst«. Mozarts späte Sinfonien und ihr Umfeld, Kassel/Stuttgart 1998, unterbreitet hat.
38 Kunst der Coda

ein letztes Wort gesagt wird, sie zehren vom Vorangehenden und setzen es un-
widerruflich ins Imperfekt. Dem steht die Wiederholbarkeit der großen Formen
gegenüber, welche auf erinnerbare Bezugspunkte, Korrespondenzen, erwartbare
Wiederbegegnungen angewiesen sind und nur rezipiert werden können, weil
der Hörende sich gleichzeitig an unterschiedlichen Zeitorten aufhalten kann,
dem des jetzt und hier Klingenden und dem, worauf dieses Klingende Bezug
nimmt – dieses qua Imagination, jenes in auditiver Unmittelbarkeit. Damit ist
auch klar, daß Wiederholung nicht schlechtweg das Wiederholte noch einmal,
sondern durch den Bezug auf Früheres ein Anderes ist. Musik kann sich als
wiederholendste der Künste darstellen, indem sie demonstriert, daß es reines
Zurück, pure Rekapitulation nicht gibt. Denn stets gehören zur Identität des
Klingenden auch der Zeitpunkt und die Konstellation seines Erklingens. Den
spezifischen Zauber und die Eindringlichkeit von Coden macht wesentlich aus,
daß der Zwang zur Pluralität der Rezeptionsebenen, zum Spagat zwischen Jetzt,
Zuvor und Demnächst weitgehend entfällt; das Sediment des Zuvor grundiert
das Jetzt stark genug, um keiner besonderen Zuwendung mehr zu bedürfen;
Kontrastierungen, neue Verwicklungen etc. haben neben der Verabschiedung
weder Chance noch Platz.
Dergestalt bietet sich die Auskunft an, in großen Formen markiere der Über-
tritt in die Coda zugleich denjenigen von wiederholbarer Musik in unwieder-
holbare. Dem widersprechen auch ausgedehnte »zweite Durchführungen« wie im
ersten Satz von Beethovens Eroica nicht, sie bestätigen es eher, weil die Momente
von Abschied und zurückblickendemVerweilen nach vorn orientierten, prozessu-
alen Verläufen aufgenötigt sind und dank des Widerstreits besonders eindringlich
erlebt werden. Eine Bestätigung jenes Übertritts ließe sich in Üblichkeiten wie
vorangehenden Orgelpunkten sehen, welche die Erwartung der Grundtonart
so aufstauen, daß, wenn endlich erreicht, dies nur endgültig, im vorgegebenen
Rahmen letztmalig sein kann. Ähnliche Wirkungen tun Chromatizismen, meist
Aufgänge, wie im eingangs beschriebenen Beispiel oder gegen Ende beider Teile
im Andante der g-Moll-Sinfonie (Takte 44.ff. und 115 ff.), in den Ecksätzen des
D-Dur-Quartetts (»Hoffmeister«) KV 499 (Takte 222 ff. bzw. 343 ff.), in den Takten
294 ff. des ersten Satzes der Es-Dur-Sinfonie KV 543, in den Takten 61 ff. und 138 ff.
der D-Dur Sinfonie KV 504 (»Prager«), dort auch im ersten Satz (Takte 286 ff.),
oder auch im ersten Satz des g-Moll-Quintetts KV 516 (Takte 232 ff.).
Diese zufällige, unvollständige Auflistung freilich relativiert die Zuordnung
der Coda zum Wechsel von wiederholbarer zu unwiederholbarer Musik, von
reversibler zu irreversibler Zeit. Sie illustriert nurmehr eine Fokussierung
und den an einer Nahtstelle gut erfaßbaren Umgang mit den jeglicher Mu-
sik eigenen unterschiedlichen Zeitqualitäten bzw. -richtungen: Eine in sich
geschlossene Melodie hält uns weitgehend im Jetzt ihres Erklingens fest; ein
kurzes, prägnantes, zu Ausfaltung und Verarbeitung disponiertes Motiv weist
über sich auf seine Einlösung hinaus, es enthält mehr Zukunft; Orgelpunkte,
die großen Kulminationen folgen, verweilen in deren Nachklang, erscheinen
Kunst der Coda 39

in besonderer Weise rückbezogen und spielen demgemäß in Coden eine wich-


tige Rolle; Modulationsgruppen markieren ein Unterwegs, welches ebenso
bestimmt ist von Erinnerung an vorangegangenes Wichtigeres und Erwartung
von auf neue Weise Wichtigem; Introduktionen verbinden mit oft großem
Gestus die Charakteristik der Einleitung, Hinleitung zum Hauptgegenstand,
der sie selbst nicht sind.
Dementsprechend fluktuieren Zeitbewußtsein und -richtung in den ent-
wickelten Formen der Musik unablässig. Mozart hat den Eintritt in die Coda des
ersten Satzes der g-Moll-Sinfonie KV 550 in den Schlußgruppen der Exposition
und Reprise (Takte 66 ff. und 254 ff.) halb vorweggenommen, im chroma-
tischen Aufwärts und den Punktierungen ebenso wie in seufzerhaft gedehn-
ten Sekundabstiegen, welche einem durch Kontext und Tempo verhinderten
Kantabilitätsbedürfnis nachgeben wollen; die am Satzende in wenigen Takten
angedeutete »Rückerstattung« spielt hintergründig bereits mit.
Stärker noch als dialektisch disponierte Sätze widerstreiten langsamere einer
schematisierenden Unterscheidung von Zeitrichtungen. Epilogische Momente
liegen langsamer, weniger stark mit Potenzialität geladener Musik ohnehin nä-
her; nicht selten erscheint diese erst in der Situation der Verabschiedung ganz
zu sich selbst gebracht. Ein für sich stehender dritter Abschnitt im Andante der
Prager Sinfonie (Takte 35 ff. bzw. 122 ff.) hält die Schwebe zwischen thematischem
Komplex und Epilog; für den eigenen Komplex spricht die neue Prägung und,
daß es später, in den Takten 55 ff. bzw. 142 ff., noch epilogischer wird, für Epilog
die auf den »fp« akzentuierten Orgelpunkt gesetzte anschlüssige Formulierung.
Als Tertium comparationis bietet sich der Eindruck an, die Musik laufe von nun
an jedenfalls dem Ende entgegen – im ersten Teil 23 Takte lang nach 34 von den
ersten beiden Themenkomplexen benötigten Takten, im zweiten Teil 26 Takte
lang! Das Erstaunen darob, daß ein Drittel des Satzes an die Verabschiedung
gewendet wird, darf allerdings nicht dazu einladen, die »eigentliche« Musik von
ihrer Verabschiedung getrennt zu denken.
Beide gehören hier auf andere Weise zusammen als in abhandelnden, diskursiv
angelegten Sätzen, weil die dem Diskurs eingeschriebene Teleologie mehr Gegen-
wart und Blick nach vorn als Rückbezug impliziert bzw. diesen vornehmlich als
im Zeichen des Kommenden funktionalisierten Richt- und Startpunkt begreift.
Wohingegen es in Mittelsätzen immer wieder zu anhaltenden, verweilerischen
Komplexionen kommt, zur Paradoxie des Stillstands im Fortgang wie in den Tak-
ten 54 ff. bzw. 126 ff. des Andante con moto der Es-Dur-Sinfonie KV 543, welche
die Musik nach dramatischen Expansionen in eine Befindlichkeit zurückholen,
von der aus aufs Thema neu zugegangen werden kann; bei vergleichbaren Passagen
wie den Takten 26 ff. und 75 ff. im Andante cantabile des C-Dur-Streichquartetts
KV 465 (»Dissonanzen«) bedarf es angesichts des kammermusikalischen Intim-
gesprächs derartig dimensionierter Legitimationen nicht.
Im übrigen liefert das Andante der Prager Sinfonie, begünstigt durch die
wiegend-einebnenden Wirkungen des sicilianohaften 6/8-Taktes, einen ein-
40 Kunst der Coda

drucksvollen Beleg für veränderbare Blickrichtungen: Die vier letzten, in der


Dominant D – einer intermittierenden »Tonika« – schaukelnden Takte des ersten
Teils scheinen, unterstützt vom abschiedwinkenden Gestus der Melodie, nur zu
epilogisieren. Beim Übergang zum zweiten Teil indes erhält die Harmonie ei-
nen sanften Stoß, verliert den Halt in der vordem sicheren »Tonika« und driftet,
die Melodie mit sich ziehend, subdominantisch davon; unversehens, sanft und
diskret wendet sich der gerade noch aufs Vergangene fixierte Blick der Musik
dem Kommenden zu.
Andererseits kann ein Mittelsatz wie das Andante con moto der Es-Dur-Sin-
fonie, hierin wiederum dem thematischen Diskurs näherstehend, einen Nachtrag
erhalten (Takte 131 ff.), der auf bislang Uneingelöstes hindeutet. Von ihm aus,
»zu spät« also, ließe sich das Thema, darin der Aria agitata der g-Moll-Sinfonie
ähnlich, als in einen Satzzusammenhang hineingeraten ansehen, der ihm Ande-
res abfordert bzw. antut, als ihm originaliter mitgegeben war. Anfangs kommt
die Melodie wie für Variationen geschaffen daher, wird jedoch nach der ersten,
zweiteilig wiederholte 8; 6, 3+2; 8 Takte umfassenden Präsentation von einem
hochdramatischen Ausbruch beiseitegefegt, dem alleVermittlungen zum vordem
Exponierten zu fehlen scheinen. Die verdichteten, dringlich singenden Takte 39
bis 45 bzw. 109 bis 115 muten wie ein vergeblicher Versuch an, dem Einbruch
standzuhalten, die Überleitungstakte 50 bis 53 bzw. 120 bis 124 wie ein Umweg,
ihm zu entkommen und zum Ausgangspunkt zurückzufinden. An Variationen ist
nicht mehr zu denken, wie immer die Takte 68 bis 95 das Thema in der Dispo-
sition des Satzbeginns rekapitulieren. Sie geraten nun gar ins »schwarze« h-Moll,
ihrerseits verdichtet wie auch der folgende zweite Einbruch. Mochten anfangs
Variationen anvisiert gewesen sein, welche nicht zustande kamen, so deutet
am Ende eine großbogig ausholende Coda auf wiederum andere dem Thema
mitgegebene Möglichkeiten hin. Dergestalt bleibt, nachdem am Satzbeginn viel
Regularität versprochen war, nur eine eher gewalttätige Beendigung.
Kaum anders im ersten Satz des g-Moll-Streichquintetts KV 516: Notdürftig
verbunden stehen die beiden Themen in der Coda nebeneinander, aus ihrer
Nachbarschaft ist nichts mehr zu gewinnen, der threnodische Terzabgang des
zweiten, so scheint es, könnte ad infinitum wiederholt werden; kein Wunder, daß
der Schlußakkord auf einen metrisch schwachen Takt fällt. Dasselbe geschieht am
Ende des ersten Satzes im D-Dur-Streichquintett KV 593, einem Beleg zugleich,
daß derlei Vorahnungen einer »Logik des Zerfalls« nicht an dunkle, negativ-ver-
zichtende Stimmungslagen gebunden sind. Mozart verfährt gar radikaler als im
g-Moll-Quintett, indem er das Ende der Reprise wie dasjenige der Exposition
als Frage in der Luft hängenläßt; daß es hier auf genau gleiche Weise wie dort
geschieht, steigert den Eindruck der Ratlosigkeit ebenso wie der Wiedereintritt
der Introduktion, welche, kleinenVeränderungen entgegen, wie zur falschen Zeit
erinnert anmutet. Dem folgen als Schluß, notengetreu zitiert, die ersten acht
Takte des Allegro, schon am Satzbeginn ein kompakt hingeworfener Brocken.
Dort war das als mit Potentialität geladener Auslöser eines erwarteten thema-
Kunst der Coda 41

tischen Prozesses legitim, hier nimmt es sich wie das barsche Eingeständnis aus,
daß es einen anderen, das Geschehene reflektierenden, in sich aufhebenden
Schluß nicht gebe und man, um einen solchen vielleicht zu erreichen, von vorn
beginnen müsse.
Indem sie auf uneingelöst Gebliebenes hinweisen und hinter das Versprechen
der Vollendbarkeit, den Schein von Vollendung Fragezeichen setzen, argumen-
tieren Coden innerhalb der Kunst gegen die Kunst, gegen das den entwickelten
Formen innewohnende, für deren Konstituierung unerläßliche Versprechen, das
aufgegebene Spiel innerhalb des jeweiligen Regelkreises zuende spielen, zu einem
guten Schluß bringen zu können. Allerdings handelt es sich um Argumentation
im Auftrag einer Wahrheit, die nicht innerhalb der Kunstschöpfung verankert
ist; Distanz zur Veranstaltung, ein Hauch von »der Kaiser ist ja nackt« ist allemal
dabei.Wenn schon Coden als eingebaute Selbstkritik die ästhetischeVerabredung
als veranstaltet denunzieren, kommt alles darauf an, wie sehr und auf welche
Weise sie es tun. Man mag den hier waltenden Takt noch daran erkennen, daß
weitgehend verborgen blieb, inwiefern dabei Antizipationen dessen mitarbeiten,
was später als romantischer Humor, romantische Ironie problematisiert wurde.
Einerseits muß die ästhetische Illusion aufgebaut und instandgesetzt werden,
den Adressaten in sich hereinzuziehen, andererseits soll sie für ihn als solche
durchschaubar bleiben.
Freilich, indem Coden die ästhetische Struktur relativieren, bewerten sie
auch und ordnen ein, hierin das Reversbild von Introduktionen. Diese kön-
nen u.a. Bedeutungen und Gewichtungen für Prägungen aufbauen bzw. ihnen
aufladen, die dafür nicht geschaffen scheinen. Mit den Allegro-Anfängen z.B.
des »Dissonanzen«-Quartetts, der Es-Dur-Sinfonie KV 543, wohl auch des D-Dur-
Streichquintetts KV 593 wären wir einigermaßen ratlos, träten sie ohne die jeweils
inszenierten »Königsauftritte« unvermittelt ein. Ganz und gar betrifft es das enig-
matisch-dunkle, zwischen zelebrierender Introduktion und rasch zerbröselnder
Meditation schwebende Adagio vor dem Finale des g-Moll-Streichquintetts KV 516
– eine Warnung, das danach Eintretende zum Nennwert, so leicht und harmlos
zu nehmen, wie es, fast eine Tarantella in der Landmädchen-Tonart G-Dur,
daherkommt, bzw. Aufforderung, die in die zweite Naivität dieses Perpetuum
mobile verpackten Rückbezüge nicht zu überhören.
Den Korrespondenzen von Introduktionen und Coden nachgehen heißt
auch nach der Reichweite ihrer Zuständigkeit fragen. Ob eine Introduktion
nur den jeweiligen Satz, das mehrsätzige Werk oder eine Werkgruppe ankündige
und einleite bzw. wohinter eine Coda einen Schlußpunkt setze, läßt sich gewiß
teilweise von deren Dimensionierung aus, sicherer aber von deren Verhältnis
zueinander aus beantworten. Im »Dissonanzen«-Quartett KV 465 stellt Mozart
der halsbrecherisch gewagten Introduktion, von Freimaurer-Konnotationen ab-
gesehen, in ausgedehnten Ecksätzen ausgedehnte, durch Wiederholungszeichen
abgesetzte Coden gegenüber – als nahezu eindeutigen Hinweis, daß das gesamte
Werk die anfangs exponierte Frage abarbeiten muß. In der Linzer Sinfonie KV
42 Kunst der Coda

425 entsprechen den konventionell-barocken Punktierungen der ersten Takte


des Werkes die konventionell-triumphierenden Signale der letzten und in einem
weiter innen gelegenen Bezug den girlandenhaften Achtelgängen der Takte 8 ff.,
die zwar von der Überleitungsfigur der Takte 119 ff., 128 ff. und 265 ff. herkom-
menden, dennoch der Coda des ersten Satzes vorbehaltenen Achtelgänge der
Takte 275 ff.; in der Prager Sinfonie KV 504 entsprechen dem Anlauf in topischen
Schleifern vom Werkbeginn am Final-Ende die erst hier (Takte 335 ff.), mithin
spätestmöglich eintretenden, vielleicht auch auf das Figaro-Zitat im ersten Satz
(Takte 43 ff.) verweisenden Bläsersignale.
Dennoch darf man fragen, ob die pathetisch ausladende Introduktion, die
längste je von Mozart geschriebene, damit eingeholt sei – unbeschadet des wie-
derum außergewöhnlichen Zuschnitts im folgenden Allegro. Die Nachbarschaft
des Don Giovanni und die Prager Konstellation im Dezember 1786 legen nahe,
die Frage über Musik hinaus ins Biographische zu verlängern: Wie sehr meint
Mozart sich selbst – die große Zeit der Selbst-Präsentation in den Klavierkon-
zerten lag hinter ihm –, wie sehr meldet er sich im ersten Satz ausdrücklich als
Komponist des Giovanni zu Wort, wie sehr komponiert er am Ende des letzten
nach der thematischen Anspielung auf Figaro vorwegnehmend einen Triumph,
den Wien jüngst verweigert hat?
Wohl nirgends bietet sich die Proportionalität von Introduktionen und
Coden als Erklärungsansatz dringlicher an als bei den im Sommer 1788 fertig-
gestellten drei Sinfonien. Eingeleitet werden sie von der klangreichsten und
differenziertesten »Intrade«, einem tönenden Inbegriff von grande symphonie im
damaligen Verständnis bzw. der aktuellen, seit Sulzer direkt mit der Sinfonie in
Verbindung gesehenen Ästhetik des Erhabenen. Überdies komponiert Mozart
diskrete Vorgriffe – u.a. in den Takten 9 ff. auf das im Verlauf der Trias allmählich
zutage kommende, als erstes Thema das Jupiter-Finale prägendeViertonmotiv2, in
den verschränkten Punktierungen der Takte 20/21 auf diejenigen, die der Coda
im ersten Satz der g-Moll-Sinfonie vorangehen (s.o.). So prunkend der Klang am
Beginn, so aufs Äußerste verdünnt am Ende, gewissermaßen beiseitetretend an-
gesichts des in kleinteiligen Verflechtungen leise-enigmatisch daherkommenden
Themas, wohl harmonisch direkt zu ihm hinführend, indessen als im Verhältnis
zur »Hauptsache« zu groß gewähltes Portal erscheinend. Immerhin antworten
ihm im Hauptsatz rauschende Tutti und am Ende eine fanfarenhaft triumphie-
rende Coda.
Um so mehr fällt auf, daß Mozart dem Finale der Es-Dur-Sinfonie eine als
Widerpart zur Introduktion taugliche Coda verweigert, die analoge Schlußbil-
dung der Exposition nur unwesentlich verlängert und am Ende mit der zweimal
schroff hingeworfenen Anfangswendung des Finalthemas verdeutlicht, daß der
Satz viel weniger abgeschlossen denn jäh abgerissen wird. Ideal gesehen müßte

2 A.a.O., S. 74 ff.
Kunst der Coda 43

es gleich zur g-Moll-Sinfonie fortgehen – die episodisch ins Finale eingeblendeten,


nahezu choralhaften Takte 139 ff. können, nicht nur tonartlich, als Vor-Hinweis
auf das g-Moll-Stück verstanden werden. Kaum vorstellbar erscheint, daß die
Es-Dur-Sinfonie Mozart versehentlich kopflastig geraten sei, daß er die Schief-
lage der Gewichtungen nicht wahrgenommen bzw. gewollt habe; schon ohne
weiteren Hinblick auf das Ganze der Trias drängt sich die Vermutung auf, daß
die Zuständigkeit der Introduktion hier nicht ende.
Wie der Schluß der Es-Dur-Sinfonie zur g-Moll-Sinfonie weitertreibt, so deren
Schluß zur Jupiter-Sinfonie. Konsequenter noch als in jener verweigert Mozart die
Coda und setzt, verglichen mit der Exposition, lediglich vor den letzten Acht-
takter einen dem kadenzierenden Nachdruck dienlichen vorletzten; weitab von
den Rechenschaften im ersten Satz entsprechen sich die Verläufe vom Einsatz
des zweiten Themas an (Takte 71 ff. bzw. 247 ff.) ganz und gar.
Das wiederholt sich im nächsten Satz, dem ersten der Jupiter-Sinfonie, nun
allerdings mit größerem Gewicht. Erstens verträgt sich die Vermeidung eines
letzten Zwischenaufenthalts bzw. Umwegs eher mit dem Impetus von Finali;
zweitens hatte Mozart den ersten Sätzen beider vorangehender Sinfonien Co-
den komponiert; drittens geht er in demjenigen der C-Dur-Sinfonie, dies durch
Absätze betonend, gar mit mehr, zudem sehr unterschiedlichen Prägungen, also
mit einem Konfliktpotential um, welches einen großen Auslauf rechtfertigen
würde. Die Verweigerung wiegt hier schwerer als irgendwo sonst in der Trias; sie
wird als bewußte Aussparung kenntlich dank des Umstandes, daß Mozart sich in
diesem Satz, neben Ungewöhnlichem wie dem Einbruch der Takte 81 ff. bzw.
269 ff. und dem auf die dritte rhetorische Ebene zielenden dritten Thema (»Si-
gnor Pompeo …«), formal einer makellosen Klassizität befleißigt – auch Momente
einer vorwegnehmenden Blaupause des Finale fehlen nicht –, daß er dergestalt
nachdrücklich der Erwartung einer Coda zuarbeitet, welche dann ausbleibt.
Auf diese Weise hält er dieses Allegro vivace wie die Schlußsätze in Es-Dur und
g-Moll unabgeschlossen und auf Fortgang angewiesen, nur auf andere, einen
Fixpunkt definierende Weise.
Seiner bedarf er im Finale; denn dessen Chancen, zu einem formal be-
friedigenden Abschluß zu gelangen, stehen aufgrund der Konkurrenz zweier
Konzeptionen schlecht: Kontrapunkt und Sonatendialektik arbeiten notwendig
gegeneinander, der Widerstreit von kontinuierlich entwickelnder und kontrastiver
Disposition kulminiert in der Frage nach dem Zielpunkt. In einer mehrthemigen
Musik könnte dieser, wo Polyphonie im Spiel ist, nur in der Kombination aller
Themen bestehen, auf sie müßte der Verlauf von vornherein angelegt sein. Ein
Nacheinander verschiedener Themenexpositionen ließe sich mit der Sonate
notfalls vereinbaren, wie immer schon in der Exposition des Jupiter-Finale eine
kontrapunktisch intendierte, auf Kombinationen drängende Ungeduld fühlbar
bleibt. In der Durchführung indes lassen sich die Konzeptionen, die eine das
Miteinander, die andere das Gegeneinander verfolgend, nicht zusammenbringen.
Gewänne der Kontrapunkt die Oberhand, so müßte sie auf die Kombination
44 Kunst der Coda

aller Themen zulaufen, womit die von der Sonate geforderte Reprise zu leerer
Formalität schrumpfen würde. Gewänne die Sonatenlogik die Oberhand, müßte
die Durchführung zu Kontrastierungen, konflikthaftenVerwicklungen etc. treiben,
welche die auf kontrapunktische Verwend- und Vereinbarkeit hin erfundenen
Prägungen nicht hergeben.
Aus solchen Gründen hat Mozart die Passagen im »gelehrten« bzw. »galanten«
Stil im Finale des G-Dur-Streichquartetts KV 387 so nebeneinandergehalten, daß
man verführt ist, stilistisch gleiche Segmente herauszuschneiden und zu zwei je
in sich stimmigen Verläufen aufzureihen. Das kann nicht aufgehen; im Jupiter-
Finale, der eng verflochtenen Stilebenen wegen, erscheint es von vornherein
undenkbar. In der holprigen Metrik der engführenden Komplexe – ab Takt 173
vier dreieinhalbtaktige Gruppen, ab Takt 187 vier fünftaktige – demonstriert
Mozart die Nöte dessen, »der Unmögliches begehrt«, demonstriert aber auch,
daß er das »unmögliche« Ziel, obwohl in der gegebenen Disposition unerreich-
bar, nicht aus den Augen läßt. Also muß er aus der Disposition aussteigen, deren
formaler Aufriß schon wegen der Pluralität der Einsatzmöglichkeiten sonatenhaft
dominiert ist.
Wenn irgendwo, dann schlägt hier die Stunde der Coda, welche vervollständigt,
ohne unmittelbar zur Sache zu gehören, ohne nochmals zu »arbeiten«. Denn die
Reprise erscheint nicht nur als leere Formalität, sondern geradehin als Widerlegung
aus einem Grunde, angesichts dessen die Schwierigkeiten mit der Situierung des
Zielpunktes nurmehr die Außenseite des Problems zeigen. Nach Maßgabe des
Kontrapunkts werden die Themen bzw. Motive nicht zusammengeführt oder
gar -gezwungen, wird die Synthese nicht erarbeitet. Vielmehr wächst lediglich
wahrnehmbar zusammen, was virtuell von vornherein zusammengehört hat, es
wird heimgebracht, um nicht im Sinne platonischer Anamnesis zu sagen: erinnert,
oder auch: ein Teilstück prästabilierter Harmonie wird zu klingender Erscheinung
gebracht. Insofern ist die Sonate verdächtig, ans falsche Objekt geraten zu sein.Als
Resultat und Instrument eines Weltbildes, einer Denkweise, welche Räume für
substantiell Neues offenhält, hat sie es mit Kontrapunkt und dessen Herkunft aus
einer Denkweise zu tun, welche dergleichen offene Räume nicht kennt, weil sie
scheinbar Neues nur als wahrnehmbar werdendes Segment eines immer schon
Vorhandenen begreift.Wenn die Kontrapunkte in Mozarts Coda zusammenkom-
men, sind es im ersten Viertakter (372–375) zwar nur zwei, im nächsten drei, im
übernächsten vier und erst im vierten (384–387) alle fünf – virtuell beisammen
indessen sind sie von Anfang an. Mozart betreibt »nur« Ausfüllung und bestätigt
dies, wenn er dieViertakter zwischen Tonika und Dominante hin- und herwürfelt
und die große Synthese im Tutti nochmals feiert (Takte 368 ff.), indes nichts Neues
mehr hinzufügen, bestenfalls dieViertakter zu Dreitaktern zusammenpressen kann
(Takte 396 ff.). Nichts weist darüber hinaus; alles, was gesagt werden konnte, ist
gesagt. So bleibt, um zu einem Ende nach jenem Endpunkt zu kommen, ab Takt
402 nur die Zuflucht beim Tutti-Nachsatz der ersten Präsentation des ersten
Themas (Takte 13 ff.), ergänzt durch knappe Schlußfanfaren.
Kunst der Coda 45

Jenes feiernde, strukturell indes additiv verdoppelnde Tutti mag ebenso als
– wiewohl äußerlich bleibender – Tribut an den dynamischen Habitus der
Sonatendialektik angesehen werden wie der nicht explizit »gelehrte« Zuschnitt
der Kontrapunkte; sie könnten, unterstützt durch die je ersten Präsentationen in
Exposition und Reprise, fast auch als Sonatenthemen passieren, trüge die Musik
nicht alsbald, beginnend schon mit der zweiten Präsentation des Hauptthemas
(Takte 36 ff.), ihrer Provenienz und »eigentlichen« Bestimmung Rechnung. In-
soweit scheint Mozart die Risiken des Unternehmens zunächst hintanhalten zu
wollen; in der Durchführung indes kommen sie zum Vorschein, im Übergang
zur Coda komponiert er sie aus. Zwar sind die »Schlieren« der Takte 358 bis
371 unschwer als vom Hauptthema abgeleitet zu erkennen und verflechten sich
auf neue Weise kontrapunktisch, mithin bezugnehmend; zugleich aber legen sie
eine Barriere, schon weil die nahezu immerfort in kleinen Einheiten pulsierende
Bewegung aussetzt. Wir verlassen das alte Terrain und betreten neues.
Nun erst, diskursiver Verpflichtungen ledig, realisiert die Musik die ihren Prä-
gungen mitgegebenen, jenenVerpflichtungen entgegenstehenden Konsequenzen.
Die Definition der Unmöglichkeit, Sonate und Kontrapunkt zur Koexistenz zu
zwingen, wird zum Teil ihrer Bewältigung. Das lädt zu einer Philosophie der
Beendigung, zur Dialektik von Abschließen und Nichtabschließenkönnen ebenso
ein wie der Umstand, daß in der Folgezeit sich alle groß intendierten Finale,
direkt oder vermittelt, reflektiert oder nicht, an der hochriskanten Konsequenz
des Jupiter-Finales messen mußten. Im Blick auf die überschreitenden Momente
jeglicher Kunst muß und kann weder über die vorausweisende Reichweite von
Introduktionen noch über die rückbezogene von Coden eindeutig befunden
werden. Hier indes steht außer Zweifel, daß mehr abgeschlossen wird als nur
die Sinfonie, daß das Finale u.a. also auch als Antwort auf den über die Trias
hinweggreifenden Anruf der Es-Dur-Introduktion zu verstehen ist.Weil Mozart
es zwei Jahre später im Streichquintett KV 593 vermied, die einzige vergleichbare
Satzdisposition in ähnlicher Weise zu letzten Konsequenzen vorzutreiben, darf
man fragen, wie sehr ihm das Jupiter-Finale und seine Coda noch über die Trias
hinaus als letzte Antwort, als – wie immer vorläufiges – Testament galten.
46

Wessen Musik?
– oder: Arien als Zwiegespräche

Wenn Vertreter der unteren Schichten bei Mozart Gelegenheit erhalten, Höher-
gestellten die Leviten zu lesen, finden sie, die Situation auskostend, kein Ende:
Cherubino wird von Figaro am Ende des ersten Aktes regelrecht fertiggemacht
(»Non più andrai farfallone«, Nr. 9); Despina spielt gegenüber den beiden nahezu
lebensuntüchtigen und nach ihrer Meinung liebesuntüchtigen Damen die Rolle
derjenigen, die sich Moral nicht leisten kann und nicht will – das Mannsvolk
verdient es nicht, sie tut es ausführlich (Così fan tutte, Nr. 12 und 19); Leporello
schmeckt die Liebesabenteuer seines Herren nicht nur genüßlich nach, er demü-
tigt zugleich die, der er es erzählt, und leistet sich nach dem eiligen Geplapper des
ersten Teils von »Madamina, il catalogo è questo« (Nr. 4) ein voyeurhaft ausmalendes
Andante con moto, für Elvira eine Folter.
Eingebettet jeweils in vorandrängende Handlungszüge und nach deren
Maßgaben sind diese Arien zu lang. Daß die aus der Barockoper herstammende
Differenz der handlungstragenden »Realzeit« von Rezitativen und der »senkrecht«
auf ihr stehenden »Idealzeit« der Arien zur Erklärung nicht mehr taugt, bestätigt
Mozart nicht zuletzt durch die Art und Weise des Einstiegs: Kaum hat Figaro
Cherubin schadenfroh (»con finta gioja«) bedauert, befindet er sich ohne Vorspiel
mittendrin in der Arie und singt unaufhörlich, unterbrochen lediglich von den
militanten Einwürfen des Orchesters; weil er Cherubin nicht aus den Klauen
läßt, erscheinen Hinweise auf die Eigenzeit der Musik oder die am Aktschluß
fällige Finalität unnötig. Nicht anders als Cherubin ergeht es Elvira: Leporello
überfällt sie mit seinem Katalog, Mozart verkettet Rezitativschluß und Arien-
beginn. Ähnlich bei Despinas erster Belehrung (Nr. 12): Dem vorangehenden
Rezitativ fehlt die reguläre Beendigung, die Aria setzt mit dem Gestus der Bei-
läufigkeit wie ein Recitativo accompagnato ein und wiederholt die harmonische
Folge C7-F vom Rezitativschluß; als müsse Despina zunächst befürchten, von
den Damen unterbrochen zu werden, beginnt sie die »eigentliche« Arie erst mit
dem 6/8-Allegretto »Di pasta simile son tutti quanti«, findet dann nicht nur kein Ende,
sondern ergeht sich in klippschulhaft penetranten Wiederholungen – und wird
nicht unterbrochen: Die Gehirnwäsche bzw. Lockerungsübung hat begonnen.
In ihrer zweiten Arie (Nr.19) treibt sie es noch weiter, wieder im 6/8-Takt, nun
obendrein in G-Dur, der Tonart u.a. des dritten Standes.
Inwieweit sind Arien und ihre Musik Eigentum dessen, der singt? – wer ob der
Frage erstaunt ist, setzt einen vorgegebenen Charakter voraus, verkennt also, daß
die Figur erst durch das Gesungene befähigt wird, in diesem Sinne Eigentümer
zu sein. Anders gefragt: Inwieweit können Arien, weit entfernt von personalen
Prägungen, Situationsbestimmungen sein wo nicht verschwiegene Dialoge – und
Wessen Musik? 47

als solche gegebenenfalls so präzise adressiert, daß der Partner implizit mitzusingen
scheint? Nur, weil er beim besten Willen nicht kann, singt Masetto in Zerlines
Arien (Nr. 12 und 18) nicht mit, wohingegen der nahezu arienlose Don Giovanni
am deutlichsten Arie singt, wenn er andere zum Mitsingen bringt – Zerlina im
Duett Nr. 7 »Là ci darem la mano«, mehr Arie mit Echo als Duett, selbst, wenn es
in terzenseligen Zwiegesang mündet. Ist es nicht von vornherein mehr Zerlinens
als seine Musik, besteht seine spezifische Genialität nicht darin, unbelastet von
eigener Identität in anderen Menschen und Situationen ganz und gar aufzugehen,
in sie sich hineinzustehlen, sie von innen her aufzuweichen? So zweimal Donna
Elvira betreffend – bei ihrer Auftrittsarie (Nr. 3), deren gezackte Kontur durch
den frech-flehentlich Hineinsingenden chemisch zersetzt wird; und zu Beginn
des zweiten Aktes, wenn er ihre nächtliche Klage unmerklich zu einer Serenade
hinbiegt (Nr. 15); Giovanni besiegt die Frauen in deren eigenstem Felde, in Spa-
nien konnte er tausendunddrei Sprachen reden, weil er keine eigene hatte.
Wenn Arien Zwiegespräche sind, dann redet bzw. formt der Adressat minde-
stens im übertragenen Sinne mit, als gequält Zuhörender – Cherubin bei Figaros
schadenfroher Gardinenpredigt, Elvira bei Leporellos Aufzählung – ebenso wie,
wenn lose Reden nicht ganz unwillkommen sind – Fiordiligi und Dorabella
bei Despina. Der Adressat redet aber auch mit, wenn nicht eine einzige Person
oder Situation, sondern alle, wir, Gott und Welt gemeint sind – Fiordiligis »Come
scoglio« Nr. 14, Ferrandos »Un’aura amorosa« Nr. 17, bei denen schon die Ahnung
mitkomponiert scheint, daß die hohen Ansprüche sich nicht halten lassen, die
unter dem Druck der Situation über sich hinausgewachsenen Protagonisten
hinter ihnen zurückbleiben werden.
Drastisch überbelichtet werden die unterschiedlichen Eigentumsrechte in
bezug auf Arien bei Ferrandos letztem vergeblichem Ansturm auf Fiordiligi; nur
zu gern wüßte man, ob die Konsequenzen dieser Überbelichtung oder äußere
Gründe die von ihm sanktionierte Streichung von »Ah lo veggio quell’anima bella«
(Nr. 24) veranlaßt haben.1 »Lietissime« bestürmt Ferrando das Mädchen; dafür,
daß es eine verzweifelte Fröhlichkeit ist und Ferrando, sich selbst verlorenge-
gangen, nur die Situation bedient und sonst nichts, steht die spezifische Torheit
dieser Musik – ein prononciert simples Thema, dessen melodischer Gestus im
Nachsatz (Takte 5 ff.) vergrößert und das – selten bei Mozart – im strettahaften
Allegro (Takte 100 ff.) von den Bläsern fast zu Tode gehetzt wird, zudem allzu
gleichmäßig treibende Achtel in einer Musik, welche wie der Bewegungsform
auch der Tonart nicht entkommt: einpaukende, denunzierende Einfalt wie und
wo immer möglich.
Sie klingt, nachdem Ferrando auf und davon ist, in Fiordiligis Rezitativbeginn
nach – tonartlich ebenso wie in der Anähnelung ihrer fragenden Figur an das
soeben Gehörte; schon war genug Anlaß, von »debolezza« zu sprechen. Mit knap-

1 Wolfgang Amadeus Mozart, Neue Ausgabe sämtlicher Werke, Serie V, Band 18, S. XXV.
48 Wessen Musik?

per Not entwindet sie und flüchtet sich harmonisch an den von seinem B-Dur
am weitesten entfernten Ort E-Dur und in die Demutsgebärde ihres »Per pietà,
ben mio, perdona« (Nr. 25). Daß Ferrandos Ansturm im Allegro moderato (»A chi mai
mancò di fede«) noch immer nachklingt, bestätigt nur den Abstand zweier Arien, in
deren erster der Singende alle Identität verlor, in deren zweiter die Singende zu
ihrer Identität zurückfand und in ihr – Selbstgespräch als Zwiegespräch – sich zu
verkriechen versuchte: nach der am meisten entfremdeten Arie die eigenste.
Prallen die Anforderungen einer – immer auch szenisch beziehbaren – Dia-
logizität bei Konstanzes »Martern-Arie« tatsächlich an einer »Meta-Ebene von
Kommunikation« ab, »die den Gesang ins Uneigentliche, Experimentelle hebt«?2
Das Vorspiel, das längste seiner Art, das Mozart je geschrieben, eine Sinfonia
concertante en miniature, scheint der Auskunft genug Handhabe zu verschaffen.
Dennoch – der gewiß nicht nur aus äußeren Gründen, sondern mit Bedacht
musiklos gebliebene Bassa muß dabeistehen und zuhören. Daß der von hier
ausgehende »Druck« für den Theaterpraktiker Mozart allein durch die »Meta-
Ebene«, die mehrmals betonte Priorität der Musik im Sinne der überkommenen
Unterscheidung von Realzeit und musikalischer Zeit sistiert war, erscheint wenig
plausibel – zu oft hat er sie unterlaufen bzw., kurz zuvor u.a. bei der Diskussion
des Idomeneo-Orakels, nicht gelten lassen wollen; und die »geläufige Gurgel der
Mad:selle Cavallieri«3 ließe sich möglicherweise weniger als Entschuldigungs-
grund denn als inspirierender Anlaß in Erwägung ziehen. Etliche Geläufigkeit
war schon vonnöten, um mit konzertierenden Instrumenten in Wettbewerb zu
treten und am Utopicum einer Musik mitzuwirken, welche die vox humana von
der vox instrumentalis nicht mehr zu unterscheiden erlaubt – hierin tatsächlich
»Meta-Ebene«.
Als solche wird sie nicht zuletzt durch den Abstand zum schwächsten Moment
des Bassa definiert; »Martern von allen Arten« hat er soeben der standhaften
Konstanze in einem Wutausbruch angedroht, welcher Osmin zehnmal besser
anstünde. Über diesen Ausbruch erhebt sich die Musik sternenweit, nachdem sie
ihn skandiert hat – »Martern aller Arten, aller Arten« –, und sie »vergißt« ihn, bis
Konstanze zu singen beginnt, welche ihrerseits ihn »verlacht« und dann ebenfalls
vergißt; szenisch gedacht genug Zeit für den Bassa, über seine Entgleisung nachzu-
denken! Wenn sie ihn in grimmig triumphalem C-Dur (»Doch du bist entschlossen«,
Takte 160 ff.) anfaucht und mit »lärme, tobe, wüte« dem Osmin gleichstellt, ahnt
sie wohl, daß er nicht mehr »entschlossen« ist, sofern er es je war.
Derlei Überlegungen müßten angesichts der transzendierenden Höhe der
Musik unangemessen psychologisierend erscheinen, hätte Mozart die Diskrepanz
nicht aufs äußerste zugespitzt zwischen dem auf rasche Reaktion drängenden
Ausbruch und einer Musik, welche sich Zeit nimmt bis hin zum Anschein, sie

2 Martin Geck, Mozart. Eine Biographie, Reinbek 2005, S. 264.


3 Mozart, Briefe und Aufzeichnungen. Gesamtausgabe, Kassel usw. 1963, Band III, S. 163, Brief vom
26. IX. 1781.
Wessen Musik? 49

kehre der Handlung den Rücken. Bassa Selim blamiert sich schon – vor Kon-
stanze wie vor sich selbst –, weil er mit den »Martern von allen Arten«, seinem
Wutgebrüll allein bleibt, d.h. den Dialog an einer Barriere aufprallen läßt und
die Frau, der er grausamen Tod androht, ihn keiner direkten Reaktion würdigt.
Immerhin hätte es in Mozarts Hand gelegen, die Arie mit Konstanzes Einsatz
oder knapp davor beginnen zu lassen – konzertiert wird danach noch genug; auch
die mittlere Lösung eines Melodrams, kurz zuvor von ihm erlebt und erprobt,
hätte den Singspiel-Zuschnitt nicht mehr strapaziert als die übergroße Arie, die
einer ebenfalls großen Arie derselben Sängerin folgt.
So aber wird der Bassa zu schweigen und zuzuhören gezwungen, nicht anders
als Thoas am Schluß von Goethes Iphigenie bei deren »Nicht so, mein König!«;
und wie dort zieht er den Verdacht auf sich, daß er, ohne es zugeben zu können,
sich gern zwingen und die Frau sagen läßt, was er selbst gern sagen würde, nur
jetzt zu sagen nicht imstande ist. So würde Konstanzes Musik, während sie singt,
auch zu der seinigen, würde, Psychologie und Meta-Ebene übereinbringend, zum
Ort einer Begegnung, welche dort, wo er »Martern von allen Arten« androhen
konnte, nicht möglich war.
50

Taktschlag und musikalischer Atem

Daß zu den Bedingungen kompositorischer Arbeit gewisse Sicherheiten hinsicht-


lich der Aufführungsbedingungen gehörten, erscheint uns selbstverständlicher,
als es einstmals war. Haydn, Mozart und Beethoven haben bei ihren Sinfonien
mit sehr unterschiedlichen Konstellationen, Besetzungen etc. vorlieb genommen.
Orchester wie in Paris und London gab es in Wien oder Salzburg nicht, und
nach heutigen Maßstäben war das Konzert, in dem Beethovens Fünfte und Sechste
Sinfonie zum ersten Mal erklangen, ein Inferno; bei der Uraufführung der Eroica
im Lobkowitz-Palais wird es nicht anders gewesen sein.
Hinsichtlich der Realisierung war man also an vorerst nicht einlösbare uto-
pische Potentiale gewöhnt; der Umgang mit instrumentalen Beschränkungen
– weggelassene Töne bei Blechbläsern und Pauken, von der Obergrenze des
Erreichbaren in die tiefere Oktav abkippende Flöten und Oboen, entsprechend
bei Fagotten und tiefen Streichern nach oben verlegte Töne etc. – verrät, daß
man keinen Grund sah, das zu verbergen.
Könnte das nicht auch den betreffen, der das Ganze zusammenhalten mußte,
dessen Funktion noch nicht genau definiert war? Haydn saß in London reprä-
sentationshalber am Cembalo, Partituren wurden selten oder verspätet gedruckt
(bei Beethoven außer Raubdrucken erstmals mit den Orchesterstimmen bei
der Neunten Sinfonie), noch bei der Fünften läßt sich aus Stichnoten in Pausen-
takten der ersten Violinstimme ersehen, daß man gegebenenfalls mit Direktion
vom Konzertmeisterpult aus rechnete; Carl Czerny empfiehlt den Solisten der
Klavierkonzerte, unbegleitete Passagen streng im Tempo zu spielen, um dem
Orchester das Zählen leerer Takte zu erleichtern. Um mehr als Zusammenhalt
konnte es kaum gegangen, von Aufführungskonzeption kaum die Rede sein,
spieltechnische Verantwortungen im engeren Sinne lagen vornehmlich bei den
einzelnen Musikern.
Zweifellos übten jene utopischen Potentiale Druck aus.Von Operndirigenten
wie Weber abgesehen zeigt das Wirken von Habeneck in Paris, Mendelssohn in
Leipzig und später Berlioz, daß besonders Beethovens Sinfonien höhere Standards
des Orchesterspiels erzwangen. Gewiß denken wir arg technikbezogen, wenn wir
den Qualitätsanstieg vornehmlich als Antwort auf Forderungen von seiten der
Werke, als fortschreitend perfektionierte Annäherung an diese verstehen. Denn
mit den neuen Ansprüchen mußten sich auch neue Horizonte der Interpretation
auftun, ergaben sich komplementär zu den neuen Antworten auf Werkanforde-
rungen auch neue, von der Interpretation an die Komposition gestellte Fragen;
u.a. wurde der vordem weitgehend dem Spieler anheimgegebene Parameter
Klangfarbe zunehmend in die Komposition hereingezogen.
So lange bestimmte Defizite der klanglichen Realisierung auf der Hand lagen,
wog sie als Widerpart der musikalischen Erfindung weniger schwer, solange etli-
Taktschlag und musikalischer Atem 51

ches uneingelöst bleiben mußte, brauchte man nicht viel Rücksicht zu nehmen;
etliche Wagnisse der klassischen Musik mögen auch von hierher begründet sein.
Den interpretatorisch bewußten Dirigenten als Inkarnation des dem jeweiligen
Werk inhärenten ästhetischen Subjekts, als auf die Totale der Musik verpflichteten
»Statthalter« (Dahlhaus) haben die Klassiker wohl heraufbeschworen, nicht aber,
wie Mendelssohn, Schumann und Jüngere, vorausgesetzt.
Auch knifflige Passagen widerlegen nicht, daß Brahms-Sinfonien oder Götter-
dämmerung dirigentengemäßere Musik sind als eine Haydn- oder Mozart-Sinfonie.
Nicht wenigeVersündigungen an diesen rühren daher, daß Dirigenten die Reviere
und Grenzen ihrer Zuständigkeit nicht erkennen und sich wichtiger nehmen,
als sie sind; manche historisch befestigte Verlangsamung scheint daher zu rühren,
daß kleinere, aus Koordinationsgründen erforderliche Schlagwerte mit dem in
größeren Einheiten atmenden Puls der Musik verwechselt werden, mithin die
körperliche Aktion die musikalischeVorstellung ins Schlepptau nimmt. Zu solcher,
normalerweise von dieser Vorstellung dominierten Kongruenz indessen drängt
der musikalische Vollzug; also wird einige Identifikation aufs Spiel gesetzt, wenn
Taktschlag und musikalischer Atem auseinandergehalten werden müssen.
Andererseits läßt sich die Problematik nicht auf den Widerstreit von musi-
kalischem Atem in größeren Einheiten und technisch bedingtem Taktieren in
kleineren reduzieren. Das vom Dirigenten repräsentierte ästhetische Subjekt und
das der jeweiligen Musik Gehörige kommen hier nicht voll zur Deckung, das
letztere überfordert jenes vermöge der musikeigenen Pluralität der Ereignisse.
Ebenso wie nur eine Tonart vorgezeichnet werden kann, selbst, wo die Spannung
zwischen zweien die dem jeweiligen Stück spezifisch eigene Tonart darstellt,
kann nur eine Taktart vorgezeichnet sein, auch wenn die Spannung zwischen
zweien den Satz konstituiert.
So im Adagio von Beethovens Vierter Sinfonie.Wenn wir großenteils in Sechs
(= 3 mal 2) dirigieren, halten wir eine kompromißhafte Mitte zwischen dem
vorgeschriebenen, der großbogigen Melodie gehörigen ¾-Takt und den Ein-
achtel-Takten der insistierend gleichmäßigen, gleichgewichtigen Punktierungen;
genaugenommen gibt es den Takt nicht, den wir dirigieren. Jene Gleichmäßigkeit,
massiv hervorgekehrt im Takt 49, will keine die Schweren differenzierende Un-
terordnung innerhalb größerer Takteinheiten erlauben – am ehesten mag man sie
in den Takten 38 ff. finden.Ausgangspunkt solcher Überlappungen bleibt allemal
der Gegensatz der ausgreifenden, immer weiter ausgreifenwollenden Melodie zu
den festhaltenden, Expansion blockierenden Punktierungen – Radikalisierung
dessen, was Beethoven im ersten Satz des Violinkonzertes gestaltete. Knapp vor
der Reprise, in den Takten 60 ff. des Adagio, stellt er es, bevor die Punktierungen
für längere Zeit verschwinden, leise und unversöhnt nebeneinander.
Ob neben- oder übereinander – die beiden Schichten sind nicht kompatibel,
negativ bestätigt durch die auf Konvergenz hinzielenden Triolen der Reprise. Der
Schlag in Achteln ist erst in zweiter Linie der Koordination wegen erforderlich,
in erster Linie der kleinteiligen Unterschicht wegen – hier besteht deutlich
52 Taktschlag und musikalischer Atem

ein Unterschied zu späterer, dirigentengemäßerer Musik. Gewiß gibt es keine


eindeutige Scheidelinie – manche Takte in der 12/8-Passage des Adagios von
Beethovens Neunter Sinfonie unterteilen wir nur der Koordination wegen, und im
Finale von Brahms’ Erster Sinfonie wechseln wir auch musikalisch zwischen Zwei
undVier –, immer wieder begegnen Übergangsfelder oder übereinanderliegende
Schichten wie im Adagio von Beethovens Vierter Sinfonie. Dennoch dürfte es
nicht nur eine pragmatische Entscheidung sein, ob man den Allegro-Hauptsatz
(Allegro vivace) derselben Sinfonie oder das Finale der Siebten in Halben oder
Ganzen dirigiert; daß es in Ganzen »geht«, enthebt uns der Frage nicht, ob es
der Gewichtung der Zählzeiten entspreche, wenn die zweite nicht in Erschei-
nung tritt – Taktierbewegungen sind immer auch Impulsgeber, Stromstöße. Die
Synkopierungen im ersten Satz der Vierten (erstmals Takte 95 ff.) z.B. erfordern
nahezu gleich schwere Halbe (= »Zwei«), der entspannte Auslauf danach (Takte
103–106) Ganze, sofern wir ihn nicht gar als einen einzigen Großtakt begreifen,
in den wir uns taktierend besser nicht einmischen.
Insofern erscheint verfänglich – im Umkehrschluß zur Vermutung, manche
Verlangsamung habe mit der Verwechslung von Schlagart und musikalischem
Atem zu tun –, vorab Tempovorstellungen entscheiden zu lassen, ob man Haydns
oft mit 32stel-Girlanden garnierte Andante-Sätze mit 2/4-Vorzeichnung in Zwei
oder Vier dirigiert, nicht gerechnet die Bedenken, daß jene Girlanden seinerzeit
von weniger, zudem darmbesaiteten Streichinstrumenten eleganter, leichter
absolviert wurden und breit ausknetendes Espressivo der – heute vergessenen
– Ästhetik der Anspielung, Andeutung fremd war.
Eine alte Dirigentenregel besagt, man solle zugunsten der größeren Einheit
entscheiden, wenn man zwischen Ganzen oder Halben, Halben oder Vierteln
etc. schwankt. Hinter ihr steht die Erfahrung, daß Unterteilungen von Musikern
leicht als bevormundend empfunden werden, größere Schläge also auch Ver-
trauenserklärungen darstellen. Die Regel bestätigt sich besonders anhand jener
kleingliedrig-figurativ belebten Alla breve-Takte bei Wagner, welche in langsamen
Halben zu dirigieren Erfahrung, Mut und Disziplin erfordert; allerdings begünstigt
sie den Aspekt des Funktionierens zu sehr und hilft übersehen, daß die Gewich-
tungen der Taktzeiten bei gleichem Tempo, gleicher Taktvorschrift wechseln und
sich im 2/4- ein 4/8-Takt, hinter zwei punktierten Vierteln sechs Achtel verbergen
können etc. Daß wir oft keine Wahl haben, begünstigt die Illusion, alles spräche
für die jeweils getroffene.
Das Thema des Andante con moto in Mozarts Es-Dur-Sinfonie KV 543 atmet
in Zweien, und man sollte es dirigierend dorthin zu bringen versuchen, wäh-
rend die dramatisch synkopierenden Passagen der Takte 30 ff., 96 ff. und 116 ff.
vier Achtel erfordern; am Beginn des 6/8-Andante der g-Moll-Sinfonie KV 550
regieren die Zwei, die widerständigen Takte 20 ff. indessen erfordern Sechs, ohne
die man bei den Zweiunddreißigsteln der Takte 97 oder 104 der Koordination
wegen kaum auskommt; unter den 101 Dreivierteltakten des Andante cantabile
der »Jupiter«-Sinfonie KV 550 befinden sich 42 nicht als solche notierte Zwei-
Taktschlag und musikalischer Atem 53

vierteltakte, und wie immer man mehrmals am großen Atem der Drei festhalten
und koordinationshalber Sechs dirigieren muß – daß die Synkopierungen und
die duolisch-triolisch gegeneinander hechelnden Nachschläge der Takte 19 ff.
bzw. 48 ff. in Achteln pulsieren, steht außer Frage.
Wohl gehört zu den Verpflichtungen des dirigierenden »Statthalters«, für alles
und jedes in der Musik verantwortlich sein; zu ihnen gehört indessen auch, zu
wissen, was sich ihm entzieht.
54

Zum Verhältnis von Intention und


Realisierung bei Beethoven

In einer Zeit mit strengen Maßstäben und hohen Standards der musikalischen
Realisierung, zumal im Vergleich mit der Beethovenzeit, könnte theoretisch
grundsätzliche Beschäftigung mit ihr wie ein typischer Fall des Hegelschen
Fluges der Eule der Minerva erscheinen, der erst in der Dämmerung, also zu
spät beginnt. Daß Beethoven seit seinem Tode nahezu unangefochten den ersten
Platz unter den Lieblingen des Konzertpublikums hält, könnte diesen Eindruck
bestätigen. Dessen Widerlegung, zum Beispiel anhand des Hinweises darauf, auf
wie verschiedene Weisen Beethoven dargestellt und zum Begriff geworden ist,
müßte als abgegriffene Rhetorik erscheinen, wenn es nicht in den Fragen der
Interpretation um die Verbindung von Theorie und Praxis so schlecht bestellt
wäre. Die Realisierung des schriftlich fixierten Musikwerkes ist Nachschöpfung
und in einem radikaleren Sinne als alle andere künstlerische Praxis, mit allen
Tugenden und Grenzen des Handwerks; viel unsaubere, mit der vermeintlichen
Irrationalität des »Gefühls« usw. unkontrolliert umgehende Musikästhetik hat
dieser Praxis die Verhärtung gegenüber der Theorie leicht gemacht, beginnend
bei der Berufung auf das »de gustibus non est disputandum«, welches geflissentlich
übersieht, daß auch der gusto historisch bedingt ist, um so eher, desto mehr er sich
sträubt, es zur Kenntnis zu nehmen. Daß mancherlei bedeutende Interpretation
der Vergangenheit von Prämissen und Verabsolutierungen wie zum Beispiel dem
»Ewigkeitswert« großer Kunst oder ihrer organischen Naturwüchsigkeit lebte
und mit ihnen blühte, die sich im Lichte der historischen Dialektik als brüchig
erweisen, widerlegt ihre Leistungen nicht, sondern beweist zunächst, daß hier, wie
auch in anderen Bereichen der Kunst, Mißverständnisse produktiv wirken können.
Sofern die musikalische Realisierung nicht gar, zum Beispiel in Furtwänglers Äu-
ßerungen,1 ihren Gegensatz zu theoretischer Reflexion dogmatisierte, hat sie eine
Zuständigkeit der Theorie wenigstens in Teilgebieten wie der Aufführungspraxis
barocker und früherer Musik zugelassen, Randgebiete nach ihrem Anteil an den
Konzertprogrammen. Aber anhand des in diesen Programmen zentral stehenden
Beethoven erweist sich, daß Interpretation, eben wegen ihres hohen Standards,
der kritischen Reflexion dringend bedarf. Gerade sein Werk überführt eine Hy-
bris, die sich im reichlichen Umgang mit Begriffen wie Werktreue, Perfektion,
Vollkommenheit usw. verrät oder zumindest mitenthalten ist als Vorstellung, die

1 Vgl. hierzu P. Gülke, Wilhelm Furtwängler – Tragik und Größe. In: Neue Zeitschrift für Musik,
Jg. 125, 1964, H. 11, S. 476–480; ders., Die Verjährung der Meisterwerke – Überlegungen zu
einer Theorie der musikalischen Interpretation. In: Neue Zeitschrift für Musik, Jg. 127, 1966, H. 1,
S. 6–12, im vorliegenden Band S. 181–192.
Zum Verhältnis von Intention und Realisierung bei Beethoven 55

Interpretation, da nun technisch hoch befähigt, könnte endlich das Werk voll
erreichen, voll erschließen und brauchte keinen Rest mehr zu lassen. Dies ent-
fernt sich weit von der Beethovenschen Intention eben in dem Augenblick, da
sie ihr in der Materialisation zu genügen meint. Durchaus nicht alles in seiner
Musik Niedergelegte läßt sich positiv in Klang realisieren. Überbrückungen,
Verknüpfungen von Auseinanderliegendem, konstruktives Zusammendenken von
unvereinbar scheinenden Kontrasten gehören zu ihrer Rezeption, geradenwegs
entgegen einem realisierenden Positivismus, der offenen Stellen nicht traut und
sich oft in dem Bestreben verrät, Kontinuität, klangliche Bindung und elastische
oder dramatisierendeVermittlungen auch dort herzustellen, wo diese nicht gemeint
waren. Es gibt bei Beethoven kein Moment der musikalischen Gestaltung, das
nicht auch negierend wahrgenommen würde, und dies betrifft auch die Reali-
sierung als Ganzes: Nicht im philosophischen Sinne rein instrumental, nicht als
nur vollstreckende Instanz erscheint die Sphäre der Realisierung bei Beethoven,
sondern steht in produktiver Spannung zum Werk insofern, als die Art und Weise
und das Ausmaß, in denen das Intendierte sich in Klang umsetzen läßt, selbst zum
Bestandteil der Komposition werden; ohne ein Moment äußerster Anstrengung
zum Beispiel ist das Pathos des Freudefinales nicht denkbar und erreichbar.
Diesen Gesichtspunkt am Verhältnis des von Beethoven Gewollten und zu
seiner Zeit musizierend Erreichten sowie anhand des Textes seiner Werke darzu-
stellen, ist im besonderen das Ziel der nachfolgenden Untersuchung. Musikalische
Interpretation vermittelt zwischen den Anweisungen des Komponisten und den
gegebenen Möglichkeiten ihrer Ausführung. Diese Anweisungen erscheinen
damit ebensosehr als Teil der Werkstruktur als eines endgültig Fixierten, wie
sie andererseits, erst in der Verwirklichung sich erfüllend, kaum umhin können,
deren Möglichkeiten einzukalkulieren. Der geschichtliche Wandel hat in dem
kommunizierenden System von Anweisung und Ausführung den zweiten Partner
ständig verändert – durch verbesserte Instrumente, neue Klangcharaktere, größere
Orchester und größere Säle, während der andere in Kategorien wie Werktreue ka-
nonisierend festgeschrieben war ohne Prüfung der Frage, auf welche Weise er durch
seine Stellung in jenem kommunizierenden System bestimmt sei, inwieweit zum
Beispiel in der Genauigkeit der Bezeichnungen, wie etwa vergleichsweise in den
pantomimischen Übertreibungen des Dirigenten Beethoven, eine gewisse Über-
deutlichkeit enthalten sei, die von den schwerfälligen, technisch unzulänglichen
Apparaten bewußt viel verlangt, um wenigstens ein Minimum zu erreichen.
Die neue Autarkie des bürgerlich freien Künstlers bekundet sich nicht zuletzt
im Maß der Forderungen, die Beethoven stellt, an Musiker sowohl als auch an
Hörer. Kaum je war er, wie zumeist Haydn und Mozart, genötigt, innerhalb
konkret bestimmter Verhältnisse für bestimmte Anlässe zu schreiben und von
bestimmten Gegebenheiten komponierend wenigstens auszugehen; die drei
letzten Mozartsinfonien erscheinen wie Ausnahmen von dieser Regel. Mit allen
bekannten Risiken versucht Beethoven das Umgekehrte: sich die der Darstel-
lung seiner Werke adäquaten Verhältnisse zu schaffen, eine Bemühung, die in
56 Zum Verhältnis von Intention und Realisierung bei Beethoven

allen Bereichen, gerade auch in ihren berühmten Fehlschlägen, die Kennzeichen


einer Überforderung trägt. Doch nur so konnte seine Musik sich, darin aktiv
und Kompromissen abgeneigt wie keine vor ihr, ihre Interpreten, ihre Form der
Darbietung und ihr Auditorium schaffen. Diese Überforderungen beginnen schon
bei den Dimensionen der Werke: In der Spieldauer der Eroica hatten mindestens
zwei der bisher gewohnten Sinfonien Platz; im ersten Rasumowsky-Quartett folgen
gleich zwei gewöhnlich lange Sätze aufeinander. Die kritische Presse, die diese
Werke zunächst hatten, ist weniger mit besserwisserischem Amusement darob zu
lesen, wie die Zeitgenossen an der Genialität dieser Musik vorbeihören konnten,
sondern ernst zu nehmen als Zeugnis für das Maß der Überforderung, für die
Herausforderung aller herkömmlichen Begriffe von Musik und ihrer Genres. Für
das kammermusikalische zum Beispiel war mit op. 59 ein zuvor schon eingeleite-
ter Funktionswandel besiegelt: Als Liebhabermusik im geselligen Kreise konnten
– mit Ausnahmen wie beim Fürsten Galitzin in Petersburg – Beethovensche
Streichquartette kaum noch musiziert werden; mehr und mehr erklangen sie in
öffentlichen Konzerten, oft in erstaunlich dichter Folge, doch mit einer meist
kleinen Zuhörerschaft (20–30) noch immer privaten Charakters, wie zum Beispiel
dem über die Wiener Musikereignisse des Winters 1815/16 genau berichtenden
Tagebuch des Musikers Michael Frey zu entnehmen ist.2
Akademien waren des großen Aufwandes wegen nur selten möglich, und
dies wiederum zwang dazu, sie voll zu nutzen und in ihnen ein Quantum zu
absolvieren, das angesichts der Neuartigkeit der Beethovenschen Musik und
der Verständnisschwierigkeiten, denen sie begegnete, geradezu selbstmörderisch
erscheint. Die Sinfonien 1 bis 4 an einem Abend im Februar 1807 oder gar die
von Reichardt geschilderten dreieinhalb Stunden im ungeheizten Redouten-
saal am 22. Dezember 1808, während derer u.a. die Fünfte und Sechste Sinfonie
und die Chorphantasie uraufgeführt wurden, stellten Konstellationen dar, die der
wünschenswerten Rezeption der Werke kaum günstig waren, auch wenn man
unterstellt, daß bei Wiederholungen die Interessenten die Sinfonien inzwischen
wenigstens in Bearbeitungen hatten kennenlernen können.
Die größeren Dimensionen der Sinfonien zum Beispiel bedingen größere
Dimensionen der Orchester.3 »Ich verlange für meine Instrumentalwerke nur ein
Orchester von ungefähr 60 guten Musikern, indem ich überzeugt bin, daß nur
diese Zahl die schnell wechselnden Schattierungen imVortrage richtig geben kann«,
bezeugt Schindler als Ausspruch Beethovens,4 übrigens (vielleicht auch ein Fall
Schindlerscher Rückprojektion) als Abgrenzung nach oben hin, gegen die »Lärm-

2 Vgl. J. Schmidt-Görg, Das Wiener Tagebuch des Hofkapellmeisters M. Frey In: Beethoven-Jahrbuch
für 1965/68, S. 129–204.
3 Hierzu eingehender P. Gülke, Beethovens Bestimmung des Sinfonischen als Ausdruck seines
Realismus, in: Bericht über den Internationalen Beethoven-Kongreß 10.–12. Dezember 1970 in Berlin,
Berlin 1971, S. 349 ff., auch in: ders., »… immer das Ganze vor Augen«. Studien zu Beethoven,
Stuttgart/Weimar/Kassel 2000, S. 37 ff.
4 Zitiert nach: F. Kerst, Beethoven im eigenen Wort, Leipzig 1904, S. 71.
Zum Verhältnis von Intention und Realisierung bei Beethoven 57

musik« größerer Besetzungen, ein Gesichtspunkt, der eher aus den Erfahrungen mit
einer allmählich sich entfaltenden Orchesterkultur stammt, die Beethoven nicht
mehr erlebte, als aus seinen eigenen: Bei ihm waren die Besetzung und die Qualität
der Musiker generell so dürftig, daß jedeVerstärkung willkommen sein mußte und
die Problematik zu großer Besetzungen – mit Ausnahme in der Frage der Tem-
ponahme – kaum in Reichweite kam. Für die Akademie, die die Uraufführung
der Siebenten und Achten Sinfonie brachte, verlangte Beethoven vom Erzherzog als
– offenbar für möglich angesehenes – Minimum eine Besetzung mit zum Beispiel
4 plus 4 Geigen, was der damaligen Besetzung der Hofkapelle entsprach, um dann
mit 18 plus 18 zu spielen.5 Die ursprüngliche Forderung Beethovens zeigt, auch
wenn von vornherein eine anderweitige Verstärkung einkalkuliert war, wie sehr
zuweilen selbst ihn die reale Lage zur Bescheidenheit anhielt, wie weit er also
mit einem Verlangen nach sechzig Musikern über alles Übliche hinausging. Diese
Differenz bezeugt ebenso wie die außerordentlich große Unterschiedlichkeit in
der Besetzung der Konzerte nicht nur die Nöte und Risiken einer Situation, in der
das Orchester jeweils ad hoc zusammengestellt werden mußte, sie beweist darüber
hinaus, daß neue verbindliche Normen noch gefunden werden mußten.
Kaum weniger Unmögliches begehrt Beethoven oft auf dem Gebiete der
Instrumentaltechnik. Die verächtliche Wertung von Schuppanzighs »elender
Geige …, wenn der Geist zu mir spricht« hat den Ton eines Herrschaftsanspruchs,
der nicht mit sich rechten läßt und den Instrumentalisten Aufgaben stellt – den
Pianisten etwa in op. 106, den Streichern in fast allen Quartetten seit op. 59, den
Geigern insbesondere im Violinkonzert, den Hornisten in der Leonorenarie oder in
der Neunten Sinfonie usw. – deren makellose Meisterung auch heute keineswegs
selbstverständlich ist, nicht zu reden von den Anforderungen an die Sänger zum
Beispiel in der Missa solemnis und der Neunten Sinfonie, an deren Maß sich auch
dadurch kaum etwas ändert, daß die derzeitige Wiener Stimmung, welche freilich
als hoch galt, dennoch mindestens einen Halbton unter der heutigen lag. Die zweite
»Leonoren«-Ouvertüre mußte wegen der Schwierigkeiten für die Holzbläser abge-
setzt werden,6 und noch der sorgfältig einstudierende Habeneck ließ zu Beginn
des dritten Satzes der Fünften Sinfonie die Kontrabässe heraus.7 Über die technische
Beherrschung der Instrumente hinausgehend betreffen Beethovens Forderungen
deren Materialität selbst. Daß er auch hier keine Beschränkungen duldete, be-
zeugt mit besonderer Kompetenz Czerny anhand des für Beethoven zentralen
Instrumentes: »… die damaligen noch äußerst schwachen und unvollkommenen
Fortepiano« hielten »seinen gigantischen Vortrag oft noch gar nicht aus.«8

5 A. Carse, The Orchestra from Beethoven to Berlioz, Cambridge 1948, S. 221.


6 I. Moscheles, The Life of Beethoven by Schindler, Bd. 1, London 1841, S. 93–94.
7 Vgl. H. Berlioz, Memoiren mit der Beschreibung seiner Reisen in Italien, Deutschland, Rußland und
England 1803–1865, Leipzig 1967 (RUB), S. 203.
8 C. Czerny, Über den richtigen Vortrag der sämtlichen Beethovenschen Klavierwerke, hrsg. u. kommentiert
v. P. Badura-Skoda, Wien 1963, S. 22.
58 Zum Verhältnis von Intention und Realisierung bei Beethoven

Schon die technischen Ansprüche hätten eine Gründlichkeit der Beschäftigung


mit Beethovens Kompositionen erheischt, wie sie bestenfalls von Vereinigungen
wie Schuppanzighs Quartett erwartet werden konnte. Bezieht man nun die Um-
stände ins Bild ein, unter denen seine Musik für Orchesterkonzerte oder in der
Oper erarbeitet (oder nicht erarbeitet) wurde, so wird geradezu auf erschreckende
Weise deutlich, wieviel an seinen Partituren dazu verurteilt war, Utopie zu bleiben.
Ein festes Konzert-Orchester war in Wien nicht vorhanden; die Proben, die zur
Bewältigung der neuartigen Probleme wie zur Formung eines Ensembles aus ad
hoc verpflichteten Theater- und Militärmusikern besonders in den Bläsern, einigen
Professionellen an den ersten Streichpulten und unverhältnismäßig vielen Lieb-
habermusikern nötig gewesen wären, waren weder üblich noch möglich. (Bei der
Uraufführung der Siebenten und Achten Sinfonie waren von den 18 erstenViolinisten
7, von den 18 zweiten 6 Berufsmusiker.9) Von jener Praxis hat sich der Terminus
»Generalprobe« erhalten, der die Probe vor der Aufführung als die allgemeine, das
heißt diejenige bezeichnet, an der alle Mitwirkenden, zum ersten und einzigen
Mal, beteiligt sind. Haydn bestand in einem Brief aus dem Jahre 1789 auf zwei
Proben als auf einer Besonderheit;10 für die Akademie, in der Beethoven u.a. die
Fünfte und Sechste Sinfonie und die Chorphantasie vorstellte, war nach Reichardts
Zeugnis11 nicht eine einzige volle Probe möglich gewesen, was mit dem berühmten
Zusammenbruch in der Chorphantasie und der zornigen Anweisung Beethovens,
nochmals von vorn zu beginnen, noch durchaus milde quittiert erscheint; zur
Uraufführung der Neunten Sinfonie wurden zwei Orchesterproben gemacht – und
all dies stets mit geschriebenen und entsprechend fehlerhaften Stimmen.
Maßstäbe für den musikalischen Vortrag, wie sie im solistischen Bereich längst
bezeugt sind (seit Mattheson in allen großen Lehren des 18. Jahrhunderts), wurden
auf Orchestermusik selten übertragen, und offenbar empfand man dies lange Zeit
hindurch kaum als Mangel.Wie anders wäre zu verstehen, daß man die Aufgabe
eines Kapellmeisters, der allein dies hätte durchsetzen können, ausschließlich auf
Koordination im äußerlichsten Sinne beschränkt sah. In Solokonzerten fehlte
der Dirigent ganz, als Ausnahme hatten Beethoven und Ries im Jahre 1804 gute
Erfahrungen damit gemacht, daß Beethoven das Orchester leitete; die Praxis der
dirigentenlosen Begleitung spiegelt die gegenüber Sinfonien sehr viel einfachere
Faktur des Orchestersatzes in Solokonzerten ebenso wider wie Czernys Empfeh-
lung an die Klaviersolisten, sie mögen in unbegleiteten, komplizierten Stellen das
Tempo strikt halten,12 offensichtlich, um die durchzählenden Orchestermusiker
nicht zu verwirren. Am Ende seiner Rezension der Fünften Sinfonie riet E. T. A.

9 Carse, a.a.O., S. 261.


10 Vgl. Ch.-H. Mahling, Mozart und die Orchesterpraxis seiner Zeit. In: Mozart-Jahrbuch 1967,
S. 229–243, Anm. 66.
11 J. F. Reichardt, Vertraute Briefe, geschrieben auf einer Reise nach Wien und den österreichischen Staaten
zu Ende des Jahres 1808 und zu Anfang 1809, Bd. 1, Amsterdam 1810, S. 206.
12 Czerny, a.a.O., S. 97 ff.
Zum Verhältnis von Intention und Realisierung bei Beethoven 59

Hoffmann dem Dirigenten angesichts der besonderen Schwierigkeiten dieses


Werkes, »… nicht …, wie es oft zu geschehen pflegt, die erste Violine stärker, als
es sein sollte, mitzugeigen, als vielmehr das Orchester beständig im Auge und
in der Hand zu behalten«.13 Bis zu Gassner und zu Berlioz, der die Direktion
eines in einem Tempo durchlaufenden Sinfoniesatzes ein »Kinderspiel« nennt,14
reicht die Beschränkung des Kapellmeisters auf eine Aufgabenstellung, wie sie
für Beethovens Zeit u.a. der Tadel des erwähnten Michael Frey bezeugt: »Sie
machten eine Symphonie von Beethoven aus D-Dur, die sie gut executierten,
nur störte der Anblick eines Taktschlägers, der in der Mitte stand und ziemlich
mühsam von Anfang bis zu Ende der Symphonie seinen Takt (…)nisch wedelte,
auch ohne ihn wäre die Symphonie gegangen.«15
Beethoven selbst nun war es, der über diese »Taktschläger«-Funktion hinaus-
zugelangen suchte, verstand sich jedoch in einer Ausschließlichkeit als Inspirator,
die alle Kontrolle und Überwachung des Apparates hintanstellte, ja diesen in
überraschenden Subjektivitäten, besonders der Temponahme, fast ignorierte,
wie besonders von seiner Direktion des Fidelio bekannt, daß dies fast bruchlos
in jene Mitwirkung des völlig Ertaubten übergeht, der, da er den Aufführungen
seine persönliche Autorisation geben will, diese mehr störte als beförderte. Die
Uraufführung der Neunten hatte auf diese Weise drei Dirigenten: Umlauf, der für
den Chor verantwortlich war, Schuppanzigh, auf den das Orchester schaute, und
zwischen beiden, erhöht stehend, Beethoven. Die jede surrealistische Phantasie
beschämende Szenerie, wie der Taube mit schamanenhaft pantomimischer Ge-
stik seine Intentionen zu verdeutlichen sucht, dabei den ohnehin nur optischen
Kontakt zur Aufführung verliert und dann also Musik dirigiert, die gar nicht
erklingt, läßt in einer hier grauenhaft widersinnigen, ebenso tragischen wie
beinahe lächerlichen Spaltung eben jene Funktionen erkennen, die das Konzert-
leben dem Dirigenten übertrug, und die allmählich, in Deutschland mit Weber,
Mendelssohn und Wagner, in Frankreich mit Habeneck und Berlioz beginnend,
sein Bild prägen sollten: Die in effigie-Stellvertretung des Autors als des die
Musik Inspirierenden und die Erziehung des Ensembles zu einem Niveau, das
dieser Inspiration Genüge leistet. Dies hat der taube Beethoven gleichsam nega-
tiv definiert, da er, unfreiwillig und beklemmend, den Zwiespalt zwischen den
Intentionen des Komponisten und dem in der Ausführung Erreichbaren sichtbar
machte, als dessen Bewältigung sich der Beruf des Dirigenten profilierte – und,
wie bekannt, besonders bei Habeneck und Wagner, in der Auseinandersetzung
mit seinen Sinfonien. In Beethovens zahlreichen, durch Kenner wie Reichardt als
voll berechtigt bestätigten Klagen16 verdient eine Wendung wie »Mir vergeht alle

13 E. T. A. Hoffmann, Musikalische Novellen und Aufsätze, Regensburg 1919, S. 40.


14 H. Berlioz/R. Strauss, Instrumentationslehre, T. 2, Leipzig 1905, S. 439.
15 Zitiert nach: Schmidt-Görg, a.a.O., S. 164.
16 Brief an Sebastian Mayer vom 10.4.1806. In: Beethoven, Briefwechsel. Gesamtausgabe, München
1996, Bd. 1, S. 282; außerdem Brief an Breitkopf & Härtel vom 7.1.1809, ebd., Bd. 2, S. 37 ff.
60 Zum Verhältnis von Intention und Realisierung bei Beethoven

Lust, weiter etwas zu schreiben, wenn ich’s so hören soll!«17 sehr wörtlich genom-
men zu werden. Im sinfonischen Bereich der großen Formen fehlte Beethoven
weitestgehend die Praxis als das aufs Komponieren zurückwirkende Korrektiv, als
Partner der musikalischen Imagination, wie aus der Kammermusik, zum Beispiel
anhand der Temporevisionen in op. 127, durchaus bekannt. Die stufenweise fort-
gehende Verifizierung und Bestätigung durch die Praxis, die in exemplarischer
Weise die Entwicklung der Haydnschen Sinfonien begleitete und inspirierte,
fehlt Beethoven als der wohl schmerzlichste Preis, den er für seine Freiheit zu
erlegen hatte. Die Praxis, mit der er es zu tun hatte, besaß so wenig Kompetenz,
ihm Möglichkeiten oder auch Grenzen musikalischer Realisierung zu zeigen,
daß er auch ohne Taubheit ihre Auskünfte kaum hätte ernst nehmen können.
Es erscheint als Tragik besonderer Art, daß er gerade als der Sinfoniker, der neue
Dimensionen der Kommunikation mit dem Hörer erschloß,18 auf zuallermeist
fragwürdige Formen der Vermittlung und damit darauf angewiesen war, daß die
Gewalt seiner Botschaft über die Mängel ihrer Darstellung triumphiere.
Knapp ein Jahr nach Beethovens Tode schlug mit dem ersten Konzert des
Conservatoire-Orchesters unter Habeneck am 8. März 1828 die Geburtsstunde
der modernen Orchesterkultur mit einer sorgfältig, in vielen Proben vorbereiteten
Aufführung der Eroica. Dieser folgte bald, mit ungeheuerster, u.a. von Berlioz
eindringlich beschriebenen Wirkung19, die Fünfte Sinfonie. Der große Qualitäts-
sprung, in dem sich hiermit die Beethovensche Sinfonie die ihr angemessene
Darstellung erzwang, wird u.a. durch Mendelssohn bestätigt, welcher nach den
ihm geläufigen Maßstäben schon nach zwei Proben seine Sommernachtstraum-
Ouvertüre aufführungsreif fand, Habeneck jedoch erst nach der siebenten Probe.20
Nicht zuletzt in der Schnelligkeit ihrer Wirkung gleicht Habenecks Tat einem
revolutionären Durchbruch. Ebenso die Arbeit des seit 1842 in Wien tätigen
Nicolai, den Berlioz zu den bedeutendsten Dirigenten zählte21, als auch die
1844 erschienene Schrift Dirigent und Ripienist von F. Gassner spiegeln die neuen
Maßstäbe einer Orchesterarbeit bereits als selbstverständlich gültig wider, kraft
deren die Konzertpraxis sich Beethovenschen Intentionen zu nähern vermag,
was aber auch heißt, daß wichtige Fragen der Interpretation sich nun erstmalig
stellen, wie zum Beispiel die von Gassner und Wagner geführten Diskussionen
um die in Deutschland zumeist zu rasch genommenen Tempi zeigen, für die
Wagner besonders Mendelssohn verantwortlich machte.22
In der Kammermusik gab es eine solche tragische Verspätung der Praxis nicht,
trotz der Kühnheiten des Vorangehens, die zumal seit op. 59 immer wieder auf

17 Ebd., S. 93.
18 Hierzu die unter Anm. 3 genannte Arbeit.
19 Berlioz, a.a.O., S. 90–91.
20 G. Schünemann, Geschichte des Dirigierens, Leipzig 1913, S. 306.
21 Berlioz, a.a.O., S. 361.
22 Schünemann, a.a.O., S. 260.
Zum Verhältnis von Intention und Realisierung bei Beethoven 61

Widerspruch und Kritik stießen. Deutlich genug zeigen die Konversationshefte


für die zwanziger Jahre, daß noch immer Beethovens frühe Kammermusik
seine wirklich beliebte war. Eine nahezu problematische Differenz ergibt sich
zwischen dem, was er bei den Orchestern hinnehmen mußte, und dem, was er
im solistischen Spiel verlangte. Mangelnde Sorgfalt ahndete er unnachsichtig, bis
zuletzt, wie die Erzählungen des beim Quartettspiel alle Einzelheiten von der
Bogenführung ablesenden Beethoven belegen, und für Nachlässigkeiten setzt
er, beispielsweise im Zusammenhang mit op. 127, alte Freundschaften aufs Spiel.
Musikalische Fragen stehen technischen grundsätzlich voran: »Wenn ich in einer
Passage etwas verfehlte«, berichtet Ries, »oder Noten und Sprünge, die er öfter
recht herausgehoben haben wollte, falsch anschlug, sagte er selten etwas; allein
wenn ich am Ausdrucke, an Crescendo’s usw. oder am Charakter des Stückes
etwas mangeln ließ, wurde er aufgebracht, weil, wie er sagte, das Erstere Zufall,
das Andere Mangel an Kenntnis, an Gefühl, oder an Achtsamkeit sei.« Zuvor
erwähnte Ries, daß er das Molto Adagio am Schluß der Variationen op. 34 sieb-
zehnmal wiederholen mußte: »Er war mit dem Ausdrucke in der kleinen Kadenz
immer noch nicht zufrieden, obschon ich glaubte, sie ebenso gut zu spielen, wie
er.«23 In den Beschreibungen des Pianisten Beethoven mischen sich in charakte-
ristischer Weise Bewunderung seiner musikalischen und technischen Leistungen
mit dem Erstaunen, wenn nicht Befremden darüber, daß er für die von anderen
geforderte Disziplin des Interpreten kein Beispiel gab. »In der Geschwindigkeit
der Scalen Doppeltriller, Sprünge, etc. kam ihm keiner gleich – auch Hummel
nicht«, berichtet Czerny, und später: »… Beethovens Vortrag des Adagio und des
Legato im gebundenen Styl übte auf jeden Zuhörer einen beynahe zauberhaften
Eindruck und ist, soviel ich weiß, noch von niemanden übertroffen worden.«
Aber »sein Spiel war weniger gelungen beym Vortrag seiner bereits gestochenen
Compositionen, … da er sich nie die Geduld und Zeit nahm, etwas wieder zu
exercieren, so hing das Gelingen meistens vom Zufall und Laune ab«.24 Hier
wäre Czernys ebenso genaue wie ein wenig subalterne Kritik zumindest um die
Begründung zu ergänzen, daß dem auf Präzision der Ausführung verpflichteten
Pianisten die subjektiv ausfahrende Phantasie des großen musikalischen Erfinders
in die Quere kam und Beethoven keineswegs gesonnen war, beides säuberlich
auseinanderzuhalten. Nicht zufällig war er am eindrucksvollsten dort, wo beides
zusammenfiel – in der freien Phantasie. Alle meist ekstatischen Beschreibungen
des improvisierenden Beethoven sind sich darin einig, daß, um eine zu zitieren,
»der, der ihn nicht in freier Fantasie hat hören können, die ganze Tiefe und
Gewalt seines Genius nur unvollkommen kennt«.25

23 Zitiert nach: A.G. Huber, Ludwig van Beethoven, seine Schüler und Interpreten,Wien/Zürich 1953,
S. 17.
24 Czerny, a.a.O., S. 22.
25 Zitiert nach: P. Mies, …quasi una fantasia. In: Colloquium amicorum, J. Schmidt-Görg zum 70. Ge-
burtstag, Bonn 1967, S. 243.
62 Zum Verhältnis von Intention und Realisierung bei Beethoven

Der zumal als Lehrer um Feinheiten des Ausdrucks, der Deklamation usw.
mit äußerster Akribie bemühte Beethoven versteht sich offensichtlich auch als
Verteidiger gefährdeter Traditionen und verdient als solcher besondere Aufmerk-
samkeit, da seither die zunehmend genaue Fixierung aller Details eine Reihe von
Selbstverständlichkeiten der Interpretation hat überflüssig werden und allmählich
in Vergessenheit geraten lassen. Zu diesen gehören als (wiewohl wichtiges) De-
tail zum Beispiel das auch ohne ausdrücklichen Hinweis gemeinte staccato bei
Tonrepetitionen26, die zeitgenössische Bogenstrichpraxis oder die Ausführung
von dichten Sforzatoketten als stufenweise akzentuiertes Crescendo, wie aus
nachfolgender Zurücknahme des erreichten Fortegrades oder aus Bearbeitungen
des gleichen Werkes leicht ersichtlich, doch oft ignoriert;27 den größten Anteil an
den verlorenen Selbstverständlichkeiten jedoch haben metrische Fragen, von der
Artikulation der einzelnen Motive bis zur Wahrnehmung metrischer Großtakte,
welche Beethoven zuweilen – wie mit »ritmo di tre battute« in der Neunten Sinfonie
– ausdrücklich angezeigt, mit deren Modifizierung er jedoch auch anderwärts
sehr differenziert gearbeitet hat. Die heute herrschende Ignoranz in diesen Fragen
ist durch einen Positivismus der Interpretation, der sich mit der Realisierung
des Textes schon der Musik mächtig meint, sehr begünstigt worden und hat
ein beträchtliches, durch viele namhafte Interpreten vermehrtes Schuldkonto
aufgehäuft.28 »Ohne die Kenntnis der Prosodie …«, so Beethoven zu Schindler,
»… ist beim Schüler nichts zu erreichen, denn auf dieser Kenntnis beruht die
Kunst der richtigen Accentuation und Unterscheidung von Längen und Kürzen
… Die richtige Deklamation der Wort-Poesie dient dabei als Analogie.«29 Hier
liegt das Feld, auf dem die Praxis am allerdringendsten der Hilfestellung durch
die Theorie bedarf.30
Eine Einzelheit wie der Zusatz »ritmo di tre battute« verrät etwas vomVerhältnis
des Beethovenschen Werkes zu den Traditionen der musikalischen Ausführung.
Deren vielfältige Regeln, sei es in der Phrasierung, sei es in den Appoggiaturen,
wie sie die Schulen des 18. Jahrhunderts fixiert hatten (immerhin ist ein Werk
wie L. Mozarts Violinschule noch 1789 neu aufgelegt worden), verlieren eben
an Verbindlichkeit, nicht zuletzt, weil neukomponierte Musik, und gerade auch
diejenige Beethovens, sich in wichtigen Teilen nicht mehr mit ihren Normativen
verträgt. So zeigt sich Beethoven generell wenig geneigt, sich auf sie zu verlas-
sen. Also muß er, gerade im Bereich der herkömmlichen Reglements, genauer
notieren – dies ist ein zweiter Grund für seinen Genauigkeitsfanatismus, neben

26 Vgl. P. Mies, Einige allgemeine und spezielle Beispiele zu Beethovens Notation. In: Beethoven-
Jahrbuch für 1965/68, S. 215–224.
27 N. Graudan, Das Sforzato bei Beethoven. In: Beethoven-Jahrbuch 1965/69, S. 225–242.
28 Vgl. P. Benary, Rhythmik und Metrik – Eine praktische Anleitung, Köln 1967.
29 Zitiert nach: A.G. Huber, Beethovenstudien, Zürich 1961, darin: Beethovens Anmerkungen zu
einer Auswahl von Cramer-Etüden, S. 1.
30 H. Goldschmidt, Beethovens Anweisungen zum Spiel der Cramer-Etüden. In: Bericht über den
Internationalen Beethoven-Kongreß 10.–12. Dezember 1970 in Berlin, Berlin 1971, S. 545 ff.
Zum Verhältnis von Intention und Realisierung bei Beethoven 63

der Sicherung von Texten, die er in höherem Maße als Komponisten vor ihm
der Nachwelt als Guthaben überlassen muß.
Nicht durchweg, wie zum Beispiel die offenbar noch gültige staccato-Regel
bei Tonrepetitionen oder einzelne Appoggiaturen (wie zum Beispiel selten be-
folgte im Baßsolo der Neunten) zeigen, gibt Beethoven solche Traditionen auf,
doch bemüht er sich, gerade in der Artikulation und in der Bezeichnung der
Längenwerte,31 um Verdeutlichungen, die zuweilen in Anbetracht der Möglich-
keiten ihrer Realisierung nahezu überflüssig oder widersprüchlich erscheinen.
Den groben Schematismus der halb das Tempo und halb den Charakter bestim-
menden italienischen Satzbezeichnungen hält er schon vor Mälzes Erfindung
für überholt.32 Zwischen seiner Absicht, deutsche Bezeichnungen einzuführen
und dem üblichen Gebrauch kommt es zu einem Kompromiß in einer Vielzahl
detaillierender Zusätze, die den bislang bestehenden Abstand zwischen dem
Schematismus der Benennungen und der Vielfalt der darunter subsumierten
Musik wesentlich verringern. Entsprechend bringt Beethoven der Entwicklung
des Metronoms größtes Interesse entgegen und hat bei dem Versuch der Tem-
pofestlegung alle Mühe damit, seine subjektiv wechselnde Auffassung mit der
Notwendigkeit einer endgültig verbindlichen Fixierung in Einklang zu bringen.
Dabei schwanken seine Angaben, wie zum Beispiel das Tempo des ersten Satzes
der Neunten, zwischen  = 120 und  = 88 in einem nicht nachvollziehbaren
Maße; mehrmals verspricht er den Verlegern die Zahlen, um dann doch wieder
zu zögern; die Festlegung stellt sich, mit Mißverständnissen um die zugrunde
liegenden Werte und mit Auseinandersetzungen über Schwankungen in den
Konversationsheften, zuweilen wie mühevolle Arbeit dar.33 Nicht weniger genau
nimmt Beethoven das für ihn immer wieder ärgerliche Geschäft des Korrigierens,
wobei bis in die Drucklegung hinein die Herstellung einer endgültigen Fassung
fortgeht; anders als es seine Antipathie gegen alle mechanische Arbeit vermuten
läßt, finden sich in seinen Eigenschriften außerordentlich wenig Fehler.34
Über die Fixierung des Textes hinaus aber begreift Beethovens Niederschrift
in größerem Maße als ältere Komponisten interpretative Momente mit ein, be-
sonders in seinen Sforzati und dem in ihnen sich häufig äußernden Bestreben,
sich zu einem bestimmten musikalischen Detail auf bestimmte Weise zu verhalten,
seine Realisation als Darstellung eines besonderen Verhältnisses zu ihm zu geben,
zumal, wenn er im Widerspruch zu Konventionen des Hörens eigenwillige Ak-

31 Vgl. als eines unter sehr vielen Beispielen die Notation der Posaunen im Schlußsatz der Fünften
Sinfonie: Die Halben im ersten Takt werden keinesfalls realiter länger ausfallen als die punktierten
Viertel im achten oder elften Takt.
32 Brief an Hofrat Ignatz von Mosel, Wien 1817. In Beethoven, Briefwechsel, a. a. O., Bd. 4,
S. 130 ff.
33 Vgl. P. Stadlen, Beethoven and the Metronome I. In: Music and Letters, 1967, S. 330 ff.; auch
bei M. Cooper, Beethoven. The last Decade 1817–1827, London/New York/Toronto 1970,
S. 467 ff.
34 Mies, a.a.O., S. 215 ff.
64 Zum Verhältnis von Intention und Realisierung bei Beethoven

zente setzt und Störungen schafft in Partien, die sich auch glatter, eleganter spielen
und bequemer hören ließen. Hierher gehört auch, daß er, nachdem er zunächst
Ries zu eigenen Kadenzen ermuntert hatte, diese dann doch selber schrieb und
hiermit, wie ähnlich zum Beispiel in der Phantasie op. 77 und in der Chorphantasie,
die Kluft zwischen komponierter und improvisierter Musik zu verringern suchte,
welche wenig zuvor noch unüberbrückbar schien in der Scheu fast aller Musiker
des 18. Jahrhunderts, Phantasiertes aufzuschreiben.35 Dem entspricht andererseits
genau, daß Beethoven sich oft aufs Improvisieren vorbereitete.36 Auch in diesem
Bereich also strebt er, ähnlich wie in den Spezifika der verschiedenen Gat-
tungen,37 zu einer neuen Synthese, sucht die Grenzen der schriftlichen Fixierung
vorzuschieben und Improvisation komponierend einzuholen. Daß Beethoven
mehr und genauer fixiert als seine Vorgänger, antwortet dem Traditionsverlust
in der Aufführungspraxis ebenso wie es ihn befördert. Sein Phantasieren geht,
als Kundgabe eines »Originalgenies«, so sehr über das in diesem Bereich übliche
hinaus, da der »Freyheit und Leichtigkeit der Ideenverbindungen«38 zumeist eine
besonders enge Bindung an traditionelle Formen und Formeln entspricht,39
daß er sich in ihm den Maßstäben von Komponiertem nähert und es deshalb
aufzuschreiben sucht, wohl auch argwöhnend, daß die Jüngeren die Leerräume
der Kadenzen nicht kongenial würden füllen können; andererseits sucht bei
der Ausführung seiner Kompositionen seine improvisatorisch sich gebende,
mitunter, zumal beim Dirigieren, geradehin gefährlich subjektive Spontaneität
das Fixierte,Vorgefertigte des Werkes vergessen zu machen. Hier erscheinen ihm
offenbar bereits die uns geläufigen Funktionen des Respekts vor dem Text als
subaltern. So zeigt sich bei Beethoven eine auf neue Weise produktive Spannung
zwischen dem Freiheitsanspruch der schöpferischen Subjektivität und der sehr
präzisen Niederlegung seiner Intentionen, die den scheinbaren Widerspruch
zwischen unnachsichtiger Genauigkeit und zuweilen unverständlich anmutender
Läßlichkeit im Umgang mit den Texten und Kompromissen mit der Misere der
Aufführungen auflöst und erklärt.
Beethoven war sowohl gedrungen, über diese Misere und die Umstände
seiner Zeit hinauszudenken, als auch, zu bearbeiten und Bearbeitungen zu
tolerieren, sowohl, um die endgültige Form eines Werkes verbissen zu ringen

35 P. Schleuning, Die Fantasiermaschine. Ein Beitrag zur Geschichte der Stilwende um 1750. In:
Archiv für Musikwissenschaft, Jg. 27, 1970, H. 3, S. 192–213, besonders Abschnitt I.
36 E. Ferand, Die Improvisation, Köln 1956,Vorwort.
37 Hierzu G. Knepler, Zu Beethovens Wahl von Werkgattungen – Ein soziologischer Aspekt eines
ästhetischen Problems. In: Beiträge zur Musikwissenschaft, Jg. 12, 1970, H. 3/4, S. 308–321.
38 P. Gülke, Introduktion als Widerspruch im System. Zur Dialektik von Prozessualität und thema-
tischer Abhandlung bei Beethoven. In: Deutsches Jahrbuch der Musikwissenschaft für 1969, Leipzig
1970, S. 18, und in: ders., »… immer das Ganze vor Augen«, vgl. Anm. 3., S. 67 ff..
39 Hierzu grundsätzlich G. Knepler, Improvisation – Komposition. Überlegungen zu einem un-
geklärten Problem der Musikgeschichte. In: Bence Szabolc≥i Septua-genario, Studia Musicologica
Academiae Scientiarum Hungaricae, Bd. 11, Budapest 1969, S. 241–252.
Zum Verhältnis von Intention und Realisierung bei Beethoven 65

und allen »Mechanismus« zu verachten,40 als auch seine Interpreten mit einer
neuartigen Detaillierung der Spielanweisungen an eine straffe Leine zu legen,
deren Spontaneität engere Grenzen zu ziehen als seine Vorgänger. Sowohl straft
er in Schuppanzighs »elender Geige« die Materie und ihre Bedingtheiten mit
napoleonischer Verachtung, wie er andererseits eben die Materialität des aus-
führenden Apparates auf neue Weise als Partner der Komposition begreift und
zu einer genaueren Spezifikation der Gattungen vorstößt.41 In einer Zeit, in der
die meisten Werke zunächst in bearbeiteter Form größere Verbreitung erfuhren
als in der originalen, wäre es ein sinnloser Purismus gewesen, allein das Original
zulassen zu wollen. Hierbei kann sich auch Beethoven keinerlei Dogmatismus
leisten: Die Bearbeitungen der E-Dur-Klaviersonate op. 14/I und des c-Moll-Trios
op. 1/III erschienen als Musterfälle produktiver Aneignung durch das neue
Ensemble, wie wir die zweite denn auch Beethovens Verärgerung über eine
mißratene Einrichtung verdanken; die Klaviertrio-Fassung der Zweiten Sinfonie
läßt am Surrogatcharakter keinen Zweifel, und in der Klavierbearbeitung des
Violinkonzertes tritt der Kompromiß bereits schmerzhaft in Erscheinung, wofür
sich Beethoven in dem in der Kadenz auskomponierten Dialog von Klavier und
Pauke sozusagen entschuldigt, als in einer konsequent verschärfenden Fortsetzung
der Durchführungspartie, in der expressiv ausfahrende Lyrismen des Solisten
gegen den mahnenden Vierschlag der Hörner stehen; darüber hinaus aber hat er
eigene Werke zu bearbeiten anderen aufgetragen,42 uns unmöglich erscheinende
wie eine Streichquartettfassung der Violinsonate op. 24 widerspruchslos angehört43
und, wohl als Extremfall pragmatischer Selbstverleugnung, Zelter vorgeschlagen,
es mit einer a-capella-Fassung der Missa solemnis zu versuchen.44
Dergleichen wäre ohne ein unerschütterliches Vertrauen in die Substanz der
Werke und das Durchsetzungsvermögen von deren originaler Form nicht denk-
bar, und dies korrespondiert mit Beethovens Geringschätzung aller Äußerlich-
keiten der Ausführung, besonders der virtuosen, selbstzweckhaften Darstellung
des Technischen. »Aufrichtig zu sagen, ich bin kein Freund von dergleichen, da
sie den Mechanismus nur gar zu sehr befördern«, schreibt er im Jahre 1823 an
Ries.45 Unter diesen »Mechanismus« können zumindest für ihn persönlich auch
eigene Anweisungen fallen, wenn die auf Identifizierung mit dem Dargestellten
dringende Subjektivität es verlangt. Schindler hat das, wenn offenbar auch an
der Betonung romantischer Freizügigkeiten interessiert, besonders in der Tem-
ponahme beobachtet, worin der späte Beethoven eigene frühere Festlegungen

40 Vgl. u.a. Brief an Ferdinand Ries vom 16. Juli 1823. – In: Beethoven, Briefwechsel, a.a.O., Bd. 5,
S. 185 ff.
41 G. Knepler: Beethovens Wahl von Werkgattungen …, a.a.O., und die unter Anm. 3 genannte
Arbeit.
42 Brief an Franz Hofmeister vom 15.1.1801. – In: Beethoven, Briefwechsel, a.a.O., Bd. 1, S. 63 ff.
43 Schmidt-Görg, a.a.O., S. 182.
44 Brief an Zelter vom 8.2.1823. – In: Beethoven,, Briefwechsel, a.a.O., Bd. 5, S. 39 ff.
45 Brief an Ferdinand Ries vom 16.7.1823, ebd., S. 185 ff.
66 Zum Verhältnis von Intention und Realisierung bei Beethoven

widerlegte. »Umlauf und Schuppanzigh wunderten sich gestern sehr, dasz Sie
jetzt von den beschleunigten Tempis in Ihren Werken gegen frühere Jahre so auf-
fallend abweichen und alles Ihnen jetzt zu geschwinde ist …« notiert Schindler
in einem Konversationsheft kurz vor der Uraufführung der Neunten Sinfonie46
und anderwärts: »Auch bei den Proben in der Josephstadt war es schon deutlich
merkbar und vielen auffallend, dasz Sie die Allegros alle langsamer haben wollten,
als seither.«47 Indem Beethoven ein früher fixiertes Tempo eines Sinfoniesatzes
bei großer Besetzung verfehlt findet, bekommt er es mit der Proportionalität
zwischen den Dimensionen von Apparat, Saal und der Wahl des Tempos zu tun,
mit der sich eingehender auseinanderzusetzen die Mißlichkeiten der früher selbst
dirigierten Akademien verhinderten. Derlei Auskünfte Schindlers erscheinen,
mit anderen Berichten über den interpretierenden Beethoven übereinstimmend,
glaubhafter als zum Beispiel diejenigen, daß Beethoven die ersten Takte der
Fünften Sinfonie in langsamerem Tempo genommen wünschte.48
Wie im Falle der Bearbeitungen war Beethoven zu Kompromissen auch bei
der Berücksichtigung instrumentaler Begrenzungen gezwungen, mit dem Unter-
schied, daß er hier eine von ihm als verbindlich betrachtete Form nicht von der
durch die Umstände bedingten trennen konnte: Außer auf dem Klavier, dessen
Verbesserungen er selbst erlebte,49 verlangte er niemals Töne, die seinerzeit nicht
erreichbar waren. Kaum ist dies zu anderweitigen Forderungen im Widerspruch
Stehende damit zu erklären, daß Beethoven die Begrenzungen der Instrumente
als endgültig ansah – zu viele Fortschritte in deren Technologie wurden eben
damals gemacht. Beethovens Auseinandersetzung mit diesen Grenzen läßt eher
vermuten, daß er es weder den Kapellmeistern seiner Zeit überlassen wollte, nicht
Darstellbares für die Praxis zuzurichten, noch den Kapellmeistern der Nachwelt, in
seinem Sinne, wie jene ihn verstünden, nachzutragen, was inzwischen realisierbar
geworden ist und vermutungsweise von Beethoven verlangt worden wäre. Größte
Vorsicht ist, entgegen Wagner, Weingartner usw. bei diesem Versuch geboten. In
den allermeisten Fällen hat Beethoven die Grenzen kompositorisch reflektiert
und das Scheitern zum Beispiel der einsinnigen Konsequenz einer Melodiefüh-
rung produktiv wahrgenommen. Niemals hat er, wie die Instrumentation seit
Berlioz, das Scheitern an diesen Grenzen zu verbergen oder sie zu umgehen

46 Zitiert nach: F. Rothschild, Vergessene Traditionen in der Musik. Zur Aufführungspraxis von Bach bis
Beethoven, Zürich 1964, S. 89.
47 Ebd., S. 90.
48 Zitiert bei: G. Knepler, Musikgeschichte des XIX. Jahrhunderts, Bd. 2, Berlin 1961, S. 554; nach:
A. Schmitz, Das romantische Beethovenbild, Berlin/Bonn 1927.
49 K. Sakka, Beethovens Klavier. In: Colloquium amicorum, J. Schmidt-Görg zum 70. Geburtstag, Bonn
1967, S. 327–337. – Bei den Orchesterinstrumenten machen lediglich die Kontrabässe von der
genannten Regel eine Ausnahme, vgl. das »Gewitter« in der Pastoralsinfonie, offenbar im Hin-
blick auf die bei ihnen übliche Praxis der Einrichtung bzw.Vereinfachung des den Violoncelli
gehörigen Parts. Hierzu: Berlioz/Strauss, Instrumentationslehre, Neuaufl. 1955, S. 129, u. H. Kunitz,
Die Instrumentation, T. 13,Violoncello und Kontrabaß, Leipzig 1961, S. 1462.
Zum Verhältnis von Intention und Realisierung bei Beethoven 67

getrachtet, und also einem Positivismus angehangen, der nur das real Klingende
als musikalisch vorhanden ansieht. In dem Zweiunddreißigstel-Durchlauf des
Andante-Themas der Fünften Sinfonie (T. 114 ff.) entstehen durch die in Trompe-
ten und Pauken seinerzeit fehlenden Töne Löcher in dem kompakten Komplex;
aber eben diese Lücken profilieren zugleich dessen harmonische Wechsel, indem
sie den Stationen unterschiedliche Schwere geben und also verhindern, daß die
acht Takte automatisch nach einer einmal gestellten Regel ablaufen. Die Intro-
duktion des dritten Rasumowsky-Quartettes ist ausgespannt zwischen den beiden
verminderten Akkorden fis-c' -es' -a' im ersten und Kontra H-f-as' -c''' im 22. Takt,
wobei eine konsequent auseinanderstrebende Bewegung der Außenstimmen
von der engen Lage des ersten zur weiten, jeden Intervallabstand des ersten um
eine Oktave vergrößernden Lage des zweiten Akkords führt. Das damit gefor-
derte Kontra H aber kann das Cello nicht geben; obwohl dieser Ton als Ziel der
Abwärtsbewegung von Anfang an anvisiert ist, sucht Beethoven dennoch keine
weiche Lösung dergestalt, daß er das Cello vorzeitig nach oben oktavieren läßt,
um in den wichtigen letzten Fortschreitungen, wenn schon nicht die originale
Lage, wenigstens die originale Bewegung zu erhalten; er läßt vielmehr bis zur
leeren C-Saite spielen und zeigt in dem nun notwendigen störenden Septsprung
C–H die Begrenzung mit unnachsichtiger Direktheit vor. Daß er Lücken zu
späterer Ausfüllung hat stehenlassen, mag noch am ehesten von Details wie
dem Trompeten/Altposaunen-Part in der D-Dur-Doppelfuge des Freudefina-
les gesagt werden, da hier das in den anderen Instrumenten strikt beobachtete
colla-parte-Prinzip verletzt ist oder, dort im zweiten Satz, von der Vermeidung
des b''' in der Flöte. Obenhin betrachtet scheint an der Intention des Unisonos
vor der Marcia moderato der Ouvertüre Die Ruinen von Athen als einem großen
Zweioktavenabgang kein Zweifel zu bestehen. Da Beethoven offenbar daran
lag, daß sich der Quartfall d/A der tieferen Streicher tatsächlich als melodischer
Fall darstellte, mußte er diese in eine obere Lage bringen. Doch nicht einzeln
und im verborgenen geschieht das, sondern gleichzeitig, so daß durch den in
vier Gruppen und drei Oktavlagen erfolgenden Sextaufsprung die Strebung des
Abgangs schwer leidet, das Kompromißhafte der Lösung überdeutlich hervortritt,
wie bei einem sorgsam disponierten Nacheinander des Wechsels durchaus nicht
nötig gewesen wäre. Überdies sind in höherer Lage Flöte und Oboe mitgeführt,
zweioktavig beginnend, doch springt an gleicher Stelle wie die Streicher die
Oboe in die höhere Oktave und läuft dort nur drei Töne mit der Flöte gleich,
weil diese dann ihrerseits nach oben springt, was die gleichsinnig abwärtsgehende
Linie, die vom zweiten Achtel dieses Taktes an sichergestellt war, nun nochmals
bricht, und in solcher Höhenlage in auffälligster Weise. Dergestalt splittert sich die
Eindeutigkeit des Vorgangs auf und realisiert, da die eine Funktion nicht aufgeht,
andere Funktionen: In dem entscheidenden Taktübergang es-d-cis hat Beethoven
das breite Band eines Fünfoktaven-Unisonos hergestellt, der der dominantischen
Öffnung (im Verhältnis zur nachfolgenden Marcia doppeldominantisch) allen
erdenklichen Nachdruck verleiht.
68 Zum Verhältnis von Intention und Realisierung bei Beethoven

Derlei Vorgänge zeigen, wie sorgsam und anhand jedes Befundes neu jene
»Deutlichkeit« bestimmt werden muß, der seit Lessing immer wieder postulier-
te oberste Maßstab der künstlerischen Darstellung, auf den auch Wagner und
Weingartner50 sich nachdrücklich berufen. »Diese Deutlichkeit beruht nun
meines Erachtens auf nichts anderem als auf dem drastischen Heraustreten der
Melodie«, definiert Wagner51 eine Verengung ihres Verständnisses, die ihn und
zuweilen auch Weingartner fehlgehen läßt gerade in Partien, deren Objekt die
Gegenüberstellung von deutlich und undeutlich Artikuliertem bildet. In der von
ihnen am stärksten veränderten Stelle Takte 138 ff. bzw. Takte 407 ff. im ersten
Satz der Neunten Sinfonie steht eine diffuse Sechzehntelbewegung, ein vielsträh-
niges Mit- und Nebeneinander der Holzbläser gegen Eingriffe von Hörnern
und Streichern, die mit schroffen Punktierungen Ordnung zu schaffen suchen.
Wagners von Weingartner nachvollzogenes drastisches Herausstreichen der Me-
lodie hat hier nun wirklich Ordnung geschaffen, freilich eine andere als die von
Beethoven beabsichtigte, und hat obendrein das Gegenüber der beiden Komplexe
um den Kontrast gebracht, der seine Substanz bildet; ihr besserwisserischer Eifer
hat übersehen, daß eine sehr konkret bestimmte, nahezu aleatorisch anmutende
Vieldeutigkeit des Holzbläserkomplexes, mit jähen Brechungen, die auch durch
Begrenzungen des Umfangs bedingt sind, zur spezifischen Deutlichkeit die-
ser Stelle gehört. Ähnlich mißverstehend versuchen Wagner und Weingartner
später im Satz (Takte 488 ff.) eine Holzbläserfiguration vor der Übermacht der
Streicher zu retten. Nach einem komplementärrhythmisch kompakten Tutti
entläßt ein subito piano einzelne Bläser, nacheinander Horn, Oboe, Fagott und
Flöte zu konzertierenden, locker dialogisierenden Alleingängen, in denen eine
Art gemeinsame Kadenz über dem liegenden A der Streicher ausmusiziert
wird; wie zur Ordnung rufend greifen in die gesprächigen Wiederholungen der
Bläser die Streicher mit dem Motiv ein, das die Durchführung ihrem zentralen
Höhepunkt entgegenführt. Über dessen steigernden Wiederholungen nun flat-
tern Sechzehntelfiguren der Bläser wie versprengte Überreste ihres Gesprächs
dahin, wobei sich allmählich die Streicher fast völlig dynamisch vor die Bläser
schieben, freilich, um sie dann in einem Decrescendo wieder freizugeben: Eben
dieses Gegeneinander der beiden Komplexe, in dem einmal gar der eine hinter
dem anderen zu verschwinden, von ihm verschlungen zu werden droht, bildet
den Gegenstand dieser Partie; eine Verstärkung der jeweils in Crescendi schwer
ankämpfenden Figuren der Holzbläser, die sie vor der Deckung durch das ff der
Streicher sicher bewahrt, bringt den Vorgang um jenes Moment der Bedrohung,
das ihn konstituiert und ihn auflösend in den Verlauf der Reprise hineinzufallen
zwingt, in das er, Durchführung erinnernd, eingeblendet ist.

50 Alles zu Weingartner Gesagte bezieht sich auf dessen: Ratschläge für die Aufführungen klassischer
Symphonien, Bd. 1–3, Leipzig 1906–1918.
51 R. Wagner, Zum Vortrag der neunten Symphonie Beethovens. In: Wagner, Gesammelte Schriften
und Dichtungen, hrsg. v. W. Golther, Bd. 9, Berlin/Leipzig/Wien/Stuttgart 1913, S. 234.
Zum Verhältnis von Intention und Realisierung bei Beethoven 69

Die Versetzung von vier Tönen im Nachsatz des Vivace-Themas im zweiten


Satz der Neunten an dessen dynamischem Höhepunkt scheint eindeutig dadurch
verursacht, daß Beethoven außer in Soli weder Geigen- noch Flötenparte über
a''' hinaus schrieb. Die Transposition, welche besonders bei ihrer Zurücknahme
durch den Septsprung f-e penetrant hervortritt, verstärkt Beethoven überdies
durch 2.Violinen und Bratschen in zwei tieferen Oktavlagen, in einem Bereich,
wo keine spieltechnischen Begründungen gelten, bekennt sich also wiederum
zu dem »Bruch«. Als neues Element der Reprisengestalt des Themas, an dessen
Identität die Änderung nicht rüttelt, wird sie nicht zuletzt dadurch gerechtfertigt,
daß sie den anderes erwartenden Hörer bei genau dem motivischen Detail auf-
merken läßt, dem bei der nachfolgenden, hier neuen Modulation eine wichtige
Rolle zufällt. Allgemein verfährt Beethoven, ist die Identität eines Themas einmal
sichergestellt, mit seinem Wortlaut frei. Nach dem Bläser-Adagio im 3. Satz der
Neunten Sinfonie zum Beispiel fällt nach weiter Abweichung die Musik jäh ins
Thema und in die Grundtonart hinein, freilich in einer sehr komplizierten Fak-
tur, bei der die Figuration der Violinen das Thema zu verdecken droht, welches
denn auch in deren Pausen wie durch Fenster hindurchschaut; außerhalb dieser
erscheint der Blick darauf weitgehend durch die Violinen verstellt, dennoch bleibt
an seiner latenten Gegenwärtigkeit kein Zweifel; es ist eine Art Fernblick, in dem
der Hörer es wahrnimmt; Beethoven kommt es hier auf die Buchstäblichkeit
seines Erklingens nicht an, er malt in breitem Pinselstrich, unter Ausnutzung aller
Lagen, so daß als einziges Instrument das Fagott auf eine längere Strecke in einer
Lage das Original der Melodie gibt; nicht in einer Linie, sondern in der Summe
mehrerer stellt sich die Identität des Themas her. Dies erscheint wie eine vor-
sichtigere Wiederholung einer Stelle in dem dem Adagio der Neunten in vielem
verwandten Adagio aus op. 127, da nach einer weitläufigen E-Dur-Ausweichung
und nach einem ähnlich raschen, schwungvollen Zurückfallen in die Grund-
tonart das Thema, das nun dringend erwartet und gesucht wird, nur als Negativ
vorhanden ist, das heißt, die Musik seinen Abdruck enthält als ein vollständiger
zu ihm passender Part, der das Gemeinte dadurch definiert und fast zur Realität
heraufholt, daß er genau den Raum absteckt, in den es hineingehört.
Derlei Stellen lassen viele der an Beethovens Sinfonien vorgenommenen
Korrekturen in einem kläglich positivistischen Lichte erscheinen. Wie um dies
zu bestätigen, haben Wagner/Weingartner im ersten Satz der Neunten Sinfonie
eine Stelle übersehen, die nach ihren Maßstäben ihrer Hilfe besonders dringend
bedurft hätte, da sie ein wichtiges Detail eher verhüllt denn vorstellt. In den
Takten 132 ff. stellt Beethoven im massiven Tutti eine Zweiunddreißigstel-Be-
wegung der Streicher gegen einen synkopischen Rhythmus sämtlicher Bläser
und Bässe. Nur in einem Instrument, wechselnd in beiden Oboen, kristallisiert
er aus diesem synkopischen Rhythmus eine Figur, die in der Durchführung eine
wichtige Rolle spielen wird. Unmöglich kann die jeweils eine Oboe dies hier
erstmalig erscheinende Motiv gegen das im Lapidarstil auf zwei Funktionen
aufgeteilte Tutti durchsetzen. Es bleibt, als allzu zarteVorausnahme, unhörbar, vom
70 Zum Verhältnis von Intention und Realisierung bei Beethoven

dröhnenden Tutti übertönt; doch war Beethoven die antizipierende Funktion,


deren stille Latenz wichtig genug, um es dennoch hierher zu setzen. Wie genau
er sich darüber Rechenschaft gab, bezeugt die Tatsache, daß in der Reprise das
Motiv fehlt; inzwischen hat es sich realisiert und wird überdies im schon er-
wähnten Gegenzug der Streicher gegen die Kadenz der Bläser nochmals freien
Lauf haben. Schwerlich ging es Beethoven dabei um ein Stück »Augenmusik«
(darum ging es ihm wohl nie); dennoch zeigt sich, daß der Beziehungsreichtum
seiner Strukturen auch Bereiche einbegreift, die der hörenden Vergewisserung
entzogen sind, so daß nicht platterdings eine Kongruenz von Struktur und klin-
gendem Erscheinungsbilde unterstellt werden kann. Die Randzonen, in denen
diese Kongruenz nicht gilt, sind zu breit, und Beethoven nimmt sie komponie-
rend zu genau wahr, als daß der Versuch gerechtfertigt wäre, in ihnen mit Hilfe
der neuen technischen Möglichkeiten eine konfliktlos einsinnige Kausalität von
kompositorischer Anweisung und instrumentaler Ausführung herzustellen; dies,
wie gezeigt, kann schon deshalb nur selten gelingen, weil die Grenzen, die der
Apparat der Realisierung der Komposition setzt, in diese zurückreflektiert und
die Intention, diese Grenzen zu überschreiten und zu überfordern, innerhalb
ihrer komponierend aufbewahrt ist. Indem er das Gemeinte durch die hohe
Intentionalität aller musikalischen Details genau definiert, indem er den Raum,
den die klingende Musik offenzulassen gezwungen ist, genau bestimmt, prägt
Beethoven solchen Partien seine Konzeption und deren über die Begrenzungen
hinausschießende Dynamik tiefer ein, als es einer vollkommenen Umsetzung in
Klang möglich wäre, der die Elemente des zu bewältigenden Widerspruchs, der
Anstrengung, der Darstellung noch im Scheitern abhanden gekommen sind.
Aus dem in Umrissen geschilderten Verhältnis von Beethovens Intentionen
zu ihrer Realisierung ergibt sich, ohne Anspruch auf Vollständigkeit, eine Reihe
von Fragestellungen:
Die Frage der Retouchen bedarf einer umfassenden Behandlung. Nicht zuletzt
wird sie als Beitrag zur Geschichte und Stilkritik der Aufführungen Beethoven-
scher Werke wichtig sein; interessante »Verfehlungen«, wie zum Beispiel Mahlers
Darstellung des Alla Marcia aus dem »Freude«-Finale durch ein Fernorchester,52
sind nicht nur für die Kenntnis der Aufführungspraxis, sondern der Beethoven-
schen Musik selbst wichtig.Wenn auch die Behandlung der meisten Fälle bei der
auch heute noch viel subjektivem Ermessen anheimgegebenen Alternative endet,
ob die Beethovensche Lösung eine für spätere Ergänzung offengehaltene Lücke
darstelle oder ob die instrumentale Begrenzung kompositorisch wahrgenommen,
aus der Not eine Tugend bzw. Qualität geworden sei, so wäre doch bereits die
exakte detaillierende Definition dieses Punktes ein Fortschritt. Es bedarf einer
umfassenden Darstellung der Beethovenschen Aufführungspraxis, sowohl in ihrem

52 B. Walter, Thema und Variationen, Frankfurt am Main 1960, S. 117.


Zum Verhältnis von Intention und Realisierung bei Beethoven 71

Verhältnis zu noch bestehenden Traditionen desVortrags aus dem 18. Jahrhundert


als auch im Hinblick auf persönliche Eigenheiten.
Um nach langer Zeit einer kaum faßbaren Vernachlässigung allen metrischen
Fragen wieder Geltung zu verschaffen, müssen diese an zentralen Werken Beet-
hovens entwickelt werden, reichend von Analysen der Artikulation gemäß den
Regeln der Prosodie bis zu Analysen der Taktgruppen- und Großordnung. An
dieser Vernachlässigung ist insbesondere die »Rotblindheit« der bürgerlichen
Forschung mit ihrer Geringschätzung der französischen Ästhetik schuld, und hier
auch von Autoren, die unmittel- oder mittelbar mit der Musik der Französischen
Revolution verbunden waren (Grétry, Le Sueur usw.).
Mehr und mehr musizieren wir Werke Beethovens für Menschen, die diese
wiederholt hören. Um dies theoretisch genauer zu erfassen, wären ergänzend zu
zahlreichen von formalen Prämissen oder allein von den tragenden Konzepti-
onen ausgehenden Analysen informationstheoretische vonnöten, zum Beispiel in
der Behandlung der Frage, in welcher Weise eine Beethovensche Komposition
eine in sich sinnvolle Folge von Informationen, mit Gravitationspunkten bei
Themen, Redundanz bei Zwischengruppen darstellt usw. Hieraus ergeben sich
neue Gesichtspunkte für die wichtige Frage, wie sich die Information durch
Wiederholung und die Rezeption das Werk verändert, da gegenüber dem intensiv
erlebten Neuigkeitswert das Verständnis seiner Konzeption und Struktur zu wir-
ken beginnt und das Wiedererkennen eines Details, zum Beispiel eines Themas
in der Reprise, immer mehr begleitet werden kann von der Rechenschaft über
diese Wiederkehr, deren man sich erinnernd bzw. vorauswissend sicher ist.
Aus dem informationstheoretischen Aspekt ergäben sich solidere Anhalts-
punkte für die Behandlung der Frage der Teilwiederholungen53: Inwieweit
handelt es sich hier um traditionelle Relikte, wie sehr gehören sie zu den Pro-
portionen eines Werkes, wie weitgehend sind sie ausschließlich Funktionen einer
Information über den musikalischen Gegenstand, die sich bei näherer Kenntnis
des Werkes erübrigen, wie zum Beispiel Brahms einige seiner Wiederholungen
verstanden hat?
Von den subjektiven Implikationen jeglicher Temponahme abgesehen, ver-
mögen informationstheoretische Überlegungen auch bei ihrer Behandlung zu
helfen. Tempo stellt, neben der charakterologischen Komponente, ein Maß für
die Dichte aufeinanderfolgender Ereignisse dar und ist insofern, als Produkt aus
deren Verhältnis, abhängig von der Wertigkeit dieser Ereignisse. So kann schon
deren volle Wahrnehmung ihrer Folge eine Dichte geben, welche als Schnelligkeit
erfahren wird, ohne metronomisch schnell zu sein, wie andererseits ein rasches
Tempo das Profil, die Konfliktsubstanz der Ereignisse so abbauen kann, daß es an
der eigenen Substanz zehrt, weil die Details beschädigt, aus deren dichter Folge
es sich konstituiert. Nicht strikte Befolgung der Beethovenschen Anweisungen,

53 Vgl. W. Hess, Die Teilwiederholung in der klassischen Sinfonie und Kammermusik. In: Die
Musikforschung, Jg. 16, 1963, H. 3, S. 238–252.
72 Zum Verhältnis von Intention und Realisierung bei Beethoven

die mitunter schon er selbst widerlegt hat, kann eine Lösung darstellen, wie, im
Gegenzug gegen die romantisierende Verlangsamung, zum Beispiel Schönberg,
Kolisch54, Scherchen55 u.a. meinten. Zu einer Behandlung, die auch dem Inter-
preten konkrete Anhaltspunkte liefert, gehören auch die Angaben von Czerny56
und Holz57 sowie die bei Aufführungen anderer Werke (Messias,58 Don Giovanni59)
nachprüfbaren Veränderungen der Temponahme. Tempo ist, wie jede andere
musikalische, auch eine historische Kategorie.
Es bedarf eines genauen, bei materialhaften Details ansetzenden Katalogs der
Beethovenschen Wagnisse und Kühnheiten. Die herrschenden Traditionen und
Konventionen der Musik und des Musikhörens sind die erste Realität, zu der
sich ein Werk verhält, an der es sich mißt und gemessen wird. An diesen haben
mittelmäßige, heute verschwundene Werke wesentlichen Anteil. Dadurch ist
die Position, die das Meisterwerk im Koordinatensystem der zeitgenössischen
musikalischen Erfahrungswelt innehatte, kaum noch bestimmbar, jedoch gehört
sie wesenhaft zu den Intentionen des Komponisten, von denen auszugehen der
Interpret verpflichtet ist.
Dieser Katalog erscheint um so wichtiger, als das einzelne Werk im musée imagi-
naire unserer Konzerte in neueVerhältnisse zu Werken anderer Stilperioden gesetzt
und auch an Erfahrungen gemessen wird, die von jenen geprägt sind. Im Bereich
des materiellen Aufwandes zum Beispiel ist, was bei Beethoven ein Äußerstes an
fortissimo-Aggression darstellte, ins Mittelfeld der Eindrücke gerückt. Wie weit es
kraft der Integration in das Ganze des Werkes und begünstigt durch ein besseres
historisches Verständnis die Intentionen von ehedem zu bewahren vermag, und
wie weit das Erlebnis anderer Musik seine Neutralisierung begünstigt, könnte an
konkreten Einzelfällen genauer bestimmt werden, als bisher geschehen. Es gehört
zur Dialektik des Unerhörten, wie Beethoven es seinen Zeitgenossen so oft bot,
daß es, um als Unerhörtes wahrgenommen zu werden, gehört werden muß, da-
mit aber nicht länger das Unerhörte bleibt und in Wiederholungen allmählich
seinerseits Traditionen schafft. Daß in ihnen, jeglicher bequemen Etabliertheit
entgegen, das Moment der Überschreitung und der perspektivischenVermehrung
des Gegebenen erhalten bleibe, ist ein Auftrag ebensosehr an den Wissenschaftler
wie an den Interpreten.

54 R. Kolisch,Tempo and character in Beethoven’s Music. In: Musical Quarterly, Bd. 24, 1943, Nr. 2
u. 3, S. 169, 291.
55 H. Scherchen, Der Komponist, gesehen von einem Dirigenten. In: Beethoven, das Genie und seine
Welt, München 1963, S. 231–240.
56 Vgl. C. Czerny, Über den richtigen Vortrag, a.a.O.
57 Die Angaben von Holz stehen vollständig bei W. v. Lenz, Beethoven, eine Kunststudie, Kassel
1855, sowie bei H. Beck, Bemerkungen zu Beethovens Tempi. In: Beethoven-Jahrbuch 1955/56,
S. 24–55.
58 Nach einer von H. Besseler angeregten Aufstellung von Aufführungsdaten und -dauern, Ms.
im Nachlaß.
59 W. Gerstenberg,Authentische Tempi für Mozarts ›Don Giovanni‹?. In: Mozart-Jahrbuch 1960/61,
S. 58–62.
73

Virtuelles Komponieren und »Deutlichkeit«


im Orchestersatz der Neunten Symphonie

Unter den Maßgaben für die Retuschen, denen Beethovens Sinfonien unter-
zogen worden sind – u. a. von Wagner, Mahler,Weingartner, Markevitch –, steht
»Deutlichkeit« obenan, in erster Linie im Dienste der Absicht, mit Hilfe neu
erworbener instrumentaler Möglichkeiten nunmehr zur Hörbarkeit zu bringen,
was zu Beethovens Zeiten nicht realisierbar war. In Zweifeln, Unsicherheiten
der Bewertung, auch partiellen Zurücknahmen früherer Lösungen etwa durch
Weingartner freilich zeigt sich, daß zwischen den aus der Textur ersichtlichen
Intentionen und ihrer instrumentalen Darstellung eine Grauzone liegt, inner-
halb derer gewiß etliche Wegweiser aufzufinden sind – dort z. B., wo Beethoven
instrumentale Beschränkungen kompositorisch reflektierte,1 oder auch, wo
Toleranzen sichtbar werden – bei zeitgenössischen, in alten Orchester-Mate-
rialen dokumentierten Bläser-Verdoppelungen in der Vierten Sinfonie oder bei
der in der Londoner Abschrift der Neunten Sinfonie erscheinenden zusätzlichen
Kontrafagott-Stimme. »Diese Deutlichkeit«, schreibt Wagner in seinen Erläu-
terungen Zum Vortrag der IX. Symphonie,2 »beruht nun meines Erachtens auf
nichts anderem als dem drastischen Heraustreten der Melodie« – und fegt mit
dieser Vereinfachung weitgehend die Frage beiseite, die sich mit der Maßgabe
»Deutlichkeit« zuallererst verbinden müßte: Was muß verdeutlicht werden?
– gewiß nicht allein die Melodie, und wenn schon, dann: welche? Wagner steht
in der gewalttätigen Selbstsicherheit, mit der er klassischen Partituren zu sich
selbst verhelfen will, nicht allein. Einige seiner brutalsten Eingriffe finden sich
in einer Aufnahme beibehalten, die erklärtermaßen von sehr anderen Prämissen
ausgeht, derjenigen der Sinfonien durch René Leibowitz; und Arnold Schönberg
schrieb im Zusammenhang mit seiner Orchestration von Brahms’ Klavierquartett
op. 25 g-Moll: »Ich wollte einmal alles hören.«3 Wenn man in komplizierten
Partituren »alles hören«, alles in den Vordergrund geholt erleben will, läuft man
allerdings Gefahr, nichts mehr zu hören.
Zur Deutlichkeit eines Details gehört, daß es sich abhebe von etwas, was
entweder weniger deutlich ist bzw. von einer anderen, nicht konkurrierenden
Art von Deutlichkeit, daß sich Vorder- und Hintergrund unterscheiden lassen.
Dieser Gesichtspunkt mag Passagen erklären helfen, in denen, was Stufungen
von Deutlichkeit und Differenzierungen bei der Konturierung der Ereignisse

1 Hierzu P. Gülke, Zum Verhältnis von Intention und Realisierung bei Beethoven, in: Bericht über
den Internationalen Beethoven-Kongreß 10.–12. Dezember 1970 in Berlin, Berlin 1971, S. 517 ff.,
im vorliegenden Band S. 54–72.
2 Gesammelte Schriften und Dichtungen, hrsg. von W. Golther, Bd. IX, Berlin usw. 1913, S. 234.
3 A. Schönberg, Briefe, hrsg. von E. Stein, Mainz 1958, S. 223.
74 Virtuelles Komponieren und »Deutlichkeit« im Orchestersatz der Neunten Symphonie

und Gestalten angeht, Beethoven denen offenbar voraus ist, die sich vorschnell
als seine Sachwalter verstehen.
In den Takten 132–138 des ersten Satzes der Neunten Sinfonie begegnet eine
Prägung, die selbst dann, wenn man kein übergroß bzw. in den Bläsern verdoppelt
besetztes Orchester voraussetzt, keine Chance hat, vom Hörer wahrgenommen
zu werden: In verteilten Rollen spielen die Oboen ein erst in der Durchführung
(Takte 218 ff.) bestimmend hervortretendes synkopisches Motiv; hier, beim ersten
Erscheinen, mutet es an fast »nur« wie eine Variante der Synkopierungen von
Bläsern, Celli und Kontrabässen. Sehr wohl ließe sich sagen, nach Maßgabe der
Folgewirkungen sei von allem in diesen Takten Erklingenden diese Prägung
die wichtigste; indessen erscheint sie so diskret, daß sie auch den eifrigsten
Retoucheuren nicht auffiel; damit mag auch zusammenhängen, daß eines ihrer
Lieblingsobjekte unmittelbar danach auftaucht – der in den Takten 138 ff. diffus
absteigende, gegen schroffe Punktierungen der Streicher, Fagotte und Hörner
gesetzte Abgang der Holzbläser (bei dessen Revision Wagner z.B. übersah, daß
gerade der allmähliche Gewinn von Eindeutigkeit, eine allmählich vorankom-
mende Bündelung der Abgänge zur Substanz der Passage gehört).
Nun zeigt das Autograph eindeutig, daß Beethoven die »Unterbelichtung« der
aussichtslos gegen das Tutti ankämpfenden beiden Oboen keineswegs versehent-
lich unterlaufen ist oder sich zwangsläufig ergab, weil keine anderen Instrumente
als Verstärkung zur Verfügung standen. Ursprünglich sollten die Oboen etwas
anderes spielen, was als Vorwegnahme der erstmals in Takt 139 eintretenden
Punktierungen verstanden werden könnte, hier ebenfalls verbunden mit Inter-
vallsprüngen; offenbar nachträglich hat Beethoven die endgültige Version auf
freigebliebenen Systemen nachgetragen – dies nicht die einzige Korrektur der
kniffligen Passage. Indem er revidierte, ersetzte er ein unhörbares Motiv durch
ein anderes unhörbares – ein scheinbares Paradoxon, zu dessen Erklärung man
nur vorsichtig die Vermutung heranziehen sollte, er habe bei der Partitur-Aus-
schreibung dieser Stelle noch nicht genau gewußt, welch wichtige Rolle der
nachträglich eingefügten Wendung in Durchführung und Reprise (besser: in der
dort eingeblendeten »zweiten Durchführung«) zufallen würde, er habe also erst
später erkennen können, daß mehr Vorbereitung und Anlauf vonnöten seien.
Jedenfalls muß ihm daran gelegen haben, das Motiv, ehe es zutagetritt, schon
untergebracht zu sehen – unter dem Schutzdach einer Latenz, welche einerseits
den Zusammenhang mit den synkopischen Prägungen der Takte sichert, dem
Hörenden aber vorenthalten bleibt – und wohl auch bleiben soll. Das erinnert
am ehesten an Passagen in den späten Quartetten, bei denen der Satz eine Hohl-
form legt um ein nicht erklingendes, jedoch vom Hörer erwartetes und in den
Zusammenhang hineinprojiziertes Thema (opp. 127 und 132).
In den Takten 469 ff., dem in der Reprise erinnerten Stück Durchführung,
zieht jenes latent eingeführte, nun dem Solo-Horn gegebene Motiv alle Aufmerk-
samkeit auf sich, zunächst als Solo über dem gehaltenen a der Streicher mit den
Merkmalen eines den Konflikten entronnenen »Spaziergangs« – ein Eindruck,
Virtuelles Komponieren und »Deutlichkeit« im Orchestersatz der Neunten Symphonie 75

den der frei konzertierende Kontrapunkt der Holzbläser nur verstärkt, der sich
unschwer auch im Hinblick auf eine Codabildung interpretieren ließe: musika-
lische Themen abschiednehmend noch einmal, entlassen aus allenVerpflichtungen,
zu präsentieren außerhalb des zuvor definierten Spiel- oder Kampffeldes. Später
(Takte 477 ff.) übernehmen die Streicher das Motiv vom Horn, und bald bringt
eine Steigerung, in die auch Pauke und Trompeten eintreten, die Figuration der
Holzbläser in Bedrängnis, so daß in den Takten 487–490 Gefahr besteht, daß
sie gänzlich übertönt werden. Hier hat jede Revision, und sei es mit Verdop-
pelungsempfehlungen, nachhelfen wollen. Indessen fragt sich, ob das drohende
Heranrücken des Tutti und das Ankämpfen der vormals gelöst dahergekommenen
Holzbläserfiguren nicht eben den Gegenstand dieser Passage bilden, ob also zur
Sache gehört, daß das Tutti, besonders das gewalttätige Unisono der Streicher,
das Bläsermotiv unter sich begräbt, sich davorschiebt – um es später wieder
freizugeben. So daß auch hier für den Augenblick der Verdeckung eine Latenz
anvisiert wäre, angesichts deren die Aussage, daß musikalisch nicht vorhanden
sei, was man nicht hört, allzu positivistisch anmutet.
Mit dem oben angesprochenen »brutalen Eingriff« war u.a. Wagners Verstär-
kung der Holzbläser durch die Hörner ab Takt 93 im Scherzo gemeint, wahrlich
»ein drastisches Heraustreten der Melodie«. Nicht nur verschaffen die Hörner
dem Motiv eine aufhauerische Direktheit und Massivität, welche dem Charakter
undVerlauf des Satzes schwerlich entspricht, viel schlimmer noch: sie entschärfen
den Konflikt zwischen der mühsam ankämpfenden, mühsam sich behauptenden
Melodie und dem durch insistierende Wiederholung, Fortissimo, Unisono und
Oktavsprung drastisch hervortretenden Daktylus der Streicher, hier unverkennbar
Verkörperung des dem Satz eigentümlichen Risikos, daß er sich in einer wild
oder blind in sich kreisenden Bewegung, einer widerstandslos triumphierenden,
an keinem Hindernis sich abarbeitenden tautologischen Identität verliere und
also scheitere – ein Risiko, welches auch dann erhalten bliebe, würde man die
Holzbläser mehr als nur verdoppeln. Verstärkt durch vier Hörner (oder noch
mehr) triumphiert die Melodie mühelos und degradiert, was sie bedrängen und
bedrohen soll, zum Akkompagnement.
Dem letzten Themendurchlauf im Adagio (Takte 99 ff.) schafft Beethoven
eine komplizierte Struktur, bei der u.a. die Figuration der Violinen zeitweise
das den Bläsern gehörige Thema zu überdecken droht, welches sich ohnehin in
den Dehnungen des 12/8-Taktes mitunter der Wahrnehmung scheint entziehen zu
wollen und bei den Pausen der Violinen wie durch Fenster hereinschaut. An seiner
Gegenwärtigkeit indessen bleibt kein Zweifel – der Hörer nimmt es in einer Art
»Fernperspektive« wahr. Nicht aufs buchstäbliche, Ton für Ton getreulich zitie-
rende Vorhandensein kam es Beethoven an, er malt vielmehr, unter Ausnutzung
aller Lagen der Bläser, in breitem Pinselstrich, so daß als einziges Instrument das
Fagott auf eine längere Strecke ohne Oktavwechsel das Original der Melodie
spielt, während die anderen oft die Oktavlage wechseln – keineswegs erst dann,
wenn Begrenzungen dies erzwingen. Nicht in einer Linie, sondern in der Sum-
76 Virtuelles Komponieren und »Deutlichkeit« im Orchestersatz der Neunten Symphonie

mierung mehrerer, als »Bündel«, in vermeintlichen »Unschärfen« stellt das Thema


sich her, zur Deutlichkeit der Passage gehört, daß sie auf »Wörtlichkeit«, eine Ton
für Ton dingfest gemachte und verifizierbare Deutlichkeit nicht angewiesen ist.
In mehreren variierten Durchläufen ist das Thema über eine bestimmte melo-
dische Gestalt hinaus zu einem Inbegriff herangewachsen und hat Bedeutungen
akkumuliert, welche eine Umschreibung besser erfaßt als pure Rekapitulation.
Diese würde nun eher als ein die Kontinuität der musikalischen Anreicherung,
den vermehrenden Prozeß unterbrechendes Zitat empfunden. Instrumentierend
nimmt Beethoven wahr, was in vergleichbaren Fällen ein letztes fragmentarisches
Erscheinen leistet: weil das in der musikalischen Gestalt und deren mehrmaligem
Erklingen Angesprochene sich zu Bedeutungen anhäuft, denen bare Positivität
und notengetreue Präsenz nicht mehr Genüge leisten, reflektiert fragmentarisches
Erscheinen die semantische Akkumulation vollständiger, weil explicite Freiraum
lassend zur Assoziation all dessen, was an die Materialität des klingenden Tons
nicht gebunden ist.
Gerade dort, wo der Eifer der Retoucheure scheitert, erweist sich Beethovens
Komponieren als in Grenzzonen hineinreichend, in denen gewohnte Formen
der Abhängigkeit von Intention und klingender Realisierung nicht mehr funk-
tionieren und die Bestimmung dessen, was musikalisch zur Sprache gebracht
wird, auf etliche bewährte Handhaben zu verzichten gezwungen ist: sie muß
die Zuständigkeit eines »virtuellen« Komponierens in Rechnung stellen. Dieses
virtuelle Komponieren sollte weniger als eigene (in solchem Falle etlichen
Überprüfungen entzogene) Kategorie begriffen werden denn als Randzone und
Komponente eines ganz und gar »realen« Komponierens – z.B., insofern die hohe
Intentionalität der Textur Gemeintes definieren kann, indem sie den Raum, der
ihm zukäme (den die klingende Musik teilweise schon aus technischen Gründen
nicht besetzen kann) genau umschreibt. Auf solchen Wegen prägt Beethoven
manchen nach den Maßgaben direkter Darstellung »fragwürdigen« Partien
seine Intentionen und deren über materielle Begrenzungen hinausschießende
Dynamik schlüssiger ein, als es einer vermeintlich vollkommenen Umsetzung
in real klingende Musik möglich wäre.
77

»Nicht verzeihen: begreifen«


Zum 100.Todestag des Dirigenten Hans von Bülow

»Il ne faut pas pardonner, il faut comprendre« – Cosimas stolze, harte, von Mitleid
so wenig wie von Selbstmitleid getrübte Entgegnung auf das Verzeihensange-
bot des Mannes, dessen Name sie noch trug, ist diesem zeitlebens auf die Stirn
gebrannt geblieben. Dennoch, so meint man, müßte er als Musiker groß genug
gewesen sein, daß eine Würdigung auch ohne die oft erzählte Ehekatastrophe
sollte auskommen können. Sie kann es nicht: denn der Treubruch betraf sein
Selbstverständnis zu sehr, zu tief, um nicht auch in die Geschichte der musika-
lischen Interpretation zu gehören. Der sich selbst als ein durch Wagner Erweckter,
zu bedingungsloser Dienstschaft an einer Sache bekannte, die der Meister stets mit
seiner Person ineins zu setzen wußte, sah sich zu denkbar schlimmer Treueleistung
gezwungen; der Träger eines großen Namens mußte in aller Öffentlichkeit nahezu
ein mit seiner Frau vollzogenes ius primae noctis hinnehmen und berufshalber
die Hörner des düpierten Ehemanns in Europas und Amerikas Konzertsälen
vorzeigen. Und als Opfer dieses prominentesten Ehebruchs des Jahrhunderts traf
es in ihm einen Mann, dem das Bewußtsein, von sich aus wenig zu sein und alles
aus sich machen zu müssen, eine sehr preußische Empfindlichkeit in Ehrendin-
gen zum Übermaß gesteigert hatte; Cosimas Wort mußte er auch verstehen als
Hinweis, daß ihm zu verzeihen nicht zustünde.
Überflüssig zu fragen, ob sie es so gemeint hat – in ihren Tagebüchern liest
es sich anders. Sicher ist, und ihr kundryhaft dienendes Leben nach dem Bruch
bestätigt es, daß dieser allem Verzeihen entzogen war, daß er in seiner amora-
lischen Unausweichlichkeit wie ein archaisches Ritual erschien. Und dem am
tiefsten Gedemütigten war neben der Schande der Rangunterschied zwischen
Genie und Talent, Gott und Paria, zwischen Schaffendem und Nichtschaffendem
untilgbar eingebrannt.

✵✵✵

In einer Konstellation wie der zwischen Wagner, Cosima und Bülow trägt kaum
je einer der Beteiligten alle Schuld und ein anderer keine. Soweit die Kategorie
hier überhaupt noch zuständig ist – es gibt eine Mitschuld im Wegsehen und
Geschehenlassen; zumindest die hat Bülow auf sich geladen. Zu lange hat er,
geschüttelt von Angst, die beiden wichtigsten Menschen zu verlieren, in der
Grauzone zwischen Verdrängung und dem Alibi einer verabsolutierten Erge-
benheit des Jüngers verweilt, um nicht schon früh, möglicherweise im Sommer
1864, geahnt zu haben, was er sich nicht eingestehen konnte; um nicht vom
Widerspruch gequält zu sein zur Familiendevise »Alle Bülow’n ehrlich«, auf
78 »Nicht verzeihen: begreifen«

derenVerbindlichkeit er anderwärts halsstarrig bestand. Hier war er nicht ehrlich,


zeigte sogar noch Wagners zweite Tochter, wenn auch nicht expressis verbis als
eigenes, so doch als viertes Kind seiner Frau an, und nach Wagners Tod ließ er
sich, bürgerlichen Ehrbegriffen genügend, eine juristische Bestätigung dieser
Scheinvaterschaft abhandeln. Konnte er noch fünfeinhalb Jahre nach dem Liebes-
gelöbnis der beiden glaubhaft finden, daß seine Frau – wie er an eine vertraute
Freundin schrieb – »dem sehr einsamen Maestro« in Tribschen »Gesellschaft«
leistet, konnte er an dem selbstherrlichen Zynismus vorbeisehen, den Wagners
Auftritt als Pate bei Isoldes Taufe bedeutete? War ihm durch die Möglichkeit,
»… das Größte, ja einzige zu meinem Gedeihen, zum Gedeihen meines Werkes«
beizutragen – so Wagner in einem Brief –, tatsächlich der Blick verstellt auf die
nur mit Realitätsverlust erklärbare Absurdität, in die Wagner sich mit der im April
1866 ausgesprochenen Einladung an die gesamte Familie Bülow hineinschrieb,
in Tribschen Quartier zu nehmen?
Selbst wenn es so gewesen wäre, ist Bülow nicht entschuldigt, wird damit
doch ein Abstand zwischen den Eheleuten vorausgesetzt, der, von Cosima später
in den Tagebüchern mehrmals angesprochen, als Alibi für sie beinahe ausreicht.
Schon ehe dieVorbereitungen der Münchener Uraufführungen als Zuflucht eines
Nichtwissenwollenden bereitstanden, war ihm seine Arbeit wichtiger gewesen als
alles andere – an der Seite einer Frau, die das sehr wohl erkannte, über die er nach
der Scheidung einer Vertrauten schrieb, sie sei »viel zu groß für mich gewesen«,
damit übrigens auch auf Körpermaße anspielend. DieselbeVertraute, Jessie Laussot,
erfuhr schon 1856, da Bülows Mutter beide Liszt-Töchter bei sich aufgenommen
hatte, sie seien »interessante Erscheinungen, wie mir selten vorgekommen. Ein
anderer als ich würde glücklich sein, mit ihnen zu verkehren. Mich geniert ihre
offenbare Superiorität, und die Unmöglichkeit, ihnen genügend interessant zu
erscheinen, verhindert mich, die Annehmlichkeit ihres Umgangs so zu würdigen,
wie ich es möchte.« Dennoch kommt es rasch zur Ehe, beiderseits einer Flucht
vor zerstörten Verhältnissen bei den Eltern und erklärtermaßen mit wenig Illu-
sionen; die junge Frau hat bald die Offerte, ihr Mann werde sie freigeben, wenn
sie woanders ihr Glück eher meine finden zu können. Was hat er von der Ehe
erwartet, welche Begriffe hat er von Cosimas Lebens- und Glücksansprüchen,
wenn er fünf Jahre nach der Hochzeit der Schwester anläßlich deren Verlobung
schreiben kann: »Meine Ehe ist von meiner Seite aus eine ganz gewiß überraschend
glückliche – Cosima leistet ein bewundernswertes Kunststück, das Leben mit mir
auszuhalten – aber ich bin eine ins Weibliche hinüberstreifende Natur, meine Frau
hat einen starken Geist und bedarf leider so wenig meiner Beschützung, als daß
sie vielmehr mir diese bietet.« Die Katastrophe war vorprogrammiert.

✵✵✵

Zu München, »wo ich nach und nach alles das erleben mußte, von dem ich mich
auch heute noch wundern muß, daß ichs überleben konnte«, gab es ein heiter
»Nicht verzeihen: begreifen« 79

kindliches Präludium. In einem in Kissingen geschriebenen Brief gesteht der


Dreizehnjährige der Mutter, er habe »beinahe sogar ein Rendezvous mit einer
Dame gehabt; aber ich habe sie im Stich gelassen, und sie hat vergebens auf mich
gewartet. Das kommt daher weil ich immer im Conversationssaal Klavier spiele.«
So ist es zeitlebens geblieben: Auch in Bülows zweiter, aufgrund beidseitiger
Verpflichtungen oft par distance geführten Ehe gab es Krisen und eine nur mit
knapper Not vermiedene Trennung. Seine Liebesbekenntnisse gleichen eher
Notschreien, schon in ihrer Brautzeit hört die Schauspielerin Marie Schanzer
viel von Lebensüberdruß und bekommt anläßlich des Todes von Joachim Raff
zu lesen: »wie gern wäre ich an seiner Statt!« Insuffizienzgefühle, häufig zu
Depressionen sich steigernd, bilden den perennierenden Hintergrund seiner
rastlosen Tätigkeit, sie allein akzeptiert er als Legitimation seiner selbst; und seine
»lumpige Lebensgeschichte«, »der Abgrund meiner Vergangenheit«, die Kette der
»Lebensschiffbrüche«, indem sie ihn verpflichten, »krampfhaft Vergangenheit zu
tilgen«, helfen diese befestigen. »Eteindre mon gaz«, Schluß zu machen liegt ihm
immer wieder nahe; einmal, da er hört, in Zürich sei die Cholera ausgebrochen,
reist er dorthin, um sich zu infizieren. Von »krankhaftem Mangel an Selbst-
vertrauen« schreibt schon der Zwanzigjährige und meint, da er es – zunächst
– nicht fertigbringt, sich gegen die Mutter für Wagner zu entscheiden, es wäre
besser für ihn gewesen, »einem geringeren, aber in jedem Augenblick edlen und
zweckgewissen Berufe als Kanonenfutter zu folgen«.
»Glücklich der Mensch, der fremde Größe fühlt / und sie durch Liebe macht zu
seiner eig’nen, / denn groß zu sein ist wen’gen nur vergönnt« – diese Grillparzer-
Verse zitiert er in seinen Briefen mehrmals und versucht sie für sich einzulösen
in der Verpflichtung, »durch künstlerischen Charakter den manco an Talent zu
ersetzen«. Ständig im Hinblick auf »fremde Größe« lebend, bedarf Bülow der
Legitimation immer neu; die gescheiterten Ehrgeize eines »Totalmusikers«, der
sich kompositorisch in fast allen Genres bis hin zur Oper versucht hat, der Liszt,
Wagner, Brahms aus nächster Nähe beobachtet (»Freilich bin ich neidisch auf
ihn, das heißt auf alles das was er kann und ich nicht, … höre … ihn mit mehr
objektivem Genuß selbst falsch spielen als mich selber richtig«, schreibt er über
Liszt), der noch als Sechzigjähriger einer Sängerin eigene Lieder als »Gelegen-
heitsirrtümer« unterbreitet, müssen immer neu beschwichtigt werden. »Hätte
ich gar keine Anlage zum Produzieren gehabt, so wäre kein Verdienst in dieser
Resignation zu erblicken« – der moralisierende Einschlag verrät, daß die Resigna-
tion nie endgültig geleistet war. Zum Dirigenten seines Formats mußte wohl der
»verhinderte Komponist« gehören – und bei ihm konsequenterweise auch seine
Reizbarkeit, Unruhe und Ungeduld, sein Mangel an Gelassenheit; jener schwer
verabschiedete Totalanspruch war gewissermaßen zu eng kanalisiert – dies ein Teil
des »unseligen« Charakters, den er von Mitschuld an seinen Lebenskatastrophen
keineswegs freispricht, für den er in freundlichen Momenten wenigstens gelten
läßt, daß »unsere Fehler … übertriebene Tugenden« seien. Mit der strafenden
Rigorosität eines allen Genuß, Entspannung und Muße verweigernden Asketen
80 »Nicht verzeihen: begreifen«

nimmt er sich in Zucht und wird später immer wieder daran scheitern, daß
andere sich der Zucht verweigern, in die er sie im Interesse der Sache nehmen
will. Rundum gesund fühlt er sich fast nie, härtet sich »systematisch ab«, übt oft
acht bis zehn Stunden täglich Klavier, wohnt in ungeheizten Zimmern, noch
als Meininger Hofkapellmeister nahezu in einer Studentenbude, und weiß sich
von Stimulantien abhängig: »Ohne schwarzen Kaffee, ohne Aufregung – soll ich
so klavierspielen können, wie ich klavierspielen muß? Unmöglich«. Er ist auf
Entäußerung und Widerhall angewiesen und braucht die Erfolge, unter deren
Eindruck er alle Unpäßlichkeiten und »unheilbare psychische Krankheit« – schon
in jungen Jahren ein kleiner Schlaganfall – vergessen kann; seine Siegesmeldungen
von erfolgreichen Konzerten, noch diejenigen des reifen Mannes von den Tri-
umphzügen mit der Meininger Hofkapelle, klingen oft primanerhaft.
Das fällt um so mehr auf, als Bülow vorzüglich, außerordentlich sprachbewußt
schreibt – zahllose Artikel, Polemiken und vor allem Briefe, welche von seiner
zweiten Frau trotz vieler Auslassungen und Kürzungen zu einem einzigartigen,
sehr ehrlichen journal intime zusammengereiht worden sind (ihre Vorgängerin
ging bei entsprechendenVorhaben anders zu Werke).Auch schreibend steht Bülow
unter Profilierungsdruck, Meister der angriffslustigen, treffsicheren Pointierung,
einer gelenkigen, eleganten Syntax, die ihm mit polemischen Spitzen virtuos
Versteck zu spielen erlaubt (er selbst spricht von »Ellipsenmanie«), in den besten
Prägungen, wenn Pointensucht nicht allzu deutlich die Feder führt, in der Nach-
folge Heines und später dem schrillen Ton des späten Nietzsche sich nähernd.
Oft schießt er übers Ziel hinaus und muß dann in oft förmlichen Entschuldi-
gungen zurückstecken. In der Musik ein Großmeister witzig-geistreichelnder,
fast durchweg verletzender Bonmots, hat er ebenso oft prophetisch richtige
Beschreibungen geliefert – unter anderem des erst in Entstehung begriffenen
»Tristan« – wie, auch hierbei weitab von aller abwägenden Vorsicht, eklatante
Fehlurteile, besonders über jüngere Komponisten wie Strauss und Mahler.Von
seiner Formulierungsgabe läßt er sich gern verführen, bis hin zu Wortspielen und
Kalauern (»… was Grützmacher angeht, diesen grützelosen Grützfabrikanten für
das Schlendergeschäft von Kahnt …«).
Die Devise »Alle Bülow’n ehrlich« muß ein nahezu zwanghaftes Bedürfnis
rechtfertigen, immerfort Position zu beziehen, möglichst vielen über möglichst
vieles die Meinung zu sagen, in schroffen Stellungnahmen sich zur Geltung zu
bringen selbst da, wo diese nicht nur undiplomatisch, sondern unnötig sind, er
aber einen Ehrenpunkt betroffen meint; so daß diese von hingebender Begeiste-
rung, idealistischer Selbstlosigkeit getragene Karriere begleitet wird von einer nie
abreißenden Kette vonVerstimmungen,Verletzungen, Brüchen.Weil Brahms ihm
rechtzeitig mitzuteilen vergaß, daß Frankfurt ihn zu einem Dirigat seiner neukom-
ponierten Vierten Sinfonie verpflichtet hatte, die Bülow dort mit den Meiningern
vorstellen wollte, setzt er die zweite große Freundschaft seines Lebens aufs Spiel.
Weil er mit einer Aufführung von Meyerbeers Propheten in der Berliner Oper
unzufrieden war – der Intendant war Botho von Hülsen –, wiederholte er den
»Nicht verzeihen: begreifen« 81

Krönungsmarsch im darauffolgenden Philharmonischen Konzert, damit die Leute


ihn richtig hören könnten und nicht so »jämmerlich massakriert« wie im »Zirkus
Hülsen«, wie er in einer Ansprache während des Konzertes formulierte; Jahre
später wird er deshalb vor einer Vorstellung aus der Oper hinauskomplimentiert.
Nicht selten, z.B. weil er die Zuschauer in München »Schweinehunde« genannt
hatte, muß er sich entschuldigen (dieser Notwendigkeit verdanken wir einige
besonders schöne Briefe), mehrmals bringt er den ihm sehr gewogenen Meinin-
gischen Herzog in Verlegenheit, weil der die Ausfälle nicht mehr decken kann,
und muß der Polizei in Wien versprechen, während der dortigen Konzerte nicht
öffentlich zu reden.Wohl verstehbar seine Ansprache zugunsten des aus dem Amt
gedrückten Bismarck nach einer Aufführung der Eroica in Berlin am 28.3.1892,
weniger verstehbar die törichte Textierung des »Prometheus«-Themas aus dem
Eroica-Finale, die er auf einem Zettel im nachfolgenden Konzert in Hamburg
ausgeben ließ. Da läuft der allerorts respektierte wenn nicht gefürchtete, selten
geliebte Despot, in dessen geistigem Haushalt Heldenverehrung eine wichtige
Rolle spielt (Friedrich der Große, Napoleon, Bismarck, zuoberst Beethoven)
Gefahr, sich harlekinhaft zu demontieren – wie vollends, wenn er sich vor der
Marcia funebre der Eroica auf einem Silbertablett schwarze Handschuhe aufs
Podium bringen läßt. Die gespannte Aufmerksamkeit, deren er sich sicher sein
konnte, war in steigendem Maße verwoben mit banger Erwartung dessen, was
heute wieder passieren werde. Wie paradox die überstarke Prägung durch die
Person dessen, der seine Tätigkeit als Dienstschaft begriff! – Selbstlosigkeit in
bezug auf die Sache selbstisch in den Mitteln ihrer Durchsetzung.
Ins Kapitel der ohne Not bezogenen Positionen gehört auch der mehr in
der Redeweise als in der Substanz abscheuliche Antisemitismus des nach eigener
Auskunft »deutschtümelnden« Bülow – ungenau und großmäulig intonierte
Teilhabe an einem Meinungsklima, die, wo sie überhaupt zu erklären nötig findet,
dies auf einem Niveau besorgt, auf dem, im augenzwinkernden Einverständnis
zwischen Gleichgesinnten, Schimpfworte (»Mauscheljuden«) identisch werden
mit Argumenten und blaublütige Elitegefühle sich unreflektiert mit Momenten
eines antikapitalistisch akzentuierten, liberalen Antisemitismus verbinden, an
dem auch Karl Marx teilhatte; immerhin hatte sich Bülow in jungen Jahren
unter dem Eindruck der Revolution von 1848, auch hierin Wagner folgend, als
glühender Republikaner und Demokrat bekannt. Glücklicherweise kann man
all dem entgegenhalten, daß Meyerbeer und vor allem der bewunderte Men-
delssohn immer wieder auf seinen Programmen standen und Männer wie Joseph
Joachim zu seinen Freunden zählten. Mit Hermann Levi, den er nicht mochte,
und dessen selbstzerstörerischer Hinnahme der Bayreuther Judenfeindlichkeit
verband ihn mehr, als ihm lieb sein konnte. Denjenigen, der genüßlich Levis
Ausbrüche jüdischen Selbsthasses zitiert, könnte man leicht anhand einer eigenen
Äußerung überführen: »Der … beinahe heilig zu sprechende Pascal«, schreibt
er an seine spätere zweite Frau, »sagt ›le moi est haïssable‹. Das meine ich auch,
und nicht bloß theoretisch, wie ich durch dreißigjährigen Künstlerkrieg meines
82 »Nicht verzeihen: begreifen«

Lebens nachzuweisen vermag. Die Menschen, die Iche, sind sterblich, die Ideen
sind unsterblich. Erstere zählen überhaupt erst, wenn und insoweit sie letzteren
dienend, hingebend in ihnen aufgehen. Selbsterhöhung ist der Lohn solcher
Selbstentsagung … Opfer ist Tribut, nicht Raub.«
Anders als der angestrengte Willensmensch erwarten läßt, hat er nicht durch-
laufen, was man eine Karriere nennen könnte. Erschwert war das schon durch
sein Herkommen. Mit Bülow erscheint erstmals einer der großen Adelsnamen
unter professionellen Musikern – und er ist darin allein geblieben. Weniger mit
Begabung als mit gesellschaftlichem Bewußtsein hat es zu tun (z.B. gab es den
flötenspielenden Friedrich, dessen cellospielenden Nachfolger und den sehr
achtbar komponierenden Prinzen Louis Ferdinand), daß der Adel norddeutsch-
preußischer Prägung die Künste spärlich beschickt hat, am ehesten noch die
Poesie, welche einen gehobeneren sozialen Ort besetzt als die Musik und nicht so
deutlich wie sie den Unterschied zwischen Profession und Liebhaberei erkennen
läßt – das mögen Bülows auf hohem literarischen Niveau schreibende Zeit- und
Standesgenossen Bismarck und Moltke bezeugen. Normalerweise wird ein als
Freiherr Geborener nicht Musiker – damit hatte Hans von Bülow nicht nur bei
seinen Eltern zu tun, sondern bei sich selbst, wie immer sein literarisch beflis-
sener, liberal denkender Vater die Norm schon verletzte. Die außergewöhnliche
Berufswahl mußte durch außergewöhnliche Leistung legitimiert, die Identität
von Beruf und Berufung immer neu befestigt werden, ein mittelguter Musiker
durfte es nicht sein. In Prägung und Gesinnung blieb Bülow preußischer Ari-
stokrat; indem er dessen gesellschaftliche Normalität durchbrach, schuf er sich
die Voraussetzung dafür, im eigenen Felde dessen Tugenden und Maßstäbe zu
bewähren. Nicht anders, als der große Friedrich seine ökonomisch schwache
»Streusandbüchse« zum Status einer europäischen Großmacht hinaufzwang, drillt
der Enkel eines Helden der Befreiungskriege ein mittleres Orchester, bis es die
renommiertesten das Fürchten lehrte.
So wenig ihm die Besessenheit des Berufenen fehlt, so sehr die zähe Zielstre-
bigkeit des Aufsteigers.Vermittlung und Ausgleich zwischen seinen Ambitionen
und dem jeweils Erreichbaren fällt ihm schwer, sein Stolz empfindet sich durch
die Banalitäten musikalischer Kärrnerarbeit schnell gedemütigt; entsprechend
rasch ist er mit der Kabinettsfrage bei der Hand und macht sich, indem er seine
Begriffe von Selbstbestimmung gefährdet sieht, um so häufiger zum Objekt
fremder Bestimmungen. Insofern stehen die Folgen der Ehekatastrophe, der
aus der Bahn geworfene, Deutschland meidende, mit Existenzgründungen in
Rußland und Amerika liebäugelnde Bülow pars pro toto, und daß er bis zuletzt
auch als bedeutender Pianist in Erscheinung trat, fällt korrigierend wenig ins
Gewicht. Keineswegs lief es für den ersten philharmonischen Chefdirigenten
in Berlin – was er per Bestallung nie war, realiter um so mehr – wie bei seinen
Nachfolgern auf diese Position als die Krönung hin.Wagner hat er sich zunächst
von seiner Mutter ausreden, später Wagner über seine Existenz als Musiker ent-
scheiden lassen; nur zu gern akzeptiert er als Fügung, wie Liszt ihn in Weimar als
»Nicht verzeihen: begreifen« 83

Schüler und Mitbewohner aufnimmt; von mehreren Werbungen zieht er sich, da


sie keine Aussicht versprechen, rasch zurück. Zu den festen, nie lang währenden
beruflichen Bindungen haben ihn neben verlockenden Arbeitsmöglichkeiten
stets Menschen bewogen, die sein Vertrauen besaßen, viel weniger ein auf das
eigene Fortkommen fixiertes Interesse – zum Konservatorium in Berlin Julius
Stern, zu München Liszt, Wagner und der bayrische König, zu Hannover Hans
von Bronsart, zu Meiningen Herzog Georg II, zu Hamburg der Theaterdirektor
Pollini und zu Berlin der Konzertunternehmer Wolff. Von Zielstrebigkeit im
Großen keine Spur – eher zufällig steht Berlin am Ende – und kaum je eine
Spur von materiellen Erwägungen, am ehesten, wenn er erfährt, daß Geringere
viel mehr verdienen als er. An der Noblesse in diesen Dingen haben das Ehrbe-
wußtsein des Adligen und rigorose Hingabe an die Sache gleichen Anteil. Stets
sieht er die Arbeitsmöglichkeiten an einem neuen Ort zunächst in zu günstigem
und bald danach in zu ungünstigem Licht, kein Abschied ohne Verstimmung und
Krach. Denn »in materia musices hört die Höflichkeit auf« – so 1872 in einem
Brief an Nietzsche, worin er einen von dessen kompositorischen Versuchen, die
Manfred-Meditationen für Klavier, »das Unerquicklichste und Antimusikalischste«,
nennt, »was mir seit lange … zu Gesicht gekommen ist«, ein »Fieberprodukt«,
das »vom musikalischen Standpunkt aus nur den Wert eines Verbrechens in der
moralischen Welt«, habe, denn »eine in Erinnerungsschwelgerei an Wagnersche
Klänge taumelnde Phantasie ist keine Produktionsbasis«. Wie immer Bülow
substantiell Recht hatte – daß die Verurteilung Wagners derzeit wichtigsten und
ohnehin gescheitesten Panegyrikus traf, daß sie auch den Meister in Verlegenheit
brachte und ihre Form für sich sprach, muß er kalkuliert haben. Eben damals
erlebte die Freundschaft zwischen Nietzsche und den Wagners ihren Höhe-
punkt; zu Beginn des Jahres war Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik
erschienen (»Schöneres als Ihr Buch habe ich noch nichts gelesen«, Wagner an
Nietzsche), gefolgt von etlicher Polemik, in die auch Wagner eingriff. Im Juli
hatte Nietzsche in München eine von Bülow dirigierte Tristan-Vorstellung
erlebt, danach diesem begeistert Dank abgestattet: »Sie haben mir den Zugang
zu dem erhabensten Kunsteindruck meines Lebens erschlossen.« Hierauf und
auf das eingeschlossene Manuskript reagierend fand Bülow es angezeigt, den
Komponisten Nietzsche abzuschlachten.

✵✵✵

Nicht anders als für den derart Gezüchtigten war Richard Wagner Bülows Idol
und große Passion, spürbar noch in der Erleichterung, in Brahms ein so mächtiges
Widerlager gefunden zu haben. In der Reihe der spektakulären Schlüsselerleb-
nisse – des dirigierenden Weber für Wagner, des dirigierenden Wagner für Bülow,
des dirigierenden Bülow für Mahler und Strauss – griff das ihn betreffende am
tiefsten, eine Initiation, die, seit der Zwölfjährige Rienzi gehört hatte, den Am-
bitionen des frühzeitig mit der »Erkenntnis seiner Nullität« Vertrauten Richtung
84 »Nicht verzeihen: begreifen«

und Inhalt gab, sich im Widerstand gegen die Eltern bewährend bestätigte und
in langen Jahren einer Jüngerschaft erneuern und vertiefen konnte, die in der
neueren Musikgeschichte ohne Vergleich dasteht. Bülows Opfer darf nicht ver-
gessen machen, in welchem Maße er den Weg zum »größten nachschaffenden
Genie der Tonkunst« (so ein Nekrolog im Jahre 1894), in welchem Maße er
sich selbst dieser Jüngerschaft verdankt. Bei deren Kennzeichnung ist ihm kein
Wort drastisch genug; wie er später sich in einem Brief an Brahms schlankweg
»Hans Brahms« nennt, so in den Münchener Jahren den »Taktstock Wagners«.
Der Siebzehnjährige hat dem Idol eigene Kompositionen zugesandt und jubelt
über eine ermutigende Antwort; ein Jahr später ärgert er sich über Tiecks Kritik
am Lohengrin-Libretto, sieht, dieser entgegnend, »Wagners Heiligkeit … unan-
getastet«, versucht durch »kurze Annoncen« in Leipziger Zeitungen die dortige
Absetzung des »Holländers« zu verhindern und »dankt Gott«, daß er »imstande«
sei, »die ganze Heiligkeit und Göttlichkeit der Musik, die dieses Werk (Tannhäu-
ser) »zur inneren Anschauung bringt, zu erfassen und die Sendung des Apostels
Wagner zu verstehen«.Was Wunder, daß ihn zwei Jahre später Wagners Vorschlag
elektrisiert, »nächsten Winter unter seiner Leitung praktische Studien in Zürich
zu machen und abwechselnd mit Ritter daselbst die Oper zu dirigieren« – womit
Wagner vor dem Institut nicht weniger waghalsig Verantwortung übernimmt
als für den jungen, dirigierunerfahrenen Mann; denn dieser legt sein Geschick
bedingungslos in des »Apostels« Hände und riskiert endlich den Bruch mit den
Eltern; »niemand von der Welt wird mir das ausreden«.Wenn es noch einer »Prä-
gung« – im Wortverständnis der Ethologie – bedurft hätte, die wenigen Monate
der Zusammenarbeit in Zürich hätten sie gebracht.
Im übrigen beruht die Freundschaft, wie immer Wagners »Zuneigung … stets
etwas von dem Charakter der zärtlichen Sorge des Älteren für den Jüngeren
behalten« hat (Wagner im Juni 1864 an Cosima), auch ohne die Dienstleistungen
auf Gegenseitigkeit. Offenkundig hat es Wagner – zumindest zeitweise – viel
bedeutet, mit dem Jüngeren auch über persönliche Dinge besser sprechen zu
können als mit Minna oder mit Liszt. »… Dich, Hans, habe ich ungeheuer gern:
glaube mir das! wenn ich die kargen Freuden meines Lebens zähle, kommst Du
sogleich in die Hauptzahlen. Hilf mir Gott, ich brauche nichts als Wärme zum
Ausbreiten: dann bin ich glücklich; ganz aufrichtig und rückhaltlos sein können
ist meine einzige Wonne. Dazu bedarf es aber schrecklich viel, denn nicht eine
Herzensgüte genügt mir, sondern ich bedarf großer intellektualerVerwandtschaft;
sonst muß alles gleich wieder eng und dürftig werden. Du bist mir so sehr recht,
und Deine Schicksale liegen mir so nah, als ob es die meinigen wären. Hüte
Dich wohl, und nimm Dich recht in acht, damit Du mir gesund und ausdauernd
bleibst.« Daß »zärtliche Sorge« im Vordergrund stand, lag freilich im Interesse
des einen so wenig wie des anderen. Bülow geht, wo und wie irgend er kann,
dem Meister zur Hand. »Eben habe ich eine Kopie der ›Meistersinger‹ zustande
gebracht – 145 Quartseiten; habe fünf Tage zu acht Schreibestunden daran in
gräßlicher Hitze die Finger gesteift«, schreibt er aus Biebrich am 31. Juli 1862 an
»Nicht verzeihen: begreifen« 85

seinen Freund Richard Pohl und wehrt sich wiederholt gegen den Verdacht, von
Wagner ausgenutzt zu werden. »Wagner bedarf meiner, persönlich und sachlich«
– dies, im Januar 1865 geschrieben, bildet seine außer jede Frage gestellte raison
d’être, war ein Jubelruf und doch längst makaber grundiert.
Es fällt schwer, das langjährige Geschenk der Nähe des großen Mannes
durch die Hintergehung nicht verkleinert zu sehen, ein Geschenk auch an Ver-
trauen und Teilhabe. Das frischvermählte Ehepaar Bülow wohnt wochenlang
bei den Wagners, hat Einblick in die bereits komponierten Teile des »Ringes«
(»Etwas Ähnliches, Annäherndes ist nicht geschrieben worden – überhaupt
nicht – nirgends – in keiner Kunst, in keiner Sprache.Von da darf man auf alles
andere herabsehen, alles andere übersehen. Es ist eine wahre Erlösung aus dem
Weltkote«), Bülow liest als einer der ersten in der Tristan-Partitur (»Sie kennen
mich zu gut«, schreibt er an Franz Brendel, »als daß Sie meinen sollten, ich wäre
in eine überspannte Schwärmerei verfallen; Sie wissen, daß mein Herz erst bei
der Behörde des Kopfes um Erlaubnis fragt, sich zu begeistern. Nun, mein Kopf
hat hier unbedingte Genehmigung erteilt … ich versichere Ihnen, die Oper ist
der Gipfelpunkt bisheriger Tonkunst!«), und erhält Einblick in die skizzierten
Meistersinger. Kann die Nibelungentreue wundernehmen, die sich mit aller Kraft
außerhalb alles Persönlichen, aller Selbstachtung zu behaupten sucht und das
schier Unvorstellbare vorzustellen sich weigert? Noch, da ganz München sich
über den gehörnten Ehemann mokiert, verteidigt der den Räuber seiner Ehre:
»Sein Humor ist unverwüstlich.Außerdem habe ich ihn in den schlimmsten Tagen
seines unruhigen Geschickes gerade stets am würdevollsten gesehen.«

✵✵✵

Welche Überzeugungskraft muß vonnöten gewesen sein, um in der Öffentlichkeit


der Orchester und Konzertsäle alle Bereitschaft zu böser Nachrede zu entmutigen
(noch im Jahr 1881 erschien in Berlin eine Karikatur, die Liszt fröhlich Arm in
Arm mit seinen beiden musikalischen Schwiegersöhnen zeigt), Musizierende wie
Hörende ohne hämische Seitenblicke auf die Sache zu fixieren! Dank ihrer und
dank unfehlbarer Professionalität hat Bülow mehr als jeder vor ihm Begriff und
Funktion des Dirigenten geprägt und definiert; ohne Schule bilden zu können,
hat er Schule gemacht und Männern wie Mahler, Strauß, Nikisch, Mottl, Muck
bis hin zu Bruno Walter vermitteln können, was es bedeute, das ästhetische
Subjekt großer Musik sichtbar zu verkörpern und als dessen Stellvertreter zu
agieren, und er hat – wichtig und fällig in Zeiten, da viel hochbedeutende,
spieltechnisch anspruchsvolle Musik komponiert wurde – offenbar noch eine
Stufe über Habeneck, Mendelssohn und Nicolai beweisen können, was mit
einem Orchester erreichbar sei. Der Beweis ließ sich nicht ohne Anstrengung,
Zwang wenn nicht Gewaltanwendung führen, und Bülow stand tief genug in
preußischen Traditionen, um das für selbstverständlich zu halten – auch den
autoritären Umgang mit Musikern im Sinne einer Exemplifikation von »daß
86 »Nicht verzeihen: begreifen«

sich das größte Werk vollende, genügt ein Geist für tausend Hände«. Die Frage,
ob und auf welche Weise man im großen Verbande »demokratisch« musizieren
könne (man kann es nur in Grenzen), mag dem Rigoristen am ehesten über die
Erfahrung vermittelt worden sein, daß man es letzten Endes nicht gegeneinander,
sondern miteinander tun müsse.
Nach epochalen Taten wie den Münchener Uraufführungen Wagnerscher
Opern, sensationellen Beethoven-Aufführungen oder dem Durchsetzen der
Brahms-Sinfonien schlug die Stunde der historischen Bewährung von Bülows
Leistung, als sie unabhängig von ihm bestehen mußte – bei seinem Tode. Arthur
Nikisch, nahezu wie Fortinbras die Szene betretend und nach einem kurzen
Interregnum zunächst von der Erleichterung profitierend, den Zuchtmeister los
zu sein, fand ein Reich vor, das sich auch auf andere Weise als bisher regieren
ließ: nach dem Drill unauffällig kontrollierte Spontaneität, nach dramatisie-
render Anspannung scheinbar frei sich entfaltende Lyrik, nach scharf kalkulierter
Willentlichkeit der Zauber eines dezidiert ungewollten, farbenreichen, aus der
Unmittelbarkeit seiner selbst entwickelten Musizierens, nach dem, der Musik
erzwang, einer, der sie erweckte. Derlei Beschreibung wagt einiges, weil sie sich
nur auf Berichte stützen kann; die von Nikisch erhaltenen Tondokumente sagen
nicht allzuviel, und von Bülow gibt es keine. Als die elementarere musikalische
Begabung gewann Nikisch dem von Bülow geschmiedeten Instrument rasch
Dinge ab, die außerhalb der Reichweite des Vorgängers gelegen hatten.
Der Versuch, genauer zu erfassen, was Bülows Wirksamkeit für die Kultur
des Orchesterspiels bedeutet, gerät nicht nur der Beweislage wegen in Schwie-
rigkeiten, sondern auch, weil bei der Wertung der Zeugen Vorsicht geboten ist.
Wie verhielt es sich mit einem nach damaliger Meinung straff durchgehaltenen
Tempo, wie würden wir eine Aufführung wie die von Beethovens Achter Sinfonie
beurteilen, die Hanslick »in solcherVollendung nie zuvor gehört« zu haben meint,
und wie müßten wir dieses Urteil relativieren im Sinne der seinerzeit gültigen
Maßstäbe? So gewiß die Technologie des Orchesterspiels sich verbessert hat,
so gewiß können Mozart und Beethoven manche halsbrecherisch schwierige
Passage kaum ohne Aussicht auf halbwegs angemessene Realisierung entwor-
fen haben. Daß Beethoven im orchestralen Bereich sich mit viel geringerer
Qualität zufriedengeben mußte als im kammermusikalischen, steht aber ebenso
außer Frage wie, daß der junge Mendelssohn bei Habeneck in Paris ein ihm
bislang unbekanntes Niveau erlebte, wie wiederum zehn Jahre später mancher
Besucher der Gewandhauskonzerte – unter anderem der junge Bülow – bei
ihm. Berlioz, Liszt und Wagner mögen in erster Linie inspirierende, durch die
Überredungskunst ihres Musikertums befeuernde Dirigenten gewesen sein und
auf diesem Wege mehr erreicht haben als durch pedantische Arbeit – ungewiß
etwa, inwieweit die Rechenschaft über Details klassischer Partituren, die Wagner
in seinen einschlägigen Schriften leistet, sich in seinen Aufführungen nieder-
schlug. Manches spricht dafür, daß der inspirative Vorgriff der Berlioz, Liszt und
Wagner in ähnlicher Weise durch pedantische Kleinarbeit eingeholt werden
»Nicht verzeihen: begreifen« 87

mußte wie fünfzig Jahre zuvor der in Beethovens Partituren enthaltene Vorgriff
durch Habeneck und Mendelssohn: Dies könnte Bülows Auftrag gewesen sein,
Nachschaffender also auch im interpretatorischen Bereich. Die Sicherheit sei-
nes Zugriffs war befördert durch Begrenzung des Repertoires – mit wenigen
Ausnahmen (Bizet, Saint-Saëns, Stanford, Smetana, Dvofiák, Tschaikowsky) und
mit Ausnahme Bruckners nur deutsch-österreichische Musik und überdies, von
Mozart bis zum jungen Strauss reichend, einen nahezu noch lebensgeschichtlich
erreichbaren Zeitraum umfassend, nimmt man zu Bülows Lebensspanne dieje-
nigen seines Vaters oder seines Klavierlehrers Friedrich Wieck hinzu; die Frage
der Historizität stellte sich nicht.
Für die Verwirklichung seiner Intentionen mußten die Meininger Bedin-
gungen fürs erste ideal erscheinen. Weil der Herzog Oper nicht mochte, wurde
sie nicht gespielt, stand die Kapelle mithin ausschließlich für Schauspielmusiken,
Konzerte und entsprechende Vorbereitungen zur Verfügung. Zu Beginn seiner
Amtszeit konnte Bülow sich konzentriert der Erarbeitung von Beethovens
Orchesterwerken widmen – »Reise um Beethoven in 80 Tagen« nennt er das
Unternehmen, das er mit einer der später häufigeren Doppelaufführungen der
Neunten Sinfonie beendete. »Zum Teil war es eine Entdeckungsreise: durch mein
zum ersten Male … praktiziertes Proben- und Studiensystem, gemäß dem Motto
›in der Kunst gibts keine Bagatelle – die kleinste Kleinigkeit ist etwas Wesentliches‹
– sind ganz neue Wirkungen erzielt worden, bisher ungekannte Schönheiten und
Feinheiten sichtbar bzw. hörbar geworden« – was ihm der Weimarer Kapellmeister
Eduard Lassen ausdrücklich bestätigt wie später anläßlich der Tourneen viele und
wichtige Rezensenten. »An Präzision bis in kleinste Detail wird die Meininger
Kapelle von keinem Orchester der Welt übertroffen, ja schwerlich von einem
erreicht«, schreibt Hanslick im November 1884 in Wien, auf die Gefahr hin,
es mit den ansässigen Philharmonikern zu verderben; »dieses Orchester führt
Bülow, als wäre es ein Glöckchen in seiner Hand« (ders.), er führt es selbst bei
den Brahms’schen Klavierkonzerten vom Sessel des Solisten aus.
Die Meininger waren zuvor überregional kaum bekannt gewesen, und im
Hinblick auf die Besetzung hatte man in den großen Städten wohl Grund zu
herablassender Betrachtung. Im Gewandhaus z.B. konnte man damals mit min-
destens sechzehn ersten Violinen spielen, in Dresden mit vierzehn, mit ebenso
vielen in der Berliner Hofoper und bei den Wiener Philharmonikern. Die
Meininger gehen mit zehn ersten Violinen auf Tournee, mit acht zweiten, sechs
Bratschen, vier Cellisten und vier Kontrabassisten, und bei Beethovens Fünfter
oder Brahms’ Vierter müssen sich aus den Streichern noch (Bülow hofft: unbe-
merkt vom Publikum) die in späteren Sätzen hinzutretenden Bläser rekrutieren.
Mehrmals wird berichtet und durch Photographien bestätigt, daß die Musiker
mit Ausnahme der Cellisten stehend gespielt haben, angeblich (wie oft?) sogar
auswendig. Selbst der herzlich willkommene Brahms kann, wenn zu früh ein-
treffend, Bülows Arbeit »stören«; dieser formuliert zuweilen auch die Gefahren
einer harten, überkonzentrierten Arbeit: »Mit drei Proben à kaum drei Stun-
88 »Nicht verzeihen: begreifen«

den«, schreibt er im Zusammenhang mit einem Gastspiel in St. Petersburg, »also


krampfhaft und dampfmäßig, muß ein gutes Konzert erzwungen werden« – und
das will er letzten Endes nicht.
Dem Auf und Ab zwischen Drill und Erfolg entspricht dasjenige imVerhältnis
zu den Musikern; »alte Schatten und modrig muffige Tagesgespenster« nennt
er sie in einem Brief vom September 1883 und bekennt einen Monat später:
»dieses gute Musik so gut spielende, so folgsame Orchester macht mich am
Ende noch ganz gesund, lebens- und damit auch liebesfähig«. Der reizbare, zu
aggressiven Zynismen neigende Mann muß sich im Umgang mit den Musikern
oft zusammennehmen und übt die oberste pädagogische Tugend, Geduld, nur
mit Mühe – »Komödie spielen« nennt er es in einem verzagten Moment. »Da
sie mir nichts vorlügen können, kann ichs nun auch nicht mehr … die Umge-
bung von Halbtoten, Halbwachen erstickt meine Lunge, lähmt allen Drang zur
Betätigung.« Ihm gefällt, daß Zuhörer ihn den »kleinen eisernen Teufel« nennen;
als solcher diszipliniert er nicht nur die Orchester, sondern auch die Auditorien,
stellt Zuspätkommende und Zufrühgehende unbarmherzig bloß. Was wir über
den äußeren Ablauf von Konzerten im vorigen Jahrhundert wissen, spricht dafür,
daß die heute weitestgehend selbstverständliche Konzentration auf die Musik
zum nicht geringen Teil ihm zu danken ist.
Im Hinblick auf das, was Bülow musikalisch intendiert, wie er in Fragen des
Tempos verfuhr etc., relativieren sich mögliche Wertungen anhand der Voraus-
setzungen. In welchem Kontext, im Zeichen welcher Hörtraditionen fanden ein
Kritiker in Hannover die Tempi »überhetzt« und Siegfried Ochs die Hamburger
Carmen »meist viel breiter« als gewohnt, »mit einem Zug von Grandezza«; in
welcher Weise objektiv fand der überkritisch gesonnene Weingartner dieselben
gar »oft unerträglich langsam, schleppend«, mit einer ihm unverständlichen »Fülle
von Nuancen, Luftpausen«? Zumindest hatte er wenig Sinn für »die große Art
des agogischen Ein- und Ausatmens, die, wie es heißt, auf Hans von Bülow zu-
rückgeht« (A. Berrsche) und über diesen hinaus auf Wagner. Gut vorstellbar, daß
Beethovens Fünfte adäquater gelang als die Pastorale, der erste Tristan-Akt besser als
der zweite. »Der Pastorale konnte auch Bülow nicht beikommen, der ja turmhoch
über den Dutzenddirigenten stand, schon vermöge seiner hohen Intelligenz, mit
der er sich selbst über alles Rechenschaft ablegte. Aber damit kommt man nicht
aus, und an echtester, unmittelbarer Empfindung fehlte es ihm, was ich einmal
verzweifelt bei dieser Symphonie erfuhr. Es erschien mir damals unbegreiflich.
Nachher aber ging mir ein Licht darüber auf, als ich an einem herrlichen Tag
einmal in Gesellschaft neben Bülows Frau spazieren ging und zu ihr sagte, ihr
Mann müsse gewiß auch die Natur über alles lieben und seine schönste Zeit
in ihr erleben. ›Nein, sehen Sie, das ist merkwürdig‹, erwiderte sie, ›er hat kein
Verständnis zur Natur und sucht sie aus eigenem Antrieb nie auf‹« (Mahler).
Irritationen, Überraschungen scheint es oft gegeben zu haben, sie lassen das
Bild des Interpreten Bülow in den Berichten eigentümlich gebrochen erschei-
nen; nicht immer unterlagen seine Deutungen einer Disziplinierung, wie er sie
»Nicht verzeihen: begreifen« 89

im spieltechnischen Bereich durchsetzte.Taugt Richard Strauss als Gegenzeuge?


»Besonders die Art, wie er den poetischen Gehalt der Werke Beethovens und
Wagners ausschöpfte, war absolut überzeugend. Da war nirgends ein Zug von
Willkür, alles zwingende Notwendigkeit, aus Form und Inhalt des Werkes heraus;
sein hinreißendes Temperament, stets von strengster, künstlerischer Disziplin und
einer Treue gegen den Geist und Buchstaben des Kunstwerkes (beides ist mehr
identisch, als gemeinhin geglaubt wird) regiert, brachte in peinlichsten Proben
die Werke zu einer Reinheit der Darstellung, die für mich heute noch den Gip-
fel der Vollkommenheit der Wiedergabe von Orchesterwerken bedeutet« – dies
schrieb im Jahre 1909 einer, den man seinerzeit als heilsames Gegenmittel gegen
alle subjektive Maßlosigkeit empfand. »Als Pädagoge konnte er von unerbittlicher
Pedanterie sein, und sein Wahlspruch: ›Lernt erst die Partitur einer Beethoven-
schen Sinfonie genau lesen, und ihr habt auch schon die Interpretation‹, kann
heute noch die Eingangspforte jeder Hochschule zieren. Alle künstlerische Non-
chalance haßte er.« Als »Vorbild aller Tugenden des reproduzierenden Künstlers«
(abermals Strauss) sah ihn auch Mahler, der in Kassel ein Gastspiel der Meininger
erlebte und danach sein Schicksal gern auf gleiche Weise in Bülows Hände gelegt
hätte wie vormals dieser das seinige in diejenigen Wagners. »Als ich Sie um eine
Unterredung bat«, schrieb Mahler in einem Brief, den Bülow erst viel später
und distanziert beantwortet hat, »wußte ich noch nicht, welch einen Brand Sie
durch Ihre unvergleichliche Kunst in meine Seele werfen würden … Als ich im
gestrigen Konzert das Schönste erfüllt sah, was ich geahnt und gehofft, da war es
mir klar: Hier ist deine Heimat, – dies ist dein Meister – nun soll deine Irrfahrt
enden oder nie! … Ihnen gebe ich mich nun ganz und gar, und wenn Sie dieses
Geschenk annehmen, so wüßte ich nicht, was mich glücklicher machen könnte.
Wenn Sie mir eine Antwort gönnen, so bin ich zu allem bereit, was Sie mit mir
vorhaben.« Bruno Walter, obwohl die Eindrücke vorsichtig bewertend, die er als
Knabe empfing, erörtert das seltsame Verhältnis zwischen Bülows Disziplin und
Eigenwilligkeit, er spricht »von der überzeugenden Kraft seiner Aufführungen und
– trotz der selbst von dem Knaben empfundenen Subjektivität seines Musizierens
– von dem Eindruck der Authentizität … Hohe künstlerische Reinheit leuch-
tete jedenfalls aus seinen Interpretationen, und ich könnte beschwören, daß sie
durch keine auffälligen oder gar störenden Freiheiten je getrübt wurden – davor
bewahrte ihn der Ernst seines Musikertums und seine Ehrfurcht vor dem Werk.
Aber jedes Musizieren schmeckt nach dem Ich, soll nach ihm schmecken, und
ist das Ich so komplex, hat ihm ein bewegtes Leben so tiefe Spuren eingegraben,
dann wird in der ›werktreuen‹ Aufführung die eigenartige Persönlichkeit des
Interpreten auch in ihrer Eigenart erscheinen – ja es ist durchaus möglich, daß
namentlich in seinen letzten Lebensjahren Bülowsche Launen und Schrullen
gelegentlich sogar bis in manche weniger wesentliche Einzelheiten seiner Auf-
führungen hinein ihr Wesen getrieben haben.«
Dafür nun liefert Bülow selbst einige Anhalte. Mit deutlicher Spitze gegen
die zuweilen prahlerischen Subjektivitäten der mit Liszts Namen verbundenen
90 »Nicht verzeihen: begreifen«

»Zukunftsmusik« meint er im Jahre 1884, er habe sich »unterfangen«, sich »zu


häuten, reifer, musikalischer zu werden und zu letzterem Resultate allerdings
wesentlich zu entzukünfteln«. Mitunter fiel es ihm schwer, seine interpretierende
Spontaneität und Phantasie auf den im Werk vorgezeichneten Bahnen zu halten,
möglicherweise unterlag die Musik, dem Probiermeister zu einer Folge spiel-
technischer Probleme geronnen und im Zeichen unerbittlicher Kontrolle erlebt,
einem gewissen Verbrauch und erschien ihm, wenn oft wiederholt, nicht mehr
neu genug, um die nachschaffende Intention zu unverbrauchter Frische zu akti-
vieren. Daher als letzter Ausweg vor der gefürchteten Routine jähe Willkürakte:
am 10. November 1885 dirigiert er Beethovens Siebente in Rotterdam, »um nicht
vor Gähnen umzukommen, … bis zum Exzeß (die Beethovensche sozusagen
Flegelhaftigkeit unterstreichend) antiphiliströs« – was mag das bedeutet haben?
Daher kann ihn Brahms’ auf derselben Tournee häufig gespielte Vierte Sinfonie
»ennuyieren«: »Wenn der Maestrissimo dabei ist …, kann ich meinen Überdruß
ein wenig bemeistern, obwohl ich seine gloriose neue Symphonie nun bereits
so oft (mit Meiningen 14mal oder noch öfter) genossen, daß ich sie stark satt
bekommen habe.« Welch fatales, wenn durch die Situation der Konzertreise auch
halbwegs erklärbares Bekenntnis des seinerzeit in Deutschland ersten Dirigenten:
»Nie ist mir der Fluch desVirtuosentums klarer geworden als jetzt: beim Solospiel
fühlt man mehr Verantwortung und hat darum frischeres Interesse.«

✵✵✵

»Ah, dieser alte Räuber! Er raubt uns die Jünglinge, er raubt selbst noch unsere
Frauen und schleppt sie in seine Höhle …« – nicht Bülow hat das geschrieben,
sondern (übrigens dieselbe Frau meinend: Cosima) Nietzsche. Als prominenteste
Opfer und Zeugen der Faszination Wagners stehen beide näher beieinander, als
sie wahrhaben mochten, auch in der »Treue mit umgekehrtem Vorzeichen« nach
dem Bruch und in mühevollen Distanzierungsversuchen, Bülow in aufatmenden
Bekenntnissen zum Gegenpapst und noch in der Spitze gegen Wagner, die seine
Formulierung enthält, leider habe nicht Brahms das Finale von Beethovens Neun-
ter komponiert, »was er … zu größerer Ehre der ersten drei Sätze hätte tun kön-
nen«; das richtete sich auch gegen dasVulgärverständnis von Wagners Theorie, die
klassische Sinfonie sei in Beethovens Neunter zerborsten, habe sich dem Einbruch
des Wortes öffnen müssen und erheische nun als legitimen Erben das Musikdrama
– Bülow hat die Sinfonie mehrmals ohne Finale aufgeführt. Aber er hört nicht
auf, Wagner zu dirigieren, selbst zu der Münchener Tristan-Einstudierung kehrt
er nach Jahren zurück und kündigt die Verpflichtung nicht, zur Unterstützung
Bayreuths beizutragen. Es gehörte viel Größe dazu, in seiner Situation Wagner
nicht auf den »alten Räuber« zu reduzieren – diese Größe hat Bülow besessen;
aus Bayreuth wurde Vergleichbares nicht bekannt. Nur mit Mühe gelingt Bülow
einiger Abstand und nie endgültig. Nachdem er in einem der letzten Berliner
Konzerte die Tannhäuser-Ouvertüre dirigiert und seinen Jugendfreund Ritter um
»Nicht verzeihen: begreifen« 91

ein Urteil gefragt hat, antwortet dieser: »Oh, es war über alle Maßen herrlich.
Ich mußte lebhaft der Zeiten gedenken, wo wir beide einem Ideal huldigten,
dem ich treu geblieben bin.« »Da fiel Bülow«, so berichtet Richard Strauss,
»dem Freunde um den Hals, die Tränen stürzten ihm aus den Augen, und er
rannte auf sein Zimmer ohne ein Wort der Erwiderung.« Daß er der Eröffnung
der Festspiele im Sommer 1876, dem »wichtigsten Kunstgeschichtsereignis des
Jahrhunderts«, fernbleiben muß, verwindet er ebensowenig wie die ohne ihn
stattfindende Hochzeit der geliebten Tochter Daniela, beides – wieder auf wenig
ehrenhafte Weise – nun Tribut an die Eifersucht seiner zweiten Frau auf alles mit
dem früheren Leben Verbundene. »Ich muß jedes Opfer bringen, damit meine
Frau mir nicht davonläuft«, schreibt er an Daniela. Daß er die Tochter nach langen
Jahren der Trennung 1881 wiedersehen darf, hat nicht er durchgesetzt, sondern
sein früherer Schwiegervater – wie hilflos und fremdbestimmt erscheint da der
»kleine eiserne Teufel«! Cosima rechnet ein halbes Jahr nach Wagners Tod mit ihm
als Festspieldirigenten der nächsten Jahre – schwer denkbar ohne vorausgegangene
Verständigung und wie sinnfällig als öffentlich vollzogener Friedensschluß, als
Rückkehr und krönende Endstation seiner Wirksamkeit! Auch dazu ist es nicht
gekommen. Die Nachricht von Wagners Tod kam nach Meiningen während
eines der heftig ersehnten Besuche von Brahms. Sie hat »einen so erschütternden
Eindruck auf meines Mannes Gemüt gemacht«, schreibt seine Frau, »daß die
Stimmung bei uns den Höhepunkt der Traurigkeit erreicht hat. Ich selbst habe
keine Ahnung gehabt, welche leidenschaftliche Liebe er im tiefsten Innern seines
Herzens trotz allem für Wagner noch immer bewahrte.«

✵✵✵

»Bleibe ich hier«, schreibt Bülow im Februar 1887 aus Hamburg, glücklich über
die allseitige Befriedigung angesichts seines dort zustandegekommenen Engage-
ments, »so werde ich mal ein sehr schönes funerale kriegen« – da wurde er, wieder
einmal makaber scherzend, zum Propheten: noch das »funerale« hat Musikge-
schichte gemacht. Der wie kein anderer großer Musik zu öffentlicher Wirkung
und Anerkennung verholfen hat, half noch nach seinem Tode großer Musik auf
den Weg – und solcher, die er nicht gemocht hätte. Mit den Kompositionen des
jungen Kollegen Mahler hatte er nichts im Sinne gehabt, hatte unter anderem
seine Mitwirkung bei einer Aufführung von Liedern aus dessen Feder abgesagt;
und als Mahler ihm seine Totenfeier vorspielte, die erste Fassung des ersten Satzes
der nachmaligen Zweiten Sinfonie, »geriet er in nervöses Entsetzen und erklärte,
daß Tristan gegen mein Stück eine Haydnsche Symphonie ist, und gebärdete
sich wie ein Verrückter«. Jahrelang blieb Mahler mit dem Stück ratlos, erst recht,
nachdem er es, drei weitere Sätze ergänzend, zum ersten Satz einer Sinfonie be-
stimmt hatte.Wie sie beenden? »Ich trug mich damals lange Zeit schon mit dem
Gedanken, zum letzten Satz den Chor herbeizuziehen, und nur die Sorge, man
möchte dies als äußerliche Nachahmung Beethovens empfinden, ließ mich immer
92 »Nicht verzeihen: begreifen«

und immer wieder zögern! Zu dieser Zeit starb Bülow und ich wohnte seiner
Totenfeier hier bei. – Die Stimmung, in der ich dasaß und des Heimgegangenen
gedachte, war so recht im Geiste des Werkes, das ich damals mit mir herumtrug.
Da intonierte der Chor von der Orgel den Klopstock-Choral ›Auferstehen‹!
– Wie ein Blitz traf mich dies, und alles stand ganz klar und deutlich vor meiner
Seele! Auf diesen Blitz wartet der Schaffende, dies ist die ›heilige Empfängnis‹!«
Ein Vierteljahr später war die Sinfonie fertiggestellt.
93

»Wo Musik ist, muß ein Dämon sein«1


Mahler als Interpret

Als Mahler in Essen die Uraufführung der Sechsten Sinfonie dirigierte, war die
soeben im Druck erschienene Partitur durch die in den Proben angebrachten
Retuschen bereits überholt, und die bald danach erschienene zweite Fassung,
welche diese Retuschen und die Umstellung der Mittelsätze berücksichtigte, war
es abermals nach einer Retusche, die Mahler Willem Mengelberg mitgeteilt hat,
und nach etlichen weiteren, von diesem kaum ohne Mahlers Billigung vorgenom-
menen Änderungen. Einer weiteren Drucklegung wäre es nicht anders ergangen:
»An der Partitur, auch wenn sie längst fertig, schon gedruckt war, arbeitete er Tag
und Nacht – er arbeitete, richtiger: es arbeitete in ihm, zu jeder Stunde, während
der Proben, auf Spaziergängen, wenn er bei Tische saß, arbeitete einer immer
höheren – und der unerreichbaren, höchsten Vollkommenheit zu.«2 »Bei Mahler
hatte man stets das Gefühl, daß er selbst noch ein Suchender und Entdeckender
sei, daß es für ihn nie und nirgends ein Aufhören gebe«3.
Das gilt nicht nur für Partituren, eigene und fremde, nicht nur für sein Kom-
ponieren insgesamt, nicht nur für Proben mit Orchestern und Sängern und für
Aufführungen, es gilt für das Verhältnis und das Miteinander all dieser Aktivi-
täten insgesamt. Wo hört der Komponist auf, wo fängt der Interpret an? – wer
so fragt, setzt eine Arbeitsteilung voraus, welche der Totalität, dem Anspruch
und Ethos von Mahlers Wirksamkeit fremd ist. Der Komponist, angefangen bei
der einzelnen Note, läßt sich ohne den Interpreten nicht verstehen, der Inter-
pret, angefangen bei irgendeiner kleinen Tempomodifikation, nicht ohne den
Komponisten. Der Untertitel dieses Beitrages darf also nur stehenbleiben, wenn
wir auch eine musikalische Struktur als Interpretation eines Einfalls oder einer
kompositorischen Idee begreifen – aus Gründen, die sich bei der getreuesten
Protokollantin seiner Äußerungen so lesen: »Es gibt große Geiger, Sänger, kurz
ausführende Künstler immer noch, wenn auch selten; Dirigenten aber gibt es
so gut wie keine – viel weniger sogar als tüchtige Komponisten. Denn zum
wahren Reproduzieren bedarf es Schaffender, und diese haben, wenn sie schon
erstehen, meist nicht die umfassende Übung, die man zum Dirigieren braucht,

1 Herman Martonne, Geiger im New York Philharmonic Orchestra zur Zeit, da Mahler die
Direktion innehatte, zitiert nach: Karl-Josef Müller, Mahler. Leben, Werke, Dokumente, Mainz/
München 1988, S. 561.
2 Klaus Pringsheim, Zur Uraufführung von Mahlers Sechster Symphonie, in: Musikblätter des
Anbruch, Jg. 2, 1920, S. 467
3 Anna Bahr-Mildenburg, zitiert nach: Franz Willnauer, Gustav Mahler und die Wiener Oper,Wien
1993, S. 94.
94 »Wo Musik ist, muß ein Dämon sein«

und meist – zum Glück – nicht diesen Beruf.«4 Was also im Interesse der Sache
notwendig scheint (welch ein Anspruch!), ist für den Betroffenen nicht un-
bedingt ein »Glück«: Zu den Mirakeln von Mahlers Person und Wirksamkeit
gehört zuallererst, daß die ungeheuren, dieser Notwendigkeit abgewonnenen
Erfüllungen und ein in schwärzeste Verzweiflungen treibendes Leiden an ihr
oft ununterscheidbar zusammenfallen. Auch dieses Märtyrerglücks wegen »war
etwas Heiliges um Mahler«5, und seinetwegen stürzte er sich immer wieder in
Unternehmungen und Konstellationen, welche jeden anderen hätten verzagen
lassen; aber »bei Mahler war alles möglich, was er wollte, und er wollte viel«6. Daß
ein 36jähriger Jude in Zeiten, da Antisemitismus in Wien, vorsichtig gesprochen,
heimisch und »schick« war, die Stellung des Hofoperndirektors erringen und
zehn Jahre lang behaupten konnte, gehört zu den nur bei Mahler möglichen
Unmöglichkeiten. Fast ließe sich – die andere Seite dieser Unmöglichkeit – als
genialer Schachzug ansehen, daß man ihn zum Ausmisten des konventionell
versackten Ladens benutzte und zugleich als Opfer von jederlei, musikalischer
bis rassistischer, Hatz zur Verfügung hatte.
Dort und schon auf den vorausgegangenen Stationen hat er jederlei Verant-
wortung, bis hin zu den schlimmsten bürokratischen Demütigungen7, und ein
Arbeitspensum auf sich genommen, welches heute, verteilte man es auf zwei
Prominente, immer noch als Zumutung erschiene. Zwischen dem 16. und 31.
Januar 1893 hat er in Hamburg fünfmal Freund Fritz und je einmal Siegfried, Tristan
und Isolde, Fidelio, Zauberflöte, Lohengrin, Jolanthe, Walküre und Der Widerspenstigen
Zähmung dirigiert, im ersten Wiener Amtsjahr 111, im zweiten 105, hier einmal
innerhalb einer Woche sechs, im dritten 97Vorstellungen, auch für Waffenschmied,
Zar und Zimmermann oder Die Lustigen Weiber von Windsor ist sich der erste Mann
am Hause nicht zu schade8; er rechnet der vorgesetzten Behörde die Finanzen
der Oper vor und führt mit der anderen, der Zensur, einen langwierigen, am
Ende vergeblichen, Kleinkrieg um Strauss’ Salome, mit der Öffentlichkeit einen
ebensolchen um seine Bearbeitungen von Partituren Beethovens, Schuberts und
Schumanns – von anderem nicht zu reden. »Der neue Dirigent«, schrieb Karl
Kraus nicht lange nach Mahlers Amtsantritt, »soll bereits so effektive Proben seiner
Tatkraft abgelegt haben, daß schon fleißig gegen ihn intrigiert wird«9.
Indessen geben quantifizierende Auskünfte bestenfalls die halbe Wahrheit:
Mahler setzt in der künstlerischen Arbeit neue Maßstäbe, eine neue Ästhetik, um
nicht zu sagen: eine neue Ethik durch; er sagt konventionellen Sängereitelkeiten
den Kampf an, verbietet Verzierungen, macht im Ring erstmals alle Striche auf,

4 Herbert Killian, Gustav Mahler in den Erinnerungen von Natalie Bauer-Lechner, Revidierte und
erweiterte Ausgabe Hamburg 1984, S. 149.
5 Victor Fuchs, zitiert nach: Müller, a.a.O., S. 559.
6 Otto Klemperer, Erinnerungen an Gustav Mahler, Freiburg/Zürich 1960, S. 23/24.
7 Hierüber eingehend Willnauer, a.a.O., S. 149 ff.
8 Willnauer, a.a.O., S. 38 ff., 218 ff.
9 Zitiert nach Müller, a.a.O., S. 158.
»Wo Musik ist, muß ein Dämon sein« 95

engagiert neue Kräfte nach Maßstäben, für die später der Begriff »Musiktheater«
stehen wird, modernisiert mithilfe Alfred Rollers das Bühnenbild, legt sich mit
undisziplinierten Zuschauern an, indem er den Zuschauerraum eindunkeln und
Störungen durch Zuspätkommende verhindern läßt – »Sie haben hier nicht zu
zischen«, wird er später nach einer Schönberg-Aufführung einen Protestierer
anherrschen – und verbietet bei Sinfonien, nicht immer mit Erfolg, Beifall zwi-
schen den Sätzen. Er arbeitet – Regisseure gab es in der Oper noch kaum – an
einer neuartigen, »realistischen« Einheit von Musik und Szene. »Mahler war in
seinem Element, er lief immer wieder vom Orchester über dieVerbindungstreppe
auf die Bühne, spielte den Sängern vor, setzte sodann das Dirigieren fort. Es war
dies eine Abendprobe. Vorher hatte er vom frühen Morgen an Klavierproben
gehalten« – so ein Bericht aus den Budapester Jahren10. Herkulische Lasten auf
gar nicht herkulischen Schultern – nicht denkbar ohne einen Ernst und eine
Begeisterung für die Arbeit und ihre Gegenstände, deren euphorisierende Trag-
fähigkeit sich noch in rührenden Befangenheiten äußert, etwa, wenn Mahler,
mit Rienzi beschäftigt, diesen Wagners »beste« Oper nennt, oder Pfitzners Rose
vom Liebesgarten zunächst nicht annehmen will, dann aber während der Arbeit
qualitativ auf eine Stufe mit Walküre stellt. Dieser Ernst erleichtert es ihm, auch
in delikaten Fragen unbestechlich zu sein, z.B. kurzfristig den Spielplan umzu-
werfen, weil dem zur Premiere seiner Louise eingeladenen Gustave Charpentier
die Inszenierung mißfiel und verändert werden mußte11; das von hoher Stelle
gewünschte Engagement einer prominent liierten Sängerin zu verweigern oder
sich mit der Ablehnung zweier Opern Siegfried Wagners – eine andere hatte
er zuvor dirigiert – endgültig die Verwirklichung eines alten Wunschtraums zu
verbauen: nach Bayreuth nicht nur als achtungsvoll begrüßter Festspielgast zu
kommen. Mit den in einem Repertoiretheater unvermeidlichen Kompromissen,
insbesondere der Unmöglichkeit, nach längeren Liegezeiten einer Einstudierung
diese gründlich für eine Wiederaufnahme vorbereiten zu können, hat er nie seinen
Frieden machen können; manche vielgelästerte Über-Aktivität am Opernpult
– »wie der Takt in jeder Faser seines Körpers, so vibrieren seine Lippen die Töne
und Worte, die er fast ununterbrochen den Sängern vorsingt und -spricht. Ja,
fast zeichnet er ihnen Mienen und Bewegung durch Wink und Bedeuten vor«12
– mag auch als Versuch verstanden werden, noch im Verlauf einer Aufführung
zu retten, was zu retten ist. Oft genug muß das wider Erwarten auf wunderbare
Weise gelungen sein: »Das macht (der) Furor, ohne den ich mir einen echten
Dirigenten nicht vorstellen kann, – der ihn treibt, mit der ungefügigsten, ja selbst
unfähigsten Masse von Orchester, Chor und Sängern doch herauszubringen und
ihnen abzuringen, was von einem Werke in ihm lebt. Daher auch meine unbe-

10 A.a.O., S. 84.
11 Gustav Mahler, Briefe an Alma Mahler, hrsg. von Donald Mitchell, Frankfurt/Berlin/Wien 1978,
S. 83.
12 Killian, a.a.O., S. 84.
96 »Wo Musik ist, muß ein Dämon sein«

schreibliche Wut, wenn sie mir’s nicht so machen, wie ich will«13 . Andererseits
– »daß ich nicht durchsetzen kann, was ich möchte, diese musikalischen Sünden
geschehen lassen, ja dabei mittun muß, das erregt mich oft so, daß ich mir eine
Kugel durch den Kopf jagen möchte«14; denn »was ihr Theaterleute eure Tradition
nennt« – so eine oft verkürzt und mißverständlich zitierte Formulierung –, »das
ist nichts anderes als eure Bequemlichkeit und Schlamperei«15.
Dies hat sich der Chordirektor der Wiener Hofoper coram publico anhören
müssen, kaum anders und oft haben es die Orchester gehört oder mindestens so
verstehen müssen, mit denen Mahler arbeitete.Wo immer er wegging, wurde er
mit einer Mischung von Respekt und Erleichterung verabschiedet, vonVerbalin-
jurien nicht zu reden, deren er mehr auf sich gezogen hat als jeder vergleichbare
Kollege – der »galvanisierte Frosch«16 gehört eher zu den höflich-liebenswürdigen.
Er selbst hat mit ihnen, zumal er seine Verzweiflungen nicht verbergen konnte,
nicht gespart. Mahlers Orchesterproben müssen nur zu oft Kriegsschauplätzen
geglichen haben – gerade, weil er auf ein erweckendes, spontan-elastisches, ganz
und gar nicht diktierend festlegendes Musizieren hinauswollte und also, Despot
wider Willen, auf ein kooperatives Klima, auf einfühlende Kommunikation
angewiesen war – und fassungslos, wenn das sich nicht einstellte »Er liebte die
Menschen, mit denen er arbeitete«, schreibt Alma, und kann diese traurig-naive
Ergänzung nicht vermeiden: »Wenn das sein Orchester gewußt hätte, wie schön
hätte da Zusammenarbeit sein können!«17 So einfach war das leider nicht – am
wenigsten, weil die Replik naheliegt, noch mehr als die Musiker habe Mahler
die Musik geliebt, und er habe nie begreifen wollen, nie begreifen dürfen (es
wäre ein nahezu selbstmörderisches Begreifen gewesen), daß sie nicht so lieben
und nicht solche Konsequenzen ziehen konnten wie er. Napoleonisch tönende
Formulierungen also wie die folgende widersprechen der Auskunft seiner Frau
nicht: »Ich rechne es mir als mein größtes Verdienst an, daß ich die Musiker
dazu zwinge, genau das zu spielen, was in den Noten steht«18. Erzwingen mußte
er spieltechnische Perfektion, Nuancierungen, Verständnis, Aufeinanderhören
etc. für eine ihrem Wesen nach unerzwungene Musik – als, bei ihm besonders
kraß hervortretend, das utopische Paradox jeder Interpretation, die den Namen
verdient.
Das galt nicht erst für den Arrivierten. Schon im Januar 1887 – da ist er noch
nicht 26 Jahre alt – bitten die Musiker des Leipziger Theaters beim Rat der Stadt
»um Schutz und Beistand … gegen die unwürdige Behandlung, die der Herr

13 A.a.O., S. 90.
14 A.a.O., S. 75.
15 Von Alfred Roller überliefert, der Anlaß – es ging um den Auftritt zum Gefangenenchor in
Fidelio – beschrieben bei Kurt Blaukopf, Gustav Mahler, oder: Der Zeitgenosse der Zukunft, Mün-
chen 1973, S. 183 ff.
16 Killian, a.a.O., S. 126.
17 Alma Mahler-Werfel, Erinnerungen Gustav Mahler, Frankfurt/Berlin 1971, S. 101.
18 Zitiert u.a. bei Arnold Schönberg, Stil und Gedanke, Mainz 1976, S. 19 ff.
»Wo Musik ist, muß ein Dämon sein« 97

Kapellmeister Mahler dem Orchester zuteil werden läßt«19 – ein frühes Zeugnis
für Störungen im Verhältnis zu den Orchestern, welche – am ehesten mit Aus-
nahme der jeweils ersten Zeit nach dem Antritt eines neuen Amtes – Mahler
lebenslang begleiten und in Budapest bis zu Duellforderungen gehen sollten.
Daß er darunter schwer litt, widerlegt alle auf einen unleidlich-ungeduldigen
Charakter bezogenen Erklärungen (keiner hat Sehnsucht nach Einklang, Ent-
spannung, Ruhe, Erlösung so eindringlich artikuliert wie er), sofern nicht immer
der in mehrfachem Sinne von unten und außen Kommende mitgesetzt ist, der
sich alles hat erkämpfen müssen und nur bei äußerster Anspannung seiner Kräfte
ein angemessenes Fortkommen erhoffen, kaum je sich von einer angestrengten
Existenzweise dispensiert fühlen durfte. Diese fixiert ihn unerbittlich auf oberste
Ansprüche und läßt ihn etliche Bodenhaftung verachten wo nicht verlieren – u.a.
bei Torheiten wie der Verpflichtung Arnold Rosés als, selbstverständlich vom
Orchester zurückgewiesener, »Fremdkonzertmeister« für die Uraufführung der
Achten Sinfonie in München oder bei Vertraulichkeiten mit einzelnen Musikern,
»Ohrenbläsern«20, welche keinem der Beteiligten halfen und das Arbeitsklima
verdarben. Dies geschah selbst in New York, wo »das Orchester ihn wirklich
liebte, weil wir so viel von ihm lernten. Jeder, der etwas lernen wollte, mußte
ihn lieben.«21
Dieselbe Auskunft – von Alois Reiser, Cellist in der New York Symphony
– spricht noch eine andere verachtete »Bodenhaftung« an: »Letztendlich war er
eben doch ein hervorragender Dirigent, obwohl er eine miserable Schlagtechnik
hatte. Er schlug nie, wie das richtige deutsche Dirigenten tun, 1-2-3-4, 1-2-3 etc.
Beim ihm war alles nur Rhythmus, reiner Ausdruck.«22 Wenn einer, der Mahler
erklärtermaßen geliebt hat, dessen Technik – wie immer im Gegensatz zu Bruno
Walter (s.u.) – »miserabel« findet, wiegt das schwer, weil derselbe Mahler von den
Musikern spieltechnisch das Äußerste fordert und so sich dem Vorwurf aussetzt,
er solle hiermit doch bei sich selbst anfangen. Dessen war er sich bewußt und
reagierte wie später der – ihm nicht nur hierin ähnelnde – Wilhelm Furtwängler.
›Statt daß das Dirigieren‹, sagte mir Mahler, ›ein fortwährendes Eliminieren des
Taktes ist, der … hinter den melodischen und rhythmischen Gehalt zurücktreten
muß, wird bei den vierschrötigen Durchschnittsdirigenten jeder Taktstrich wie
eine Barriere genommen und die Taktteile ohne Unterschied skandiert wie die
Versfüße von einem schlechten Schauspieler.‹« »Bei Mahlers Dirigieren« fährt
Natalie Bauer-Lechner in ihren Erinnerungen fort23, war… oft gar nicht zu ent-
decken, welchen Takt er schlug; er hob nur das Wichtige … hervor. Über die

19 Kurt Blaukopf, Mahler. Sein Leben, sein Werk und seine Welt in zeitgenössischen Bildern und Texten,
Wien 1976, S.177.
20 Alma Mahler-Werfel, a.a.O., S. 213.
21 Zitiert bei Müller, a.a.O., S. 560.
22 A.a.O.
23 Killian, a.a.O., S.108 ff.
98 »Wo Musik ist, muß ein Dämon sein«

Eins glitt er … oft ganz hinweg und brachte … dafür das Zwei und Drei, oder
worauf gerade das Gewicht fallen soll. Eine solche Art … stellte an die Aufmerk-
samkeit der Spieler … ganz andere Anforderungen als die regelrecht geschlagenen
›Takt-Eselsbrücken‹ der Alltagsdirigenten. ›Sie müssen selbst mitproduzieren, statt
gedankenlos nur einem anderen zu folgen und sich auf ihn zu verlassen…‹ sagte
Mahler. ›Was den Leuten das Spielen unter mir noch erschwert und worüber
sie sich beklagen, ist, daß ich es nicht zustandebringe, oft nacheinander diesel-
ben Tempi zu nehmen. Ich hielte es vor Langeweile nicht aus, ein Werk stets in
demselben ausgefahrenen Geleise zu führen. Den guten Einfluß hat es aber auf
Sänger und Musiker, daß sie dabei nicht lax und faul werden können, sondern
immer auf dem qui vive sein müssen.‹«
Die Vernachlässigung der koordinierenden Basisfunktionen fiel angesichts des
geringeren spieltechnischen Niveaus der Orchester und bei Mahlers eigenen
Sinfonien schwer ins Gewicht, weil man mit diesen ihrer Dimension wegen
selbst dann noch nicht vertraut war, wenn man sie ein- oder zweimal gespielt
hatte. Dergestalt mußte sie die simpleren Gemüter unter Spielern und Hörern
verschrecken und war im übrigen ein gefundenes Fressen für karikierende Be-
schreibungen und Darstellungen und fallweise – der »hypermoderne« Dirigent
natürlich ein jüdischer24 – ein simpel diffamierender Generalschlüssel für alles,
was an Mahler »anders« war. »Die Linke … in konvulsivischen Zuckungen
markiert oft den böhmischen Zirkel, sie scharrt nach Schätzen, sie tremoliert,
sie hascht, sie sucht, sie erwürgt, sie kämpft mit dem Wogen, sie erdrosselt Säug-
linge, sie walkt, sie schlägt die Volte – kurz, sie befindet sich oft im Delirium
tremens, aber sie dirigiert nicht«25 – der Text verdiente kaum zitiert zu werden,
spiegelte er nicht, wenngleich plump demagogisch, ein Meinungsklima wider,
mit dem Mahler ohne Aussicht auf irgendeine Form von Bewältigung unauf-
hörlich zu tun hatte und wohinein, präzise gezielt, ein kurz vor seinem ersten
philharmonischen Abonnementskonzert anonym veröffentlichter Brief paßt,
welcher offensichtlich von feindlich gesonnenen Musikern verfaßt worden ist.
Alle kompetenten Zeugen, u.a. Klemperer26, Schönberg27 und Bruno Walter, sind
sich im übrigen einig, daß »sich das Bild des Mahlerschen Dirigierens im Laufe
der Jahre unendlich vereinfacht hat … Seine Dirigiertechnik«, fährt Bruno Walter
fort,28 »hatte sich so vergeistigt, daß er Freiheit des Musizierens in Verbindung
mit unfehlbarer Präzision mühelos durch seinen einfach scheinenden Taktschlag
– bei sonst fast unbeweglicher Haltung – erreichte. In der letzten Zeit bot sein

24 K.M. Knittel, »Ein hypermoderner Dirigent«: Mahler and Anti-Semitism in Fin-de-siècleVienna,


in: 19th Century Music XVIII/3, 1995, S. 257–276.
25 E.Th., Die Judenherrschaft in der Wiener Hofoper, in: Deutsche Zeitung, 4. November 1898,
zitiert bei Knittel, a.a.O., S. 268.
26 A.a.O.
27 A.a.O.
28 Zitiert nach Blaukopf, Mahler, oder: Der Zeitgenosse der Zukunft, a.a.O., S. 218.
»Wo Musik ist, muß ein Dämon sein« 99

Dirigieren das Bild einer fast unheimlichen Ruhe, ohne daß die Intensität des
Ausdrucks darunter gelitten hätte.«
Wir brauchen zwischen Bruno Walters Wertung und derjenigen des New
Yorker Cellisten um so weniger zu entscheiden, als über das Ergebnis zwischen
allen nur halbwegs Zuständigen Einigkeit besteht. Brahms – darauf konnte Mahler
besonders stolz sein – war über den Budapester Don Giovanni des Lobes voll,
und nicht weniger sein zur Anerkennung eines erklärten Brucknerianers kaum
disponierter Panegyrikus Hanslick u.a. über jenes erste Abonnementskonzert. Auf
dem Programm standen Beethovens Coriolan-Ouvertüre und die Eroica, dazwi-
schen Mozarts g-Moll-Sinfonie KV 550 – ein Programm auch im weiteren Sinne.
»Mahler … wollte …, daß sie wachend gespielt würden, mit ganzer Hingebung
und lebendigem Geist. Sie haben … tatsächlich wie ein neues Erlebnis gewirkt.
Es ist hier nicht die Stelle noch der Raum, auf alle die neuen musikalischen
Details einzugehen, welche diamantengleich hervorblitzten, ohne irgendwo die
einheitliche Form und Stimmung zu sprengen … Die Wirkung der Coriolan-
Ouvertüre und der heroischen Symphonie läßt sich nicht schildern. So klar und
anschaulich in ihrem feinsten Gewebe, dabei so überwältigend groß und machtvoll
im Totaleindruck haben wir diese Tondichtungen kaum jemals gehört.«29
»So noch nicht gehört« – die in vielen Besprechungen Mahlerscher Auffüh-
rungen wiederkehrende Formulierung sollte nicht nur als superlativisches Lob,
sondern auch als sachliche Auskunft gelesen werden. So wie Beethoven nach
François Habenecks strenger Schule in Paris, so wie Wagner und Brahms nach
Hans von Bülows preußischem Drill in München, Meiningen, Hamburg und
Berlin, so wie die Musik des ausgehenden 19. Jahrhunderts unter Mahler – die
Reihe verlängert sein New Yorker Gegenspieler Toscanini – hatte man diese
zuvor wirklich noch nicht gehört. Die Gewaltherrschaft in den Probesälen hatte
einen historischen Auftrag hinter sich, das Niveau des Orchesterspiels mußte im
Vergleich zu den in der Komposition und der technologischen Entwicklung der
Instrumente »vorgreifend« angemeldeten Ansprüchen nachziehen – und dies,
nicht nur technisches Vermögen, sondern auch Einstellungen und Verständnis,
allgemeiner gesprochen: Menschen und deren musikalische Vorstellungen und
Erwartungen betreffend, war eine Sisyphusarbeit. Ohne den Hintergrund des
großen Auftrags und einer vorausempfundenen Solidarität der Beauftragten hätte
der junge Mahler sich dem schwierigen Bülow kaum so pathetisch-rückhaltlos
als Adlatus angetragen – ohne Erfolg, hätte er später Bülows Tod und Totenfeier
kaum so direkt auf Konzeption und Beendigung seiner Zweiten Sinfonie, trotz
der bezüglich des ersten Satzes erteilten schroffen Abfuhr, einwirken lassen, nicht
zu reden von anderen Versuchen, die – auch gesellschaftliche – Kluft zwischen
dem böhmischen Juden und dem oft hochfahrend-zynisch, auch antisemitisch
sich artikulierenden Preußen zu ignorieren oder zu überspringen. Es wäre eine

29 Zitiert nach Willnauer, a.a.O., S. 131.


100 »Wo Musik ist, muß ein Dämon sein«

Solidarität auch der überanstrengten, eine zarte Konstitution durch Konzentra-


tion und Disziplin zu Höchstleistungen hinaufpeitschenden Willensmenschen
gewesen; nicht zufällig verbindet Bülow sein Lob des Dirigenten Mahler mit
dem des Orchesterbändigers – »… der meiner Ansicht nach den allerbesten …
gleichkommt … Aufrichtige Bewunderung hat mich für ihn erfüllt, da er – ohne
Orchesterprobe! – das Musikantengesindel – ja – gezwungen hat, nach seinem
Tanze zu pfeifen«30 –, und nicht zufällig stimmen die beiden bei Klagen über
die Fronarbeit mit den Orchestern bis zur Wortwahl überein.
Und auch nicht nur hierin; sondern darüber hinaus in Subjektivismen
– vorab der Temponahme –, welche man noch stärker als Widerspruch zur
hartnäckigen Pedanterie ihrer Probenarbeit wahrgenommen hätte, entlüde sich
in ihnen nicht in einer alle Bedenklichkeiten überrumpelnden Weise das durch
selbstauferlegte Disziplin überanstrengte Gemüt, und bekundete sich in ihnen
nicht der, seinerzeit leichter akzeptierte, Herrschaftsanspruch dessen, der das sich
leisten kann. Unberechenbarkeit, nicht nur als Vermeidung von Gewißheiten,
auf die Betroffene sich berufen könnten, gehört zu jeder Machtausübung, auch
der musikalischen. Auch Bülow hat von »Langerweile« gesprochen, die er sich
– ausgerechnet auf einer Tournee mit der eben erst uraufgeführten Vierten Sin-
fonie von Brahms – mithilfe willkürlicher Tempoänderungen vertrieben habe,
und Mahler bestand ausdrücklich auf dem Recht zur spontanen, freien Wahl der
Tempi. Die Zauberflöten-Ouvertüre nahm er einmal »fast um die Hälfte langsamer
als die Herren sonst«31, und im Januar 1898 in Preßburg wunderte sich der mit
dem Klavierauszug der Zweiten Sinfonie beschäftigte Bruno Walter, daß Mahler
»einen bestimmten Satz so langsam genommen und dadurch eine wunderbare
Wirkung erzielt habe. ›Den hatte ich‹, erwiderte Mahler, ›noch bei der letzten
Probe rascher gemacht. Erst bei der Aufführung ergriff ich dieses Tempo. Wenn
ich das Publikum hinter mir habe, dann weiß ich immer ganz bestimmt, wie es
sein soll‹«32 – dies als besonders eklatante Ausübungen einer von Wagner ererbten
»ungeheuren Flexibilität … Es ist vollkommen richtig, was immer behauptet wird,
daß nämlich keine zwei Takte bei Mahler im gleichen Tempo waren.«33
Nichts indessen wäre falscher, als hier von »Willkür« zu reden. Mahler erlebt
und weiß Tempo viel zu stark im Netz wechselseitiger Abhängigkeiten, als daß er
es, beispielsweise durch Metronomziffern, als autonome Größe isolieren und aus
diesem Netz herauslösen könnte; der Rückwirkungen auf andere Komponenten
eingedenk charakterisiert und umschreibt er wohl eindringlich, oft ausführlich,
legt sich aber nicht fest – ohnehin wäre anstatt von »Tempo« als purer Benennung

30 In einem Brief an seine Tochter; zitiert nach: Rupert Schottle, Götter im Frack, Wien 2000,
S. 51.
31 Killian, a.a.O., S. 91.
32 A.a.O., S. 110.
33 Herbert Borodkin, Geiger im New York Philharmonic Orchestra, zitiert in: Müller, a.a.O.,
S. 563.
»Wo Musik ist, muß ein Dämon sein« 101

der Geschwindigkeit in Mahlers Sinne besser von »Gangart« oder, wie seinerzeit
üblich, von »Hauptzeitmaß« zu sprechen. Die geschilderten Freiheiten und die
Sensibilität, welche Mahler, vergröbernde Befolgungen fürchtend, statt »acceleran-
do« lieber »nicht schleppen« und statt »ritardando« lieber »nicht eilen« schreiben läßt,
widersprechen einander nicht, sondern gehören zusammen. Zuweilen – da lassen
sich Komposition und Interpretation endgültig nicht mehr auseinanderhalten
– treibt es auf eine Situation zu, in der, damit es überhaupt weitergehen kann,
der gordische Knoten der wechselseitigen Abhängigkeiten zerschlagen, d.h. ihr
Gleichgewicht beschädigt werden muß: Wenn im ersten Satzpaar der Fünften
Sinfonie die unterschiedlichen Bewegungsformen des Trauermarsches und des
Appassionato als Kulmination ihres unvereinbaren Gegenübers zusammenkom-
men, ist in bezug aufs Tempo, wenn man von den beiden Satzcharakteren her
denkt, guter Rat so teuer wie nie; und eben hier verweigert Mahler ihn, als wolle
er bekennen, daß er es auch nicht weiß34 oder darauf vertraut, er werde es »ganz
bestimmt« wissen, »wenn ich das Publikum hinter mir habe«.
Das klingt agnostizistischer und irrationaler, als es sich für den praktizierenden
Musiker darstellt – in einer Plausibilität freilich, die nur dem Hier und Jetzt der
jeweiligen Aufführung angehört und, weil Übertragung eine Abstraktion vom
Hier und Jetzt voraussetzt, nicht übertragbar erscheint. Genau hier fokussiert
Mahlers Musikbegriff – als der »fundamentalistisch« gefaßte einer ans Hier und
Jetzt gebundenen, d.h. nur hier und jetzt so, wie wir sie vernehmen, möglichen
Mitteilung. In jüngster Zeit am ehesten vergleichbar erscheint Sergiu Celibi-
daches Abwehr der die Musik aufs Abziehbild reduzierenden, die Konstellation
ihres Erklingens und damit das Zugleich von Einmaligkeit und Vergänglichkeit
wegschneidende Aufzeichnung; dazu paßt gut, daß uns, wenn wir solide Anhalte
über seine Musizierweise gewinnen wollen, die wenigen von Mahler erhaltenen
Klangdokumente eher verlegen machen, möglicherweise schon von seiner Seite
verformt durch das Unbehagen mit der technischen Prozedur. Jenes von der
romantischen Musikästhetik als oberste Dignität abgesegnete Zugleich jedenfalls
akzentuieren Mahlers »Freiheiten« als sichere Anhalte dafür, daß es so wie jetzt
nie wieder sein wird.
Damit schärfen sie die Dialektik zwischen werkhafter Verfestigung und dy-
namisch treibender Prozessualität, jene das verläßlich Gleichbleibende, diese das
Veränderlich-Vergängliche vertretend. Dementsprechend organisierte Mahler
seine sinfonischen Strukturen – obenhin gesprochen: dramatisch – auf Kulmi-
nationen hin oft abseits von der »offiziellen« Architektur, und er verfuhr genauso,
wenn er Beethoven, Schumann oder Brahms dirigierte. »Nur an zwei Stellen«,
meinte er z.B. über die Pastorale, »bricht das subjektive Gefühl Beethovens, des
Individuums, durch, überall sonst spricht allein die Natur daraus. Es sind zwei Takte

34 Peter Gülke, The Orchestra as Medium of Realization: Thoughts on the Finale of Brahms’
First Symphony, on the Different Versions of Bruckner’s Sixth Symphony, and on »Part One«
of Mahler’s Fifth, in: Musical Quarterly 80, 1996.
102 »Wo Musik ist, muß ein Dämon sein«

im zweiten Satz und vier im letzten: da, wo in leidenschaftlichster Rührung sein


Inneres überquillt. Zu diesen persönlichsten Stellen, so möchte man sie nennen,
muß das Ganze hindrängen und als Untergrund für sie sich aufbauen.«35 Zu je-
ner Dialektik gehört auch, daß Mahler offenbar keinen Widerspruch entdecken
kann, wenn er zunächst an der Textur seiner Musik, ohne kompositorisch zu
ändern, unablässig feilt, nuanciert und differenziert, hier also um ein So-und-
nicht-anders ringt, welches unter anderen Umständen indessen schon wieder
anders aussehen müßte (zuweilen hat er Kollegen ermuntert, ihrerseits in seinen
Werken zu revidieren), dann aber diese Festlegungen in jenen Freiheiten aufs
Spiel setzt bzw. zum Spielmaterial eines übergeordneten Umgangs herabstuft.
Und nicht weniger gehört zu ihr, daß er einerseits den Orchestern gewissenhaften
und sorgsamen Umgang mit den großen Texten der Vergangenheit einbläut und
andererseits im Bestreben, sie weitestmöglich demVergangensein zu entreißen und
als hier und jetzt erklingende, gegenwärtige Musik zu legitimieren, sich selbst die
Entscheidungsbefugnis über die Form zuspricht, in der das zu geschehen habe
– mit Ergebnissen, welche wohl geeignet waren, ein auf unbefragbaren Besitz
des Erbes eingeschworenes Publikum zu schockieren.
Mahler lebt so sehr in und mit den großen Werken derVergangenheit (in dieser
für einen Komponierenden gefährlichen Beziehung kommt ihm, ohne ihn zu
erreichen, am ehesten Brahms nahe), daß er sehr selbstverständlich sich zu ihrer
– im genauen Sinne des Wortes – Ver-Gegenwärtigung, zur Aufhebung ihrer Hi-
storizität berufen fühlt. Die von einem Fernorchester – in Hamburg – intonierte
Janitscharenmusik im Finale von Beethovens Neunter, die in Wien für unerläßlich
gehaltene, deshalb nachkomponierte Gerichtsszene in Mozarts Figaro, der ver-
größerte Bläseraufwand in Sinfonien Beethovens, Schuberts (drei Trompeten in
dessen Dritter !), die Streichorchester für Beethovens op. 95 und Schuberts Quartett
»Der Tod und das Mädchen«, ein nicht eben diskreter Beckenschlag am Beginn von
Schumanns Manfred-Ouvertüre, der veränderte Text zu Webers Euryanthe, auch der
in ungarische Sprache umstudierte Ring in Budapest – all das waren für Mahler
Ver-Gegenwärtigungen, intensivierte Mitteilungen von etwas in den Werken
Gemeintem. Dessen war er so sicher, daß er – um später zu Ehren gekommene
Begriffe zu benutzen – innerhalb der von ihm praktizierten Werktreue mühelos
zwischen Treue zum Sinn und zum Buchstaben unterschied und seine Eingriffe
geradehin als »Treue-Übungen« verstehen konnte. Interessanterweise hat er sich
bei deren Verteidigung, besonders anläßlich seiner von Protesten begleiteten
Aufführung von Beethovens Neunter in Wien36,die Art der Argumentation von
der Gegenseite diktieren und »pragmatisieren« lassen: Er spricht von größeren
Sälen, veränderten Proportionen der Gruppen des Orchesters, neuen instrumen-
talen Möglichkeiten, welche zur Füllung der bei Beethoven stehengebliebenen
Lücken verpflichteten, verwahrt sich gegen den Vorwurf gewaltsamer Eingriffe

35 Killian, a.a.O., S. 143.


36 Hierüber u.a. Willnauer, a.a.O., S. 134 ff.
»Wo Musik ist, muß ein Dämon sein« 103

in Beethovens Komposition mit dem Argument, es sei ihm nur darum gegangen,
dieser zu mehr Deutlichkeit zu verhelfen, und vernachlässigt die grundsätzlichen
Überlegungen – weil ihm das zu selbstverständlich war? – so sehr, daß er freie
Bahn für den primitiven Pauschalverdacht ließ, er habe Beethoven verbessern
wollen, wo nicht, er hielte sich für besser als Beethoven.
Deutlichkeit, schon von Wagner als wichtigste Maßgabe für Retuschen insbe-
sondere bei Beethoven herausgestellt, hilft auch den, obenhin betrachtet merk-
würdigen Umstand erklären, daß bei Mahlers Revisionen älterer Partituren – mit
Ausnahme Schumanns – Verstärkungen überwiegen und bei denjenigen eigener
Partituren Aussparungen; »je später die Fassung, um so weniger steht drin … In
seinem ganzen Leben gibt es die Tendenz zu weniger rauschhaften Zuständen,
zu nüchternem Klang, zu mehr Konstruktivismus beim Instrumentieren.«37
Schönberg hatte zuvor von der »beispiellosen Sachlichkeit« der Mahlerschen
Instrumentation gesprochen und damit zweifellos – da konnte es zwischen den
beiden Expressiv-Musikern schwerlich Dissens geben – Sachlichkeit im Hinblick
auf das von der Musik Gemeinte, nicht des Tons bzw. des Gemeinten selbst, im
Auge gehabt. Wie immer der gewaltige instrumentale Aufwand z.B. im Finale
der Sechsten Sinfonie der hochgespannten Expressivität der Musik angemessen
erscheint: Richard Strauss’ bei der Uraufführung gewonnener Eindruck, er sei
»überinstrumentiert«, hat ihn offenbar schwer beschäftigt38 und spätere Aus-
dünnungen des Satzes zur Folge gehabt – u.a. reduziert Mahler den Einsatz des
Schlagzeugs erheblich und reduziert die Dynamik an vielen Stellen. Spielt bei
solchen Änderungen auch mit, daß er, anfangs nicht sicher, ob er den Hörer
erreichen werde, einige gewalttätige Überredung aufbietet, welche später, da die
Musik sich ihm objektiviert hat, nicht mehr notwendig erscheint? – prononcierter
gesprochen: daß er Zeit braucht, ehe er seiner Musik und ihren Wirkungen ver-
traut, und erst dann erkennt, welche Verstärker er abbauen kann?
Die scheinbar gegenläufigen Tendenzen bei der Revision eigener und fremder
Partituren sind auch einem überaus differenziertenVerständnis von »Deutlichkeit«
zu danken, welches über das einseitig melodiebezogene bei Wagner und dessen
zuweilen schematische Unterscheidung von Wichtigem und Unwichtigem
hinausgeht. Bei der Ausdünnung eigener Texturen brauchte er schon definierte
Wege nur zu verlängern; bei fremden hingegen wechselten Gesichtspunkte und
Erfordernisse, wie u.a. aus Mahlers Verteidigung seiner Fassung der Neunten
ersichtlich, fortwährend, auf der Linie des »Fanatismus der direkten Mitteilung«
am ehesten gebündelt durch eine allem bequem-genießerischen Wiedererkennen
opponierenden Verfremdung, als ein Umweg, auf dem möglicherweise einiges
von der originalen, dem Hörer auf den Leib rückenden, seine Begriffe von Musik
strapazierenden »realen Gegenwart« wiedergewonnen werden könnte – mithilfe

37 Michael Gielen, zitiert bei: Rainer Riehn, Zu Mahlers instrumentalem Denken, in: Gustav
Mahler. Der unbekannte Bekannte, Musik-Konzepte 91, München 1996, S. 65–75, hier S. 71.
38 Pringsheim, a.a.O.
104 »Wo Musik ist, muß ein Dämon sein«

einer Es-Klarinette im Eroica-Finale die schrille Aggressivität der betreffenden


Passage, als »Kataklysmus, ein Vulkanausbruch«39 mit äußerster Kraftanstrengung
des Orchesters der Furor des ersten Satzes der Fünften oder eben das Fernor-
chester im Finale der Neunten, mit dessen Hilfe die Entlegenheit, wohl auch
leichte Skurrilität der Janitscharen-Passage und damit der große Ambitus der in
diesem Satz versammelten musikalischen Charaktere verdeutlicht werden konnte.
Wüßten wir nicht von kompetenten Zeugen, daß Mahler seinen Orchestern
auch ein vordem selten gehörtes, tragfähiges Pianissimo abgewann, so könnte die
Häufigkeit irritieren, mit der im Zusammenhang mit der Aufführung klassischer
Musik von massiven Wirkungen,Verstärkungen, alle Kräfte mobilisierenden Tutti
etc. die Rede ist – wohl nicht nur, weil diese zuallererst auffallen, sondern gewiß
auch jener hautnah taktilen, möglichst jede neutralisierende Historizität beisei-
tefegenden Ver-Gegenwärtigung wegen: Mahler war ein Gewalttäter.
Wie immer sie sich durch die Wahl ihrer Mittel disqualifiziert und unfrei-
willig die Heiligsprechung des Märtyrers befördert haben – insgesamt geben
die Gegner nicht weniger kompetente Auskunft als die Panegyriker, vielleicht
ist ihnen gar früher als diesen aufgegangen, daß die Wirkungen dieses Mannes
sich nicht begrenzen ließen auf den Bereich, in dem er tätig war, und daß zu
deren hochgestecktem Totalanspruch auch totalitäre Momente gehören. Diese
übersehen hieße ihn gefügiger machen, als er ist, und die Frage Mahler, das
Rätsel, die »Wunde Mahler« verkleinern.Wir verkleinern vielleicht schon, wenn
wir zusammenzudenken versuchen: den Potentaten mit dem Schutz- und Lie-
bebedürftigen, den die Zuchtrute Schwingenden mit dem Verwundbaren, den
Öffentlichkeit Organisierenden mit dem der Welt abhanden Kommenden, den
pragmatischen Strategen mit dem arglos Reinen, den Gigantomanen mit seinen
leisesten, intimsten Tönen usw. Kein Wunder, daß die Begeisterung für ihn teil-
weise bedenklich psychopathische Einschläge hat und nicht wenige Enthusiasten
sich verdächtig machen, für die mit seiner Musik verbundenen Vorstellungen
und Ideen mehr zu schwärmen als für die Musik selbst – jeder Begriff droht mit
Beruhigung in bezug auf das Begriffene, und fast jede beruhigende Gewißheit
bei Mahler ist eine falsche.
Wo immer ein »Bild«, eine Formel o.ä. sich abzeichnen, muß aufgerauht
und Unaufgelöstes, Befremdliches vergegenwärtigt werden, und da bieten die
Kontexte des Interpreten Mahler eben genug, angefangen bei dem, der zu Ex-
tremlagen welcher Art auch immer verurteilt ist, weil er mittlere Lagen, um nicht
zu sagen: weil er sich selbst nicht aushält. Hypertrophien wie »I war halt wieder
der Beste«40 oder »Die brachte nur Richard Wagner heraus (Mahler spricht von
Beethoven-Sinfonien mit Ausnahme der ersten beiden und der vierten) und

39 Müller, a.a.O., S. 565.


40 Gustav Mahler, Briefe 1879–1911, hrsg. von Alma Maria Mahler, Berlin/Wien/Leipzig 1924,
S. 126.
»Wo Musik ist, muß ein Dämon sein« 105

heute ich«41 erscheinen da ebenso unumgänglich wie die eingangs zitierte Fest-
stellung, nur Schaffende könnten und dürften auch Nachschaffende sein (wer
außer Strauss und ihm selbst bliebe da übrig?), oder die Art und Weise, in der er
eben diese »eigentlichste« Legitimation unbefragbar macht: »Das Schaffen und
die Entstehung eines Werkes sind mystisch von Anfang bis Ende, da man, sich
selbst unbewußt, wie durch fremde Eingebung etwas machen muß, von dem
man nachher gar nicht begreift, wie es geworden ist«42 – da ist auch die Frage
erlaubt, ob »Mahlers Kunstmoderne« nicht »einem im Kern recht altbackenen
Geniegetue gehorche – veranstaltet allerdings ganz fraglos von einem Genie,
mindestens von einer superieuren und singulären Kraftnatur.«43 Und diese, von
einem hausierenden und schnapsbrennenden Juden weitab in Böhmen in die
Welt gesetzt und »mystisch« beauftragt, darf auf dem Weg nach oben Rücksichten
nicht nehmen. So fordert z.B. der Fünfundzwanzigjährige in Leipzig den bisher
von Nikisch betreuten Ring und schreibt während dessen Erkrankung: »Ich glau-
be, daß es Nikisch mit mir nicht aushalten, und über kurz oder lang das Weite
suchen wird«44. Seine Freundlichkeiten gegenüber Cosima Wagner oder Felix
von Weingartner sind, mindestens zeitweise, nur taktisch bestimmt, und der Weg
bis zur endgültigen Bestallung als Hofoperndirektor und darüber hinaus zu den
vordem unbekannten, nahezu diktatorischen Vollmachten ist, angefangen bei der
umdatierten Konversion zum Christentum, eine diplomatisch-machtpolitische
Paradenummer45. Aber, mit Schönberg zu reden, »einer hat’s sein müssen«; Mahler
wußte, daß nur er selbst dieser eine sein konnte, für die Gewißheit, daß in ihm
sich »der ernsteste und heiligste künstlerische Wille unserer Zeit verkörpert«,
bedurfte es nicht unbedingt der – nach der Münchner Uraufführung der Achten
Sinfonie formulierten – Bestätigung durch Thomas Mann46. Einen noch höheren
Preis als von manchem im engeren Umkreis Betroffenen – auch verantwortliche
Mitarbeiter wie Franz Schalk waren vor schikanösen Demütigungen nicht sicher
– forderte der »heiligste künstlerische Wille« von Mahler selbst, über vielerlei
Folgen einer perennierenden Anstrengung hinaus vor allem in langwährenden
Ermüdungen, welche ihn auf jeder einzelnen Station ereilten und Folgen nach
sich zogen, welche für ihn, und nicht nur für ihn, sich als Selbstwiderlegungen
darstellten – am Ende hat er z.B. in New York im Ring wieder Striche zugel-
assen. »Man möchte sich am liebsten gar nicht mehr in die Welt begeben«, sagt
er der treuen Protokollantin schon im zweiten Wiener Amtsjahr47, »denn jede
Hoffnung, ein Verständnis zu finden, ist irrig und eitel. So ekelt mich nicht nur

41 Im Jahre 1899 in einem Gespräch mit Natalie Bauer-Lechner, s. Killian, a.a.O., S. 148.
42 A.a.O., S.26.
43 Eckard Henscheid in einer Rezension des Mahler-Buches von Jonathan N. Carr, in: Frankfurter
Allgemeine Zeitung, 29. April 1997.
44 Gustav Mahler, Briefe, a.a.O., S.60 ff.
45 Willnauer, a.a.O., S. 31 ff.
46 Zitiert u.a. bei: Alma Mahler Werfel, Erinnerungen…, a.a.O., S. 473 ff.
47 Killian, a.a.O., S. 146 ff.
106 »Wo Musik ist, muß ein Dämon sein«

die Oper an, selbst die Konzerte möchte ich hinwerfen. Nur selbst schaffen, das
wollte ich, und das könnte ich trotz alledem nicht aufgeben. Aber nicht für die
Welt, die es noch weniger als alles andere aufnehmen und verstehen wird – dazu
habe ich mir selbst den Weg … zu sehr verschlossen: nur für mich mache ich,
was ich schaffe.«
107

Von der Arbeit eines Totalmusikers


Mahler auf dem Weg von der »Totenfeier« zum ersten Satz
der Zweiten Sinfonie

»Dirigenten … gibt es so gut wie keine – viel weniger sogar als gute Kompo-
nisten. Denn zum wahren Produzieren bedarf es Schaffender, und diese haben,
wenn sie schon erstehen, meist nicht die umfassende Übung, die man zum Di-
rigieren braucht, und meist – zum Glück – nicht diesen Beruf« – ebenso knapp
wie verabsolutierend hat Mahler gegenüber Natalie Bauer-Lechner Ansprüche
und Unmöglichkeiten des Dirigentenberufs beschrieben und die gängige Un-
terscheidung von schöpferischer und nachschöpferischer Tätigkeit verworfen.
»Totalmusiker« auf der Linie dieser Bestimmung ist nicht schon der, der sowohl
komponiert als auch interpretiert, sondern erst derjenige, bei dem beides sich
durchdringt, inspiriert, wechselseitig aneinander steigert, ununterscheidbar wird,
für den die simpel-plausible Unterscheidung dessen, der Noten aufschreibt, von
dem, der ihnen zu klingender Realität verhilft, nur teilweise und pragmatisch
gilt.
Nicht aber nur die erste, sondern auch die zweite Überschrift bedarf der
Erläuterung. Mahler ist nicht, wie sie suggeriert, von der Totenfeier zum ersten
Sinfoniesatz, in einem weiteren Verständnis von programmatischer zu »abso-
luter« Musik gegangen (dafür hätte sich auf dem vermuteten Wege viel zu
wenig verändert), sondern hin und zurück1: Am Anfang, im Spätsommer 1888
anscheinend blitzschnell entworfen, stand ein erster Satz einer neuen, zweiten
Sinfonie, welche im folgenden Jahr, nicht zuletzt persönlicher Katastrophen
wegen – Tod der Eltern und der Schwester Leopoldine, Mißerfolg der Ersten
Sinfonie bei der Uraufführung – und vermutlich auch aufgrund der Belastungen
im Amt des Budapester Operndirektors nicht vorankam. Ob und in welchem
Maße die wohl ins Jahr 1891 fallende Entscheidung, mit dem Satz abzuschließen
und mithilfe der Betitelung Totenfeier. Symphonische Dichtung für großes Orchester
ein eigenständiges Ganzes zu prätendieren, mit Resignation in Bezug auf die
geplante Sinfonie zusammenhängt, ist schwer zu beurteilen. Aufschlußreich in-
dessen, gerade auch im Hinblick auf seinerzeit aktuelle Debatten – u.a. zwischen
Mahler und Strauss –, erscheint der Umstand, wie klein aufs Ganze gesehen der

1 Vgl. auch Stephen E. Hefling, The Making of Mahler’s Totenfeier, Diss.Yale 1985; Rudolf Stephan,
Die Symphonische Dichtung »Totenfeier«, in: Gustav Mahler – Leben,Werk, Interpretation, Rezepti-
on, Kongreßbericht zum IV. Internationalen Gewandhaus-Symposium anläßlich der Gewandhaus-Festtage
1985, hrsg. von Steffen Lieberwirth, Leipzig 1990, S. 105–110; ders.Vorwort zu: Gustav Mahler,
Totenfeier. Symphonische Dichtung für großes Orchester. Sämtliche Werke, Kritische Gesamtausgabe,
Wien 1988; Edward R. Reilly,Todtenfeier and the Second Symphony, in: The Mahler Companion,
hrsg. von Donald Mitchell und Andrew Nicholson, Oxford 1999, S. 84–125.
108 Von der Arbeit eines Totalmusikers

Schritt war, wieviel »absolute« Maßgaben eine »Symphonische Dichtung« und


wieviel Programmatik die anvisierte Sinfonie ertrugen. Dies hilft nicht zuletzt,
den Moralisten Mahler gegen denVorwurf zu verteidigen, für die Betitelung nach
einer von seinem Freunde Siegfried Lipiner übersetzten Dichtung von Adam
Mickiewicz – tiefergehende Korrespondenzen lassen sich nicht finden – sei das
pragmatische Anliegen ausschlaggebend gewesen, das halb gescheiterte Schiff
für den Konzertsaal flott zu machen. Ein Jahr nach der Benennung Totenfeier
hat Mahler die Arbeit an der Sinfonie wieder aufgenommen, jedoch noch nach
deren Fertigstellung den ersten Satz als Totenfeier separat aufgeführt, anscheinend
gar mit dem Material, also in der Fassung der Sinfonie. Wenn es so war – wie
sehr muß ihm die Identität des Ganzen Differenzen überwogen haben, welche
nach anderen, auf die Positivität des Textstandes fixierten Maßstäben hinreichen
würden, von Etikettenschwindel zu sprechen!
Die eingangs zitierte Äußerung, daran läßt Mahlers Praxis keinen Zweifel,
zielt nicht nur auf die Sichtweise, den nur mithilfe kompositorischer Erfahrungen
erreichbaren Durchblick, sondern auch auf dieVollmacht, mit anderen Werken so
umzuspringen wie mit eigenen – in einem Maße, welches oft hinausging über
das, was man seinerzeit an exzessiven Subjektivismen erleben konnte. Richard
Strauss z.B., nicht nur als Gleichrangiger und Generationsgenosse, sondern auch
darin Mahler am ehesten vergleichbar, daß die Abwägung des dirigierenden
Komponisten gegen den komponierenden Dirigenten an ihm abprallt, hat die
Arbeitsteilung zwischen beiden sehr wohl beobachtet (was u.a. praktischer war,
z.B. Revisionsarbeiten ersparte), hielt die Schwankungsbreiten seiner Auffüh-
rungen, besonders eigener Werke, gering und änderte an deren Text, waren sie
einmal veröffentlicht, nichts. Mahler hingegen hat u.a. einzelne Sätze aus Bachs
Orchestersuiten zu einer Meta-Suite kompiliert, die 6/8-Episode im Finale von
Beethovens Neunter Sinfonie mit einem Fernorchester begonnen, überhaupt bei
Beethoven, Schubert und Schumann eingreifend, zuweilen gewalttätig retouchiert
(drei Trompeten in Schuberts Dritter Sinfonie, ein Tamtam-Schlag am Beginn von
Schumanns Manfred-Ouvertüre), klassische Streichquartette chorisch besetzt und
im dritten Akt von Mozarts Figaro die Gerichtsszene so sehr vermißt, daß er sie
kurzerhand nachkomponierte.
Noch weniger macht die Zurichtung für das Hier und Jetzt jeweils anstehender
Aufführungen vor eigenen Werken halt, fast ließe sich sagen: Jede Aufführung eine
neue Fassung. »An der Partitur, auch wenn sie längst fertig, schon gedruckt war,
arbeitete er Tag und Nacht – er arbeitete, richtiger: es arbeitete in ihm zu jeder
Stunde, während der Proben, auf Spaziergängen, wenn er bei Tische saß, arbeitete
einer immer höheren – und der unerreichbaren, höchsten Vollkommenheit zu«
(Klaus Pringsheim). Obenhin betrachtet zielte er bei fremder bzw. eigener Musik
in divergierende Richtungen – dort verstärkt er, sucht massive Wirkungen oder
ungewöhnliche Kontraste, streicht drastisch heraus etc.; hier dünnt er aus und
spitzt zu, beseitigt noch den letzten Anschein bequemer Polsterung und befleißigt
sich im Sinne dessen, was er sagen will, einer rigorosen Versachlichung. Beide
Von der Arbeit eines Totalmusikers 109

Richtungen konvergieren in dem Anliegen, so viel Direktheit herzustellen wie


nur irgend möglich, die Werke unwiderstehlich zu machen in dem Sinne, daß
keiner ihnen sich entziehen kann, das Auf-du-und-du mit dem Auditorium,
und sei es gegen dessen Willen, zu erzwingen – ästhetischer Totalitarismus nicht
zuletzt in einer Totalität der Mittel, angesichts deren die Unterscheidung der
kompositorischen und interpretatorischen wie eine obsolet gewordene Ortho-
doxie anmutet. Die Opposition gegen ihn – vom Grundsätzlichen, der Berufung
auf den Textstand und die Traditionen seiner klingenden Umsetzung abgesehen
– fand auch insofern gute Handhabe, als sich leicht argumentieren ließ mit dem
Widerspruch zwischen einer Detailversessenheit, welche noch in dröhnenden
Tutti den Unterschied zwischen stakkatierenden Achteln und normalen Sech-
zehnteln wahrgenommen erleben wollte, und Eigenmächtigkeiten der Tempowahl
sowie einer die simplen Koordinationen vernachlässigenden Dirigierweise, welche
die Ergebnisse jener detailversessenen Arbeit aufs Spiel zu setzen schienen. Die
Autorität, die hierüber mit sich nicht reden lassen will, ist, vom Interpretierenden
in Anspruch genommen, viel eher die eines Komponierenden.
Die Divergenz zwischen dem über das originale hinausgehenden größeren
Aufgebot bei fremden und der zuspitzenden Ausdünnung bei eigenen Werken
betrifft die Ausarbeitung der Totenfeier zum ersten Satz der Zweiten Sinfonie als
auffälligste Ausnahme gerade nicht, weil Mahler, nachdem sich in den späteren
Sätzen die Notwendigkeit einer erweiterten Orchesterbesetzung befestigt hatte,
den ersten insgesamt einpassen mußte – vermutlich im Sinne einer nachträglichen
Systematisierung, weil wichtige Anregungen zur Erweiterung durchaus von hier
ausgegangen sein können.Wie immer man den Eindruck relativieren muß, weil
es allemal leicht fällt, mit Kenntnis einer späteren Fassung schwache Stellen einer
früheren zu erkennen – nicht wenige Stellen in der Totenfeier schreien nach der
Darstellung, die ihnen in der Sinfonie zuteil geworden ist. Das beginnt im ersten
Takt mit dem brutal angerissenen g, für das Mahler in der Sinfonie die zuvor
herausgelassenen zweiten Violinen hinzugenommen hat, setzt sich im zweiten
bzw. vierten Takt bei Celli und Bässen in der zum Achtel verkürzten Endnote
der furios anreißenden Figur, im Accelerando des Aufgangs und in der drama-
tischen Dynamik der Takte 5 ff. fort, reicht über Stellen, in denen das Tamtam
den dunklen Klang von Celli und Bässen geräuschhaft-unheimlich hinterlegt, bis
zur gespenstischen Halb-Musik des es-Moll-Beginns der zweiten Durchführung
(Totenfeier Takt 280, Sinfonie Takt 254) und der dortigen Verdeutlichung eines
Beginns ex nihilo, »sehr mäßig beginnend« und »ppp« dort, »sehr langsam be-
ginnend« und »pp«, jedoch »nur die Hälfte« hier, zudem die Punktierung in der
Sinfonie auf eine doppelte verschärfend, wohl, um zu betonen, daß die stockende
Bewegung immerfort stehenzubleiben droht und erst durch die Kumulierung
von Instrumenten und Prägungen zu einer halbwegs sicheren Gangart gelangt;
bald danach verfällt sie dem Sog eines Accelerando.
Schon einmal zuvor, als »erste Durchführung« (in beiden Versionen Takte
147 ff.) hatte Mahler einen ähnlichenVerlauf komponiert, der, die katastrophische
110 Von der Arbeit eines Totalmusikers

Dimension des weiter ausholenden zweiten in engeren Margen vorwegnehmend


(nicht so weit unten beginnend wie beim es-Moll-Beginn, nicht in einem Nie-
derbruch endend wie beim Repriseneintritt (Totenfeier Takt 355, Sinfonie Takt 329),
das nachmals berstende Gefüge mit knapper Not noch in einem traditionellen
Rahmen zu halten sucht. Möglicherweise hat erst der dirigierende Mahler die
Grenzsituation voll ermessen, die der komponierende hier formuliert hatte: Drei
der wichtigsten Revisionen betreffen diese Passage, alle drei verstärken deren
nahezu sprengende Potenzialität, rücken sie mithin deutlicher ins Vorfeld der sie
übersteigenden »zweiten Durchführung«. »Allmählich zum 1.Tempo zurückkeh-
ren« weist Mahler im Takt 162 (beider Versionen) an und ergänzt in der Sinfonie
»und unmerklich« – als fast utopische Forderung, es sei denn, man wäre nach
vier Verlangsamungen (in der Totenfeier »Etwas zurückhaltend« Takt 112, »Sehr
zurückhaltend« Takt 119, »Meno mosso« Takt 129, »Immer noch zurückhalten«
Takt 136) dennoch im Tempo nicht so weit zurückgefallen, daß sich zwischen
den Takten 162 und 200 eine bis zu einer alla-breve-Bewegung führende Be-
schleunigung »unmerklich« bewerkstelligen ließe. Dem folgen, beginnend mit
»Tempo I« (Takt 179) – welchem? – in der Totenfeier übrigens drei, in der Sinfonie
fünf auf Beschleunigung drängende Anweisungen, denen Bruno Walter – geht
das, immerhin bei dem Treuesten der Treuen, auf Mahler zurück? – dadurch
präzise Rechnung trägt, daß er bei »Tempo I« verlangsamt, womit freilich der
zuvor entwickelte Impetus vorzeitig abgebremst und die dem riesigen Entwick-
lungszug innewohnende Dynamik wie an einer Zwischenbarriere aufzulaufen
scheint. In den acht Takten vor Tempo I (Takte 171 ff. in beiden Versionen) tilgt
Mahler bei den Violinen durchlaufende Sechzehntel, offenbar, weil sie ihm, trotz
der gezackten Lineatur, als barockisierend-obligate, die scharfe Kontrastierung
von Bläsern und tiefen Streichern behindernde Füllsel erschienen; die von der
Figuration einzig stehenbleibenden, die Zweitaktigkeit raketenhaft betonenden
Anläufe sorgen nun für jähe, voranpeitschende Energieschübe, um nicht zu sagen:
Stromstöße, eine Dynamik verstärkend, die wenig später das zuvor lyrisch groß
entfaltete zweite, das »Auferstehungs«-Thema in einem entstellend »falschen«
Tempo über die Runden hetzen wird. Innerhalb dieser hetzenden Passage nun
greift Mahler (Takte 221 in beidenVersionen; instrumentatorischeVeränderungen
beiseitegelassen) zum zweiten Mal tief ein und verstärkt die überstürzende
Häufung, indem er das zweite Thema, nun auch von Violinen übernommen,
von den Takten 230 ff. auf die Takte 221 ff. vorzieht und damit deren Strukturen
ineinanderschiebt; offenbar waren die konsistenten, lauten Takte 225–229 der
destruierenden Verkoppelung von Beschleunigung und Diminuendo, dem halt-
losen Zerflattern der Struktur, der »Logik des Zerfalls« im Wege.
Der solchermaßen verschärfte Verlauf – dies begründet Mahlers dritten,
radikalsten Eingriff – kann nicht mehr wie früher nahezu regelkonform an-
kommen, weder harmonisch noch in einer, wie immer nur scheinhaft auffan-
genden, Scheinreprise. An deren Stelle komponiert er in zehn statt 27 Takten
ein so überanstrengtes wie ohnmächtig-vergebliches Anrennen, danach (»Bis
Von der Arbeit eines Totalmusikers 111

zur Unhörbarkeit abnehmen«) ein Versinken ins Nichts, welches überdies das
De profundis der in es-Moll ansetzenden Celli und Bässe zusätzlich begründet.
In der Totenfeier setzten die tiefen Streicher den Anriß vom Beginn nach einem
liegenden, ex posteriori dominantischen h auf e an; in der Sinfonie begreift Mahler
dessen Gewaltsamkeit auch als harmonische und setzt auf es an; daß damit auf
das es-Moll der zweiten Durchführung vorausgeschaut ist, spielt angesichts der
Schockwirkung des verqueren Einsatzes zunächst keine Rolle. In der Totenfeier
hatte vor diesem Neubeginn ein es-Tremolo der Violinen, welches die Sinfonie
für die Coda aufspart, zielgerichtete Erwartung artikuliert; die Sinfonie, trotz der
auf es bzw. b endenden Pauken, gelangt am Ende des eine Oktav durchmessenden
chromatischen Abstiegs der Bässe nahe an einen keine genaueren Erwartungen
duldenden Nullpunkt.
Insgesamt gaben dieVerschärfungen der ersten Durchführung der als steigernd
konzentrierende Wiederholung disponierten zweiten viel auf, und so spricht viel
dafür, daß Mahler bei der Umarbeitung zum Sinfoniesatz hierdurch sich unter
besonderen Druck gesetzt wußte. Um so mehr fällt auf, daß er die Grundstruktur
dieser 75 Takte (Totenfeier 280–355, Sinfonie 254–329) nicht antastet, desto mehr
jedoch bei der instrumentalen Darstellung verändert, und daß er die nun nicht
mehr einsinnige Tempoentwicklung genau fixiert. In der Totenfeier weist er in
dieser Passage vier verschiedeneTempi an, in der Sinfonie zehn, nicht gerechnet die
jeweils ans Ende der Takte 292 und 294 gesetzten Atemzeichen, welche ein den
Taktfluß sistierendes Atemholen bzw.Ausholen vor dem nächsten Einsatz anzeigen
sollen (s.u.). Einerseits weist das unterschiedliche Quantum der Anweisungen auf
ein Defizit in der, zunächst wohl nur zu eigenem Gebrauch vorgesehenen, Partitur
der Totenfeier hin – »Sehr mäßig beginnend« (Takt 280) z.B. läßt nur vermuten,
daß eine allmähliche Beschleunigung beginnen soll, und nicht zufällig fallen die
beiden in der Sinfonie nächstfolgenden Tempoanweisungen wortreich aus.
Andererseits zeigen spätere Anweisungen, daß Mahler die neu aufgebotenen
bzw. präzisierten darstellerischen Mittel, sei es im vergrößerten Apparat, sei es
im Vortrag, hinreichend erschienen, die Expansionen der mit kompositorischen
Mitteln verschärften ersten Durchführung zu übersteigen. Zu ihnen gehören die
in der Sinfonie drastisch verschärften, durch Zäsuren als niederstürzende Katarakte
je für sich gestellten Taktpaare 291/292 und 293/294 (Totenfeier 317–320), deren
Intention Mahler mit der Anweisung »Cäsur, und hierauf plötzlich vorwärts«
verdeutlicht, jähe Stauungen einer Dynamik des Fortgangs, welche danach mit
um so größererVehemenz weitertreibt; zu ihnen gehört ebenso die nahezu taktile
Belästigung der molto pesante-Takte 325–329 (hat Mahler sie als Widerklang der
Schreckensfanfaren am Beginn von Beethovens »Freude«-Finale konzipiert?),
nach denen in der Sinfonie der allzu prompt Reprise anzeigende Wiedereintritt
der anreißenden Figur wie in der Totenfeier (Takt 355) nicht mehr möglich ist.
Nirgendwo deutlicher als imVerhältnis der beiden zugleich korrespondierend
und andersartig überarbeiteten Durchführungen zeigt sich, wie der Komponie-
rende und der Dirigierende füreinander eintreten und ununterscheidbar agieren.
112 Von der Arbeit eines Totalmusikers

Hier schließt sich als unausweichlich die Frage an, in welchem Maße interpreta-
torische Erfahrungen mit der Totenfeier sich in der Umarbeitung niedergeschlagen
haben – am sichersten in Details wie den veränderten Bindungen und Glissandi
im zweiten Themenkomplex (u.a. Takte 95 ff.) –, darüber hinaus diejenige, in
welchem Maße eine Rückübertragung erlaubt oder gar geboten sei. Einfache
Antworten verbieten sich schon deshalb, weil die Expansionen des Apparates und
die der Agogik korrelieren – den in der Sinfonie an die Grenze des Erträglichen
herangesteigerten molto pesante-Takten 325 ff. z.B. dürfen größere dynamische
und agogische Exzesse vorangehen als in der Totenfeier den entsprechenden,
bescheidener mit »Etwas zurückhaltend« annotierten.
Daß in der zweiten Durchführung Veränderungen ausschließlich im »dar-
stellenden« Bereich für die in der ersten vorgegebenen kompositorischen Ver-
änderungen eintreten, sie aufwiegen bzw. übertreffen können, ermöglichte dem
großräumig disponierenden Mahler nicht zuletzt die Coda, um so mehr, als nach
den vorangegangenen Ereignissen eine Reprise, ganz und gar mit dem Anspruch
emphatischer Wiederherstellung, alles Recht verloren hat. Mahler trägt dem
Rechnung, indem er sie als rasch ermattend, nahe bei der Negation ihrer selbst
verlöschend vorführt; er verkürzt beide Themenkomplexe auf Erinnerungen ihrer
selbst und gelangt im zweiten rasch in eine epilogische Passage (Takt 372) – als
Coda-Charakter, bevor die Coda begonnen hat. Mindestens ebenso schwer wiegt,
daß er den »agonalen« Zug zur Coda schon frühzeitig etabliert, das Paradoxon
einer exponierten Coda riskiert hat: Schon nach der zweiten Exposition des
ersten Themenkomplexes (Takte 117 ff.) war sie aufgeschienen wie ein Hinweis
auf die Möglichkeit, die Musik könnte am Ende sein, ehe sie sich ganz entfaltet
hat – immerhin ist »es … der Held meiner D-Dur-Sinfonie, den ich zu Grabe
trage«. Konsequenterweise hat Mahler, dabei die Nähe zur Coda des ersten Satzes
von Beethovens Neunter Sinfonie suchend, früh mit der Grablegung begonnen;
um so größer danach das kaum erwartbare Geschenk des nun erst voll entfalteten
Auferstehungs-Themas.
Auch und gerade der ausgedünnte, häufiger als in der Totenfeier die Instrumente
wechselnde Satz der Coda profitiert vom vergrößerten Apparat. Je größer das
Quantum, desto mehr kann zerfallen. Nach dem ersten, in der Sinfonie von den
Posaunen an die sechs Hörner abgegebenen Unisono (Totenfeier Takte 420 ff.,
Sinfonie 394 ff.) wirken die von einer Trompete und einer Posaune geblasene
Fortführung und die es/g-Terz der tiefen Trompeten schon per Kontrast fahler,
verlorener, als sie in der ersten Version konnten, ein abgeblendeter, von fernher
rufender, fast schon abwesender Klang, dessen Grundierung, unwiderstehlich fort-
ziehende Baßschritte, die verschwimmenden, zugleich glockenhaft ein Memento
mori artikulierenden Oktaven der Harfen zusätzlich eindunkeln – Marcia funebre
in Potenz; die makaber lustigen Figurationen der Holzbläser danach reduziert
Mahler in der Sinfonie auf eine einzige; nach dem letzten, dröhnenden Aufbäumen
des Tutti (Totenfeier Takte 442/443, Sinfonie 416/17) spielt in der Sinfonie ein fast
identisches Instrumentarium weiter, im Schatten des mächtigeren Tutti und im
Von der Arbeit eines Totalmusikers 113

Vergleich zu diesem erscheint es dennoch kleiner; und dank des schmerzenden


Kontrastes zu den forte dreinschlagenden Harfen, wiederum gnadenlosen Agenten
des Memento mori, tönen die Bläser in den Takten 433 ff. der Sinfonie, obwohl
fast die gleichen, leiser, aus größerer Ferne, tieferer Versunkenheit herüber als in
den entsprechenden (459 ff.) der Totenfeier – der doppelte Boden machte das als
»Sehr zurückhaltend« nochmals reduzierte Tempo der Totenfeier überflüssig.
Mahlers Vorgehensweise desavouiert Kategorien, ohne die ihre Betrach-
tung nicht auskommt. Insofern erscheint schon die obige Unterscheidung der
kompositorisch veränderten ersten und der »darstellerisch« veränderten zwei-
ten Durchführung fragwürdig, und noch bei der kleinsten der zahllosen, hier
nicht behandelten instrumentatorischen Veränderungen wäre nach der über
»Klanggewand« o.ä. hinausreichenden kompositorischen Motivation zu fragen
– Klang bei Mahler ist nie nur Gewand. »Komponierendes Interpretieren« versus
»interpretierendes Komponieren« – die dialektische Begriffsschleife fängt den
Prozeß nicht vollständig ein, welcher ad infinitum beunruhigt bleibt von der
wechselseitigen Relativierung des Geschriebenen und des Klingenden – auch,
wenn wir den Dirigierenden als alle Verfügungsrechte des Komponierenden be-
anspruchend zu denken versuchen und sein Komponieren als kommunikativen
Akt einer Qualität und Dringlichkeit, wie sie eher dem Interpreten zustünden.
Weil der eine festschreiben muß, was der andere erfahren hat, und dieser mit
dem neu Festgeschriebenen abermals neue Erfahrungen macht, welche wieder-
um neue Festschreibungen erheischen usw., winkt in dem – nirgendwo sonst
so verbissen geführten – Kampf um eine Konvergenz von Fertigstellung und
Vergänglichkeit kein Sieg, erscheinen die Partituren Mahlers wie Zwischenauf-
enthalte auf einem Wege, auf dem ihnen gegen die eigenste Intention vorzeitig
Halt geboten wurde – weil er keine weiteren Aufführungen dirigiert hat, weil er
starb; Fassungen letzter Hand im Sinne explizit letztwilliger Verfügungen waren
ihm versagt. Schon, wenn wir von »Struktur« sprechen, unterstellen wir mehr
Festlegung und selbstbezogene Stimmigkeit, als seiner ihreVerfestigungen immer
neu aufs Spiel setzenden, Intentionen im Gegenwind der Realisierung je neu
härtenden Musik angemessen ist. Die in unseren Denkkategorien vorgegebene
Arbeitsteilung zwischen Komponist und Interpret, Struktur und mitteilendem
Prozeß erscheint auf fatale Weise bequem, insofern sie die der Musik eigenste
Gefahrenzone von deren unvermeidlichem und unschlichtbar antagonistischem
Ineinander ausspart. Wenn einer dort sich aufgehalten hat, dann Mahler; der
Versuch, dort ihn zu stellen, mag bislang selten genutzte Möglichkeiten öffnen,
dem »Totalmusiker« näherzukommen.
114

Despot gegen Despoten,


Dämon ohne Dämonie:
Arturo Toscanini

»So war es natürlich, daß nach einigen Jahrzehnten die Reiniger kamen: Busoni,
Strawinsky, Bartók, Hindemith, Honegger, Toscanini.« In dieser Charakterisie-
rung durch den Pianisten Edwin Fischer findet sich der große Dirigent ebenso
richtig eingeordnet wie in ungeliebter Gesellschaft – womit eine so wichtige
wie problematische Auskunft über die von ihm vertretene Art der musikalischen
Interpretation gegeben ist: daß sie nämlich sehr wohl zu den »Tendenzen des
Zeitalters« gehört und eben deren Zusammenhänge, besonders die komposito-
rische Produktion, geringschätzt. Toscanini hatte Verdis Pezzi sacri, Bajazzo von
Leoncavallo, La Bohème und Turandot von Puccini sowie Opern von Umberto
Giordano und Ildebrando Pizzetti uraufgeführt, zu jüngerer Musik jedoch kein
Verhältnis. Dmitri Schostakowitsch war während des Krieges, da ihm der Einsatz
des Maestro viel bedeuten mußte, wütend über dessen Aufführung der Leningrader
Sinfonie: »Alles ist falsch – der Geist, der Charakter, die Tempi.«
Dies muß als sonderbarer Auftakt erscheinen zu Betrachtungen über einen
Dirigenten, der, Legende schon zu Lebzeiten, über Jahrzehnte als weltweit erster
Musiker, als Maestro aller Maestri galt und mit dessen Namen sich in der Ge-
schichte des Orchesterspiels nach François Habeneck und Hans von Bülow eine
dritte entscheidende Steigerung der Ansprüche verknüpft. Daß der nicht weniger
besessen arbeitende Gustav Mahler ihm hier kaum Konkurrenz macht, hängt
mit Toscaninis rigorosem Spezialistentum zusammen, welches sich nicht darauf
beschränkt, daß er sich ausschließlich als Nachschaffender begriff – Dirigent und
nur Dirigent mehr noch als jeder prominente Kollege.
Größe und Grenzen lagen da nahe beieinander; wer vor allem von den
letzteren sprechen wollte, möge sich zuvor die ungeheure Konzentration und
Anstrengung vergegenwärtigen, welche die Realisierung von Toscaninis An-
sprüchen erforderte. Das ist auf Grund der zahlreichen Probendokumente nicht
schwer. Den legendären Wutausbrüchen hat zu viel Aufmerksamkeit gegolten, zu
wenig seiner unablässig bohrenden, nie ermüdenden Insistenz, einem noch dem
kleinsten Detail zugewandten letzten Ernst, so unerbittlich und humorlos auf
die Sache bezogen, daß er auch verständliche menschliche und spieltechnische
Schwächen nur als Störungen zu registrieren vermochte.
Man muß nicht unbedingt, obwohl es nicht untriftig wäre, auf Toscaninis
Kindheit und Jugend rekurrieren, auf fehlende Mutterliebe, die gefängnisartigen
Verhältnisse am Konservatorium in Parma, um zu erklären, weshalb in seinem
Musizieren wenig Liebe ist. Für kommunikative Verführungen hat sein Begriff
von Verantwortung für das Werk keinen Raum; die Distanz zwischen seiner Vor-
Despot gegen Despoten, Dämon ohne Dämonie: Arturo Toscanini 115

stellung und dem, was zunächst aus den Orchestern entgegenkommt, erscheint
ihm so groß, daß sie nur mit äußerster Kraftanstrengung, mit äußerstem, der
bête humaine auferlegtem Zwang verkleinert werden kann – nicht umsonst galt
er jahrzehntelang als Urbild des zornigen alten Mannes. Igor Markevitch, der
in New York konzertierte, als Toscanini starb, hat von verbissen schweigendem
Gedenken berichtet und von wenig Tränen.
Nicht nur im übertragenen Sinn hat der unermüdliche Arbeiter mit der
Trägheit der Materie gekämpft, sondern auch im konkret historischen – für ein
spieltechnisches Niveau, das, auch wenn es uns inzwischen fast selbstverständlich
erscheint, auch heute selten erreicht wird und doch als Anspruch nicht ungestraft
ignoriert werden kann. Insofern spiegeln die Tondokumente die Anstrengungen
eines geschichtlichen Weges, das »Einer hat’s sein müssen« im Sinne Schönbergs.
Daß an der Erscheinung dessen, der von den Zeitgenossen als »Reiniger« und
Prophet moderner Sachlichkeit empfunden wurde, vor allem sein Umgang mit
den Orchestern mittlerweile vorweltlich anmutet – jene Despotie, welche einen
Zustand herbeizuzwingen suchte, da sie nicht mehr gebraucht würde –, hat seine
eigene Stimmigkeit. Welche Koinzidenz zwischen historischer Notwendigkeit
und der Individualität eines Mannes, der sich in früher Jugend hat durchbeißen,
aus ärmlichenVerhältnissen hat heraufarbeiten müssen und für entspanntes Glück
nicht disponiert war!
Die Auskunft über den Nur-Musiker bedarf einer Ergänzung: Anders als
viele seiner in politischen Dingen diffus agierenden Kollegen war Arturo Tosca-
nini ein dezidierter Demokrat – eine Auskunft, welche auch dadurch kaum
eingeschränkt wird, daß er vor nationalistischen und antisemitischen Anwand-
lungen nicht gefeit war (dafür den jüdischen Pianisten Vladimir Horowitz als
Schwiegersohn bekam), daß seine Überzeugungen nicht breit fundiert waren
und anhand spektakulärer Fälle wie der von ihm verweigerten faschistischen
»Giovinezza«-Hymne sich auch daraus erklären lassen, daß Despotien sich nicht
überschneiden dürfen: der absolute Herrscher über Orchester und Opern-
häuser duldet keinen Herrscher neben sich. Auch, daß er die Wankelmütigkeit
seines Lieblingsgegners Furtwängler genußvoll vorführte und, die Schläge von
faschistischen Rüpeln nicht gerechnet, sich die Geradlinigkeit leisten konnte,
mindert die Dignität des großen Beispiels für Zivilcourage nicht. Hier übrigens
bekannte sich Toscanini zu seinem Herkommen: sein Vater hatte zu Garibaldis
Freischärlern gehört.
Das Charisma des politisch Unbeugsamen hat nicht wenig dazu geholfen,
daß Toscanini im demokratisch verfaßten Amerika zum Paradigma des starken,
herrscherlich regierenden Mannes aufsteigen konnte, als Projektionsfläche de-
mokratisch nicht auslebbarer Machtphantasien (der Taktstock fast ein Zepter)
der Frage überhoben, inwieweit sein ästhetisches Regime nicht einiges gemein
habe mit dem der verabscheuten Diktatoren. Daß er sich als Statthalter der
Musik, als Verkörperung des jeweiligen ästhetischen Ichs dazu ermächtigt fühlte,
beantwortet die Frage nur teilweise.
116 Despot gegen Despoten, Dämon ohne Dämonie: Arturo Toscanini

Theodor W. Adorno hat in einer vielzitierten Kritik an Toscanini kurz nach


dessen Tod auf die Differenz zwischen derVersachlichung seines Musizierens und
der gleichzeitigen kompositorischen hingewiesen: »Mit den technischen Span-
nungen möglichen Mißlingens werden auch die unter der Oberfläche latenten
der Komposition selbst beseitigt … Seine Empfindlichkeit gegen Zufall und
Zutat ist die des Bändigers: nichts darf danebengehen.« Wenngleich von woan-
ders herkommend, treffen sich solche Einwände mit denjenigen, die Wilhelm
Furtwängler anläßlich des triumphalen Scala-Gastspiels 1930 in Deutschland,
die Formulierungen genau wägend, privatim notierte – seltenes Beispiel einer
so gewissenhaften wie betroffenen Rechenschaft: »Wenn er tiefere Einsicht,
lebendigere Phantasie, größere Wärme und Hingabe an das Werk besäße«, hält
Furtwängler fest, wäre Toscanini »kein solcher Disziplinierter geworden … Daß
Durchdringen und Verstehen der Kunst wichtiger sind als Disziplinieren und
als ›Herrscher‹ sich betätigen, ist immer noch richtig.« Unverkennbar, wie der
Gegenpapst, der dies nicht sein wollte, hier als Platzhalter bedrohter Traditionen
redet, als einer, der retten und verteidigen muß und die undämonische, weil
technikbezogene Dämonie des zwanzig Jahre Älteren im fatalen Sinne zeitge-
mäßer findet als sich selbst. Und seine Argumentation trifft sich ausgerechnet
mit derjenigen, welcher zugrundeliegt, daß »die Reproduktion … ihre Kraft und
Idee stets am fortgeschrittensten Stand des Komponierens« haben müsse.
Furtwängler nennt Toscaninis Erfolg schlankweg »verhängnisvoll«, und Adorno,
der dessen Notate nicht kennen konnte, begründet: »Die Gefahr des Musizierens
sind nicht mehr Espressivo und Rubato, sondern das bloße Funktionieren nach
dem Modell von Organisation und Verwaltung; Prozeduren, die, bei aller Versach-
lichung, der Sache nicht ihr Recht widerfahren lassen, sondern sie zentralisierend
an die Kandare nehmen und schließlich brechen.« »Entweder Tutti oder Arie – in
diese zwei Elemente wird die ganze, unendlich reiche Skala der Musik … aufge-
löst«, konstatiert Furtwängler und spricht von Toscaninis »völlig homophonem
Fühlen«. Subtilere Nuancen seien diesem Musizieren fremd, Toscanini kenne
»keinen Unterschied verschiedener Grade von Präsenz«, sekundiert Adorno.
Trotz der Koinzidenz wären die Zitate hier überflüssig, stammten sie nicht
von Männern, die Toscaninis Rang und insbesondere die historische Legitimation
dessen wohl erkannten, was Adorno »die schneidende Schärfe von Toscaninis In-
tention« nannte. Nicht nur die Musiker werden von ihr gezüchtigt, sondern auch
die Auditorien – das Geschenk dieses Musizierens so unabweisbar und vollkom-
men, daß es angenommen werden muß – unübersehbar in der Wirkung Toscaninis
das Moment der Unterwerfung, sternenweit entfernt von dem, was Furtwängler
kurz vor seinem Tod »Liebesgemeinschaft mit dem Publikum« nannte.
Die Nachwirkungen des doppeltenVerdikts haben dennoch viel damit zu tun,
daß Toscaninis Mission erfüllt war und kaum noch eine Rolle spielte, wogegen
er andirigiert hatte; von der situationsbedingten Aktualität war nur das Moment
der ästhetischen Alternative übriggeblieben. Im übrigen unterschlugen Adorno
und Furtwängler wichtige Spezifiken des Operndirigenten, welcher Toscanini in
Despot gegen Despoten, Dämon ohne Dämonie: Arturo Toscanini 117

erste Linie gewesen ist. Dieser bleibt stärker als im Konzertsaal auf vermittelnde
Qualitäten angewiesen und betätigt sie, vorab in der Berücksichtigung sänge-
rischer Eigenheiten und Angebote, bereits vor aller Reflexion darauf, wer den
Ablauf bestimme. Noch bei den konzertanten Opernaufführungen des wegen
seiner Intransigenz berühmt-berüchtigten alten Toscanini gibt es nichts weniger
einzuklagen als »tiefere Einsicht, lebendigere Phantasie, größere Wärme« etc. Die
Selbstverständlichkeit, mit der er die subtile, hochdifferenzierte Lyrik etwa des
Duettes am Ende des ersten Othello-Aktes in Fluß hält, hat mit Herrschsucht
eines »Bändigers« nichts und viel mit gesättigten Musiziererfahrungen zu tun,
die man vornehmlich bei altgedienten Operndirigenten findet – eine entspannt-
elastische Geradlinigkeit, in der sich viele minimal dosierte Ausgleichsvorgänge
sedimentiert haben, also aufgehoben sind, und im Zusammengehen mit der
Bühne unvermeidliche, erwartbare Schwankungen wie im Vorhinein abgefedert
erscheinen.
Die »castità«, die spezifische Reinheit und Lauterkeit von Toscaninis Mu-
sizieren leitet sich wie seine unbeirrbare Sicherheit vom rücksichtslos obenan
gesetzten Respekt vor dem musikalischen Text her (selbst der alte Verdi wird
zurechtgewiesen), einem Zugang, der keine Umwege duldet – bis hin zur Kon-
sequenz, daß feinere Differenzierungen in Dirigieren und Probenarbeit selten
zu beobachten sind. »Manche sagen, das ist Napoleon, manche Hitler, manche
Mussolini. Für mich ist es einfach Allegro con brio« – so Toscanini über den
ersten Satz der Eroica. Und die Berufung auf einen über Mengelberg vermittelten
Hinweis, wie die Coriolan-Ouverture zu dirigieren sei, durch jemanden, der es noch
von Beethoven wisse, schmettert er mit der Bemerkung ab, er habe es »direkt
von Beethoven selbst, aus der Partitur.« Im grundsätzlichen Mißtrauen gegen
vermeintlich Hinzugetanes trifft er sich partiell mit Mahler, der – »Tradition ist
Schlamperei« – dieser Intention zuliebe in bezug auf Appoggiaturen das Kind
mit dem Bade ausschüttete: lieber keine als falsche. Er trifft sich aber auch mit
Igor Strawinskys nicht besonders sensibler Unterscheidung von Interpretation
und Ausführung – er selbst in deren Sinne, wie immer als erster Diener im Staate
der Musik, nur Ausführender.
Konflikte zwischen Buchstaben und Sinntreue kannte Toscanini offenbar
nicht; sie mögen ihm intellektuell erklügelt erschienen sein. Der Eindruck, »mit
der ersten Note« sei »die Musik bereits vorentschieden, … anstatt zu entstehen«
(Adorno), hat auch zu tun mit dem Ausschluß von Zweifeln und Unsicherheit,
die, zurückweisend auf ein Stadium, da das Werk noch nicht unverrückbar fixiert
war, seine Realisierung den Risiken und dem heißen Atem seiner Erschaffung
annähern könnten. Toscanini erzählte Ernest Ansermet einmal, er habe allen
Glauben an Strawinskys Musikalität verloren, als dieser beim Vorspielen seiner
Nachtigall laut zu zählen begann – reagierte der unerbittliche Motoriker mögli-
cherweise empfindlich, weil er selbst im Glashaus saß?
Indessen kann sich die rigoroseste Treue zum Text der Historizität nicht
entziehen; heute sind wir auf andere Weise treu, als wir es gestern waren oder
118 Despot gegen Despoten, Dämon ohne Dämonie: Arturo Toscanini

morgen sein werden. Nur wer dies übersah, konnte, als vor zehn Jahren Toscani-
nis Partituren zugänglich wurden, über zahlreiche, teilweise tiefgreifende, wenn
nicht – wie etwa im Falle von Debussys La Mer – verfälschende Revisionen
erschrecken. Bei Beethoven übernahm er die meisten der seit Wagner üblichen
Retuschen; deren oft gewalttätige Unterscheidung von Wichtigem und Unwich-
tigem kam ihm entgegen. Seine »castità« erscheint dadurch ebensowenig getrübt
wie dadurch, daß ihn heutzutage etliche Dirigenten in der Unnachsichtigkeit
der Temponahme übertreffen. Interpretierende verhalten sich, nicht anders als
Komponierende, unmittelbar zum jeweils aktuellen Stand, gerade auch zu dessen
durchschnittlichen Prägungen.
Die aber sind versunken und vergessen; mithin sind etliche seinerzeit gültige
Orientierungen kaum nachzuvollziehen. Daß Toscanini (dies außer allem Zweifel)
sie turmhoch überstieg und historisch desavouierte, hatte seine Gestehungsko-
sten – in einem Zugriff, der das Musizieren, um es vor Rückfällen zu bewahren,
eisern im Griff behält und entspannte Erfüllungen selten erlaubt. Dies in einem
absperrenden Spezialismus, dessen antiintellektuelle Einschläge auch daher rühren,
daß er Relativierungen im Interesse jener bewahrenden, konservierenden Gei-
stigkeit mied, die ihm sein gesamtes Repertoire, eingeschlossen mehr als hundert
Opern, auswendig zu beherrschen erlaubte und gebot. Dies aber auch in einem
Rigorismus, der das Kunstschöne ethisch begriff und sich blind machte gegen
die Einsicht, daß »alles Höchste frei von den Göttern« herabkommt (Schiller).
Wo gäbe es ein Musizieren, dessen nahezu unvergleichliche Eindringlichkeit
noch im Kleinen und Einzelnen die historische Dimension der Anstrengung
reflektiert, die großen Werke zu befestigen und zu verteidigen?
119

Toscaninis Interpretation des ersten Satzes


von Beethovens Fünfter Sinfonie

Wenn, wie in Arturo Toscaninis Interpretation des ersten Satzes von Beetho-
vens Fünfter Sinfonie, ein unerbittlicher Dirigent und ein unerbittliches Stück
Musik zusammentreffen, so liegt die Frage nahe, wie diese Unerbittlichkeit sich
realisiere. Da eine Aufnahme aus dem Jahre 1952 Auskunft geben muß, ist die
Betrachtung zu einer Einseitigkeit verurteilt, welche allerdings auch die Musik
nahelegt: Sie kann und muß sich vornehmlich der Tempofrage widmen. Also
fallen wichtige Gesichtspunkte weitgehend aus, unter anderem die der Phra-
sierung und Artikulation, des durch die Entwicklung der Instrumente und die
Vergrößerung der Orchester gewandelten Klangs und die des Verhältnisses der
Instrumentengruppen zueinander.
Die Bevorzugung der Tempofrage hat andererseits ihr Gutes, weil sie gerade
anhand des vorliegenden Falles etlichen Dogmatisierungen begegnen kann,
welche in einschlägigen Diskussionen immer wieder auftreten, vorab diejenigen,
es gäbe – und ließe sich realisieren – ein einmal gefaßtes beziehungsweise das
von Beethoven vorgeschriebene Tempo. Solange man argumentiert, dieser oder
jener Dirigent nehme »dieses Tempo«, ohne zu verfolgen, wie er es modifiziert,
praktiziert man solche Dogmatik auch, wenn man es nicht will.Wenn irgendeiner
irgendwo ein Tempo strikt durchhalten kann – so läßt sich nicht ohne Recht
mutmaßen –, dann Toscanini im ersten Satz der Fünften. Aber er tut es nicht.
In einer wichtigen Konstellation gleicht dieser Sonatensatz vielen anderen:
Das melodisch geprägte zweite Thema scheint ein Zurückhalten des Tempos
zu verlangen, das mit dem ersten Thema angeschlagen war. Und hier schon
möchte man die Frage anschließen, ob wir, wenn wir von diesem zurückge-
haltenen als von einem anderen Tempo sprechen, nicht allzusehr vom musi-
kalischen Kontext abstrahieren, also mehr auf Mälzels Skala blicken als auf
Beethovens Musik. Eine Differenz von MM 104 zu MM 88 kann wohl ein
»anderes« Tempo anzeigen, möglicherweise aber auch nur die modifizierende
Anpassung des – musikalisch gedacht – gleichen, das in der Verlangsamung
vom drängenden Brio des Vorangehens nichts aufgegeben hat, weil es die
Widerstände, gegen die es durchgesetzt werden muß, stärker fühlbar macht.
Stellen wir die Tempodifferenzen zwischen erstem und zweitem Thema ne-
beneinander, so ergeben sich bei Arthur Nikisch MM 96 beziehungsweise 88,
bei einer früheren Toscanini-Einspielung 96/86, bei Bruno Walter 92/88, bei
Wilhelm Furtwängler 84/80; Felix Weingartner empfahl für den Anfang 100
und nahm selbst 92, beim zweiten Thema 86. Kaum merkbare Unterschiede
entstehen bei den ohnehin gemäßigten Tempi von Carl Schuricht (84),Willem
Mengelberg (88) und Otto Klemperer (80).
120 Toscaninis Interpretation des ersten Satzes von Beethovens Fünfter Sinfonie

Hierin äußert sich ein nicht nur diesen Satz betreffendes grundsätzliches Pro-
blem: Der Toscanini von 1952, auf dessen Interpretation wir uns beziehen, nähert
sich im Komplex des ersten Themas von allen genannten Dirigenten mit durch-
schnittlich MM 104 der Beethovenschen Angabe MM 108 am stärksten, muß
aber, weil er sich vom zweiten Thema zu einem langsameren Tempo gezwungen
fühlt, eine größere Schwankungsbreite hinnehmen als alle anderen, nicht anders
als Nikisch und Walter beginnt er das zweite Thema bei MM 88.
Derlei Auskünfte haben aus mehrerlei Gründen einen Beigeschmack von
subalterner Nachrechnerei. Zum einen registrieren sie als divergierend, was
wir, wie schon angedeutet, beim Anhören als Momente eines gerade in seiner
Differenziertheit kohärenten Ganzen erleben, je nach musikalischer Situation
und nach Kompetenz des Dirigenten oft so sehr, daß wir ein verändertes Tempo
als konsequenter aus einem früheren hervorgegangen empfinden, als wir es bei
einem strikt gleichbleibenden tun könnten. Woran erhellt, daß wir das Tempo
nur in seiner Vermitteltheit zu anderen musikalischen Komponenten und nur
eingeschränkt als autarke Größe betrachten dürfen, wie denn auch Beethoven
seine Angaben als Anhaltspunkte, nicht als strikt durchzuhaltende Anweisungen
verstanden wissen wollte. Als Feind jeder Art mechanischen Vollzugs hat er sich
mehrmals explizit bekannt.
Musikfremde Nachrechnerei von Metronomziffern findet darüber hinaus statt,
solange wir nicht die Kurve nachzuzeichnen versuchen, als deren Stationen sich
die unterschiedlichen Tempi ergaben. Und endlich sollten wir zugeben – und
reflektieren, daß beim Anhören die Tempi uns oft längst nicht so unterschiedlich
erscheinen, wie die Zahlen sagen. Wohl bemerkt man bei Toscanini sogleich,
daß er in der Hinleitung zum zweiten Thema bremst und diesem selbst einen
eigenen Tempobereich geben will, und daß er das Wechselspiel der ganztaktigen
Akkorde in der Durchführung (Takte 196 ff.) als zurückgehaltenes Pesante ansetzt.
Manch feinere Differenzierungen aber entgehen uns, weil die Schwingungen des
Tempos in der umfassenderen musikalischen Schwingung aufgehen und per se
nicht hervortreten. Hierfür nun scheint gerade im ersten Satz der Fünften wenig
Platz zu sein: Die Schwierigkeiten der Koordination aller Mitspielenden in dem
Grundrhythmus, zumal in den komplementärrhythmisch gearbeiteten Passagen,
erzwingen ein nahezu mechanisches Festhalten des einmal gewählten Tempos,
eine einseitige Fixierung der Aufmerksamkeit auf dieses. Präzise zusammensein
und im Tempo bleiben – anderwärts eine bis zur Banalität elementare Forde-
rung –, ist hier eine hohe.
Daß in der übergroßen Konzentration auf deren Erfüllung der Radius der
Aufmerksamkeit schrumpft, koinzidiert freilich mit der Substanz dieser Musik,
der robespierrehaften Unerbittlichkeit, gegen die sich Prägungen wie das zweite
Thema gewissermaßen gemeinsam mit unserer Rezeption sträuben. Dies Sträuben
ist komponiert, und es bleibt eine der wichtigsten Fragen an die Interpretation,
wie weit sie in der Auslegung und Wahrnehmung der individuellen Prägungen,
in der »dekomponierenden« Deutung gehen darf, wie sie es versteht, den Eigen-
Toscaninis Interpretation des ersten Satzes von Beethovens Fünfter Sinfonie 121

willen einer Prägung wie der des zweiten Themas gerade in der Beugung unter
das unerbittliche Ganze durchscheinen zu lassen. Toscanini gibt hier zunächst
stark nach, schafft dem Thema schon in dem gewichtig formulierten »Portal«
der Hörner einen bedeutenden Auftritt, um freilich rasch wieder drängende
Unruhe einzubringen, als welche der in den Bässen weiterklopfende motivische
Rhythmus zu einer Peitsche wird, die die Musik, ihren verweilerischen Nei-
gungen entgegen, dem nächsten Fortissimo (Takt 94) und damit zugleich dem
Tempo giusto zutreibt.
Ähnliches geschieht in der Durchführung: Das Spiel der zwischen den Grup-
pen wechselnden ganztaktigen Akkorde (Takte 196 ff.) setzt Toscanini gewichtig
an, visiert aber auch hier sein Tempo giusto MM 104 schnell wieder an. Genau in
dem Maße, in dem das Diminuendo fortschreitet, steigert er das Tempo, was hier
den Eindruck verschwebenden Leichterwerdens vermittelt. Zudem vernachlässigt
Toscanini das auf der Takteins des thematischen Einbruchs (Takte 228 bezie-
hungsweise 240) stehende ff beziehungsweise f, sofern er es nicht sogar revidiert
hat. Dieser Interpretation eignet eher zuviel Zielstrebigkeit: Der Charakter der
abirrenden Wanderung, der Desorientierung, die harmonisch und metrisch hier
so unzweideutig artikuliert sind, kommt weitgehend abhanden – und damit auch
derjenige eines rettenden Blitzschlages beim thematischen Einbruch.
An dieser Stelle erscheint das Tempo wie sonst nur an wenigen anderen des
Satzes steuerbar. Doch auch bei denen, die unabdingbar auf präzis durchpul-
sierende Achtel angewiesen scheinen, kommt es bei Toscanini zu – besonders
feinen – Schwingungen. So läßt er am Satzbeginn, etwa nach dem ab Takt 6 klar
definierten Tempo MM 104, die Musik nach dem zweitenViertakter (ab Takt 14)
auf das Crescendo zulaufen. Dieses erhält den Charakter einer den Schwung
auffangenden Bremsung, die sich in der fühlbaren Verbreiterung der beiden der
Fermate vorausgehenden Takte fortsetzt. Dieser Vorgang stellt sich als eine so
natürliche Schwingung dar und spielt sich in so geringen Schwankungsbreiten ab,
daß er, um als Abweichung registriert zu werden, mit Ausnahme des abschließen-
den Rallentando per Metronom nachgerechnet werden muß. In ähnlicher Weise
als »naturwüchsiges« Ereignis erscheint Toscaninis auf den Takt 44 hinzielende
Steigerung aufs Tempo MM 108, worin er – als in einer großen Tutti-Entladung
– sehr sinnfällig sein eigenes Tempo giusto überzieht. Es handelt sich um jene
Stelle, die Furtwängler in einer diesem Satz gewidmeten Arbeit in der steigernden
Aufeinanderfolge von zweitaktigen, dann eintaktigen Gruppen bis hin zu der
großen, viertaktig schwingenden Entladung eindrucksvoll beschrieben hat.
Auf den ersten Blick muß merkwürdig anmuten, daß Toscaninis Expositi-
onswiederholung glatter läuft, wäre es doch eher deren Auftrag, die beim ersten
Erklingen hingestellten Objekte zu interpretieren, greller zu konturieren, ihre
Gegensätzlichkeit weiter aufzureißen. Hier scheint Toscanini allzu früh etwas
vom konvergierenden Auftrag der Reprise vorwegzunehmen; wobei wir hier
nicht weiterfragen, wie weit die Konvergenz überhaupt gehen könne, ob die
thematischen Prägungen, werden sie tempomäßig näher zueinandergerückt,
122 Toscaninis Interpretation des ersten Satzes von Beethovens Fünfter Sinfonie

nicht eher an greller Kontrastierung gewönnen. Wie dem auch sei: Auffällig ist,
daß Toscanini in dieser Wiederholung der Abweichungen vom Grundtempo im
zuvor praktizierten Maße nicht mehr bedarf und sie rascher korrigiert. Hieran
ist auch – und da muß an die seinerzeit gebräuchliche Aufnahmeweise erinnert
werden – ein praktizistisches Moment beteiligt: Die Wiederholung läuft noch in
so gut wie jeder Aufführung besser. Auch beim Maestro verschwinden erst hier
die kleinen Ungenauigkeiten des ersten Erklingens, und nicht einmal alle; auch
unter dem strengen Diktat seiner Ansprüche bleibt die Wiederholung teilweise
Korrektur.
Nicht nur angesichts Toscaninis Rang und der besonderen Schwierigkeiten
im Zusammenspiel bedeutet dieser Hinweis auf einen praktizistischen Erdenrest
keine Verdächtigung. Zu oft in seiner Interpretation verbinden sich musizier-
praktische Rücksichtnahmen, möglicherweise wenig reflektierte, überkommene
Usancen und Musiziererfahrungen so innig, daß Mahlers Wort von der »Tradition
als Schlamperei« nicht verfängt. Wenn Toscanini den Fermatenabschlag von der
Takteins des nächsten Taktes trennt, also hier jedesmal einen von Beethoven nicht
notierten Takt schlägt, wenn er, um den Streichern mehr Kraft zu geben, die
musikalisch wichtige dreitaktige Bindung der Takte 461 bis 463 in drei eintaktige
unterteilt, mag allzu deutlich der Praktiker mitreden. Schwieriger schon wird es,
seine Neigung zu bewerten, einleitende oder auslaufende Forteschläge (wie zum
Beispiel in den Takten 19 ff. oder 56 ff.) in einem stauenden Pesante zu geben,
weil er dies stets zugleich für die Belichtung des Nachkommenden benutzt.
Diese Neigung auch mag den Anfang des Akkordwechselspiels der Durch-
führung so schwer gemacht haben, was freilich zugleich in einem ganz anderen
Zusammenhang steht: Nachdem er die Expositionswiederholung glättete, reißt
Toscanini in der Durchführung die Gegensätze stark auf, er profiliert das hier
neu Erscheinende so sehr, daß dies beinahe wie neu exponiert erscheint – womit
ausdrücklich reflektiert ist, was Beethoven komponierte, beginnt er doch die
Durchführung kaum anders als die Exposition.Wo Beethoven die Figur der zum
zweiten Thema hinführenden Hornquinten verarbeitet (Takt 180), staut Toscanini
das Tempo bereits, um dann zum Beginn des Akkordwechselspiels genau bei
jenem Tempo MM 88 anzukommen, in dem er auch das zweite Thema ansetzte.
In der Architektur der Tempi werden Exposition und Durchführung dergestalt
in auffälliger Weise in Parallele gesetzt.
Den Neuigkeitsgrad einer Prägung als Maßstab der Temponahme bestätigt
Toscanini in der Reprise, wenn er dort das zweite Thema nun etwas geschwinder,
etwa bei MM 92, vorträgt. Und zuvor schon hat er auch vom Tempo her wahr-
genommen, daß eine versöhnende Reprise nicht stattfindet: Nach den thema-
tischen Fermaten bleibt er in der komplementärrhythmischen Passage, welche
nun weich überformt ist (Takt 253 f.), mit MM 96 unter seinem Tempo giusto
MM 104 und schaut offenkundig auf das Adagio der Oboenkadenz voraus. Diese
qualifiziert er im Nachhinein in besonderer Weise zu einem retardierenden Stau,
Toscaninis Interpretation des ersten Satzes von Beethovens Fünfter Sinfonie 123

wenn er anschließend ins volle Tempo und, analog zur Exposition, in dessen
»Überziehung« zu MM 108 in den Takten 288 ff. stürzt.
Vom C-Dur-Beginn der Coda an (sofern nicht besser von einer zweiten
Durchführung zu sprechen wäre) hält er sein Tempo giusto eisern, staut es kaum
merklich bei den Neuprägungen der Takte 399 ff. und 423 ff. und sehr merklich
bei der letzten thematischen Ballung der Takte 475 ff. Sodann betont er – abermals
Neues akzentuierend – in den Takten 483 ff. in gehaltenem Tempo die gegenüber
der Reprise noch weiter getriebene, schon ins Erinnerungshafte hinüberspie-
lende, kantabilisierende Aufweichung einer einstmals komplementärrhythmisch
treibenden Passage, als ein wie unerlaubt zurückschauendes Verweilen, dem das
unvermittelt wiederhergestellte Tempo giusto der lakonischen Schlußformulie-
rung in barscher Weise ein Ende setzt.
Nur weil Toscanini den Bezugspunkt seines Tempo giusto in den Komple-
xionen des ersten Themas immer wieder sehr präzise fixiert, gelingt ihm in so
zwingender Weise die Profilierung alles Neukommenden. So rauht er den Satz,
den korrespondierenden Bezügen des Sonatenschemas entgegenarbeitend, deut-
lich auf – analog dem kompositorischen Prozeß, der jenes Schema und seinen
Anspruch auf versöhnende Synthese im Sinne von Hegels dialektischer Trinität
unterwandert –, bis hin zu der zu einer zweiten Durchführung sich auswach-
senden, mehr Neues aufreißenden als Rückschau und Bestätigung liefernden
Coda. Toscanini beobachtet musizierend genau das Anwachsen einer unterhalb
der üblichen befindlichen Anlage der Musik, nachdem er zunächst, paradigma-
tisch deutlich in der kontrastierenden Temponahme von erstem und zweitem
Thema, jener üblichen Anlage alle Reverenz erwiesen hatte, eben dort, wo sie
noch nicht unterwandert war. Die Unerbittlichkeit des Unerbittlichen artikuliert
sich viel weniger in einer unempfindlich-starrsinnigen Fixierung eines Tempos
als in einer präzisen, im Spielraum sparsamen Rechenschaft darüber, womit er
unerbittlich umzuspringen verpflichtet ist.
124

Der Erwählte
Zum 30. November 2004

Als Wilhelm Furtwängler vor 50 Jahren starb, konnte man wohl seines Nach-
ruhms, nicht aber seiner Nachwirkungen gewiß sein. Zu sehr schien er als Person,
Instanz und Legende der Welt von gestern verhaftet, zu sehr auf unzeitgemäße,
letztmalige Beschwörungen von unrettbar Vergangenem festgelegt, als daß Ar-
turo Toscanini sich im Blick auf eine fortschreitend technisierte Welt nicht als
zeitgemäße Gegenfigur dargestellt hätte. Das schloß die Vermutung ein, dessen
Musizieren werde die technische Konservierung adäquater aufbewahren können
als das anti-perfektionistische, ans Hier und Jetzt und das Fluidum der Persön-
lichkeit gebundene des deutschen Kontrahenten.
Es ist anders gekommen – in einem Maße, welches hinter Furtwänglers viel-
fach betonte Rückbezogenheit ein ebensogroßes Fragezeichen setzt wie hinter
übliche Unterscheidungen »objektiver« Momente von solchen, die mit den
katalytischen Wirkungen der Person zu tun haben. Wenn diese – woran keiner
zweifelt, der Furtwängler erlebte – eine überragende Rolle spielten, müssen sie
auch vom technischen Medium transportiert werden können, d.h. dem Musi-
zierten so eingeprägt sein, daß jene Unterscheidung nicht mehr greift. Sicherlich
wiegt ein unpräziser Einsatz auf der Tonkonserve schwerer als im Konzertsaal1;
offenbar vermag diese jedoch die besseren Begründungen mangelnder Präzision
ebenfalls zu transportieren. Trotzdem werden z.B. 13 verschiedene Furtwäng-
ler-Aufnahmen von Beethovens Fünfter Sinfonie, die eine Diskographie kürzlich
zählte, damit allein nicht erklärt.
Einerseits erscheint der dokumentarische Wert einer Aufnahme gemindert,
wenn man weiß, daß die Schwankungsbreite der Interpretation erheblich und
dieselbe Sinfonie mit denselben Interpreten im selben Saal am nächsten Abend
keineswegs die gleiche war.Andererseits verschärft die Fokussierung auf die Ein-
maligkeit des Hier und Jetzt den Anspruch des Dokumentarischen und relativiert
das Verallgemeinerbare, u.a. Fragen wie die, ob dieses Crescendo mit diesem Ac-
celerando, jene Überleitung mit jenem exzessiven Ritardando verknüpft werden
dürfe. Ihnen begegnet man beim Anhören der Aufnahmen auf Schritt und Tritt
und täte dem Andenken des Dirigenten eine schlechten Gefallen, wenn man,
statt sich irritieren zu lassen, bei pauschalen Berufungen auf inkommensurables
Musizieren stehenbliebe – naheliegend bei einem, der schon bei Lebzeiten zur
Legende wurde.

1 »Große Dirigenten sind selten die präzisesten«, Theodor W. Adorno, Zu einer Theorie der musi-
kalischen Interpretation, Frankfurt a.M. 2001, S. 152.
Der Erwählte 125

Irritationen wie diese lassen erkennen, worauf die Eindringlichkeit vieler


Furtwängler-Aufnahmen u.a. gründet – die Diskrepanz zwischen der Zeitunab-
hängigkeit, welche die beliebig wiederholbare Tonkonserve reklamiert, und jenem
Wahrheitsanspruch der Musik, welcher vom Augenblick und den Bedingungen
ihres Erklingens nicht getrennt werden kann: diese zum 22. und 24. März 1942
gehörige Beethoven-Neunte, jene zum 25. bzw. 28. Oktober desselben Jahres
gehörige Bruckner-Fünfte etc. Weil Aufnahmen, dem Hier und Jetzt abgestoh-
len, dessen spezielle Wahrheit veruntreuen, schmerzt der Abstand zwischen ihrer
genau definierten Historizität und der »punktuellen Ewigkeit« von Furtwänglers
furiosen Vergegenwärtigungen.
Die genannten Daten verdeutlichen, inwiefern eine zu Tonaufnahmen generell
gehörige Problematik Furtwängler besonders betrifft – nicht nur, weil er ihnen
reserviert gegenüberstand und, offenbar mit Ausnahme des Tristan von 1951 (und
diesen unter speziellen Gesichtspunkten2), eigene nicht gern anhörte. »Daß ein
Interpret, dessen Wesen die schwindenden Werke heiß umschließt und ihr en-
dendes Leben dicht bewahrt … die Macht seiner Innerlichkeit daran wende(te),
die Werke vorm Zerfall zu retten«3 – dies, vom 23jährigen Adorno formuliert,
hatte nun brennende Aktualität gewonnen, und von dieser erspart Furtwäng-
ler sich, der Musik und dem Hörer nichts. Wie nur irgendeine war die Musik
dieser Abende ausgesetzt, einer dahinterliegenden Unmöglichkeit ihrer selbst
abgewonnen. Nach einem Parforceritt im Scherzo von Bruckners Fünfter Sinfonie
weht durch die riesige Fuge, weil Furtwängler ihr noch den letzten Anschein
vorgeplanter Absicherung austreibt, der heiße Atem des Musikdramas, und der
naheliegende Einwand, derlei Freizügigkeit sei hier verboten, verstummt vor der
Suggestivität des Eindrucks, daß sie, wenn überhaupt, nur noch so, gegen alles
Selbstgenüge einer aus sich selbst funktionierenden Struktur eingeholt werden
könne. Den ersten Satz von Beethovens Neunter setzt Furtwängler unter einen
Überdruck, der das Gefüge fast zerreißt; die Abstürze haben eine Wucht, als ris-
sen sie die Musik ins Bodenlose; die Dimension der Crescendi erscheint riskant
gesteigert u.a., weil er sie, Tempo und Dynamik zurücknehmend, jeweils tiefer
ansetzt und einen Erwartungsdruck erzeugt, welcher die folgenden Ausbrüche
fast schon vorwegnimmt; die meisten Tutti werden zu katastrophischen Ballungen
wo nicht Gewalttaten, lyrische Episoden zu inständig-vergeblichen Versuchen,
deren Bannkreis zu entkommen; bis an den Rand kontingenter Stückelei wechselt
Furtwängler um der Eindringlichkeit der Details willen die Tempi und hält den
Paukisten zu Brutalitäten an wie das gesamte Orchester am Ende des Trios; sorgt
im Scherzo für schneidende Schärfe und rhythmische Insistenz und steigert dies

2 Es geht ihm um eine nicht vom Bühnengeschehen abgelenkte Konzentration auf die Musik,
vgl. Wilhelm Furtwängler, Briefe, Wiesbaden 1965, S. 239.
3 Adorno, Gesammelte Schriften, Band 19 (= Musikalische Schriften VI), Frankfurt a.M. 1984,
S. 453.
126 Der Erwählte

in der Reprise, nachdem er das Trio in einer Weise verabschiedet hat, welche
über eine Verabschiedung nur dieses Satzes hinausgeht.
Noch mehr im Adagio: Im überlangsamen Tempo (mehr als doppelt so lang-
sam wie von Beethoven vorgeschrieben) traut es sich fast nicht heraus, zögert
schon am Ende des zweiten Taktes vor dem Eintritt des Themas und hält sich
am Rand des Verstummens, jeden Ton setzend und singend, als erklänge er zum
letzten Mal, verschafft dem D-Dur des Andante moderato in der fast bis zum
Stehenbleiben verzögerten Überleitung einen vage-unfixierbaren Vorausschim-
mer und macht das Kontrasubjekt des Andante-Themas in den ersten Violinen
zu einem Paradigma von Trost und Abschied: Musik als ihr eigenes Requiem.
Bis zur überdrehten Paranoia des Finale und durch alle Ausdruckslagen hindurch
hält die Aufführung am Gestus einer Verzweiflungstat fest und fegt die Frage, ob
derlei Darstellung klassischer Musik, derlei Auslieferung an eine Grenzsituation
erlaubt sei, als subaltern hinweg. Dergestalt widerlegt Furtwängler die von ihm
selbst postulierte Trennung der Bereiche von Kunst und Politik: Um Kunst vor
Politik zu retten, um das Innenreich gegen das bedrohliche Außen zu behaupten,
muß er die Musik unter Argumentationsdruck setzen und einenVerteidigungszu-
stand ausrufen, welche sie bis in die innersten Zellen betreffen, d.h. »politisieren«;
anders war für ihn im Jahre 1942 in Berlin Beethovens Neunte Sinfonie nicht zu
haben. Die Suggestivität der Darstellung läßt der Frage keinen Raum, ob eine
musikalische Struktur solchen Anspruchs der Konstellation ihres Erklingens in
dieser Weise ausgeliefert werden dürfe.
Grenzsituation,Verteidigung, Rettung nicht nur hier: Stets und überall weiß
sich der Statthalter großer Musik in einer Weise auf sie verpflichtet, welche die
Aufführungen der Kriegsjahre eher in Verdichtungen und Zuspitzungen denn
prinzipiell von denen davor und danach unterscheidet; deutlicher noch als die
Neunte mit größeren interpretativen Spielräumen belegt das anhand etlicher
Vergleichsfälle die Fünfte vom Juni 1943. Das bedeutet aber auch – eine nahezu
obszöne Folgerung, nicht nur deshalb in der Diskussion um »The Devil’s Music
Master«4 vermieden –, daß die Bedrängnisse der Nazi-Zeit dem Musiker und
der Person Furtwängler eine unvergleichliche, wie immer makaber begründete
Existenzsteigerung bescherten.Vermutlich ist nie ein Musiker auf so verschiedene
Weise so wichtig gewesen wie damals er, vermutlich rühren die bald stolzen, bald
unbeholfenen bis beleidigten Rechtfertigungen nach 1945 vor allem von der
Unfähigkeit her, Distanz zu gewinnen zu einer Zeit, da er verbissen-hingegeben
u.a. für Menschen musizierte, denen am selben Tag die Häuser zerbombt worden
waren. Es wäre an der Zeit, das von beiden Seiten her plausibel begründbare
Pro-Contra um eine mögliche Emigration Furtwänglers – immerhin haben
Schönberg und Max Reinhardt ihm zunächst geraten, die Bastion zu halten

4 S.H. Shirikawa, The Devil’s Music Master.The Controversial Life and Career of Wilhelm Furtwängler,
Oxford/New York 1992.
Der Erwählte 127

– durch die Diskussion der Gründe zu ersetzen, derentwegen es nicht entschie-


den werden kann.
Die zugehörigen moralischen Bewertungen finden reichlich Anhalt in Am-
bivalenzen, die ihn ebenso als couragierten »Doppelagenten«5 zu sehen erlauben
wie als kleinmütigen Anpasser. Furtwängler hat bedrohten Musikern geholfen,
sich von Nazi-Bonzen jedoch – wohl nicht nur, um persönliche Kontakte nut-
zen zu können – hofieren lassen; er hat sich für Hindemith eingesetzt, jedoch
– wohl nicht nur als taktische Einräumung – dabei Argumente benutzt, die
von Anbiederung an den Nazi-Jargon nicht weit entfernt sind; durch forciertes
Tempo hat er dem auf der Festwiese nationalistisch auftrumpfenden Sachs allen
mißbrauchbaren Nachdruck verwehrt6, die Meistersinger jedoch am »Tag von
Potsdam« und 1938 amVorabend des Nürnberger Reichsparteitages dirigiert; dem
Naturgenie Stolzing die kleinkarierten Nürnberger Meister gegenüberstellend
hat er im Jahr 1944 listig formuliert, diese wüßten schon, »welchen Gewinn der
einzelne davon hat, wenn er einer Organisation angehört«, jedoch im selben
Aufsatz, völkischem Jargon sich nähernd, von der »tief-inneren Gemeinschaft
zwischen Genie und Volk, die ihrem Sinne nach eine Lebensgemeinschaft ist«7
gesprochen; nach dem Hindemith-Skandal hat er seine Ämter niedergelegt und
ist später dennoch an die Pulte der Philharmoniker und der Staatsoper zurückge-
kehrt; nie war er Mitglied der Partei, konnte jedoch über zeitgenössische Musik
so reden, daß das Schmähwort »entartet« nur knapp vermieden scheint; er hat
vor Hitler den Hitlergruß und das Abspielen des Horst Wessel-Liedes vermieden,
sich aber in repräsentative Gremien wählen lassen, wollte in besetzten Ländern
nicht dirigieren und hat Ausnahmen gemacht. Mithilfe der idealistisch verstiege-
nen Prämisse der von politischen Niederungen abgehobenen Kunst hat er sich
seine Mißbrauchbarkeit ebenso verhehlen können wie die u.a. durch Goebbels’
zynische Spiele nahegelegte Einsicht, daß die Prämisse selbst ein Politikum sei;
nach 1945 klang sie wie eine faule Ausrede.
Erziehung und Werdegang hatten zu ihrer und der Befestigung eines Elite-
bewußtseins viel, wohl zuviel getan, schon der Knabe wird auf den »Erwählten«
trainiert. Die Ausnahmebegabung war früh erkannt, der Vater, Deutschlands füh-
render Archäologe, nimmt den Elfjährigen von der Schule und ermöglicht mit
Lehrern wie Walter Riezler und Ludwig Curtius eine Prinzenerziehung, welche
ihm eine idealistisch-heroisch definierte Bildungswelt mit der Höhenlinie Mi-
chelangelo, Shakespeare, Beethoven, Goethe, Schiller,Wagner etc. nahebringt, fast
eine Bildungsfestung, in der sich zu verbunkern nicht schwer, sich zu revidieren
nahezu unmöglich war. Weitere prominente Lehrer und Verbindungen, u.a. der
Proto-Nazi Max von Schillings, helfen einen phänomenalen Aufstieg vorbereiten:

5 Fred K. Prieberg, Kraftprobe.Wilhelm Furtwängler im Dritten Reich, Wiesbaden 1986, S. 14.


6 … besonders ärgerlich, wenn der brav nationalsozialistische Rudolf Bockelmann sang.
7 Wilhelm Furtwängler, Ton und Wort, Aufsätze und Vorträge 1918 bis 1954, Wiesbaden 1954,
S. 114.
128 Der Erwählte

Je ein Jahr Repetitor in Breslau bzw. Zürich, zwei Jahre in München, ein Jahr
dritter Kapellmeister in Straßburg (unter Pfitzner), vier Jahre Dirigent desVereins
der Musikfreunde und der Oper in Lübeck, dann fünf Jahre Hofkapellmeister in
Mannheim; nach Zwischenstationen beim Museumsorchester in Frankfurt, bei
den Konzerten der Wiener Tonkünstler und der Berliner Staatsoper gelangt der
Sechsunddreißigjährige als Arthur Nikischs Nachfolger an die Spitze des Berliner
Philharmonischen Orchesters.
Zu den eher fördernden als hinderlichen Paradoxien dieser Karriere gehört,
daß sie einem dezidierten Anti-Professionellen gelang, und daß sie für ihn nur
das Zweitwichtigste war. Beethovens Musik so nahe zu sein wie nur möglich,
nach dem frühen Tod des Vaters Geld zu verdienen, die Darstellung eigener
Werke nicht anderen überlassen zu müssen – das waren, mindestens anfänglich,
die Beweggründe eines Mannes, der sich in erster Linie und zunehmend hart-
näckig als Komponist begriff und späterhin vom »Unglück mit dem Dirigieren«
gesprochen hat – wohl ohne Koketterie, obwohl er Konzertverpflichtungen selten
zugunsten der Komponierarbeit zurückstellte und diese erst nach dem Rücktritt
von den Berliner Ämtern konzentriert wieder aufnahm. »In Wirklichkeit war das
Dirigieren das Dach, unter das ich mich im Leben geflüchtet habe, weil ich im
Begriff war, als Komponist zugrundezugehen.«8 Darüber hinaus war sicherlich
die Psychologie des Nebenberufs im Spiel, die innere Freiheit einer Tätigkeit
gegenüber, auf der nicht die Verpflichtungen eines Hauptgeschäftes lasten, wie
umgekehrt in bezug aufs Komponieren die Funktion eines Widerlagers und Re-
fugiums – egal, wie lange Furtwängler, vom Licht der Öffentlichkeit immerfort
beschienen und verwöhnt, es dort ausgehalten hätte.
Solche Erklärungen indessen werden der Art und Weise nicht gerecht, in der
Komponieren und Dirigieren, allen Unterschieden schöpferischer und nach-
schöpferischer Tätigkeit entgegen, einander überschneiden wo nicht deckungs-
fähig werden konnten. »Zum wahren Reproduzieren bedarf es Schaffender«
– dies von Mahler Gesagte9 hätte auch von Furtwängler gesagt sein können. Als
müsse er bedrohliche Nähe meiden, zeigte er sich besorgt, seine Musik könne
an Mahler erinnern. Wie er dirigierend stellvertretend für Beethoven, Brahms,
Wagner etc. komponierte, komponierte er dirigierend – und mußte sich ver-
hehlen, daß jenes besser ging als dieses.
Allerdings handelt es sich nicht, wie die Formulierung simuliert, um eine in
Nutzen und Risiken ausgewogene Reziprozität; sie ging zu Lasten des Kompo-
nierens. Dennoch ist der Dirigent ohne den Komponisten nicht vorstellbar. Nicht
erst die Vortragsanweisungen verraten den Meister verknüpfender Übergänge
und großbogiger Entwicklungen; in einer für thematische Dialektik gefährlichen
Weise erweist Furtwängler sich von Vorgaben abhängig, als könne er das Gefü-

8 Wilhelm Furtwängler, Briefe, a.a.O., S. 146.


9 Herbert Killian (Hrsg.), Gustav Mahler in den Erinnerungen von Nathalie Bauer-Lechner, 2. Aufl.
Hamburg 1984, S. 149.
Der Erwählte 129

ge der traditionellen Verbindlichkeiten von einer res facta, einer Partitur kaum
unterscheiden. Tradition hat er so sehr im Blut, setzt sie so selbstverständlich
voraus, daß er komponierend versäumt, was er musizierend immerfort sucht und
als Komponist noch viel mehr suchen müßte – das Ab ovo, eine vor werkhaften
Verfestigungen liegende, möglichst mit dessen Verursachungen identische Le-
gitimierung. In seinem »thematischen Komponieren ohne thematische Arbeit«,
in weiträumig angelegten »Entwicklungsformen ohne formale Entwicklung«10
scheint unterstellt, daß schon immer etwas vorausgegangen, etliche vom Thema
geforderteVerarbeitung oder Kontrastierung bereits geleistet ist. Charakteristische
Werke wie die Erste Violinsonate und die Zweite Sinfonie beginnen – gleichmä-
ßige Bewegung, in die ein Melodiezug sich bettet – mit Prägungen, welche im
überkommenen Sonatenverständnis eher als zweite Themen taugen. In einem
gewissen, freilich metaphorischen Sinn ist das Vermißte, der erste, setzende
Komplex dennoch vorhanden, wenn auch nicht klingend – als Tradition, in
die Furtwängler hineinkomponiert als in ein Gefüge, worin Affirmationen und
Reglements so unabdingbar formuliert sind, daß sie keiner Nachbestätigung
bedürfen. Weit entfernt von billiger Epigonalität, freilich von einer Historizität
eingeholt, deren sie sich nicht zu erwehren vermögen, erscheinen die Kompo-
sitionen in mehrfacher Weise nachgeschaffen. Das freilich rechtfertigt nicht, sie
vom autosuggestiv behaupteten Hauptgeschäft zur – wie immer unverzichtbaren
– Arbeitshypothese zurückzustufen. »Es wird mir verzweifelt schwer«, schreibt
Furtwängler keine zwei Jahre vor seinem Tode, »die Erkenntnis dessen, was ich
hätte werden können, und was in Wirklichkeit geworden ist, anzunehmen«11.
Daß derjenige der Historizität um so sicherer verfällt, der ihr sich verweigert,
exemplifiziert der Komponist Furtwängler wider eigene Absicht, doch nicht nur
ihretwegen auf tragische Weise – nicht obwohl, sondern weil ihm wunderbare
Einfälle zu Gebote stehen. Gewiß hat die Entstehungszeit der Zweiten Sinfonie
(1944/45) die Intention begünstigt, eine Gegenwelt, Gegenwirklichkeit aufzu-
bauen, die der katastrophischen Realität eine andere nicht nur entgegensetzt,
sondern geradehin das Recht bestreitet,Wirklichkeit zu sein. Anders nämlich als
der Dirigierende verbietet der Komponierende dem Hier und Jetzt, mitzureden,
Verdichtungen,Verschärfungen jener Art zu erzwingen, wie sie insbesondere die
Interpretationen jener Jahre kennzeichnen. Schon die Spieldauer der Sinfonie
– 70 Minuten12 – scheint zu sagen: Die Welt bleibt draußen, die Sinfonie will
und soll von Nöten, Bedrängnissen, Katastrophen und darüber hinaus von der
Musik der letzten Jahrzehnte nichts wissen; scheinbar keiner Rettung bedürftig

10 Roman Brotbeck, in: Wilhelm Furtwängler in Diskussion. Sieben Beiträge von C. Walton, J. Stenzl,
R. Holloway, R. Brotbeck, E. Lichtenhahn, P. Heyworth, F.K. Prieberg, Winterthur 1997, S. 44 ff.
11 Im Jahre 1953 an Curt Riess, vgl. Briefe, a.a.O., S. 240; das dort vermutete Datum trifft nicht
zu.
12 Das Klavierquintett, 1912 skizziert, 1935 beendet, erst 1980 uraufgeführt, hat gar eine Spieldauer
von 80 Minuten.
130 Der Erwählte

flieht sie in den vermeintlich geschichtslosen Raum vermeintlich »ewiger« Musik.


Genau das ist ihre Katastrophe: Jene Musik nämlich hat ihre Anwartschaft auf die
vermutete Ewigkeit eben im Durchgang durchs Hier und Jetzt erworben, den der
Dirigent Furtwängler immer bejaht hat, der Komponist jedoch zu meiden sucht.
Bezeichnenderweise hat er im Programmheft der Uraufführung am 22. Februar
1948 eine besonders entschiedene Absage an die jüngeren Entwicklungen des
Komponierens veröffentlicht13, nahe bei einer Höranweisung jener Art, welche
ihm anderwärts als Krücke eines intellektualisierten Musikverständnisses zuwider
war. So macht er es verdächtig leicht, die Sinfonie als verlängerten Arm bzw.
Exemplifizierung dieser Absage i.e. auch ideologisch zu verstehen, ein leider an-
gemessenesVerständnis: Denn immerfort, nicht nur in ihren Überanstrengungen,
erweckt sie den Eindruck, polemisch überreden und mehr beweisen zu sollen als
sich selbst. Die Flucht in einen ahistorischen Raum gelingt mindestens insofern,
als die Musik die »Liebesgemeinschaft« mit dem Hörer, von der der Dirigent
noch in seiner letzten theoretischen Äußerung gesprochen hat14 und deren er
allemal sicher sein konnte, dort nicht antrifft, wohin sie zielt. Sofern man nicht
gleich den Vergleich mit Don Quichotes Windmühlenflügeln bemühen will,
gleicht Furtwängler einem Feldherrn, der riesige Armeen aufs falsche Schlacht-
feld befehligt. Einerseits fordert er in Dimension und Aufwand ein Äußerstes,
andererseits meidet er die bei Strukturen solcher Dimension unabdingbaren
Über-Eindeutigkeiten und Schärfen, bremst die thematischen Profile und zieht
sie so schnell ins Gewebe, in durchführungshafte Passagen etc. hinein, daß sie als
Bezugspunkte kaum taugen, der Hörer um Orientierung ringt, vom Auf und
Ab der Expansionen eher sich überrollt als mitgenommen empfindet und die
Musik ihm episodisch zerfällt. So geht ihr ab, worüber der Dirigent souverän
gebot – die Notwendigkeit der Aufeinanderfolge; auf der Höhe avancierter sin-
fonischer Ansprüche erleidet sie das Paradoxon, originell zu sein und dennoch
zitierend zu erscheinen, ihr Niveau verdeckt die untergründige Verzweiflung
ob des Mißverhältnisses von Aufwand und Ergebnis und noch tiefer liegende
Verzweiflungen nicht.
Als Tertium comparationis hinter Schaffen und Nachschaffen steht, mehrmals
und nachdrücklich von Furtwängler herausgestellt, Improvisation. »Der Drang, alle
Einzelheiten bis ins Kleinste festzulegen, entstammt … im letzten Grunde einer
Angst der Interpreten, sich der Inspiration des Moments allzusehr überlassen zu
müssen … Die … Meisterwerke stehen in weit höherem Maße, als gewöhnlich
angenommen wird, unter dem Gesetz der Improvisation.«15 »Immer dasselbe
fieberhaft vorwärtsdrängende Tempo, ohne eigentlich schneller zu werden« – diese
Vortragsanweisung in der Ersten Violinsonate bleibt, wenngleich überaus charak-

13 Bemerkungen eines Komponisten. Geleitwort zur Uraufführung der 2. Symphonie.


14 Wilhelm Furtwängler, Der Musiker und sein Publikum. Ein Vortrag, der in der Bayerischen Akademie
der Schönen Künste gehalten werden sollte, Zürich/Freiburg 1955.
15 Wilhelm Furtwängler, Gespräche über Musik, Zürich/Freiburg 1949, S. 62.
Der Erwählte 131

teristisch, immerhin noch Zutat zu einem fixierten Text; mit der Bemerkung
»kann ungefähr so bleiben«16 in einem Manuskript indessen scheint Furtwängler
mit Geschriebenem so umgehen zu wollen wie mit klingender Musik, fast im
Sinne einer Reservation für nicht berechenbare inspirative Zündungen, eben
die, die ihn dem nach einer Überleitung fragenden Celibidache antworten ließ
»je nachdem, wie es klingt«17.
Der Abstand, wo nicht Widerspruch zwischen dem risikofreudig dekonstru-
ierenden Interpreten und dem als Komponist und in seinem Denken auf heilige
Traditionen fixierten Furtwängler ist zu auffällig, als daß nicht die Frage nach
wechselseitiger Bedingtheit naheläge, eine Frage auch danach, ob nicht jahr-
zehntelange Erfolge die selbstbekräftigte Stilisierung zum verspäteten Propheten
einer untergehenden Musikkultur, zum letzten Wahrheitszeugen in dürftiger Zeit
widerlegen. Hinweise auf konservatives Publikum und Rückversicherungsbe-
dürfnisse in Umbruchzeiten erklären das wenigste.Warum z.B. betrachteten die
Gescheitesten, gerade auch die Linken der jungen Generation der zwanziger
Jahre – stellvertretend für sie Adorno18 –, ihn als einen der ihren?
Fraglos hat Furtwängler der »deutschen Furtwänglerei«19 Argumente zuhauf
geliefert. Die Prägung durch die »machtgeschützte Innerlichkeit« (Thomas
Mann) eines nationalistisch-konservativen Idealismus und der unhistorisch-re-
ligiös überhöhte Kunstbegriff (»Für den Historiker sind die Erscheinungen nur
insoweit von Bedeutung, als sie vergleichbar sind, für den Künstler, als sie unver-
gleichbar sind«20) sicherten jene Unbeirrbarkeit, ohne die die Überredungskraft
des Dirigenten nicht denkbar ist. Sie sicherten und begründeten aber auch die
Selbsttäuschungen des Hohenpriesters nach 1933, die Konsenszone zwischen
kulturkonservativen Positionen und faschistischen Ideologemen, beginnend bei
der Überlegenheit deutscher Kultur, insbesondere deutscher Musik und über
anti-intellektuelle, ungenau lebensphilosophische Standpunkte und Distanz zu
»entarteter« Musik hinreichend bis zu anti-demokratischen Begründungen des
sogenannten Führerprinzips: »Warum sich das autoritäre System notwendig
mit der Zeit durchsetzt? Es entspricht menschlichem Wesen, daß der Mensch
schrankenlose oder auch nur zu große Freiheit nicht verträgt.«21 Hier redet auch
derjenige, der an verzückt aufblickende Musiker und Hörer gewöhnt ist – dies
fortdenkend landet man bei ihm als dem nach Hitler geeignetsten Kandidaten
für die Position des faschistisch zurechtgebogenen Übermenschen. Noch im
Januar 1949, da das ganze Ausmaß der Verbrechen längst am Tage war, kann Furt-
wängler an Bruno Walter vom Verständnis für »die Gefühle der Juden gegenüber

16 Freundliche Auskunft von George Alexander Albrecht, dem Herausgeber der Kompositionen
Furtwänglers.
17 Joachim Matzner, Furtwängler. Analyse, Dokument, Protokoll, Zürich/Gräfelfing 1986, S. 105.
18 Z.B. auch Georg Knepler.
19 Adorno, Zu einer Theorie…, a.a.O., S. 188.
20 Gespräche über Musik, a.a.O., S. 99 ff.
21 Zitiert nach Fred K. Prieberg, a.a.O., S. 361.
132 Der Erwählte

den Deutschen« schreiben, sofern sie »mit Nazideutschland zu tun hatten«, um


anschließend »viel furchtbarer« zu finden, »von seinem Volk in so entsetzlicher
Weise unterdrückt, terrorisiert und schließlich … an den Pranger gestellt zu
werden, wie es mit uns zurückgebliebenen Deutschen geschah«22; und kurz vor
seinem Tode nennt er die Propagandisten neuer, der einstmals »entarteten« Musik
»gelehrige Schüler … von Goebbels«23 – genug Anhalt für eine Diagnose, die
1815 den nach Frankreich zurückkehrenden Aristokraten gestellt wurde: Nichts
vergessen, nichts dazugelernt. »Töricht« lautet Thomas Manns Kommentar24 zu
einem langen Brief, den der Dirigent ihm geschrieben hatte. Derlei beschweigen
hieße das Rätsel »dieses gewaltigen Musikers«25 verkleinern.
Hierzu gehören auch partielle Antworten und überwiegend verstockte Re-
aktionen auf die nach 1945 gestellten Fragen, welche ihn stärker als nötig in
die Nähe von Gottfried Benn, Martin Heidegger, Ferdinand Sauerbruch, Carl
Schmitt, Winifred Wagner etc. rückten, die weniger oder nichts riskiert hatten
bzw. dazu keinen Anlaß sahen. Selbst in der kritischen Situation vor der Spruch-
kammer konnte er die Gegenseite beim Streit um eine mögliche Emigration
mit Nichtzuständigkeit strafen, indem er einem wichtigen Beweggrund keine
Rolle zu spielen erlaubte – daß er seine hochbetagte Mutter in den Kriegsnöten
vermutlich endgültig im Stich hätte lassen müssen; derlei ging niemanden etwas
an, obwohl es zu seinen Gunsten gewogen hätte. Und als man ihn nach den
Verhandlungen der Spruchkammer in den Saal zurückholen wollte, immerhin in
einem »Augenblick höchster Spannung, der über seine musikalische Zukunft auf
Jahre hinaus entscheiden sollte, stellte sich heraus, daß er – eingeschlafen war.«26
Dazu paßt, daß er nach 1945 nicht opportunistisch verdächtig werden wollte und
nicht sofort in großem Umfang auf verboten gewesene Werke zurückkam. Im
übrigen wissen wir, durch Abstand privilegiert, genauer, weshalb grundsätzliche
Rechenschaften über Jüngstvergangenes schwierig, öffentliche Reue-Aufforde-
rungen billig sind und Betroffene schon durch spezielle Nachfragen ihre gesamte
frühere Tätigkeit bzw. Existenz attackiert empfinden.
Auch dies hat Anteil daran, daß Furtwängler in seinen theoretischen Äuße-
rungen ungleich konservativer erscheint als in seinem Dirigieren. Die bislang
wenig beachtete Differenz gibt große Rätsel bzw. zu fragen auf, ob das extrem
unfestgelegte Musizieren nicht eines Rückhalts in extrem festgelegten Positi-
onen bedurfte – was auch bedeutet, daß man seine Äußerungen vor allem als
absichernde Arbeitshypothesen lesen muß, nicht zum Nennwert nehmen und
ihn umstandslos als Kronzeugen konservativer Positionen vereinnahmen darf.

22 Briefe, a.a.O., S. 190 ff.


23 Wilhelm Furtwängler, Der Musiker und sein Publikum, Zürich 1955, S. 33.
24 Thomas Mann, Tagebücher. 28.5.1946–31.1.1948, hrsg. von Inge Jens, Frankfurt a.M. 1989,
S. 132; der Brief, auf den Th. Mann Bezug nimmt, in: W. Furtwängler, Briefe, a.a.O., S. 166 ff.
25 Michael Gielen, Erinnerungen an Furtwängler, in: Neue Zürcher Zeitung, 27.6.1996.
26 Karla Höcker, Die nie vergessenen Klänge. Erinnerungen an Wilhelm Furtwängler, Berlin 1979,
S. 93 ff.
Der Erwählte 133

Warum sollen nicht auch für ihn, so lange durch seine Haupttätigkeit gestützt,
Einräumungen gelten wie u. a. für den Arnold Schönberg, der mithilfe der
Zwölftonmethode die Vorherrschaft deutscher Musik als für die nächsten hun-
dert Jahre gesichert proklamierte? Die Unstimmigkeit beginnt schon damit, daß
Mahler, Reger, Strauss und Hindemith, auch im wertenden Sinne, am Rande des
von Furtwängler als Kulmination und Zentralbereich definierten Repertoires
standen und er sie trotzdem (Mahler fast ausschließlich in den zwanziger Jahren)
dirigierte – mindestens könnte man den absolutistischen Identifikationsanspruch
des Interpreten veruntreut, durch Repertoireverantwortungen beeinträchtigt
sehen. Noch weniger stimmig erscheint, was leicht vergessen wird: daß er im
ersten Jahrzehnt an der Spitze der Philharmoniker insgesamt 72 Werke leben-
der Komponisten dirigiert hat, unter ihnen nur zwölf des seinerzeit bereits als
Klassiker geltenden Richard Strauss.27 Er hat Schönbergs op. 31 uraufgeführt
und Strawinskys Sacre du Printemps dirigiert; für den fünften Jahrestag von Hit-
lers Machtübernahme setzte er Bartóks Musik für Saiteninstrumente, Schlagzeug
und Celesta an und verpflichtete Eduard Erdmann als Solisten – Bekenntnis und
Demonstration laufen da ineins.
Es gibt also gewichtige Gründe, Furtwängler nicht für den besten Auskunft-
geber über Furtwängler zu halten. Im Vergleich mit Fachkollegen – keiner außer
Ernest Ansermet hat auch nur annähernd in gleichem Umfang theoretisiert; der
u.a. von den (nach Thomas Mann) »geblähten Dummköpfen« Alexander Berrsche,
Siegmund von Hausegger, Knappertsbusch, Pfitzner und Strauss unterschriebene
»Protest der Richard Wagner-Stadt München«28 hätte ihm schwerlich passieren
können – erscheint der Zwang zur Selbstverständigung und -vergewisserung, u.a.
in der Beschäftigung mit Heinrich Schenker, geradehin verräterisch, jedenfalls
unzureichend begründet als Konsequenz eines bildungsbürgerlich geprägten
Interessenhorizontes. Wäre es allein dieser, bliebe unverständlich, daß z.B. nicht
das Geringste verlautet von Kontakten mit Max Scheler, der zehn Jahre sein
Schwager war und dessen Denkweise – mehr als die Person – ihm sympathisch
gewesen sein müßte; der »Weg, sich im vollen Verlieren seiner selbst neu ›in
Gott zu gewinnen‹ – das ist im Sittlichen die Demut und im Intellektuellen
die reine ›Intuition‹«29 – das könnte auch Furtwängler formuliert haben. Die
Musik war zu sehr zugleich Philosophie, als daß er Philosophen gebraucht und
bemüht hätte, am ehesten noch Nietzsche, gelegentlich als Berufungsinstanz
Schopenhauer; literarisch stehen ihm – die Klassiker zuoberst – Ernst Jünger
und die subalterne Etage der John Knittel und Frank Thiess näher als Thomas
Mann oder Robert Musil.

27 Werner Oehlmann, Wilhelm Furtwängler und die neue Musik, in: Philharmonische Blätter
1974/75, Heft 2.
28 Hartmut Zelinsky, Richard Wagner. Ein deutsches Thema. Eine Dokumentation zur Wirkungsgeschichte
Richard Wagners 1876–1976, Berlin/Wien 1983, S. 195 ff.
29 Max Scheler, Gesammelte Werke, Bern/München 1952 ff., Band 3, S. 23.
134 Der Erwählte

Um so mehr fällt auf, daß er den Kanon geheiligter Prinzipien und sakrosank-
ter Werke immer neu reflektieren, überprüfen, sich vergewissern, kaum jedoch
revidieren muß. Toscanini z.B. findet er anläßlich dessen umjubeltem Deutsch-
land-Gastspiel nicht nur abscheulich, er muß sich schriftlich Rechenschaft30
geben – welche bei der fragwürdigen Gegenüberstellung von Künstlertum und
Disziplin und bei Begründungen endet, weshalb ein Italiener deutsche Musik
nie angemessen werde interpretieren können. Ähnlich rechtfertigungsbedürftig
ergänzt er die 1939 mit Walter Abendroth geführten »Gespräche über Musik« bei
der Publikation zehn Jahre später durch ein die zeitgenössische Musik betreffendes
Kapitel und dieses in der zweiten Auflage durch ein Nachwort.31 »Alles Denken
ist nichts als Abwehr. Abwehr in Gestalt einer Klarstellung. Darüber hinaus ist
Denken an sich ohne Wert«32 – in dieser Nietzsche zurechtbügelnden Notiz liegt
die apologetische Funktion offen zutage.
Furtwängler bestätigt sie, indem er ausführlich von ästhetischen und histo-
rischen Grundsatzfragen handelt und detailliert davon, was er nicht will, viel
weniger davon, wie er es will und tut – nicht, weil er sich drückt, und kaum,
weil es schwierig wäre, sondern, weil es überflüssig ist. Allerdings verteidigt er
mit jenem Kanon zugleich, wie schon die eher apodiktische als diskursive For-
mulierungsweise verrät, seine Zuständigkeit für ihn, auch hierin ein »Erwählter«
– Carl Zuckmayer spricht in seinem Dossier von 1943/44 von der Neigung,
»gern ›der Einzige‹ in seinem Gebiet und in seiner Welt zu sein.«33 Von hier aus
erklärt sich das Nebeneinander von starker Persönlichkeitswirkung und uneitler
Schlichtheit, Selbstbewußtsein und Empfindlichkeit in Bezug auf Kritik, freund-
schaftlicher Kollegialität, auch gegenüber Schwierigen wie Otto Klemperer, und
kleinlichen Eifersüchteleien (das Verhältnis zu Karajan ein peinliches Kapitel)
als ein Untereinander: Wer sich erwählt, seines Ranges und seiner Wirkungen
sicher weiß, kann sich subalterne déformations professionnelles sparen; so hat
Furtwängler sich zu den Fatalitäten seines Berufs souveräner und kritischer
geäußert als seine Kollegen. Wer gleiche Augenhöhe nicht kennt, kennt auch
kommunikative Einengungen kaum, ist freilich schlecht gerüstet für Rivalitäten,
welche das Podest bedrohen. Deshalb konnte, wenngleich heftig parteiisch, Wi-
nifred Wagner meinen, bei Furtwängler sei »alles Eitelkeit und Unsicherheit«34,
deshalb konnte Aurèle Nicolet ihn zugleich »schüchtern« und als »Autokraten«
erleben35 – ein milder Herrscher, aber zweifellos ein Herrscher.

30 Wilhelm Furtwängler, Aufzeichnungen 1924–1954, hrsg. von Elisabeth Furtwängler und Günther
Birkner, Wiesbaden 1980, S. 69–80.
31 Gespräche über Musik, a.a.O., S. 101 bzw. 133.
32 A.a.O., S. 222.
33 Carl Zuckmayer, Er hätte gehen können. Der Dirigent Wilhelm Furtwängler, in: Frankfurter Allgemeine
Zeitung, 27.1.2002.
34 Brigitte Hamann, Winifred Wagner oder Hitlers Bayreuth, Wien 2002, S. 338.
35 Herbert Haffner, Furtwängler, Berlin 2003, S. 231.
Der Erwählte 135

Dieser garantiert das Schutzdach für unvergleichliche Elastizitäten des Mu-


sizierens. Wenn klar ist, wer das Sagen hat, kann sich unterhalb der Klärung um
so sicherer eine cum grano salis »demokratische«, von Rangfragen unbehelligte
Kommunikation entfalten, die Paradoxie eines durch unbezweifelte Oberherr-
schaft als herrschaftsfrei garantierten Raumes. Innerhalb seiner, hinausgehend
über Hegels Dialektik von Herr und Knecht, ist auch der Herr schutzlos und
verletzbar, auf Vertrauen und Einmütigkeit auf gleicher Ebene angewiesen – der
wohl wichtigste Grund dafür, daß Furtwängler mit fremden Orchestern und
fremden Musizierklimata selten gut zurechtkam. Fassungslos reagiert er, wenn er
bei der Probe pragmatisch gebremsten Einsatz erlebt – nachzuhören auf einem
Probenmitschnitt aus Stockholm vom Jahre 1948. Nicht nur, weil es ihm nicht
schwerfällt, probiert er stehend, sondern auch aus »religiösen« Gründen: Große
Musik bleibt stets dieselbe, ob im Konzert oder bei der Vorbereitung. Wenn
irgendwo die behauptete Dichotomie von Kunst und Politik nicht ideologisch
und abstrakt, sondern etwas erlebbar Wirkliches ist, dann in dieser Intimsphäre
der Musik – hier besonders deutlich unterschieden von Toscanini, der sich stets als
autoritärer Charakter zur Geltung bringt. Furtwängler will eher zurücktreten und
geschehen lassen. Zum Hintergrund seiner Auskunft, die Kunst des Dirigierens
bestehe lediglich in der Kunst, richtige Auftakte zu geben, gehört – abgesehen
davon, daß jeder Taktschlag Auftakt fürs Nächstfolgende ist – wesentlich, daß
möglichst viel vorbereitet, Rahmen vorausdefiniert sein soll, damit in die sich
ereignende Musik, mit Joyce zu reden: in die »Epiphanie« nicht mehr als nötig
eingegriffen werden muß. »Jede Kunstwirkung ist eine Raumwirkung.Wer nicht
in den Raum eintritt, kann die Wirkung nicht erleben … Dem Reichtum der
Natur wird man … nur mit einem gerecht: indem man ihn absichtslos-dankbar
auf sich wirken läßt. Das aber scheint für den intellektuell-machtbesessenen
Menschen von heute das Schwerste überhaupt« – nicht zufällig liegt diese Notiz
aus dem Jahr 194536 nahe bei Martin Heideggers »Gelassenheit – kein willenloses
Sich-Fügen in einen dem Menschen übergeordneten Willen. Vielmehr verläßt
sie die Dimension des Willens selbst. Jeder Wille will wirken, hat eine Struktur
der Gewalt… Gelassenheit ist die Verfaßtheit des Denkens, in der der Mensch
einen an ihn ergangenen, einladenden Anruf vernimmt.«37
Dies war, in Opposition zu lediglich »referierenden«38 Propheten der »neuen
Sachlichkeit«, denen er das Wort nicht überlassen wollte, seine Sachlichkeit, sein
»zu den Sachen selbst«. Seine Sache ist die Identität von Ziel und Weg, kein Ge-
wordenes, sondern immerfort Werdendes und als solches allemal mitbestimmt
durch die Konstellation des Werdens. Herrschaftsfrei intendiert erscheint der
musikalische Vollzug im Rückgang von der fixierten, verhärteten Struktur des
Komponierten (»Totenmaske der Konzeption« hat Walter Benjamin das fertig-

36 Wilhelm Furtwängler, Aufzeichnungen, a.a.O., S. 259.


37 Byung-Chul Han, Martin Heidegger. Eine Einführung, München 1999, S. 198 bzw. 197.
38 Gespräche über Musik, a.a.O., S. 102.
136 Der Erwählte

gestellte Werk genannt) auf die Ursuppe, die Nährlösung seiner Motivationen,
seiner raison d’être, im Durchblick auf einstmals Bewegliches, welches zugunsten
funktionierender Strukturen stillgelegt werden mußte.Wie Melodien, Rhythmen,
Harmonien zusammen- oder auseinandertreten, interessiert Furtwängler mehr als
das komplexe Ergebnis; dieses vibriert für ihn, einem Nachbeben vergleichbar,
noch von jenem Zusammentritt: daher, als wolle er eine immanente Aleatorik, aus
dem Miteinander der Komponenten das Nacheinander zurückholen, zögernde
Anfänge wie der der Pastorale, oder am Ende der Szene am Bach das dissoziierende
Auseinanderlaufen der Musik, welcher nichts mehr zu sagen bleibt, nachdem
mit dem Vogel-Terzett die Beschwörung des Naturlauts gelungen ist; daher die
Behutsamkeit von Übergängen, in denen er vor allem die gelockerte Kohärenz
der Parameter und die allmähliche Verschiebung der Blickrichtung wahrnimmt.
Einerseits erscheint das als abgründige Versenkung ins Detail, andererseits lastet
darauf das Gewicht hieraus erwachsender Konsequenzen, wird der Hinblick aufs
Ganze also auch durch jene Versenkung gegenwärtig gehalten.
Raum für den »einladenden Anruf« der Musik will Furtwängler allenthalben
offenhalten, nirgendwo verfangen die ohnehin fragwürdige Rede vom »Takt-
schlagen« und der hiermit verbundene Primat des Zusammen, der fugenlosen
Koordination weniger als bei ihm. Zuallermeist übersieht die gängige Diskussion
der Tempo-Strategien, daß Tempo, an regelmäßig wiederkehrenden Schweren
abgelesen, eine grob summative Maßgabe darstellt, sie übersieht jene Mikrosphäre
musikalischer Prägungen, welche unserer Wahrnehmung halb entzogen ist und
ähnlich zurechtgehört wird wie die zumeist unsauberen Intervalle. Übrigens hält
sie auch Antwort bereit auf die Frage, weshalb rasche Tempi zuweilen langsamer
wirken können und langsamere rascher – Folge des Reibungswiderstandes, den
stärker profilierte Details dem »Wind« des Tempos deutlicher entgegensetzen als
weniger profilierte. Die von Hörern, mehr noch von Musikern bei Furtwängler
erlebte Eindringlichkeit des musikalischen Fließens und Strömens, das noch bei
»O sink hernieder, Nacht der Liebe« fühlbare Beieinander von Stetigkeit und
innerer Dynamik rührt wesentlich daher, daß er in jener Mikrosphäre gegen die
Tyrannei des chronometrisch tickenden Tempos ein lebendiges Pulsieren aktiviert,
welches den Details – um nicht zu sagen: den Kleinlebewesen im Teppich der
musikalischen Struktur – Luft zum Atmen läßt. Denn nicht nur verweilerische
Lyrismen, drängende crescendierende Entwicklungen, entspannende Ausläufe
oder modulatorische Kurven haben in bezug aufs Tempo eigenen Willen, sondern
auch kleinste Details, winzigste Bildungen. Daktylische Rhythmen, ob zwei-
oder dreizeitig, neigen zum Schrumpfen, treiben also, ebenso Nachschläge in
bewegten Tempi; größere Triolen oder Synkopierungen wiederum wirken oft
sperrend, wie auch kleine, nach Profilierung strebende melodische Prägungen.
Dabei handelt es sich nicht einfach um Übelstände und Gefährdungen, sondern
auch um Signaturen individueller Profile, welche mindestens tendenziell zur
Geltung kommen sollten – einer Planierraupen-Mentalität entgegen, die auch
die »Kleinlebewesen« auf Gleichschritt zu drillen sucht.
Der Erwählte 137

»Allmählich nicht beschleunigen« – die zunächst paradox anmutende Notiz


in einer Partitur39 erscheint im Zeichen der Identität von Stetigkeit und Dring-
lichkeit durchaus logisch. Offenbar empfand Furtwängler bei der betreffenden
Passage die Verführung zum Accelerando und wollte sich dazu anhalten, deren
Veranlassungen mitzumusizieren, ohne ihr nachzugeben. Die Parallelität zu langen
Crescendi, bei denen die Akkumulation aufgestauter Erwartungen der hinausge-
zögerten dynamischen Entladung vorausging, liegt ebenso auf der Hand wie die
Nähe zu Mahlers ex negativo definierenden Anweisungen – »nicht schleppen«
heißt bei ihm »sanft treiben, ohne daß man es merkt«. Musikalische Verläufe sind
keine asphaltierten Straßen, sondern aufgerauhte Strecken, mit widerständigen,
in verschiedene Richtungen strebenden Details besät, und dies noch verstärkt
durch die unterschiedliche Tonbildung der Instrumente – wie unterschiedlich
schon die Vorläufe eines gestrichenen und eines gezupften Tons, wieviel mehr
noch beim Schlag auf der kleinen Trommel bzw. auf einem Tamtam, und wie
sehr gehören die Einschwingvorgänge bereits zur Musik! Der Elastizität solchen
Innenlebens der kleinen Zellen wird der aus dem 19. Jahrhundert stammende
Begriff des »Hauptzeitmaßes« besser gerecht als der vornehmlich technizistisch
verstandene des »Tempos«. Furtwängler läßt sich – mit großen Risiken: er hat
für durchgehaltene Tempi nachdrücklicher plädiert als selbst sich daran gehalten
– auf die Schwebe zwischen Einordnung und Eigenwert, Funktionalität und
Individualität besonders stark ein und hatte oft damit zu kämpfen, daß er das
Detail zu sehr liebt, in dieses sich versenken, es nicht »benutzen«, sondern »be-
hüten« wollte: »Das bloße Benutzen drängt das Zeug in die Enge der eindimen-
sionalen Funktionalität. Erst das ›Behüten‹ läßt das Zeug zu seinem Insichruhen
erstehen.«40 In den vielen geglückten Fällen ist Furtwänglers Konsequenz des
musikalischen Vorangangs, weitab von der glattbügelnden, noch in kleinsten
Einheiten mathematisch stimmigen Konsequenz metronomischer Tempi, dieje-
nige des lebendigen, viele winzige Unregelmäßigkeiten in eine übergreifende
Regelmäßigkeit integrierenden Herzschlags. Nicht zufällig bezog er sich, allem
Mechanischen opponierend, oftmals auf ein ihm selbstverständliches, keiner ge-
naueren Definition41 bedürftiges »Organisches«; und die harte Abfertigung des
Italieners Toscanini, »der stets in den Formen italienischer Opernmusik denkt,
dem das Tutti einerseits, die rein homophone Arie andererseits Grundbegriffe
der Musik bleiben … Entweder Tutti oder Arie – in diese zwei Elemente wird
die ganze, unendlich reiche Skala der Musik Beethovens aufgelöst«42 – er-
scheint am ehesten gerechtfertigt als Diagnose eines Mannes, der Polyphonie
als Verlebendigung und Individuation möglichst aller Parameter begreift, weit

39 Werner Thärichen,Wilhelm Furtwängler zum 50.Todestag. Zur Schöneberger Furtwängler-Gedenkfeier


am 30. November 2004, Manuskript, S. 3.
40 Han, a.a.O., S. 143.
41 Der Versuch einer solchen auf S. 262 der Aufzeichnungen, a.a.O.
42 A.a.O., S. 77 ff.
138 Der Erwählte

hinausgehend über das, als was die Musiktheorie sie definiert. Für ihn betrifft sie
das deterministische Chaos im Feingewebe ebenso wie die in Tutti-Akkorden
aufgefächerten Klangschichten und darüber hinaus alle Komponenten, die seine
eher erweckende als verordnende, Aktionsräume eher öffnende als eingrenzende
Dirigierweise begünstigt.
Beschreibungen von Furtwänglers Musizieren müßten nicht unbedingt, wie
oft geschehen, einer Überbetonung der unwägbaren, subjektiv bedingten Mo-
mente wo nicht der Annäherung an Willkür und Beliebigkeit verdächtig werden:
Das von ihm zugleich prätentiös und schwammig definierte »Organische« läßt
sich u.a. anhand seiner Tempo-Strategien konkretisieren – zuweilen, wie in der
Schumann-Einspielung vom Jahre 1953, wahren »Tempo-Architekturen«43.
Ihre Stimmigkeit gibt zu fragen auf, in welchem Maße sie erfühlt bzw. erdacht
seien; nach mehrfachem Zeugnis44 hatte Furtwängler sich bei der Aufnahme
ein Musizieren in einem Zuge ausbedungen. Fürs erstere spricht, daß man sie
als natürlich bzw. »organisch« empfindet, bevor man die metronomischen Stim-
migkeiten entdeckt. Daß Furtwängler gern unterhalb des »Hauptzeitmaßes«
einer Musik ansetzt, hat mit seinem Sinn für Anfänglichkeit und Entfaltung, fürs
allmähliche Zusammentreten der Komponenten zu tun. Im ersten Allegro der
vierten Schumann-Sinfonie ist dieses vorsichtig hineinspielende Tempo jedoch
exakt dasselbe wie das des Seitensatzes; diesen empfindet man nur deshalb als
zurückgenommen, weil Furtwängler zuvor geringfügig beschleunigt hat. Im
lyrischen Überschwang wird der Seitensatz von einer erstmals im Mittelteil (von
»Durchführung« läßt sich kaum sprechen) erklingenden Prägung (Takte 147 bzw.
221 ff.) übertroffen, welche Furtwängler wiederum präzise im gleichen Tempo
musiziert wie jenen.45 Erst beim letzten Erklingen reißt er sie in eine aufs Ende
zulaufende Beschleunigung hinein – nun wieder genau ein Tempo erreichend,
welches zum Seitensatz im Finale gehören wird. Dergestalt knüpft dieser an das
am Schluß des ersten Allegro erreichte Tempo an – wieder mit einem vorsichtig
zurückgenommenen Beginn und dieser wieder in dem Tempo des Seitensatzes,
welches, ebenfalls parallel, als leicht gebremst wahrgenommen wird, weil Furt-
wängler zuvor beschleunigt hat. So ergibt sich für die Tempo-Dispositionen der
Ecksätze eine strenge Analogie. Darüber hinaus jedoch findet sich die jeweils
innerhalb ihrer vollzogene Beschleunigung bei unterschiedlichen Grundtempi
– das Finale geschwinder als der erste Satz – ins Große, aufs Sinfonieganze pro-
jiziert wieder. Dieser akkumulierenden Disposition trägt Furtwängler auch in

43 Hans-Joachim Hinrichsen, Das Tondokument als Denkmal.Wilhelm Furtwängler interpretiert Robert


Schumann, in: Neue Zürcher Zeitung, 27./28. November 2004, S. 67; dieser vorzüglichen Arbeit
folgt die nachfolgende Betrachtung.
44 Hinrichsen, a.a.O.; dem genau entsprechend eine Mitteilung des ehemaligen Solo-Cellisten
Eberhard Finke am 25. November 2004.
45 Interessanterweise hat Schumann in der ersten Fassung von 1841 hier »Animato« notiert, dies
aber in der zweiten Fassung getilgt.
Der Erwählte 139

den Retuschen Rechnung, indem er den Satz beim jeweils ersten Erscheinen der
lyrischen Prägungen vorsichtig ausdünnt und beim späteren darauf verzichtet.
»Geschehenlassen« (s.o.), mit derlei Tempostrategien nicht leicht zusammen-
zudenken, gilt gerade auch dort, wo es am wenigsten möglich erscheint – bei
den Anfängen. Kein Zufall, daß sich um die ersten Einsätze, vom ermutigenden
Zuspruch »corraggio, maestro« über die 13 Zacken am Beginn von Beethovens
Fünfter Sinfonie bis zum Blick auf den, der am wenigsten Geduld hat (mal der
Konzertmeister, mal der erste Kontrabassist) viele Legenden ranken und des Rät-
selratens kein Ende ist um die Weise, in der Furtwängler, übliche Vorkehrungen
verschmähend, gemeinsame Einsätze bewerkstelligt. Er will, gleich und gerade
zu Beginn, mehr und eine andere Gemeinsamkeit als nur die technologische des
»Zusammen«, die er leicht hätte haben können – auch hier also, wie zwischen
Schaffen und Nachschaffen, keine Arbeitsteilung. Konträr zur simplen Kapell-
meister-Anweisung »auf den Schlag« will er psychisches Einschwingen vom
physikalischen nicht trennen und bezieht Kraft und Farbenreichtum der Einsätze
daraus, daß er der Tonbildung der Instrumente Zeit läßt und dissonante Ober-
ton-Überlagerungen meidet, auf die die Präzision eines Peitschenknalls allemal
hinausläuft. Er geht auf ein umfassenderes als das technisch präzise Zusammen
aus, auf Einmütigkeit der Willensbildung, die durch ein scharf-eindeutiges Kom-
mando zunichte gemacht würde. Weil er mehr will, muß er mehr riskieren. Auf
welche Weise das Orchester bei ihm zusammenkäme, wußten die intelligentesten
Musiker am wenigsten zu sagen.
Mehr Risiko auch, weil damit die unterschiedliche Anfänglichkeit der An-
fänge stärker als bei anderen reflektiert wird. Mit der prallen, massiven Präsenz
des Klanges und aller anderen Parameter, die von Vermittlungen und Trittstufen
zwischen Noch-nicht und Schon-da nichts zu wissen scheint (Mozarts Don
Giovanni oder seine Es-Dur-Sinfonie KV 543, Beethovens Zweite und Siebente
Sinfonie, Wagners Meistersinger) hat er es, weil die Anlaufbahn fehlt, nicht leicht
– fast regelmäßig folgt dem ersten, appellierenden Niederschlag ein zweiter, der
den Klang »auf Grund« setzt; bei der Kombination leiser Bläser mit Streicher-
Pizzikati (Beethovens Erste und Vierte Sinfonie) bleibt der Konflikt zwischen »anat-
mendem« Anlauf und punktueller Koordination deutlich spürbar; in die Anfänge
der Eroica oder der Fünften Sinfonie wirft Furtwängler sich, kaum das Abflauen
des Begrüßungsbeifalls abwartend, ungestüm-spontan hinein, als wüßte er von
den damit ausgelösten Folgerungen noch nichts; Beethovens Neunte holt er so
nahe wie möglich bei der andächtigen Stille des Auditoriums bzw. im Abgrund
des Noch-nicht ab und hadert mit der Gegenständlichkeit der Sechzehntelsex-
tolen; bei Mozarts g-Moll-Sinfonie KV 550 stürzt er sich in das Furioso der Aria
agitata – nur ein Vortakt vor dem Eintritt des Themas – und hält das, rascher und
konsequenter als die meisten, bis zum Satzende durch; bei Beethovens Pastorale
nutzt er die Möglichkeit exzessiv, sich präludierend, fast in einer »Musik vor der
Musik«, in den Satz hineinzutasten und verlängert dies bis knapp vor das erste
Forte; daß der Choral in der Introduktion zum Finale der Ersten Sinfonie von
140 Der Erwählte

Brahms fremd und wie von außen, neuer fast als ein Neubeginn erscheint, unter-
streicht er durch ein in die Ferne rückendes, von Brahms nicht vorgeschriebenes
pp, und der Einsatz zur Vierten Sinfonie von Brahms gleicht, damit sie außerhalb
aller Vorfestlegung irgendwoher kommen, irgendwann eintreten könne, eher
einer Einsatzverweigerung; die Suche nach dem Werden im Gewordensein der
Werke wird am ehesten fündig bei den Anfängen vor dem Anfang, bei Wagners
Rheingold oder Bruckners Tremoli, deren zögernde Vorläufigkeit Furtwängler in
die je ersten Präsentationen der Themen hinein zu verlängern sucht – die wie
von ferne tönende Trompete bzw. das Horn der Dritten bzw. Vierten Sinfonie, der
behutsam raumgewinnende, unter dem vorgeschriebenen p gehaltene Gesang
der Celli in der Siebenten.
Nicht weitab von Beethovens »Es graut mir vorm Anfang … großer Werke«46
steckt in den Schwierigkeiten dessen, der sich fast immer einen Ruck geben muß-
te, das Tremendum und Wagnis jeglichen – immer auch vorgreifenden – Neube-
ginns und mit ihm Opposition gegen die unreflektierte Selbstverständlichkeit des
simpel Vorhandenen, vermeintlich umweglos Verfügbaren. Dieselbe Dirigierweise
übrigens, deren Faszinosum darin bestand, das Enigma schöpferischer Zündungen
zugleich vorstellig zu machen und als Enigma stehenzulassen, läßt den Betrachter
der spärlich erhaltenen Filmaufnahmen mitunter zweifeln, ob Ton- und Bildspur
noch synchronisiert seien47, und könnte Anlaß zu Spekulationen auf der Linie
jenes »ins Monumentale getriebenen Dilettantismus« geben, den Thomas Mann
Wagner zuschrieb48. Er fände Anhalte auch bei Elementarvergehen, vor denen im
Musikunterricht frühzeitig gewarnt wird – beim crescendo schneller, im decrescendo
langsamer, beim accelerando lauter, beim ritardando leiser – und bei demjenigen,
der nicht ohne Stolz feststellt, sich in zwanzigjähriger Praxis noch nie gefragt zu
haben, was er »während des Dirigierens mit der linken Hand mache«49.
Im Hinblick auf das, was er will, ist Furtwänglers Dirigierweise so angemessen,
in der kalkulierten Distanz zur schlauen, anonym-technischen Geschicklichkeit
mancher Dirigier-Profis so professionell wie nur irgendeine. Adornos flap-
siger Notiz, er »wäre der größte lebende Dirigent, wenn er zufällig dirigieren
könnte«50, ließe sich u.a. entgegenhalten, daß der überaus kritische Alexander
Berrsche sich als Bewunderer seiner »ganz vollendeten Technik«51 bekennt; nur
bei Mahler klaffen Wertungen der Dirigiertechnik ähnlich weit auseinander.
Oft gibt Furtwängler einen Impuls, eine Vorausdefinition dessen, was kommen
soll, verweigert aber die Fixierung des Zeitpunkts; im letzten Moment zögert

46 Nach Anton Schindler, Biographie von Ludwig van Beethoven, Leipzig 1977, S. 330.
47 … sicherlich nicht im Epilog des Till Eulenspiegel in der Passage mit auf die ersten Violinpulte
gerichteter Kamera.
48 Thomas Mann, Leiden und Größe Richard Wagners, in: ders., Gesammelte Werke, Berlin 1955, Band
10, S. 346–409, bes. S. 358 ff.
49 Gespräche über Musik, a.a.O., S. 68.
50 Adorno, Zu einer Theorie…, a.a.O., S. 113.
51 Alexander Berrsche, Trösterin Musika, München 1949, S. 608.
Der Erwählte 141

er, tritt die Initiative an das Orchester ab, so daß sich ein von Ratlosigkeit und
gespannter Erwartung prall gefüllter, als kleine Ewigkeit empfundener Zwischen-
raum auftut, ein Drittes zwischen Noch-Schweigen und Schon-Klingen, weil die
antizipierende Erwartung die Musik imaginativ hereinholt nahe beim Eindruck,
dieses Schweigen könne sich nur in diese Musik entladen. Derlei Verzögerungen,
auch innerhalb musikalischer Verläufe immer neu gesucht, machen das Gelingen
eindringlich, indem sie es am Rande des Mißlingens festhalten. Im Tremendo
der Anfänge lasten auf diesen Gewicht und Ansprüche des Kommenden, und
sie opponieren der Ideologie der »Machbarkeit der Sachen«52 bzw. in deren
Gefolge der reduktionistischen Verwechslung technologischer mit vollständi-
ger Verfügbarkeit. Ästhetische Gebilde sind nie vollständig verfügbar. »Eine als
Selbstzweck erworbene Technik läßt sich schwer beeinflussen, beeinflußt aber
ihrerseits; standardisierte Technik schafft rückwirkend standardisierte Kunst«53.
Derlei Abstand zu pragmatischer Beschlagnahme, technologischer Hybris liegt
nahe bei Heideggers Exemplifikation »richtigen« Denkens: »Wenn wir dem
nachdenken, was dies sei, daß ein blühender Baum sich uns vorstellt, so daß
wir uns in das Gegenüber zu ihm stellen können, dann gilt es allem zuvor und
endlich den blühenden Baum nicht fallen, sondern ihn erst einmal dort stehen
zu lassen, wo er steht. Weshalb sagen wir ›endlich‹? Weil das Denken ihn bisher
noch nie dort hat stehen lassen, wo er steht.«54
Furtwängler will »den Baum« i.e. die Musik »stehen lassen«, kann das jedoch
nicht, wenn er sie ins Klingen kommandiert – dies das Dilemma, an dem er das
Orchester beteiligt. Die Freiräume, die er dirigierend schafft, Zeiträume ebenso
wie Gestaltungsräume, stellen nicht zuletzt ungeheuerliche Vertrauensvoten für
die Musiker dar. Die angesprochene Aktivierung,Verlebendigung der Feinstruktur
kann von ihnen nur spontan geleistet, kann kaum reguliert und vorstudiert wer-
den. Das steht gegen die Prämisse des e contrario bewundernden Igor Markevitch,
der Dirigent müsse den Hinweg zur Musik ebnen, den Musikern helfen, ihnen
die Arbeit erleichtern. Im Bereich des vordergründig Handwerklichen, bevor
sie in den Himmel des »Und dafür wird man noch bezahlt«55 abgehoben haben,
erschwert Furtwängler das gemeinsame Musizieren, er verweigert die Reduk-
tion aufs Funktionell-Praktische und auf die Illusion, der Musik habhaft zu sein,
wenn Tempi, Intonation, Abtönungen etc. geregelt sind und man gut koordiniert
zusammenspielt. Von den jenseits des Funktionierens liegenden substanziellen
Schwierigkeiten der Musik will und kann er sich und seinen Orchestern nichts
ersparen, sie wußten sich mehr als von anderen ebenso herausgefordert wie als
Mitverschworene, Eingeweihte ernstgenommen.

52 Hans Freyer, Theorie des gegenwärtigen Zeitalters, Stuttgart 1958, S. 15 ff.


53 Gespräche über Musik, a.a.O., S. 73 ff.
54 Martin Heidegger, Was heißt Denken?, Stuttgart 1992, S. 28 ff.
55 Otto Strasser, Und dafür wird man noch bezahlt. Mein Leben mit den Wiener Philharmonikern, Wien
1974.
142 Der Erwählte

Ginge es nur um Übersetzung von einem Code in den anderen, um Eins-zu-


Eins-Übertragung von schriftlich Fixiertem in Klang oder nur um Präsentation
zuvor erarbeiteter Ergebnisse, wären Furtwänglers irritierende Veranstaltungen
wohl zu tadeln. Jedoch geht es darum, die Risiken der Werkentstehung ins
Musizieren zurückzuspiegeln, mindestens intentional um creatio ex nihilo, bei
der die Risiken, das Nihil auf andere Weise potenziell anwesend bleiben als bei
einer eindimensionalen Umsetzung von Schrift in Klang im Sinne von Toscaninis
»come è scritto« oder Günther Wands »so und nicht anders«. Ähnlich wie bei An-
fängen zeigt sich das überall, wo Furtwängler eine Divergenz von Zeiterfahrung
und formalen Konventionen verspürt und zu schlichten bestrebt ist, wenn er den
Reprisenbeginn im ersten Satz von Bruckners Siebenter Sinfonie überrennt und
die Rekapitulation der Themen, in einem breitgelagerten, allmählichen Ritar-
dando die »Fehlleistung« korrigierend, psychologisch eindringlich macht, oder,
wenn er beim Einbiegen in die Coda des ersten Satzes von Beethovens Neunter
Sinfonie zögert, als blicke er in einen Abgrund. »Aber niemals hat bei ihm die
Subjektivität sich um ihrer selbst willen bekundet, sondern war an der Darstellung
der Sache diszipliniert«56 – dies zu bestätigen hat er nicht leicht gemacht, sofern
nicht vorweg geklärt war, was unter »der Sache« zu verstehen sei.
Nur zu leicht zollen Charakterisierungen wie diese der Verdeutlichung un-
gerechte Tribute. War Furtwängler tatsächlich so anders als die anderen, hob er
sich so weit und so grundsätzlich von ihnen ab, muß man Toscaninis oder Wands
obligate Sprüche nicht auch situationsbedingt und weniger prinzipiell verstehen,
versprechen sie hinsichtlich der Musiziereinstellungen und -ergebnisse nicht
größere Unterschiede, als man realiter hört, begegnen in seiner Generation oder
bei wenig Jüngeren – u.a. Hermann Abendroth, Eugen Jochum, Otto Klemperer,
Hans Knappertsbusch,Willem Mengelberg, Carl Schuricht,Vaclav Talich, Bruno
Walter – nicht Interpretationen ähnlichen Ranges, denen weniger Aufmerk-
samkeit gilt nur, weil vergleichbare Signifikanz, vergleichbar fixierte Kategori-
sierungen fehlen? Stets stellt Musik sich in der Beschreibung unterschiedener
und auf andere Weise unterschieden dar als in der klingenden Wirklichkeit – um
so dankbarer ist die Musikwelt, wenn Kriterien sich so repräsentativ bündeln
wie in Furtwänglers Biographie, Erscheinung und Musizieren. Die Ergiebigkeit
der biographisch-zeitgeschichtlichen Aspekte und die Legendentauglichkeit
dieser Symbolfigur idealistisch-weltblinder Innerlichkeit haben bei den meisten
Biographen das schlechte Gewissen darob allzusehr beruhigt, daß sie wenig zu
sagen hatten zu dem, was ihm mit schwer nachvollziehbarer Ausschließlichkeit
das Wichtigste war – Musik und Musizieren; die jüngste Biographie weiß, daß
Furtwänglers erster Parsifal-Akt weniger als halb so lang dauerte wie Toscaninis
und läßt ihn in Schuberts C-Dur-Quintett Klavier spielen57. Lobend oder tadelnd
– bei ihm hat man am leichtesten fokussieren, ihn am besten als Berufungsinstanz

56 Theodor W. Adorno, Gesammelte Schriften, Band 19, a.a.O., S. 468.


57 Haffner, a.a.O., S. 297.
Der Erwählte 143

bemühen können – ob nun »Neue Sachlichkeit« dem romantischen Espressivo


gegenüberstellend, Objektivität subjektiven Eigenmächtigkeiten, zügige Tempi
langsameren, klangliche Transparenz der dunklen Sonorität des Wagner-Orche-
sters oder, schlicht pauschalierend, dürftige Gegenwart einer guten alten Zeit. Er
selbst, zumal in polemischen Passagen, hat derlei Dichotomien zugearbeitet und
konservativenVereinnahmungenVorschub geleistet. Der repräsentative Rang, der
ihm zuwuchs – Ehrendoktor mit 41 Jahren; in den Nekrologen war mehrmals
vom »Praeceptor Germaniae« die Rede –, hat verdrängen helfen, daß vieles,
wofür er im Guten oder Bösen geradezustehen hatte, andere genauso oder mehr
betraf; Mengelbergs Freizügigkeiten überboten die seinen, Knappertsbusch war
durchweg langsamer,Toscanini mindestens im Parsifal, nicht zu reden von Älteren
wie Bülow und Mahler. Nicht weniger gilt das für die Politik: Die Wichtigkeit,
die seinem Verhalten während der Nazizeit zugemessen wurde – als hätte seine
Emigration schwerer gewogen als z.B. die Thomas Manns –, überstieg diejenige
vergleichbarer Fälle unverhältnismäßig weit; keiner seiner Kollegen hat daran
getragen wie er.
Zur Bequemlichkeit konservativer Argumentationen gehört, daß sie zwischen
der Intention des Bewahrens und deren Mitteln, sofern sie sie überhaupt ins Auge
fassen, nicht zu unterscheiden pflegen; die Instrumente einer Modernitätsver-
weigerung können außerordentlich modern sein, dieser also – typische »List der
Vernunft« – zuwiderlaufen. Derlei Bequemlichkeit hat die Diskussion um den
»konservativen«, erst von Schönberg zum »fortschrittlichen« umgedrehten Brahms
ebenso auf falsche Geleise gesetzt wie die um Furtwängler.Wie nun aber, wenn
eineVerwechslung der Hauptanliegen zugrundeläge, wenn dessen risikofreudiges,
radikal vergegenwärtigendes, im emphatischen Sinn zeitgenössisches Musizieren,
um als solches sich exponieren zu können, des stabilisierenden Rückhalts in einer
Orthodoxie bedurft hätte, welche durch unumstößliche Gewißheiten und ein
sakrosanktes Repertoire beglaubigt ist; wie dieses seinerseits – für einen, der die
Gefährdungen genauer sah als andere – nach solcher Musizierweise rief, wenn
Furtwängler das große Erbe nur meinte retten zu können durch die »Auflo-
ckerung der verhärteten Traditionen und … Ablösung der durch sie gezeitigten
Verdeckungen«58? Derlei dekonstruierende Intention rückt ihn auf andere Po-
sitionen als die gängigerweise zugewiesenen, sie macht ihn zum Zeit- und Ge-
sinnungsgenossen der ab ovo aufbauenden Fundamentalentwürfe der zwanziger
Jahre – Barth, Bloch, Heidegger, Rosenzweig, Spengler –, welche, im Schatten
der Apokalypse des Ersten Weltkrieges stehend, gegen alle Unterschiede geeint
sind durch die Distanz zu jederlei ungeprüfter Überlieferung. »Man muß erst die
Welt … verlieren, um sie in universaler Selbstbesinnung wiederzugewinnen«59,
»sich und das Leben und die entscheidenden Bezüge in die Fraglichkeit zu

58 Martin Heidegger, Sein und Zeit, 16. Aufl. Tübingen 1986, S. 22.
59 Edmund Husserl, Cartesianische Meditationen, zitiert nach: Rüdiger Safranski, Ein Meister aus
Deutschland. Heidegger und seine Zeit, München 1994, S. 137.
144 Der Erwählte

stellen ist der Grundbegriff aller und der radikalsten Erhellung«60 – Stichworte
wie diese treffen die Prämissen von Furtwänglers Musizieren genau und mögen
eine weitere Unstimmigkeit erklären helfen: weshalb wir, im lauwarmen Ozean
mäßig verpflichtender Beliebigkeiten dahintreibend, sicher sind, daß wir es nicht
machen können wie er, und doch uns von dem großen Überzeugungstäter ge-
meint und eingefordert fühlen.

60 Martin Heidegger, Gesamtausgabe, Band 61, S. 35.


145

Hermann Abendroth

Ruhm und Nachruhm sind keine Instanzen der Gerechtigkeit und korrelieren
nicht unbedingt mit künstlerischem Rang, nicht einmal in der Summe ihrer
launischen Schwankungen. Dies beleidigt Berühmtgewordene und -gebliebene
nicht, lädt indessen zur Gegenrede ein, wo die Gründe der Ungerechtigkeit auf
der Hand liegen.
Hermann Abendroth, dessen 50.Todestages am 29. Mai 2006 außer in Weimar
recht halbherzig gedacht wird, gibt zu solcher Gegenrede viel Anlaß. Als man
nach Arthur Nikischs Tod im Januar 1922 in Berlin und Leipzig einen Nachfol-
ger suchte, war von den Jüngeren neben Furtwängler vor allem er im Gespräch
– in Leipzig, wo das Gewandhausorchester ihn von sich aus zum Favoriten
erklärt hatte, gar vor Furtwängler. Heute indessen, ganz und gar im Vergleich
mit der expandierenden Legende Furtwängler, ist sein Name dem Bewußtsein
der musikalischen Öffentlichkeit nahezu abhanden gekommen. Dem versuchen
neuerdings Wiederveröffentlichungen etlicher Einspielungen abzuhelfen – nach
Furtwängler war Abendroth bis in die fünfziger Jahre hinein der in Aufnahmen
bestdokumentierte deutsche Dirigent.
Weil etablierte Bilder eines Künstlers als Erwartungsmuster wirken, welche
durch bestimmte Qualitäten positiv bzw. negativ bestätigt sein wollen, läßt sich
die divergierende Wertschätzung der Kandidaten von 1922 schon von der dama-
ligen Konstellation her begründen: Im Vergleich zum genialisch-risikofreudigen
Charismatiker Furtwängler erschien Abendroth als durch solide Handwerklichkeit
geprägte »Nummer sicher«. Wenn der später von den Nazis hingerichtete Carl
Goerdeler ihn einen »wirklich deutschen, national empfindenden Kapellmeister«
nennt1, klingt das heute wie ein ausweichendes Lob, als das es nicht gemeint war,
und Adolf Weismanns vom Jahre 1925 stammende Formulierung »Tüchtigkeit
aller Grade«2 scheint ebenso auf Sekundärtugenden abzulenken wie das Lob
des »grundsoliden, tüchtigen, mit größter Werktreue vorgehenden Dirigenten«
in der Kritik eines der ersten Konzerte als Gewandhauskapellmeister3; nicht
weitab davon und gut nazistisch sprach der Wuppertaler Generalanzeiger in einer
Würdigung anläßlich des 60. Geburtstages vom »blonden, hochgewachsenen
deutschen Künstler« als einer »scharf umrissenen Persönlichkeit, der jene schöne
alte Sachlichkeit eigen ist, die jedem Werk zum Lichte hilft«4.

1 Zitiert nach: Claudius Böhm, »Ein wirklich deutscher, national empfindender Kapellmeister«,
in: Gewandhausmagazin Nr 50, Frühjahr 2006, S. 37–41.
2 Adolf Weismann, Der Dirigent im XX. Jahrhundert, Berlin 1925, S. 185.
3 Claudius Böhm, a.a.O.
4 Zitiert nach: Fred K. Prieberg, Handbuch Deutsche Musiker 1933–1945, 2005, S. 48.
146 Hermann Abendroth

Gewiß kann gediegenes Handwerk auch bewirken, daß bestimmte Pro-


blemzonen der künstlerischen Realisierung nicht berührt werden. Die Risiken
und Dimensionen des Anfangens, der Übertritt vom Schweigen zu klingender
Musik kann durch einen technisch makellosen Auftakt beiseitegefegt, das Wagnis
von Übergängen, das Nicht-wissen-wohin bei energischem Zugriff übertönt
werden usw.; es gibt eine aufs Funktionieren orientierte, von Musikern gern
überschätzte Verläßlichkeit, die es sich und den Beteiligten zu leicht macht. In
beiden Wortbedeutungen »passierte« bei Furtwängler immer etwas, bei Abendroth
weniger. Nicht zufällig verstand Furtwängler sich in erster Linie als Komponist,
während Abendroth sich komponierend zuweilen in den Revieren der heiteren
Muse erging. Aus Anlaß seines 70. Geburtstages dirigierte er in Weimar die
Fledermaus, für seine Trauerfeier bestellte er keine Marcia funebre, sondern Bachs
Drittes Brandenburgisches Konzert.
Das persönliche Einvernehmen zwischen Abendroth und Furtwängler
beruhte demgemäß auch auf dem Wissen um die Unterschiede. Abendroth
führte im Jahre 1911 Furtwänglers Tedeum in Essen auf; Furtwängler half
Abendroth in den Auseinandersetzungen der letzten Kölner Jahre und beim
Engagement in Leipzig; Abendroth plante eine Gewandhaus-Aufführung von
Hindemiths Mathis-Sinfonie im Anschluß an den um Furtwängler entfachten
Hindemith-Skandal und übernahm etliche dank Furtwänglers Rückzug va-
kante Konzerttermine bei den Berliner Philharmonikern; beide dirigierten
in den Kriegsjahren nebeneinander in Bayreuth; in einem Brief an eine alte
Freundin vom Dezember 1954 zeigt Abendroth sich vom Tode Furtwänglers
tief betroffen.
Dahinter standen Gemeinsamkeiten der Ausbildung in München, insbe-
sondere der Prägung durch Felix Mottl, und neben der Konkurrenz auch die
Kameraderie der Senkrechtstarter: Lübeck beruft den 22jährigen Abendroth als
Dirigenten des Orchesters, später auch der Oper; dort wird im Jahre 1911 der
25jährige Furtwängler sein Nachfolger, geht aber schon vier Jahre darauf nach
Mannheim; Abendroth übernimmt nach einer Zwischenstation in Essen als
32jähriger den Gürzenich, Furtwängler als 34jähriger die Sinfoniekonzerte der
Berliner Oper, welche später wiederum Abendroth zeitweise dirigiert – gute
Zeiten für Hochbegabte!
Soweit die Außenansicht. Zur Innenansicht gehören die bereitwillige Über-
nahme weitreichender Verantwortungen und ein Arbeitsethos, welches Rudolf
Wagner-Régeny in der Erinnerung an Abendroth für »inzwischen ausgestorben«
hielt. »Siebenmal mußte ich die ›Drei Orchestersätze für großes Orchester‹ auf
dem Klaviere von Anfang bis zum Ende vorspielen. Zuletzt ermüdete mich diese
Zeremonie, und ich bat um eine kleine Pause. Sie wurde mir gewährt.Aber dann
ging es mit noch mehr Eifer und Gründlichkeit von vorne los! Einzelne Takte,
Phrasierungen,Verzögerungen und Beschleunigungen mußten auf sein Geheiß
in mein Exemplar eingetragen werden. Die Genauigkeit feierte Triumphe. Ich
mußte mich fragen, wo noch Spielraum bleibe für die kleinen Zufälligkeiten,
Hermann Abendroth 147

die eine Interpretation lebendig machen« 5. Das Zeugnis bleibt aufschlußreich


auch, wenn der Komponist sich um die Lebendigkeit keine Sorgen hätte ma-
chen müssen.
Daß die Verantwortungen neben der Pflege des bewährten Repertoires in
heute unüblicher Weise auch Präsenzpflichten betrafen, muß betont werden,
weil Abendroth und Furtwängler zu den ersten gehörten, die nach damaligen
Maßstäben oft als Gastdirigenten unterwegs waren. Zu den Verantwortungen
gehörte überdies die für komponierende Zeitgenossen. Um sie haben beide sich,
namentlich in den ersten zehn Jahren nach den Amtsantritten in Köln bzw. Berlin,
in einem Umfang bemüht, welcher heute nur noch von Spezialisten erreicht
wird; weil sie in späteren Jahren sich zunehmend auf die ihnen besonders am
Herzen liegende Musik zurückzogen, ist das fast vergessen. Für Abendroth kamen
in Köln pädagogische Verpflichtungen hinzu – als Leiter der Dirigentenklasse
und Direktor des Konservatoriums, später der Musikhochschule, darüber hinaus,
besonders zeitraubend, die Mitarbeit im Allgemeinen Deutschen Musikverein;
unzählige Kompositionen hat er lektoriert, empfohlen, abgelehnt, nicht wenige
uraufgeführt – wie zuvor in Essen u.a. Max Regers Böcklin-Suite. So ist ihm z.B.
auch die deutsche Erstaufführung von Schostakowitschs Erster Sinfonie zu danken.
Daß er im Jahre 1934 die Leitung der Fachschaft Musikerzieher innerhalb der
Reichsmusikkammer übernahm, muß angesichts der Anfeindungen in Köln und
Leipzig als Versuch der Fortsetzung bzw. Rettung dieser Aktivitäten verstanden
werden – auch hatte er dem Vorstand des Verbandes deutscher Orchester- und
Chorleiter angehört; der Reichsmusikkammer wurde man automatisch unterstellt,
der Allgemeine Deutsche Musikverein wurde von den Nazis später aufgelöst.
Weil Abendroths Vorgänger in Köln es mit den Verantwortungen ähnlich
gehalten hatten, war deren Wahrnehmung auch ein Bekenntnis zu dortigen Tra-
ditionen – um so mehr, als es auch den Interpreten betrifft. Dank der Vorgänger
Franz Wüllner und Fritz Steinbach gab es, flankiert durch weitere bedeutende
Kollegen, eine stabile, doch nicht einseitig konservierende Brahms-Tradition
– auch Mahlers Fünfte Sinfonie wurde hier uraufgeführt. Soweit einschlägige
Zeugnisse es zu beurteilen erlauben, hat Abendroth sich bewußt in diese Tradition
gestellt, die vorgegebenen Linien weitergezogen. Das vor allem mag der tragende
Untergrund der für ihn typischen Unbeirrbarkeit des Musizierens, jener »gewis-
sen herben, männlichen Aufrichtigkeit« gewesen sein, von der Wagner-Régeny6
spricht, einer »Geradheit und Exaktheit, gepaart mit der größten Routine, die
man sich nur immer in einem langen Leben erwirbt«. »Routine« erscheint hier
positiver konnotiert als gemeinhin – da doch Mahler in einem meist verkürzt
zitierten Diktum selbst Tradition und Schlamperei nahe beieinander sah! Min-
destens ist richtig, daß Abendroth um die Werke des großen Erbes nicht ringen,

5 Rudolf Wagner-Régeny, An den Ufern der Zeit. Schriften, Briefe, Tagebücher, Leipzig 1989,
S. 267.
6 A.a.O.
148 Hermann Abendroth

sie explicite beschwören mußte, daß er mit ihnen eher familiäre Beziehungen
pflegte, in ihnen eingewohnt war.
So liegt es nahe, neben dem in Köln ausgebildeten Fritz Busch vornehmlich
bei ihm nach Kriterien einer durch direkte Überlieferung beglaubigten Interpre-
tation zu suchen – um so mehr, als seine Stetigkeit oft den subjektiv geprägten
Unberechenbarkeiten Bülows, Mahlers, Mengelbergs oder Furtwänglers gegen-
übergestellt worden ist.Abgesehen davon, daß wir deren Schwankungsbreite nur
ausnahmsweise, etwa anhand etlicher Furtwängler-Aufnahmen von Beethovens
Fünfter Sinfonie, nachvollziehen können – jenes Gegenüber findet erstaunlich
wenig Handhabe. Anders als vermutet bewegt sich auch Abendroth, wie schon
bei der Tempogestaltung zu erkennen, in einiger Entfernung von dem, was man
heute unter strikt partiturgetreuem Musizieren versteht – genug Anlaß, auch
unsere Vorstellungen von Authentizität, Werktreue etc. wie die damaligen als
historisch bedingt zu relativieren.
Offenbar gehören zur zeitlichen, teilweise noch biographisch vermittelten
Nähe zu großen Komponisten – Abendroth ist im selben Jahr geboren, in dem
Wagner starb; als Brahms starb, war er 14 Jahre alt – besondere Rechte auf vor-
urteilslos freien Umgang mit ihrer Musik, eine Familiarität, die keiner Umwege
bedarf und sich von stilkritischen Bedenken nicht dreinreden läßt. Solche all-
gemeinen Vermutungen lassen sich zuspitzen auf spezielle, z.B., ob die seit dem
späten 19. Jahrhundert gebräuchliche, nahe bei »Gangart« liegende Kategorie
»Hauptzeitmaß« dem Wesen einer differenzierten, bald vorandrängenden, bald
verweilerischen Musik nicht angemessener sei als die vornehmlich metro-
nomisch begriffene des »Tempos«, ob also ein Hauptzeitmaß bei angemessen
leicht variierenden Tempi nicht konsequenter, weil musiknäher durchgehalten
sein könne, als wenn das Metronom unbehelligt weitertickt. Das ist eine Frage
eingebürgerter Gepflogenheiten ebenso wie der Dosis und eines Feingefühls,
welches erspüren muß, wie weit man dem Drängen oder Verweilenwollen
nachgibt, ohne den hinterlegten Raster des Hauptzeitmaßes außer Kraft zu
setzen, wie man Eindringlichkeit des Details gerade dadurch erreicht, daß die
konträren Strebungen erhalten bleiben und es sich an jenem Raster reibt, dem
Detail nur so viel eigenes Tempo zugestanden wird, daß der Hörer den Abstand
zur vollständigen Erfüllung wahrnimmt – eigentlich könnte es noch schneller
bzw. noch langsamer sein.
Der Frage, was hier richtig sei, wird die listig dialektische Auskunft nur
oberflächlich gerecht, daß gestern richtig sein konnte, was heute nicht richtig
ist, und umgekehrt. Wie viele und welche Abweichungen vom Geschriebenen
zu den stillschweigend vorausgesetzten Selbstverständlichkeiten des Musizierens
gehörten, muß nicht nur eine historisch orientierte Aufführungskunde zu klä-
ren versuchen, es muß zugleich hier und heute anhand des Details jeweils neu
entschieden werden. Und weil das Werk, der Utopie seiner vielfältigen Reali-
sierungen gemäß, sich erst in der Summe aller Realisierungen vollendet, müßte
der Interpretierende nicht nur die Linie zwischen sich und der Partitur finden,
Hermann Abendroth 149

sondern auch Irritationen durch vorangegangene Interpretationen verarbeiten


– unbewußt tut er es, durch frühere Eindrücke geprägt, ohnehin.
In der Einleitung zu Brahms’ Erster Sinfonie (Un poco sostenuto) betont Abend-
roth, als könne zuviel Kohärenz den »Anfang vor dem Anfang« gefährden, das
Nebeneinander der Gruppen; so muten die Bildungen der Takte 9 ff. wie membra
disiecta an und das Unisono im Takt 21 noch anfänglicher als der Anfang; ähn-
lich zerlegt er den Komplex des zweiten Themas (Takte 131 ff.), gegen Ende
hin enorm retardierend, zu einem Zerfallsprozeß, an dessen Ende nur mehr die
verlorenen Rufe der Bläser stehen – um so eindrücklicher das allmähliche Zu-
sammenraffen danach (Takte 157 ff.); daß ihm die vorgeschriebene Wiederholung
der Exposition nicht möglich ist, »beweist« er durch ein Agitato (Takt 167) der
Schlußgruppe, welches, wild aufgeputscht, zwangsläufig aus dem Ruder, d.h. in
das »falsche« H-Dur der Secunda volta läuft; nach dem großen, diatonisch-be-
freiten Cantabile der Takte 240 ff. staut er den Verlauf wie vor einer gewaltigen
Barriere auf, um nach der abflauenden, die Introduktion erinnernden Passage
der Takte 273 ff. vom Tiefpunkt in den Takten 293 ff. wie von ganz unten neu
aufbauen und die Musik der Kulmination der Takte 321 ff. entgegensteigern zu
können – eine Großinszenierung des widerborstigen, zerfaserten Themas, welches
als Hauptthema des ersten Satzes einer lang erwarteten Sinfonie zu akzeptieren
den Zeitgenossen schwergefallen ist; die Steigerung der Takte 462 bis 474 nähert
sich einem Paroxysmus, in der Souveränität der über 20 Takte kontinuierlich
hingezogenen Rücknahme des hochgepeitschten Tempos zum Meno Allegro des
Satzschlusses arbeiten ebensoviel historischer Hintergrund wie Kapellmeisterer-
fahrung mit; und im Meno Allegro hält Abendroth eine genaue Mitte zwischen
dem Bezug auf das vorangegangene Allegro, dessen Dynamik nicht verlorengehen
darf, und der Gewichtigkeit der Introduktion, welche hier keinesfalls, als lägen
nicht große Ereignisse dazwischen, einfach zitiert werden darf – deshalb änderte
Brahms die Anweisung Poco sostenuto in Meno Allegro.
Das Andante sostenuto eröffnet Abendroth als schlichtes Lied; als habe er
gewußt, daß Brahms den auf die Introduktion anspielenden fünften Takt nach-
träglich eingefügt hat, staut er ihn, um den dynamisch treibenden Triolen der
tiefen Streicher danach freie Bahn zu schaffen; die Rückkehr zum Anfangs-
tempo in den Takten 9 ff. macht diese zur dringlich-flehentlichen Bitte; in der
anschließenden, von der Oboe dominierten Episode findet der Satz, als sei dies
»eigentlich« gewollt, sich endlich wie zu Beginn als schlichtes Lied; um so größer
die der Klang-Kulmination der Takte 34 ff. entgegentreibende Unruhe danach
– und erstaunlich die Freiheit, die Abendroth anschließend den Soli der Oboe
und der Klarinette verschafft, welche zumeist, der schwierigen Koordination
wegen, eher die Streicher zu begleiten pflegen als umgekehrt; in der zerfaserten,
die Taktordnung aufhebenden Disposition der Takte 61 ff. bringt Abendroth
genau jenes dem Letzterklungenen nachhörende Nicht-weiter-Wissen unter,
dessen er bedarf, um der zugleich stillen und großen Rückkehr der Takte 67 ff.
Gewicht und Dimension zu geben; und ab Takt 105 signalisiert eine behutsam
150 Hermann Abendroth

breitgezogene Verlangsamung, daß es aufs Ende geht und die Musik kaum mehr
will als Erinnerung ihrer selbst.
Das Un poco Allegretto e grazioso überläßt Abendroth zunächst unangefochten
dem Comodo einer behaglich ausspinnenden Lyrik – Paradigma jener mittleren
Befindlichkeiten, auf die Brahms sich unübertrefflich verstand –, akzentuiert indes
die Unruhe der den Anfang variierenden Takte 45 ff., um vor der Wiederauf-
nahme des Themas (Takte 62 ff.) behutsam-elegant aufs Tempo giusto zurückzu-
kommen und beim Tonartwechsel (Takte 71 ff.) zwar zu drängen, nicht aber zu
beschleunigen – mit Ausnahme der Schlußpassage (etwa ab Takt 99) mit einer
Steigerung und anschließendem Stau, von denen aus er beim comodo-Habitus
des Beginns neu ankommt.
Die Dramatik einer zweiten, die erste übertreffenden Introduktion – erst hier
erkämpft Brahms die Legitimation zur Beethoven-Nachfolge – hat in Abend-
roth einen auf grelle Beleuchtungen ausgehenden, Extreme strapazierenden
Anwalt. Der pathetisch ausholende Gestus der ersten Takte bzw. der Takte 12 ff.
hindert nicht, daß er die Pizzikato-Passagen jeweils in doppelt so langsamem
Tempo ansetzt, um sie heftig, das zweite Mal, wie von Brahms angewiesen,
ungleich rascher und heftiger zu steigern; dies geschieht jedoch auch, nicht
vorgeschrieben und spieltechnisch riskant, in den Takten 22 ff. – zerrissener
läßt sich der Zulauf auf das C-Dur des Alphornthemas schwerlich vorstellen;
diesem gibt Abendroth viel Zeit, noch mehr dem Choral (Takte 47 ff.), dessen
p dolce er zum verhalten distanzierten pp steigert. Auch nach der Introduktion
bleibt das Finale ein immer neu erkämpfter, kaum auf die Mitte eines Tempo
giusto, eines Grundzeitmaßes sich einpendelnder Satz. Wie seinerzeit üblich,
ist ihm beim Allegro non troppo ma con brio das non troppo am Anfang wichtiger
als con brio; dieses sucht er zuvörderst in beweglichen Tempi, erstmals in einer
schnellen, zur zweiten Exposition des Themas (Takte 94 ff.) führenden Steigerung
(animato hat Brahms offenbar erst bei der Drucklegung hinzugefügt), jedoch
auch in Umschlägen wie zu den voranstürmenden Takten 142 ff. oder jähen
Bremsungen wie vor der Wiederaufnahme des Themas in den Takten 186 ff.; das
Animato der Takte 220 ff. steigert er wenig später in den Sechzehntelabgängen
der Takte 234 ff. zum precipitando und braucht in den Takten 267 ff. die häufig
vorgenommene Verstärkung der Hörner auch, um dem fälligen Stau Nachdruck
und Glaubwürdigkeit zu verschaffen. Die zuckenden Kontraktionen des Alp-
hornthemas in den Takten 279 ff. dirigiert er mit unnachsichtiger Härte und
gewährt auch den im großen Tutti auffangenden Takten 285 ff. nicht allzuviel
Raum; den Anlauf zur Coda (Takte 375 ff.) peitscht er gewaltig an, so daß die
Figuration der Geigen wie aufspritzende Gischt und geradezu anvisiert erscheint,
daß das Stringendo über das Ziel hinausschieße – weshalb er beim Più Allegro
der Takte 391 ff. der Anweisung entgegen bremsen muß, auch, um das Glacis
für den abermals abgebremsten, mit triumphaler Geste präsentierten Choral zu
gewinnen – ziemlich genau der Habitus, an dem Clara Schumann Anstoß nahm,
weil der Choral ihr als aufgesetzt verdächtig war.
Hermann Abendroth 151

Einerseits ist immer wieder von Abendroths direkt und schlicht auf die Sache
gerichtetem Musizieren gesprochen worden, andererseits scheinen alle Kriterien
einer subjektivierenden Interpretation versammelt; einerseits steht er in einer di-
rekt von Brahms herkommenden Tradition des Musizierens, andererseits scheinen
Einspielungen wie die geschilderte zuhauf Argumente zu liefern für Brahms’
Gewohnheit, ursprünglich vorgesehene Anweisungen hinsichtlich Ritardandi,
Rubati, kleiner Modifikationen von Tempi etc. bei der Drucklegung mit der
Begründung zu streichen, sie würden von den Dirigenten sowieso übertrieben.
Soweit verfolgbar bzw. halbwegs sicher erinnerbar, scheint Abendroths spezifische
Sachlichkeit mindestens darin bestanden zu haben, daß er, anders als u.a. Bülow,
Mengelberg oder Furtwängler, über lange Zeit hinweg an interpretatorischen
Detail-Lösungen festgehalten hat – eine Verläßlichkeit mit offenkundig tiefrei-
chenden Beglaubigungen. Kriterien einer zunächst subjektiv aneignenden Musi-
zierweise, aus der Einmaligkeit des Hier und Jetzt hergekommen, scheinen hier zu
– gewiß elastischen – Normen einer sicher abrufbaren Tradition verallgemeinert.
In deren Zeichen widerlegt Abendroth Wagner-Régenys Gegenüberstellung
von genau und lebendig – er war beides zugleich – auch, weil sie sich wenig
angekränkelt gibt von stilkritischen Rücksichtnahmen.
Deshalb unterscheidet der Zugriff auf Brahms sich nicht prinzipiell von
dem auf Beethoven. Die Schreckensfanfaren am Beginn des Finales der Neunten
Sinfonie nimmt Abendroth rasch und heftig und läßt das Instrumental-Rezitativ
mit großem rhetorischem Gestus spielen – alles scheint getan für den Eindruck,
daß die Sinfonie hier aus ihrer eigenen Immanenz aussteige und mit Hörern
bzw. Spielern über den eigenen Fortgang verhandeln wolle, daß noch direktere
Präsenz und Gegenwart gesucht werde, als der hier und jetzt klingenden Musik
ohnehin eigen. Nur zwei das Adagio cantabile zitierende Takte (63/64) reichen
aus für meditatives Innehalten; andererseits schärft Abendroth die angestrengt
hochdrehende Modulation am Ende der instrumentalen Exposition des »Freu-
de«-Themas durch ungeduldiges Accelerando und rafft die ersten Antworten des
Chores auf die Solisten – »Deine Zauber binden wieder..«, Takte 257 ff; »Ja, wer
auch nur eine Seele …«, Takte 285 – im Tempo, offenbar, um dem Anschein me-
chanischen Reglements zu wehren; das hinsichtlich des Tempos vieldiskutierte
Alla zingarese (Allegro assai vivace, Takte 331 ff.) beginnt er gemäßigt, unterstützt
den Eindruck des Herankommens – Mahler hatte hier ein Fernorchester spielen
lassen – durch vorsichtig dosierte Beschleunigung, um beim Beginn der Dop-
pelfuge (Takt 431) der Vorschrift sempre l’istesso tempo entgegen jäh in rascheres
Tempo zu wechseln, was der Engführung der Takte 476 ff. eine aberwitzige
Verdichtung beschert und beim Übergang zum nächsten Choreinsatz eine der
Erwartungsstimmung genügende Verlangsamung erfordert; die lapidar-gewalttä-
tige Bloßstellung des Kontrapunkts in den Takten 595 ff. unterstützt Abendroth
durch eine die Musik fast zum Stehen bringende Verlangsamung, nimmt das »Ihr
stürzt nieder …« (Takte 627 ff.) als meditative Enklave aus dem Verlauf fast heraus
und dynamisiert andererseits die anschließende Chor-Doppelfuge (Allegro energico
152 Hermann Abendroth

e sempre ben marcato, Takte 655 ff.) durch eine in winzigen Raten kontinuierlich
vorangehende Temposteigerung; »Brüder, überm Sternenzelt …« stellt sich um
so eindrücklicher als großes Innehalten dar; in engeren Margen und dramatisch
verdichtet wiederholt sich das nach dem Tempo I der Takte 814 ff. (»Deine Zauber
…«) – in nahezu überdrehendem Accelerando, wie um den Sprung in die ferne
Tonart zu rechtfertigen, stürzt Abendroth auf das Poco Adagio der Soli zu. Ebenso
die Mittel wie die Eindringlichkeit des Versuchs, den Satz über alle Charakte-
ristiken eines Rundgesanges hinaus als Szene zu gestalten, erscheinen geeignet,
Richard Wagners waghalsiger Proklamation des Musikdramas als legitimem Erben
der Neunten Sinfonie zuzuarbeiten.
Der Beschreibung liegt eine aus dem Jahr 1939 stammende Aufnahme zu-
grunde, welcher intensive, wenngleich nicht detailliert fixierbare Erinnerungen
an spätere Aufführungen, u.a. in Weimar anläßlich des Schiller-Jubiläums 1955,
mindestens nicht widersprechen. Nur zu gut läßt sich vorstellen, daß ihre Ein-
dringlichkeit, mancher in den Kriegsjahren von Furtwängler in Berlin geleiteten
Neunten ähnlich, auch mit dem Zeitpunkt zu tun habe, mit einem gegen aktuelle
Bedrängnisse und Katastrophen beschwörenden Festhalten an den »ewigen«,
großen Wahrheiten der Kunst. Stärker als Kollegen der anderen Künste steht
Musikern neben der geographischen inneren Emigration die Möglichkeit einer
ästhetischen inneren Emigration offen; und nur zu leicht ließ das die Fatalitäten
dieser zweiten Emigration vergessen.
Hiermit geraten wir in vermintes Gelände, angesichts dessen die erste Frage
lauten muß, zu welchen Wertungen und Urteilen wir befugt seien. Je größer der
Abstand zu den Tatsachen, desto leichter lassen sich grundsätzliche Standpunkte
formulieren; mit zunehmender Nähe zu konkreten, heute nur ausnahmsweise
einsehbaren Situationen, persönlichen Konstellationen etc. mehren sich Rela-
tivierungen zwangsläufig und nähren den Verdacht entschuldigender Beschö-
nigung.
Beläßt man es bei einer flüchtigen Außenansicht des Lebensgangs, könnte man
vermuten, daß Abendroth sich den Diktaturen angepaßt habe. Die Übernahme
des Gewandhauses kurz nach dem Rauswurf Bruno Walters erscheint ebenso
verdächtig wie die der Chefpositionen in Weimar (noch 1945), Leipzig (1949) und
Berlin (1953). Hinzu kommen Verlautbarungen, die man nur beklommen lesen
kann: »Daß diese Zusammengehörigkeit dank der einzigartigen Tat des Führers
nunmehr auch politisch vollzogen ist, dafür wird gerade die deutsche Musiker-
schaft dem Führer Dank wissen«, schreibt er nach der Okkupation Österreichs7,
und nach Kriegsausbruch: »Wieder gilt es, einen uns aufgezwungenen Krieg zu
bestehen. Das Deutsche Volk ist dem Ruf seines Führers gefolgt, es steht in Waf-
fen und kämpft mit unvorstellbarem Heldenmut. Aber das alte Wort ›inter arma
silent musae‹ hat im heutigen Deutschland keine Gültigkeit mehr! Das Leben

7 Zitiert nach: Fred K. Prieberg, Kraftprobe.Wilhelm Furtwängler im Dritten Reich,Wiesbaden 1986,


S. 298.
Hermann Abendroth 153

geht weiter …«8. Nur zu plausibel, daß Abendroth, im Oktober 1945 zu einer
Festrede in der Weimarer Musikhochschule eingeladen, dies ablehnt: »Nein, als
Redner komme ich in diesem Leben nicht mehr in Frage.«9 So könnte man die
unter dem 28. Januar 1947 formulierte Empörung des Direktors des Leipziger
Volksbildungsamtes darob verstehen, daß »ein exponierter Nationalsozialist
Staatsrat geworden ist und in leitender Stellung in Weimar eingesetzt wurde«10,
wenn andere Dokumente nicht eine andere Sprache sprächen und den Verdacht
nährten, hier würden, wie oft in Umbruchzeiten, alte Rechnungen beglichen.
Exponiert war Abendroth sehr wohl, Nationalsozialist nie. Der Nachweis, daß
die zitierten Dokumente nur für den kleineren Teil der Wahrheit stehen, begänne
mit der Frage, wie man unter totalitären Regimen sich exponiert befinden könne,
ohne als deren Repräsentant zu erscheinen. Dirigenten, wegen ihrer unbelang-
baren Machtausübung sowieso mißtrauisch beäugt, befinden sich da in einer
prekären Lage – von »unten« her auch als Obrigkeit bzw. als Teil von ihr gesehen,
von »oben« her als lästige Anwälte und Verteidiger ihrer Enklaven. Und Anlässe,
mit den Tyrannen zu konversieren, gab es angesichts der Verantwortung für die
Orchester stets genug, Einladungen zu oft unvermeidlichen Kompromissen, bei
denen beide Seiten etwas erreicht zu haben meinten. Man fand so unterschied-
liche Dinge wichtig, daß die Herrschenden die Künstler als nützliche Idioten neu
bestätigt sehen und diese das Gefühl haben konnten, etwas herausgeschlagen zu
haben um den anscheinend geringen Preis, leicht überhörbar ins propagandistische
Getöse eingestimmt, lediglich verbale Zugeständnisse gemacht zu haben. Unsere
einschlägigen Erfahrungen sind frisch genug, um Anlaß zu geben, Sentenzen wie
die zitierten nicht zum Nennwert zu nehmen, mögen sie auch wehtun und zum
– vielleicht nur nominellen? – Urheber schlecht passen.
Kommt hinzu, daß oft schon die Redeweise jargonhaft-anpasserisch anmutet,
obwohl sie seinerzeit, weil weithin üblich, kaum so empfunden wurde – verbaler
Niederschlag der Konsenszone zwischen deutsch-idealistischem Kulturkonser-
vativismus und faschistischer Ideologie.Wenn wir lesen, was Abendroth, im Jahre
1934 gegen Musik als »gemütvoll-gemütliches Amüsement« polemisierend, unter
dem Thema »Persönlichkeitswert in der Musikerziehung« formulierte11, hören
wir Goebbels reden: »Wer so an die Musik herangeht, sie ohne wesentliche
Beteiligung nur schlürfen zu können glaubt, der spürt nicht die unumstößliche
Gewißheit, daß sie letzten – und ersten – Endes etwas Geistiges ist, das nicht in
denVorhöfen genossen werden kann, dessen wahre Erkenntnis nur in der Heilig-
keit des Tempels zu erleben ist. In dieser Geistigkeit aber wiederum soll nicht das

8 Zitiert nach: C. Böhm, a.a.O., S. 37.


9 Stadtarchiv Weimar, Bestand Volksbildung, Akte Hermann Abendroth, Bl. 4; Frau Dr. Irena
Lucke-Kaminiarz, Weimar, hat mir freundlicherweise etliche Dokumente vor Eröffnung der
Abendroth-Ausstellung am 28.5.2006 zugänglich gemacht.
10 Stadtarchiv Weimar, a.a.O., Bl. 321.
11 Das bunte Leben, zitiert nach F.K. Prieberg, Handbuch, a.a.O., S. 51.
154 Hermann Abendroth

kühle Rein-Intellektuelle verstanden werden, das schließlich zu entstellender und


blutloser Sachlichkeit hintreiben würde. Nur eine Geistigkeit, aus den warmen
Herztönen eines empfindungsstarken Volkstums gezeugt, kann unsrer deutschen
Musikkultur Leben, Kraft und Wahrheit verleihen.« Mit Ausnahme des letzten
Satzes (einige pathetische Sperrungen sind hier weggeblieben) könnte man den
pathetisch-ideologischen, anti-intellektuellen Dampf ablassen und den Text um-
schreiben zu einem – immer noch emphatischen – Bekenntnis zu Würde und
Ernst großer Kunst. Und als solches paßt er nicht schlecht zu den kanonischen
Gewißheiten eines Musikers, der seine Konzertreihen oft mit den drei B’s – Bach,
Beethoven, Brahms – eröffnete, mit einer Bach-Passion beschloß und sich in der
Identifikation von Beruf und Berufung nicht beirren ließ.
Nachdem Abendroth über fast zwei Jahrzehnte die führende Figur im Kölner
Musikleben gewesen war und es in persönlich engem Einvernehmen mit dem
Oberbürgermeister Adenauer ausgebaut hatte, trafen ihn die nazistischen Anfein-
dungen – sie endeten mit fristloser Entlassung aus allen Ämtern – wie ein Schock.
Im November 1918 habe er sich »links« verhalten, so die Anschuldigungen, habe
in jüdischen Gesellschaftskreisen verkehrt, jüdische Solisten bevorzugt, häufig
jüdische Komponisten aufgeführt, habe dreimal – in den Jahren 1925, 1927 und
1928 – in der Sowjetunion gastiert und hierüber auffallend freundlich berichtet.
Überdies hatte er 1928 – das scheint den Kölner Nazis entgangen zu sein –, da
er und andere Prominente von der um die »Reinhaltung der deutschen Kultur«
besorgten »Vortragsbühne des Westens« zur Ehrenmitgliedschaft eingeladen wur-
de, dies abgelehnt: »Ich bin … nicht geneigt, mich an einem Unternehmen zu
beteiligen, das das Judentum planmäßig boykottiert. Die Juden sind Menschen
wie wir …«12 Für die alte Verbundenheit mit Köln spricht die Absicht, nach
dem Abschied aus Leipzig dorthin zurückzukehren; ein diesbezüglicher Antrag
wurde nie beantwortet.
Nur weil Abendroth sich bei einer Versammlung der Lehrkräfte in Köln ver-
spätete, ist er einem nazistischen Schlägertrupp entgangen, der anstatt seiner zwei
Kollegen krankenhausreif prügelte. Daß die Verpflichtung nach Leipzig zustande
kam, ist neben den zu Beginn der Nazi-Herrschaft mangelhaften Koordinati-
onen, der Intervention Furtwänglers und dem Interesse Carl Goerdelers auch
dem Votum des Orchesters zu danken, dessen Favorit Abendroth nach Nikischs
Tode gewesen war. Im Jahre 1934 hatte er sich geweigert, der Partei beizutreten,

12 Hochschule für Musik FRANZ LISZT Weimar/Thüringisches Landesmusikarchiv, NHA 2;


den gründlichen Recherchen von Frau Dr. Lucke-Kaminiarz ist der nahezu sichere Nachweis
zu danken, daß das Datum auf dem Schriftstück verschrieben ist – »1938« –, unter dem der
Brief in mehreren einschlägigen Publikationen angeführt wird. Einerseits entfällt damit ein
Nachweis für Abendroths oppositionelle Einstellung; andererseits mag man unseren Abstand zu
den damaligen Zeitumständen daran erkennen, daß die entsprechenden Autoren, der Schreiber
dieser Zeilen eingeschlossen, nicht viel mehr gestaunt haben angesichts einer Formulierung,
welche Abendroth im Jahre 1938 möglicherweise Kopf und Kragen gekostet hätte, auf jeden
Fall aber seine Position.
Hermann Abendroth 155

1937 hingegen sich bereden lassen, es doch zu tun. Sorgen um das Orchester,
für das er noch nach Goebbels’ Proklamation des »totalen Krieges« Sonderrechte
erstritt, haben dabei ebenso mitgesprochen wie Sorgen um seine Frau, der der
Arier-Nachweis nicht zuerkannt worden war – mithin blieb die Möglichkeit,
ihm innereheliche Rassenschande vorzuwerfen. Spätestens nach der Entfernung
des Mendelssohn-Denkmals im Jahr 1936 – hierzu ist keine Stellungnahme
überliefert – und den Anwürfen während der Tonkünstlerversammlung im sel-
ben Jahr in Weimar scheint er sich auf verteidigende Aktivitäten zurückgezogen
zu haben. Einsatz und Fürsorge für Verfolgte und Verfemte – Günther Raphael
unter ihnen der prominenteste Name – waren riskant genug. Nicht nur Treue zu
dem Orchester, auch das Bewußtsein, das Mögliche getan zu haben, ließen nach
Kriegsende die Frage nicht aufkommen, ob er in Leipzig nicht von sich aus den
Abschied nehmen solle;Weimar war zunächst nur ein zweites Standbein. Bis zum
Dezember 1945 hat er in Leipzig dirigiert und nichts dabei gefunden, vier Jahre
später die Leitung des dortigen Rundfunk-Sinfonieorchesters zu übernehmen,
gewiß auch als Antwort darauf, daß er zum zweiten Mal verjagt worden war.
Wie immer man ihm und etlichen seiner Kollegen vorwerfen kann, sie hät-
ten zu spät begriffen, daß die Utopie einer unpolitischen, den Aktualitäten der
Zeitläufte enthobenen Musik politisch mißbrauchbar war – eben dies half zur
unbeirrbaren Sicherheit ihres Musizierens. Eine spezifische Blindheit und die
Gewißheit, daß die Botschaft großer Musik hier und jetzt dringender gebraucht
werde als je zuvor, arbeiteten einander in der Paradoxie derer zu, die auf hohem
Niveau u.a. Mitläufern und Verbrechern aufspielten. Vom sicheren Ufer der
Nachwelt können wir jenen Schiffbruch wohl historisch besser einordnen, sind
aber weitab von der Unmittelbarkeit damaliger Situationen, Nöte, Bedrängnisse;
an jeder unserer Wertungen haftet die Arroganz der Unbetroffenen.
Arrogant, wie immer theoretisch berechtigt, erscheint auch die Erwartung, daß
der Dimension der Katastrophe die Dimension der Rechenschaft entsprechen
müsse, also auch die Verwunderung darob, daß man sich rasch in neue Aktivi-
täten stürzte. So Abendroth in Weimar, froh nicht nur ob freundlicher Aufnahme,
sondern wegen der Chance des Neubeginns – immerhin für einen Zweiund-
sechzigjährigen. Die Chance wog schwerer als der Anschein des Rückzuges in
Verhältnisse, für die er im Vergleich zu Köln und Leipzig eine Nummer zu groß
war. Die Weimarer hat er es nie fühlen lassen.
Dennoch beginnt hier eine andere, wiederum traurige Geschichte. Wie
vordem als Staatskünstler der Nazis abgestempelt, obwohl die ihn drangsaliert
hatten, galt er nun – ganz und gar nach Übernahme der Position in Berlin, zu
der er gedrängt worden war13 – als Staatskünstler der DDR, obwohl die kul-
turpolitisch einflußreichen Remigranten in Berlin ihn nicht mochten. Für den

13 Auskunft von Hans Pischner, Berlin, später stellvertretender Minister für Kultur der DDR, da-
nach Intendant der Staatsoper Berlin, Anfang der 50er Jahre in leitender Position beim Berliner
Rundfunk tätig.
156 Hermann Abendroth

Westen war er bald abgemeldet; die Weichen stellte der Freund von ehedem und
nunmehrige Bundeskanzler, der nach einem Abendroth-Auftritt anläßlich eines
Hochschuljubiläums in Köln im Jahre 1950 dafür sorgte, daß weitere in Aussicht
genommene Engagements abgesagt wurden: »Unsere deutschen Brüder in der
Ostzone haben nicht das geringste Verständnis dafür«, schrieb Adenauer, mit den
Stereotypen des Kalten Krieges hantierend, an den Oberbürgermeister, »daß ein
hervorragender Vertreter der Partei, die sie unterdrückt und in Konzentrations-
lager wirft, hier im Westen derartig öffentlich herausgestellt wird … Ich muß
Ihnen … mein größtes Bedauern darüber aussprechen, daß Sie bei der an mich
als Bundeskanzler ergangenen Einladung nicht die nötige Rücksicht genommen
haben, auf die ich hätte Anspruch erheben müssen«.14 Die »deutschen Brüder
in der Ostzone« sahen das anders; und daß sein engster Berater Hitlers Lagern
juristisch vorgearbeitet hatte, vergaß der Kanzler ebenso wie gewisse Unterschiede
zwischen jenen Lagern und denen in der DDR.
Abendroth hat – was für eine Botschaft damals! – als erster in Deutschland
verbliebener Musiker mit tosendem Erfolg in Moskau, Leningrad und den osteuro-
päischen Hauptstädten wieder dirigiert, nach AdenauersVerdikt jedoch kein west-
deutsches Spitzenorchester mehr, sondern in Nürnberg, Darmstadt und Göttingen.
Bei Besuchen philharmonischer Konzerte in Berlin wurde er geschnitten und in
einschlägigen Publikationen marginal abgefertigt15 als der, dem der Rückzug in
die thüringische Provinz gut anstehe. Daß Dirigenten weitgehend mit Ansehen
und Einstufung ihrer Orchester identifiziert werden, erleichtert oberflächliche
Wertungen.Von dem, der sich auf Augenhöhe mit Furtwängler befunden hatte,
blieb im Bewußtsein der westlichen Musikwelt kaum etwas übrig.
Mit der Diagnose der »anderen, wiederum traurigen Geschichte« wäre
Abendroth dennoch nicht einverstanden gewesen. Lang sich aufzuhalten bei dem,
was er durchgestanden hatte, widerstrebte ihm – da mag die strenge Schule von
Dirigenten, deren persönliche Befindlichkeit bei der Orchesterarbeit keine Rolle
spielen darf, mit einem tatendurstig-positiven Temperament zusammengewirkt
haben, das man wohl glücklich und ausgeglichen nennen kann und begabt, mit
sich ins Reine zu kommen. Seiner Autorität sicher, war er ein lauterer, gewin-
nender, unangestrengt kommunikativer Mann, dessen erwärmende Menschlich-
keit die Zuneigung von Musikern und einfachen Menschen schnell gewann, in
der Arbeit bei aller respektvollen Distanz eher ein demokratischer primus inter
pares als Feldherr oder Inhaber von Prosperos Zauberstab, als Lehrer bei aller
sachbezogenen Entschiedenheit nicht einschüchternd, sondern ermutigend,

14 Zitiert nach: Claudia Valder-Knechtges, … wie war unsere Arbeit damals schön … Oberbürgermeister
Konrad Adenauer und das Kölner Musikleben (1917–1933/45), Köln o.J., S. 55/56.
15 In den Personenverzeichnissen mehrerer seriöser Publikationen, u.a. Wilhelm Furtwängler,
Briefe, Wiesbaden 1965, und Music and Nazism. Art under Tyranny, 1933–1945, hrsg v. Michael
H. Kater und Albrecht Riethmüller, Laaber 2003, wird er mit dem Musikschriftsteller Walther
Abendroth in einen Topf geworfen.
Hermann Abendroth 157

begabt mit katalytisch-entspannenden Wirkungen und einem selten intellektu-


ell geschärften, nie zynischen Humor, ein Meisterpsychologe im Umgang mit
Musikern, von ihnen mehr als viele seiner Kollegen geschätzt, von vielen geliebt.
Kam hinzu, daß er sich immer wieder für ihre Belange eingesetzt hat.
Weimar, nicht irgendein Ort, als Wirkungskreis kleiner bemessen als Köln
und Leipzig, bot Sonderkonditionen. Die Staatskapelle, das Nationaltheater,
die Stadt wußten sich geehrt durch den renommierten Dirigenten, der dem
Musikleben nach dem Kriege rasch auf die Beine half und nach der Baisse der
Nazi-Jahre neues Ansehen verschaffte. Manche aus Leipzig und Berlin herü-
berdringende Kritteleien an seinen zuweilen unorthodoxen Arbeitsritualen hat
man hier überhört, nur hier seine Rückkehr von Gastspielreisen, zuweilen gar
in Feierstunden, begangen, nur hier fuhr er, bevor ihm zum 70. Geburtstag ein
Dienstwagen zur Verfügung gestellt wurde, auf einem klapprigen, damals dem
in der Stadt populärsten Fahrrad von der Wohnung zum Theater. Hier sonnte
man sich in der Familiarität mit seiner Weltläufigkeit.
Für ihn stand Weimar, zunächst Refugium und Instrument unverwüstlicher
Musizierlust, zunehmend für eine bei großen Künstlern, besonders Dirigenten,
seltene Lebensentscheidung – für Rückzug ohne Resignation. Als er nach Köln
zurückstrebte, mag ihm der Osten noch wie ein erzwungenes Exil erschienen
sein, Weimar darin wie eine durch ihren Nimbus geschützte Enklave. Später
hat er das »Exil« bejaht, wie u.a. aus einem trotzig-öffentlichen, im Westen
mißverstandenen Bekenntnis hervorgeht, begründet weniger durch dezidiert
politische Positionierung als durch den hohen Rang von Kunst und Kultur in
der sozialistischen Wertehierarchie.
Daß er in Weimar in die Rolle des Patriarchen hineinwuchs, mag einer weiter
reichenden Begründung zunehmend Gewicht verschafft haben: Die Eifersüchte-
leien, Konkurrenzen und Revierhoheiten des Musikbetriebes, bei Renommierten
oft peinlich zu verfolgen, interessierten ihn nicht mehr. Er hatte alles gehabt
– den Gürzenich, das Gewandhaus, Bayreuth, in zahlreichen Gastkonzerten die
Berliner Philharmoniker, internationale Erfolge, bedeutende Schüler in wichtigen
Positionen. Nun brauchte er es nicht mehr, am wenigsten zur Selbstbestätigung.
Gegenüber denen, die den Betrieb nominell beherrschen und, ohne es zu wissen,
der Hegelschen Dialektik von Herr und Knecht Tribut zollen, verschaffte ihm
dieser Abstand eine innere Freiheit und Gelassenheit, welche sein Musizieren
zunehmend prägten – auch, weil er auf vorgebahnten Wegen fortfahren konnte.
Sich zu messen, zu vergleichen hatte er nicht mehr nötig. »Wie er zuletzt war,
so war er eigentlich« – was Theodor Fontane über seinen Vater und unfreiwillig
über sich selbst gesagt hat, galt auch für Abendroth; die weise Lebenskunst jenes
Rückzuges ähnelt der des alten Stechlin.
Überdies war ihm der Osten als eigenes Revier sicher, Konkurrenzen von
anderen Spitzenpositionen erwuchsen kaum; in Weimar, Leipzig und Berlin
konnte er unangefochten seine, wie immer vorläufigen,Testamente als Interpret
machen.Vielleicht sollte man zu den glücklichen Umständen dieses an Höhen
158 Hermann Abendroth

und Tiefen, Triumphen und Enttäuschungen reichen Lebens auch rechnen, daß
ihn der Tod, durch einen ärztlichen Mißgriff verursacht, aus voller, durch keine
Altersrücksicht gebremster Tätigkeit riß.
159

Erinnerung an Eugen Jochum


aus Anlaß seines 100. Geburtstages am 1. November 2002

Irgendwann im Herbst des Jahres 1976 saß Eugen Jochum im Aufnahmestudio der
Dresdner Lukaskirche, um seine Einspielung der Siebenten Sinfonie von Bruckner
abzuhören, zu beiden Seiten je ein Tonmeister aus Ost und West, schräg gegen-
über der Direktor desVEB Deutsche Schallplatten, drumherum ein paar Musiker,
schräg hinter Jochum ein frisch nach Dresden engagierter Kapellmeister, der mit
der Staatskapelle zwei Vorbereitungsproben gemacht hatte. Die Stimmung war
aufgeräumt, man war auch in kniffligen Passagen schneller vorangekommen als
vorgesehen, der damals knapp Vierundsiebzigjährige hatte den Spontankontakt
mit Orchester und Mitarbeitern ebenso genossen wie das Musizieren und die
Musik, es wurde viel gelacht, besonders, wenn Jochum kleine Unebenheiten,
auf die man ihn aufmerksam machte, im musikalischen Fluß aufgehoben, also
unerheblich fand. Der Direktor, als Charakter und Intellekt mittelmäßig genug,
um sein Parteiabzeichen vor sich hertragen zu können, eben aus Berlin zum
Schlußtermin angereist und von der Runde nicht gebührend wahrgenommen,
fand es plötzlich an der Zeit, sich mit einer seriösen Frage zur Geltung zu brin-
gen. »Herr Professor Jochum«, tönte es schlecht verhohlen sächsisch irgendwo
zwischen unsicherer Ehrerbietung und anbiedernder Kumpanei, »wir als Athe-
isten hätten erwartet, daß Sie als gläubiger Katholik die Choräle bei Bruckner
breit nehmen; und nun hören wir, daß Sie im Tempo bleiben. Können Sie uns
das erklären?«
Das hagelte in die Stimmung – nicht nur wegen des inquisitorischen Unter-
tons; nicht nur, weil theoretische Erörterungen hier nicht paßten; nicht nur, weil
Jochums Person und Musizierweise die Frage überflüssig gemacht hatten schon,
bevor sie gestellt war; nicht nur, weil fast alle in der Runde das anonym-aufge-
blasene »wir Atheisten« genauso unerträglich fanden wie die dabei implizierte
Einordnung des »gläubigen Katholiken« als Exot, wo nicht Fossil; sondern auch,
weil der freundliche alte Herr verlegen war und nach Antwort suchte wie ein
bei unerledigten Aufgaben ertappter Schuljunge. Dies zu erleben tat allen weh,
die ihn in den vergangenen Tagen liebgewonnen und gern sich von seiner un-
beirrbaren Freude an der Musik hatten anstecken lassen. Die Störung währte
nicht lange, dank einer Wortmeldung aus dem Hintergrund: »Ach, wissen Sie,
der Herr Jochum hat nicht nötig, zu beweisen, daß es den lieben Gott gibt.«
Jochum reagierte wie einer, dem aus einer schlimmen Patsche herausgeholfen
worden ist, drehte sich zu dem Sprecher um mit den Worten »Bub’ (gesprochen:
Bubb), dafür kriegst’n Kuß« und tat, wie er verheißen.
Einem Anlaß wie dem, der uns zusammengeführt hat, steht der übliche Trick,
mit einer Anekdote zu beginnen, nicht gut an – erst recht nicht, weil der, der
160 Erinnerung an Eugen Jochum

damals sich zu Wort gemeldet hat, und der, der es jetzt tut, ein und derselbe sind.
Andererseits erscheint sie zu charakteristisch, zu gut geeignet, präludierend ein
Schlaglicht auf den Menschen Jochum zu werfen, als daß es mir nicht schwerfiele,
sie mir zu verkneifen – weil er nicht gleich antworten konnte; weil er akzeptierte,
daß ein anderer die indezent auf Grundsätzliches hinzielende Frage für ihn auf
eine Weise beantwortete, die weniger eine Antwort als Abwehr war; weil es für
ihn ein Leichtes gewesen wäre, über Tempi der Siebenten Sinfonie so reflektiert
zu reden, wie er es u.a. über diejenigen der Fünften getan hat; weil er sich hätte
verwahren können gegen die kurzschlüssige Verknüpfung interpretatorischer
Details mit einer existenziellen Frage. Wenn überhaupt so akzeptierbar, rührte
sie an Selbstverständlichkeiten, die für ihn der kritischen Selbstverständigung
nicht mehr bedurften, schon gar nicht als eine von großmäuliger Gottlosigkeit
eingeforderte Rechenschaft. Genaugenommen hatte Jochum nicht antworten
können, weil er nicht antworten wollte; diesen Unwillen behielt er für sich – und
gab im übrigen dem Fragenden, gewiß recht unsouverän, zu verstehen, daß er
in solchen Dingen kein Partner für ihn sei.
Mit zwei Aspekten bzw. Kategorien sollte ein Versuch, Eugen Jochum gerecht
zu werden, vorsichtig umgehen – mit denen der Persönlichkeit und der Tradition.
Überstark persönliche Bezogenheit widerspräche nicht nur seiner besonderen
Befähigung, Autorität zu sein, ohne autoritär zu sein, und der dienenden, die
eigene Individualität hinter das Werk zurücknehmenden Ethik seines Musizierens;
sie steht auch in Gefahr, »Persönlichkeit« als letzten, keiner weiteren Auflösung
bedürftigen Erklärungsgrund für Momente stehenzulassen, welche sehr wohl
der Reflektion bedürften. Und was die schon dank mißverständlicher Nähe zu
Konvention verfängliche Kategorie Tradition angeht, so hat Jochum den Versu-
chen, ihr simpel zugeschlagen, u.a. auf den Bruckner-Spezialisten reduziert zu
werden, manche offene Flanke geboten – schon weil er, herrlich unbesorgt um
eine unverwechselbare differentia specifica seines Musizierens, dem Wettlauf
um Kriterien des je Neuen, noch nie Dagewesenen etc., der sich der Tradition
als Kontrastfolie zu bedienen pflegt, innerlich fernstand; unterscheidbar zu sein
war seine letzte Sorge. Mit unreflektierter Einvernahme für Tradition täte man
demjenigen Unrecht, der, etlichen bedeutenden Komponisten freundschaftlich
verbunden, an den Entwicklungen des zeitgenössischen Komponierens und an
wichtigen Neuerschließungen – so der Notre-Dame-Musik oder Monteverdis
– tätigen Anteil nahm, sich in seiner Berliner Tätigkeit 1932/33 in den Hexen-
kessel der damaligen Aktualitäten stürzte und die Münchner Musica viva kräftig
befördert hat; daß er mit Hindemith besser zurechtkam als der Neuen Wiener
Schule, reicht als Widerlegung nicht aus. Man täte auch demjenigen Unrecht,
der Bruckner zu dirigieren begann, als dieser längst noch nicht durchgesetzt war,
zum größeren Teil aus dubiosen Ausgaben gespielt werden mußte und die zur
Verfestigung interpretatorischer Traditionen nötige Zeit und Grundlage noch
fehlten. Im übrigen nimmt sich Tradition – oder das, was man dafür hält – im
Rückblick, als der sie sich freilich erst herstellt, allemal traditioneller aus als in
Erinnerung an Eugen Jochum 161

den Augen derer, die das später traditionell Genannte als Gegenwart erlebten.
Kaum einer fordert genaueren Umgang mit der heiklen Dialektik dieser Ka-
tegorie ein als der praktizierende Musiker, der gestern komponierte Musik zu
heute erlebter Gegenwärtigkeit bringt, der das Werk, um mit dem von Jochum
verehrten Furtwängler zu reden, »in die Gegenwart hereinreißt«.
Traditionelle Muster freilich bestimmen schon Herkunft und Werdegang:Au-
ßer der früh erkennbaren außerordentlichen Begabung gibt es da keine knalligen
Sensationen, um so mehr Stetigkeit und Zielstrebigkeit einer – allerdings sensa-
tionell raschen – Entwicklung, bald auch, und bis ins hohe Alter bewahrt, eine
unbeirrbare Treue zur den Prägungen und Bildungsmächten der Jugend. Dank
ihrer fiel es Jochum nicht schwer, Babenhausen überall dorthin mitzunehmen,
wo er wirkte und doch zugleich in 15 Hamburger Jahren mit ganzem Herzen
liberaler Hanseat zu sein und in München ein heimgekehrter Bayer. Diese Treue
verrät sich noch in der Art, wie er über sich Auskunft gibt; nicht nur des Stoffes
wegen hätten Stifter, Keller oder Raabe von Kindheit und Jugendzeit und den
Begünstigungen beschränkter Verhältnisse für einen musikalisch Hochbegabten
vermutlich auf ähnliche Weise erzählt, wie er es in späten Jahren getan hat.
Das Schulhaus in Babenhausen, wo Jochums Vater amtierte, nebenamtlich
die erste musikalische Autorität am Ort, liegt gewissermaßen auf halber Strecke
zwischen der Hütte im niederösterreichischen Ansfelden, wo Anton Bruckner
in – allerdings ungleich dürftigere – Verhältnisse hineingeboren wurde, und den
protestantischen Pfarrhäusern, denen die deutsche Literatur und Philosophie
des 18. und 19. Jahrhunderts viele bedeutende Köpfe verdankt. Dem zuvörderst
sozialen Druck, mit dem Pfunde einer großen Begabung zu wuchern, hält die
moralische Verpflichtung die Waage, an und mit ihr zu arbeiten, wo nicht die
religiöse, sie als Leihgabe zu betrachten, welche erst noch verdient werden müsse.
Bestenfalls die Enttäuschung des jungen Jochum, der, zuhause fast schon ein Star,
dem überdies ein ähnlich begabter jüngerer Bruder auf den Fersen ist, sich auf
dem Konservatorium in Augsburg zunächst als einer unter vielen wiederfindet,
verrät eine, wohl verständliche Abweichung von der strengen Linie des von einer
großen Sache in die Pflicht Genommenen. Der alte Jochum hat sie u.a. in der
drastischen Auskunft bekräftigt, jede pultmadonnenhafte Bedienung der Schaulust
des Publikums, als von der Sache der Musik ablenkend, sei »Schweinerei«.
Daß ihm in München bei einer ersten Bewerbung in die Dirigentenklasse ex
officio mitgeteilt wurde, aus ihm werde »nie ein Dirigent«, brauchte ihn nicht
lange anzufechten, weil er auch gern komponierte und weil die Auskünfte nach
einer ersten Probenstunde mit dem Hochschulorchester plötzlich anders lauteten
– da mag sich zum ersten Mal ein im genauen Sinne mitreißender Furor der
Mitteilung bewährt haben, welcher bis zuletzt, auch in Adagio-Sätzen, in einem
spezifischen Ungestüm seines Musizierens spürbar blieb. Die Bilderbuchkarriere,
die ihn binnen zehn Jahren über Kiel, Mannheim und Duisburg als Leiter der
Funkstunde (ab 1932) nach Berlin führte, bestätigt u.a. die musikalisch breit fun-
dierte Überzeugungskraft eines Mannes, der nie als dirigiertechnischer Virtuose
162 Erinnerung an Eugen Jochum

gegolten hat. Dessen bedurfte es offenbar nicht, um als Dreiundzwanzigjähriger


in München und zwei Jahre später im Leipziger Gewandhaus mit Bruckners
Siebenter Sinfonie zu bestehen, welche damals – vor allem dank Arthur Nikisch
– Bruckners meistgespielte Sinfonie, keineswegs jedoch eine von vornherein
Erfolg garantierende pièce de résistance war.
Hitlers Machtergreifung samt den Folgen hat ihm Berlin – immerhin das
Sprungbrett für alsbald fällige Neubesetzungen – zu sehr verleidet, als daß er die
mit damals neuartiger Publizität und vorzüglichen Arbeits- und Kontaktmög-
lichkeiten verbundene Position als Chance hätte betrachten können. Bei dem in
etlichen Fällen würdelosen Wachwechsel nach dem Exodus vieler bedeutender,
nicht nur jüdischer Dirigenten stand er, allen für einen Aufsteiger nahezu ob-
ligatorischen Ehrgeizen zum Trotz, bewußt hintan. Hamburg lockte nicht nur
mit der Oper und der Nachfolge u.a. von Mahler, Carl Muck und Karl Böhm,
im Konzert u.a. von Bülow und Nikisch, sondern nun auch als Stadt und Bür-
gerschaft, welche gegenüber den Nazis mehr Resistenz versprach als andere
– und hielt. Mit großem Respekt hat Jochum späterhin von der dort gewährten
Unterstützung seiner Distanzierungen gesprochen, welche für einen Dirigenten
als öffentliche, zudem für ein großes Ensemble verantwortliche Person schwer
durchzuhalten waren – etwa, wenn zur Mitgestaltung von Festakten aufgefordert
oder zu Gastkonzerten in okkupierten Ländern. Schwere Anfechtungen waren
unvermeidbar; da er sich, ebenso wie Abendroth, Furtwängler oder Rosbaud,
Einladungen zu Konzerten in Paris nicht verweigern konnte, verweigerte er sich
doch, so weit die Umstände irgend es zuließen, jeglichem propagandistischen
Mißbrauch. Bezeichnenderweise hat er von den damit verbundenen Schwie-
rigkeiten später nie viel Aufhebens gemacht, immerhin mit berechtigtem Stolz
darauf hingewiesen, daß unter den namhaften Dirigenten in Deutschland nur er
nach dem Mai 1945 auf seiner Position verbleiben und seine Arbeit fortsetzen
konnte; ein viel späteres, außerordentliches Zertifikat seiner Zivilcourage war die
Berufung an die Spitze des Concertgebouw-Orchesters im Jahre 1959.
Man verkleinert die Leistung dieser Standfestigkeit (insgesamt haben Musiker
in den zwölf Jahren schlechtere Figur gemacht als Literaten) nicht durch den
Hinweis auf ihre Fundierung im Glauben – und kommt damit abermals bei
einem Aspekt an, welcher pauschalierende Verkürzungen begünstigt. Eine von
ihnen wäre die – durch manche allzu geschickte Anpassung von Kirchenleuten
widerlegte – Vorstellung, ein im Glauben Geborgener habe es in schwierigen
Situationen leichter, eine noch wichtigere, von Jochum nachdrücklich bestrit-
tene (»richtig glaubt nur, wer zeitweise nicht glauben kann«), hier gäbe es eine
unerschütterbare Geborgenheit. Die zitierte, so einfache wie abgründige For-
mulierung sollte vergegenwärtigen, wer Katholizismus, Bruckner und Jochum als
jeder Gefährdung entzogenen Gleichklang meint vorstellen zu können und z.B.
denjenigen ignoriert, dem das Erlebnis von Bachs Protestantismus tiefgreifende
konfessionelleVerunsicherungen beschert und dessen Freundschaft mit Romano
Guardini auch mit gemeinsamem Ringen um Glaubensfragen zu tun hat. Dem
Erinnerung an Eugen Jochum 163

steht der gebetete Rosenkranz nicht im Wege, nicht, daß »die Muttergottes mir
helfen muß, daß ich ’ne anständige Sinfonie z’sammkriege.«
Sollte man anstatt vom stärker objektbezogenen Glauben nicht besser all-
gemein von Frömmigkeit sprechen? An einem hinter konfessionellen Bestim-
mungen liegenden Ort jedenfalls begegnen sich, als in einer keiner spezielleren
Unterscheidung zugänglichen Frömmigkeit, der glaubende und der musizie-
rende Jochum – im Vertrauen auf transzendent verbürgte Gewißheiten, die
allen zweiflerischen Fragen entzogen sind, auf eine ihrer Natur nach religiöse
Verläßlichkeit. Deren Vorposten, aller fundamentalen Bezweifelung entzogen,
sind die großen Werke, demgemäß die klingendenVollzüge partiell Glaubensakte.
Bezeichnenderweise entzündete sich eine Diskussion mit Furtwängler an des-
sen – von Jochum bestrittener – Feststellung, Bruckner müsse interpretatorisch
»nachgeholfen« werden. Furtwängler, von dessen musikalischer »Durchströmtheit«
Jochum schwärmen konnte, muß das Werk jeweils tieferen Zweifeln entreißen
– dies ein Teil seiner unverwechselbaren Intensität; viel weniger als in der an-
gedeuteten Weise Vor posten und Ausleger jener unbefragbaren Transzendenz,
muß es dekonstruiert und neu aufgebaut, von der jeweiligen Konstellation
seines Erklingens her, insbesondere durch seinen Treuhänder, neu beglaubigt, in
ihm muß ein Stück Schöpfung nachgeholt werden – diese fundamentalistische
Prämisse teilt Furtwängler mit den überaus unterschiedlichen Weltentwürfen
der Generationsgenossen Bloch, Rosenzweig, Heidegger oder Spengler. Jochum
bewundert die risikofreudig sich ausliefernde, cum grano salis atheistische Suche
nach dem jeweiligen »Urknall« – und hat sie, die Musik im Ausstrahlungsbereich
unbezweifelter Bürgschaften besser gesichert, als Teil der Schöpfung und also
im Vorhof des Religiösen wissend, nicht nötig. Das betrifft nicht nur geistliche,
sondern jegliche bedeutende Musik: Mehrmals hat Jochum sich zu der Initiation
bekannt, die eine Aufführung des Tristan für ihn bedeutet habe.
Beim Repriseneintritt im ersten Satz der Siebenten Sinfonie gibt es ein Tempo-
problem – nur zu leicht kommt man »zu schnell« an; entweder bremst man vorher
allmählich oder beim Eintritt der Grundtonart jäh ab oder fährt im »falschen«,
raschen Tempo in die Reprise hinein. Die Entscheidung wird dadurch erschwert,
daß das Thema längst präsent ist, Tempoveränderungen also anhand ein und
derselben Prägung besonders stark wahrgenommen werden. Die diplomatisch
vermittelnde erste Lösung überzeugt am ehesten, wenn mit dem rallentando ein
Moment der Erwartung so selbstverständlich verbunden wird, daß der Verdacht
formbezogener Didaktik nicht aufkommen kann. Furtwängler entscheidet sich
für die dritte Lösung – so radikal, daß man zunächst meinen könnte, er habe die
Funktion und Bedeutung der Stelle nicht erkannt. Eben dieser Eindruck indessen
erweist sich als Teil seines die Form psychologisch auflösenden Kalküls, wenn er
danach, »zu spät«, abbremst und einem über das gesamte Thema hingezogenen
rallentando ein Moment der Besinnung über das Geschehene anheftet, das der
vertrauten Prägung in überraschender Weise Neuigkeitswert und der nunmehr
besser gesicherten Wiederherstellung, als welche die Reprise sich versteht, enorme
164 Erinnerung an Eugen Jochum

Eindringlichkeit verschafft. Jochum entscheidet sich für die zweite Lösung und
braucht bei seinem subito meno den Verdacht schulmeisterlicher Demonstration
nicht zu fürchten, weil neben, beinahe schon vor dem Wiedererreichen von
Tonart, Thema und Tempo die erstmals eintretende Gegenführung der Flöte
mit dem Kontext eines Ex excelsis eine neue Dimension ins Spiel bringt – die
Symbolik der herabkommenden Taube liegt nicht fern –, so daß man Thema
und Tonart, überraschend in ein anderes Licht gestellt, fast als neues Thema, als
neue Tonart hört und der Vergleich mit einem jäh emporgehobenen, magisch
strahlenden Gral nicht fern liegt.
Vor allem die Rechenschaft über Tempi der Fünften Sinfonie von Bruckner
zeigt – bevor einer Jochums in einer ungebräuchlichen Stenographie geschriebene
Annotationen zu entziffern unternimmt –, auf welchem Niveau und vor welchen
Hintergründen er solche Dispositionen getroffen hat, in kleinen Temponuancen
gewiß Erbe einer Zeit, welche »Grundzeitmaß« mehr als Charakter und Gangart,
mithin biegsam und nicht metronomisch starr verstand (die obsolet gewordenen
Revisionen von Schalk und Loewe sollten mindestens geschätzt werden als
Zeugnisse einer Aufführungspraxis, in die Bruckner seine Sinfonien hineinge-
dacht hat), freilich auf eine im einzelnen kaum mehr nachvollziehbare Weise.
Immerhin wissen wir, daß ein Musiker wie Franz Schalk seine Bearbeitungen
als Treue-Übungen verstand und keiner exzessiven Subjektivismen verdächtig
war, mithin bei der Beurteilung, inwiefern sein Bedürfnis, Bruckners Musik in
die Öffentlichkeit zu helfen, seinem Werkverständnis üble Streiche gespielt habe,
Vorsicht geboten ist. Kleine Revisionen, Abschattierungen, Verstärkungen etc.
gehören auch heute zum Umgang mit Bruckner-Partituren; darüber hinaus hat
Jochum, der jeweils nach dem Erscheinen der quellenkritischen Neuausgaben
sofort zu diesen überging (mit üblich gewordenen Einschränkungen wie im Ada-
gio der Achten; einen gewissen Dogmatismus in bezug auf die Autorisation von
letzter Hand verrät sich in der Bevorzugung der halb von außen erzwungenen
Letztfassung der Dritten Sinfonie (1889) gegenüber derjenigen von 1872), an
den »elf Aposteln« im Finale der Fünften Sinfonie festgehalten, Schalks separierte
Aufstellung allerdings als »zu theatralisch« verworfen. Ähnlich wie im Fall der
möglicherweise verlangsamten Choräle leidet er keine Inszenierung; Choräle
gehören zu dieser Musik so selbstverständlich, daß sie nicht eigens auf Podeste
gestellt werden müssen; dort befänden sie sich aus ihr herausgerückt und in
Gefahr, zu ideologischen Argumenten zu degenerieren.
Musizierend – und nicht nur dort – ist Jochum ein fröhlich Glaubender, Dies-
seitsfreude, Freude am Klingen und Strömen der Musik bilden kein Widerlager
zur Dimension des Religiösen, sondern einen Teil von ihr. Für den bei Wagners
Bühnenweihfestspiel veranstalteten törichten Langsamkeitswettbewerb hatte er
kein Verständnis und brauchte keines zu haben, sein Parsifal war einer der zü-
gigsten; und sein langsames Tempo bei den Pizzikati am Anfang von Bruckners
Fünfter Sinfonie begründete er damit, daß jeder bequem-selbstsichere Gleichlauf
vermieden werden müsse und größere Abstände zwischen den einzelnen Tö-
Erinnerung an Eugen Jochum 165

nen jene Ungewißheit und unruhige Erwartung befördern würden, um die es


ihm hier ging, daß er mithilfe eines langsameren Tempos die Wirkungen eines
geschwinderen erreichen wolle. Aus ähnlichen Erwägungen unterschied er bei
Bruckners großen, massiven Triolierungen zwischen solchen, die er in Dreien
ausschlug, und anderen, bei denen er, die Widerständigkeit hervorhebend, in Zwei
gegenhielt. Insgesamt haben mit zunehmenden Jahren auch sein musizierendes
Ungestüm und, allgemeiner gesprochen, seine musikalische Diesseitsfreude
zugenommen, sind die Tempi schneller geworden. Mit Souveränität und einer
unkomplizierten Familiarität mit großer Musik hatte diese Altersreife viel zu
tun, mit einer oft zur Vergeistigung umgemodelten Distanzierung wenig. Der
Achtzigjährige hat begeistert Don Juan dirigiert und hätte den Rosenkavalier nur
zu gern noch einmal unter die Finger bekommen.
Zum Wesen eines Glaubenshintergrundes wie desjenigen, als dessen Aus-
leger und Ausübung Jochum die Musik und sein eigenes Tun begriff, gehört
universeller Anspruch. Dem widerstreitet jede einseitige Abstempelung, gerade
auch die als Spezialist für den wie immer hingebungsvoll dirigierten Bruckner;
daß oben von ihm unverhältnismäßig viel mehr die Rede war als von anderen
Komponisten, hätte Jochums Beifall nicht gehabt. Sowohl in der Spannweite
der Programme wie in der Musizierweise war er ein Anti-Spezialist, um nicht
zu sagen: ein Generalist, zu dessen Konfession auch gehörte, daß ein Großteil
der für authentisches Musizieren erforderlichen Qualitäten hier und dort die
gleichen seien, also auch hier und dort bewährt werden müßten, und man keine
Zuständigkeit für Bruckner prätendieren dürfe, ohne z.B. bei Palestrina oder
Schubert Bescheid zu wissen – nicht zu reden von dem erklärtermaßen zentra-
len Dreigestirn Bach–Mozart–Beethoven, worin Mozart den »Scheitelpunkt«
bilde. In dieser zuoberst stehenden Trinität also ist Bruckner nicht vertreten,
und der Pate des von Jochum als wegentscheidend beschriebenen Erlebnisses
hieß nicht Palestrina, Bach oder Bruckner, sondern Richard Wagner – womit
er sich, angefangen mit Nietzsche, in hochprominenter Gesellschaft befindet.
Gewiß erscheint die Hervorhebung einzelner Namen allemal fragwürdig bei
einem, dessen liebender Zugriff die gegenwärtig musizierte Musik zur jeweils
ihm nächsten machte; freilich hat er sie selbst genannt, mit der Nominierung der
drei Sterne der höchsten Höhe indessen wohl eher eine repräsentative Totalität
des musikalischen Spektrums umschreiben als eine Nachordnung u.a. Haydns,
Schuberts, Wagners und Bruckners formulieren, eher sie als auf je eigene Weise
spezielle Fälle charakterisieren wollen.
Musik geschehen zu lassen, wie sie es in seinem Verständnis »will«, die Partitur
als Mitteilung zu entdecken war Jochums Anliegen eher als das Herausmeißeln
unverrückbar fixierter Strukturen; ein Perfektionist und Detailfetischist war er
nicht – und hat dennoch in München binnen kurzem eines der besten deutschen
Orchester aus dem Boden gestampft –, seine Geradlinigkeit weniger die eines »So
und nicht anders« als Sicherheit in bezug auf bewegliche, unterschiedlichen Nut-
zungen offenstehende Spielräume.Wie Bruckners Sinfonien als Segmente einer
166 Erinnerung an Eugen Jochum

hinter ihnen liegenden »Hauptmusik« verstanden werden können und diese als
Segment einer abermals dahinterliegenden, verstand Jochum die jeweilige Reali-
sierung als hier und jetzt erreichbares Segment aus dem Kreis der insgesamt von
der Partitur definierten, niemals in toto einlösbaren Möglichkeiten – in diesem
Sinne war noch die kommunikative Toleranz, mit der er unterschiedlichste Or-
chester im Zeichen des Aufblicks, des gemeinsamen Bemühens um große Musik
für sich zu öffnen, für seine Musizierweise zu gewinnen verstand, ebenso religiös
begründet wie die lebendige Schwankungsbreite seiner Interpretationen.
Mitteilend schon die Arbeitsweise: Abbrüche und Belehrungen mied er so
weit wie möglich – nicht zuletzt, weil sie seiner eigenen, begeisterten Befangen-
heit im Musizieren im Weg waren –, sprach oder rief seine Anweisungen oft in
die fortgehende Musik hinein, unbesorgt darum, ob jeder verstand. Angesichts
der solcherart verfolgten gemeinsamen Erschließung des Werkes fungierte das
erklärende Wort als nur eine und, weil gegenüber der klingenden Musik abstrakt,
nicht als wichtigste Verständigungsbrücke. Im Vertrauen auf die wichtigeren,
mit einer souveränen Musikalität und Persönlichkeit und intimer Werkkenntnis
verbundenen, konnte er die Zügel locker führen und Angebote der Musiker mit
eigenen Konzeptionen unangestrengt zusammenbringen, viel eher Primus inter
pares und Initiator gemeinsamer Lernprozesse als rechthabender, durchsetzungs-
süchtiger Maestro. Sah er diese Gemeinsamkeit gefährdet, reagierte er rasch und
aufbrausend – und konnte Engelsgeduld beweisen, wenn die Mannschaft auf die
Klärung schwieriger Details konzentriert war.
Schon dank seines mitteilungsfreudigen Naturells hat Jochum sich manchen
Gegendruck der großen Apparate, mithin etliche déformations professionnelles
ersparen können, die, als Antworten auf jenen Druck, gerade auch an Promi-
nenten unter seinen Kollegen nicht vorbeigegangen sind und ihnen die krea-
tiven Möglichkeiten neidloser Bewunderung arg blockiert haben. Jochum hat
viel bewundert – nicht nur die großen Werke und ihre Meister, sondern auch
die lyrisch-dramatische Intensität Bruno Walters, die tranceähnliche Medialität
Furtwänglers, das manuelle Geschick und den ruhigen Atem von Hans Knap-
pertsbusch etc.; seine Begabung zur erschließenden, auslegenden, weiterschen-
kenden Bewunderung rückt ihn unter den Dirigenten seiner Generation in
eine ähnliche Position wie die Hans-Georg Gadamers unter den Philosophen.
Gleich fern wie die den Anspruch ihrer Arbeit dementierenden Eifersüchte, die
ätzend herabsetzenden Bonmots oder die zu Abziehfolien des eigenen Öffent-
lichkeitsbildes degradierenden Eitelkeiten der einen lagen ihm der feldherren-
oder guruhafte Gestus und die anmaßende Bescheidenheit der anderen, welche
gern zugeben wollten, von der wahren Musik fast nichts zu verstehen, wenn
nur die anderen zugeben würden, daß sie gar nichts verstehen. In der Phalanx
der zuweilen skurril Schwierigen nimmt er sich, nicht im Widerspruch zu einer
starken Persönlichkeitswirkung, jungenhaft arglos, böse gesprochen: harmlos aus,
harmlos freilich dank einer zwar als Normalität gelebten, dennoch alles andere
als normalen Berufenheit, welche zu sicher als entliehen und verpflichtend
Erinnerung an Eugen Jochum 167

angenommen worden ist, als daß sie von sich etwas hermachen könnte. Wenn
Glück neben dem des Schenkenkönnens bedeutet, daß einer seiner Berufung
unabgelenkt gefolgt ist, dann können wir, allen von Eugen Jochum durchlebten
Prüfungen, Nöten und Katastrophen entgegen, sagen: Wir haben einen glück-
lichen Menschen gesehen.
168

Könner, Macher, Sphinx und Showstar:


Herbert von Karajan

»Nicht die Talente, nicht das Geschick zu diesem oder jenem machen eigentlich
den Mann der Tat, die Persönlichkeit ist’s, von der in solchen Fällen alles abhängt.
Der Charakter ruht auf der Persönlichkeit, nicht auf den Talenten.Talente können
sich zum Charakter gesellen, er gesellt sich nicht zu ihnen: denn ihm ist alles
entbehrlich außer er selbst« (Goethe):Wer Herbert von Karajan war, mögen die
wissen, die ihm nahestanden, soweit man ihm nahestehen konnte; wir haben
die Musik. Ob er mit Menschen so zärtlich umgehen konnte wie mit Tönen,
sollte uns nicht interessieren. Unermüdlicher Propagator seiner selbst, wollte er
so bekannt sein wie möglich und so wenig gekannt sein wie möglich, Letzteres
dank einer rätselhaften Scheu und eines weniger rätselhaften Willens zur Macht;
zu deren effektiver Ausübung gehören Unberechenbarkeit und Anonymität.
Die Maschinerie bzw. Hofhaltung, die er beschäftigte und befehligte – Bio-
graphen, Filmemacher, Produzenten, Unternehmer, Kritiker, Anwälte, Photo-
und andere Reporter – und die kritischen Kontrahenten haben mit einer Flut
von Projektionen, Bildern und Polemiken eine Situation zementiert, welche
verhärteten politischen Konfrontationen ähnelt: Man redet, die Schußlinie des
Gegners respektierend, aneinander vorbei, man meidet den Punkt, an dem man
sich treffen könnte; im geheimen Komplott der Gegner übertrifft das Interesse
an der Befestigung der Positionen das an ihrer Vermittlung. »Alles Ausgezeich-
nete ist ebenso schwierig wie selten« (Spinoza) – die einen hielten sich an die
Seltenheit, die anderen an die Schwierigkeit. »Paul« – der Neffe des Philosophen
Wittgenstein, geschildert von Thomas Bernhard – »haßte Karajan mit allen ihm
zurVerfügung stehenden Mitteln und bezeichnete ihn aus gewohnheitsmäßigem
Haß nur als Scharlatan, ich sah in ihm aus eigener jahrzehntelanger Anschauung
nur den ersten aller Musikarbeiter auf der ganzen Welt … Der Name Karajan
sicherte von vornherein eine wilde Streiterei zwischen mir und dem Paul und
wir haben, solange der Paul lebte, immer wieder über Karajan gestritten.«
»Musikarbeiter« trifft Wesentliches. Er war ein Besessener, man dürfte auch
sagen: »workaholic«, erschiene damit nicht auf sogenannte Sekundärtugenden
heruntergeredet, was vor allen Ergebnissen bewundernswert ist. Mögen alle,
die schnell bei der Hand sind mit Scharlatanerie, Hochglanzpolitur, Geschäf-
temacherei, Machiavellismus, Jetset-Gehabe etc. zu ermessen versuchen, was es
bedeutet – erst recht für einen, dem es nicht in den Schoß fiel –, so viel Musik
so genau zu kennen, geschweige denn sie zu machen wie er. Der Abstand zum
Normalbürger mit regulierten Arbeits- und Ruhezeiten gehört zu den besseren
Legitimationen seiner humorlos-narzißtischen Ichbezogenheit. Er war und wußte
sich anders als die bête humaine.
Könner, Macher, Sphinx und Showstar: Herbert von Karajan 169

Nicht anders genug freilich, um auf ihren Beifall nicht angewiesen zu sein und
die Publizität seiner selbst auf ihre Erwartungen abzustellen – maßgeschneidert
ein Star, wie man ihn sich vorstellt; nach dem schlotterig-nachlässigen Volks-
wagenfahrer Furtwängler der glamouröse Herrenreiter mit Rennwagen, Jacht,
Flugzeug und schönen Frauen, der alle Bilder von sich kontrollierte, immer vor-
zeigbar aussehen mußte, noch, wenn er, ebenfalls photographiert, im Mittelmeer
kreuzte oder sich am Kamin in Anif Erdnüsse reichen ließ.
Wie immer hohe Maßstäbe auf einer Seite nach ebensolchen auf der anderen
rufen – angesichts der strengen Disziplinierungen, die Karajan sich verordnete,
und der Ausstrahlungen eines noch im Bewegungsduktus hochsuggestiven Di-
rigenten, dessen Fernsehauftritte bei den Jüngeren Nachäff-Orgien auslösten,
nimmt man den kitschig-medienoffenen Byzantinismus traurig zur Kenntnis.
Wie war er unphotographiert, unbeachtet, wenn nicht im Mittelpunkt stehend,
wie war er eigentlich? Welchen und wieviel Karajan gab es außerhalb des bis
in seine Eifersüchte hinein machtbewußten, machtausübenden? Unterwarf er
sich nicht ebensosehr der Maschinerie, wie er mit ihr die Öffentlichkeit sich
unterwarf? Wieviel seriöser Kunstanspruch wurde veruntreut, da alles auf Kon-
sumierbarkeit und Außenwirkung getrimmt schien – bis hin zu dem am Ende
jäh beschmutzten, jahrzehntelang sorgsam stilisierten Bilde familiärer Harmonie
zwischen ihm und »seinem« Orchester? Arbeitete Karajan nicht dem Verdacht
zu, der megalomane Rummel sei ihm wichtiger als die Musik?
Auf die ging andererseits kaum einer so direkt zu wie er. Rederei und umständ-
liche Präliminarien haßte er, redete selbst ungern und schlecht; bei der Eröffnung
eines Dirigierkurses vor 50 Jahren unterbrach er die Einführungszeremonie, warf
seinen Mantel dem Kultursenator über die Schulter und beorderte ungeduldig
den ersten Kandidaten ans Pult. Er probierte konzentriert, sachbezogen, effektiv,
knapp mit Worten, mit genauem Wissen darum, wo die Hebel angesetzt werden
müßten und was sich selbsttätig regulieren werde, weniger Maestro – zumal früher
– als ein mit der Mannschaft kameradschaftlich umgehender, mit feiner Witterung
für kreatives Klima und Gruppenpsychologie begabter Trainer, kein Zweifler,
sondern einer, der wußte, was er wollte und wo es langgeht und jene Sicherheit
vermittelte, die die Musiker als Freisetzung eigener Aktivitäten verstehen und
nutzen konnten, viel näher zum Ingenieur und Sportler als zum Priester: »Letz-
te« Fragen gab es nicht, sondern nur praktische. Das war seine Welt, hier fand
entspannte Kommunikation statt wie außerhalb musikalischer Arbeit selten.
Deshalb war der vielberufene Karajan-Klang, gewiß auch Ergebnis von Schliff,
Feinabstimmung und sicher kontrollierten, vom Bewegungsduktus ausgehenden
Übertragungen, vor allem ein Niederschlag von Sicherheit und Wohlgefühl – da-
mit freilich ebenfalls Ergebnis eines problemscheuen Verständnisses von Musik.
Dissonanzen bei Zeitgenossen wünschte Karajan als Konsonanzen gespielt und
empfunden, dann erst seien sie angeeignet und verstanden – gute Handhabe
für den Vorwurf, er unterscheide nicht zwischen Schönheit und Beschönigung,
habe wenig Sinn für die ästhetischen Qualitäten von Kantigem, Brüchigem,
170 Könner, Macher, Sphinx und Showstar: Herbert von Karajan

Häßlichem, Fragmentarischem. Strawinsky spottete in bezug auf Karajans Sacre-


Einspielung über den »wilden Mann fürs Boudoir statt eines wirklichen Wilden«;
die Aufführung als Ganzes sei »zu glatt, zu wohlberechnet, zu getragen«. Kurt
Sanderling hätte, wie bei einem anderen Einwand gegen Karajan, repliziert: »Bei
einem Genie interessiert mich nicht, was es nicht kann.«
Sein Orchester konnte prunken, flüstern, flirren, leuchten, gleißen, schmei-
cheln, dröhnen, drohen, die Musik konnte wunderbar ungezwungen strömen
und unübertrefflich schöne Kurven nehmen – eines konnte sie nicht so gut:
reden. Ein anti-sprachlicher, anti-rhetorischer Zug prägte noch die feineren
Innervationen des Musizierens; auch deshalb mag Karajan die Protagonisten der
Klangrede auf Distanz gehalten haben und zog sich – mit Ausnahmen – von
barocker und frühklassischer Musik bald zurück. Artikulation, Phrasierung und
Bogenstrich interessierten ihn wenig, besonders bei Tutti-Einsätzen ging er auf
eine Homogenität aus, wie man sie zuvor selten erlebt und nun zu bestaunen
Grund hatte, welche allerdings die individuell sprechende, je unterschiedliche
Einschwing- und Ansatzweise der Instrumente zurückdrängte. Nicht viele sollten,
wenn überhaupt, reden, besser: tönen, sondern durch die vielen hindurch einer.
Er denkt und lenkt das Orchester vom Ganzen aus, als Gesamtorganismus und
Soli als dessen wohlgebettete, episodische Negationen, viel weniger das Tutti als
Resultante, als aus Individualitäten, einzelnen Stimmen zusammengesetzt. Konse-
quenterweise, nicht nur der Fokussierung auf den Maestro wegen, verschwimmen
die Musikergesichter auf den meisten Aufnahmen im nebulosen Ungefähr.
Hermetische Ästhetik mit der Tendenz, »sich selber selig«, ihr eigenes – gutes
– Gewissen zu sein: Nichts soll offenbleiben und das Resultat so vollendet, daß
es akzeptiert werden muß und Fragen nach Warum bzw. Wozu sich erübrigen.
Hierin erscheint sie wie eine perfektionistisch-wirtschaftswundergemäß angeeig-
nete Fortführung jener vermeintlich zeitenthobenen Musik und Musikausübung,
die in der Nazi-Zeit selbst durch die Nachbarschaft zum Grauen nicht widerlegt
sein wollte – auch er war daran beteiligt. Sich selbst genug, stuft sie weiterge-
hende Aktivitäten – Kurse, Wettbewerbe, Stiftungen etc. –, ob in Karajans Sinne
oder nicht, auf publizitätsbedingte Notopfer zurück. Anne-Sophie Mutter, Seji
Ozawa, Okko Kamu und einige andere bestätigen als Ausnahmen die Regel; trotz
mancher rührenden Fürsorge glaubte man ihm den guten Onkel am ehesten als
Selbsttherapie eines Einsamen.
Seine hermetische Interpretenästhetik akzeptiert und bedingt die Arbeitstei-
lung Schaffender und Nachschaffender. Anders als Furtwängler haderte Karajan
mit dieser Unterscheidung nicht. Wie nur wenige Dirigenten verstand er sich,
nie zum Komponieren verführt, ausschließlich als Realisator, als Macher, gut
konservativ darauf angewiesen, das zu Realisierende unbezweifelt, unbefragt zu
wissen. So geht er auch beim Repertoire Irritationen aus dem Wege, meidet
u.a. Janáãek und für die längste Zeit Mahler und flüchtet, seine Abstinenz in
bezug auf Zeitgenossen erläuternd, in dürftige Begründungen, worin die mit
der Spitzenposition verbundenenVerantwortungen nicht aufscheinen.Auf andere
Könner, Macher, Sphinx und Showstar: Herbert von Karajan 171

als bewährte Musik scheint er wenig neugierig und bei den seltenen Ausflügen
in unbegangenes Terrain eher fremdbestimmt: Henzes Antifone verdankt sich
gerade noch jener bald vernachlässigten Verantwortung; mit den Einspielungen
Schönbergs, Bergs und Weberns antwortet er dem von den Erben der Zweiten
Wiener Schule ausgehenden Meinungsdruck – als unmodern will er nicht gelten
–, mit Schönbergs von Furtwängler uraufgeführten Variationen op. 31 einem phil-
harmonischen Muß; und in bezug auf Mahler kann er irgendwann nicht mehr
ignorieren, daß es sich um einen großen, allenthalben akzeptierten Komponisten
handelt – um ihn dann in eindrucksvoller Weise für sich zu entdecken.
Gerade bei Musik, die ihm zunächst fernstand, zeigt er, was er kann. Dem
jungen Henze will er es in jedem Detail recht machen; die unheimlichen,
scheinbar karajanwidrigen Dimensionen von Mahlers Neunter Sinfonie finden in
ihm einen hochkompetenten Anwalt; und mit Schönbergs Variationen belästigt
er, ohne Hinblick auf eine Aufführung selbst auf Reisen an ihnen arbeitend, das
Orchester monatelang. Daß sie zuweilen gar zu rund und schön daherkommen,
das Thema so wunderbar ausdeklamiert und sich selbst genügend, daß es der
Verarbeitung kaum noch zu bedürfen scheint, taugt als Einwand nicht. Nicht
immer sind Stolpersteine, Brüche und Schrunden Wahrheitszeugen, und mehr
als bei anderen erscheinen adäquate Einlösungen der Partitur bei Schönberg als
Utopie – bezeichnenderweise haben er und seine Freunde ausgiebig bearbeitet,
d.h. unterschiedliche Aspekte zu realisieren versucht. Könnte man bei der ersten
Kammersinfonie Realisiertes gegen Unrealisiertes aufrechnen, käme Weberns
Bearbeitung besser weg als das Original, erst recht besser als Schönbergs Fassung
für großes Orchester.
Triumph der Machbarkeit – die Aufnahmen sind grandios und sollten Karajan-
Hassern zu bedenken geben, wie sehr wir in Musik hineinhören, was wir hören
wollen – u.a., was uns an der Hochglanzästhetik mißfällt. Und die Gegenfrage
liegt nahe, ob hier nicht eine – von ihm zu selten akzeptierte – Herausforderung
des Fremden stimulierend gewirkt habe. Immerhin haben wir es mit einem
dezidierten Pragmatiker zu tun, der den Verdacht nährte, kein Problematisierer
und Analytiker, auf höchstem Niveau wenig originell zu sein und Profil eher
dort zu zeigen, wo die Herausforderungen konkret werden – fast immer in
Opern; wenn er, wie in der Londoner Beethoven-Serie, sich gegen Furtwängler
definiert; oder wenn er gegen Schmerzen und Hinfälligkeit kämpft. »He does
not appear to ›interpret‹ the music. He simply plays the notes. It is a kind of
black magic«, formulierte bewundernd Carlos Kleiber. Da es so war, wird das
Rätsel nur größer, müßten uns die direkt von Person und ästhetischem Credo
zu interpretatorischen Eindrücken gezogenen Linien und wir selbst uns allzu
subjektiver Hineinhörerei verdächtig werden.
Konkreter denn als »Dirigent des Wirtschaftswunders« (Adorno) könnte Ka-
rajan als Statthalter der philosophisch skandalisierten »Machbarkeit der Sachen«
beschrieben werden – trotz vermißter Spiritualität kaum ein Makel, da er sich
ausdrücklich als »Macher« bekannte und als solcher mehr erreichte, als die Cha-
172 Könner, Macher, Sphinx und Showstar: Herbert von Karajan

rakterisierung erlaubt – zwischen Weberns Opus 21 und der Lustigen Witwe fast
alles. Am ehesten entzog sich ihm Musik, für die man, um dies zu begründen,
die nichtästhetische Kategorie »machtfremd« benutzen möchte – Haydn, Mozart,
Schubert; sie will nicht überwältigen, und das wollte Karajan allemal.
Machbarkeit wird allerdings, wenn sie die Illusion der Vollendbarkeit begün-
stigt, zum Menetekel im Hinblick auf die Fetischisierung der Klangaufzeichnung,
auf Karajans – eine Contradictio in adiecto – verdinglicht-zeitlosen Begriff von
klingender Musik. Wo hatte sie ihren eigentlichen, ganz ihr gemäßen Ort? So
kann er nicht gefragt haben, sonst hätte er nicht etliches einspielen können, was
er im Konzert kaum je oder gar nicht dirigiert hat; hätte nach dem Londoner
Rosenkavalier nicht noch einen zweiten aufnehmen sollen; hätte Einspielungen
von Beethoven, Brahms, Bruckner oder Strauss nicht so oft wiederholen dür-
fen; hätte sich fragen müssen, ob Schumanns zweite und dritte, Tschaikowskys
erste bis dritte oder Nielsens vierte Sinfonien nicht Kollegen überlassen bleiben
sollten, die sie oft dirigiert haben. Wenngleich der Tribut an die Vollständigkeit
nie lieblos absolviert erscheint wie u.a. von Böhm bei etlichen Mozart-Sinfo-
nien, ist der Qualitätsunterschied zwischen konzerterprobten und unerprobten
Stücken dennoch oft eklatant. Karajan und sein Orchester unterschritten ein
bestimmtes gediegenes Niveau nie – und verdrängten so, wie zuvor die Erfolge
der Londoner Philharmonia-Produktionen, die Problematik des Surrogats, der
eingesargten, tiefgefrorenen, um Hier und Jetzt und riskante Lebendigkeit be-
trogenen Musik.
Die vieldiskutierte Fragestellung müßte nicht neu aufgewärmt, die von Ka-
rajan-Einspielungen vermittelten Erlebnisse nicht einstweilen beiseitegeschoben
werden, wären, die Normalität umkehrend, unverrückbare Fixierung und Studio
nicht als eigentlicher Flucht- und Zielpunkt seines Musizierens verdächtig und
demgemäß das Konzert am Abend als Vorübung. Wenn es die wenigen Augen-
blicke »wahrer Musik« gibt, die nach Meinung des Karajan-Hassers Celibidache
einen Konzertabend und acht Proben allemal rechtfertigen, dann nur als Augen-
blicke, in denen schlichtweg alles stimmt – auch das kommunikative, produktive
Mitschwingen des Auditoriums. Jeder Musiker weiß, daß hundertmal gespielte
Musik beim hundertundersten Mal, zu anderer Zeit, in einem anderen Saal eine
andere, auf andere Weise authentisch ist und er sie neu erfährt. Hierfür scheint in
Karajans positivistisch festschreibender Machbarkeitsideologie kein Platz, sie hält
dazu an, die Aufführung bzw. Einspielung nicht als Unterwegsstation, sondern
als endgültige Ankunft zu verstehen – Karajan demgemäß darauf angewiesen,
frühere Aufnahmen als durch die jüngeren überholt anzusehen. Schwer begreif-
lich bei einem Charismatiker, dem es nicht schwerfiel, die besten Orchester und
größten Säle in Bann zu schlagen! Sollte bei Konzertabenden immer nur das
Zweitwichtigste stattgefunden haben? Daß die Hörer es so nicht empfanden,
widerlegt die Fragestellung nicht.
»Diese Erfindung wird den Seelen der Lernenden viel mehr Vergessenheit
einflößen aus Vernachlässigung der Erinnerung, weil sie im Vertrauen auf die
Könner, Macher, Sphinx und Showstar: Herbert von Karajan 173

Schrift sich nur von außen vermittels fremder Zeichen, nicht aber innerlich sich
selbst und unmittelbar erinnern werden. Nicht also für die Erinnerung, sondern
nur für das Erinnern hast du ein Mittel erfunden, und von der Weisheit bringst du
deinen Lehrlingen nur den Schein bei, nicht die Sache selbst« – das legt Platons
Sokrates (Phaidros 274a) dem ägyptischen König Thamos in den Mund: Man
muß weit ausholen (und möge »Erinnerung« als »Verinnerlichung« verstehen),
um die Dimension des Problems und die Verschärfung zu verdeutlichen, die
die bei Platon erörterte Differenz von mündlicher und schriftlicher Mitteilung
erfährt, da die Klangaufzeichnung anders als Geschriebenes auch die Illusion des
Jetzt, der direkten Mitteilung festhält – nur so geht es bei Musik –, sie aber dem
Risiko des Hier und Jetzt, der Dialogizität und Veränderbarkeit entzieht. Wenn
schon philosophische Weisheit nur im Gespräch, als Rede und Gegenrede, als
kommunizierendes Tun bzw. als Verständigung unter mehreren vermittelbar und
von den Formen der Vermittlung abhängig erscheint, wieviel mehr erst Musik!
Nun soll die Aufnahme nicht mehr die am Konzertabend, gemeinsam mit Spielern
und Hörern erworbenen Musiziererfahrungen zusammenführen, vielmehr soll
im Saal so musiziert werden, als spiele man für die Mikrophone – die Menschen
weit draußen, nicht mehr Partner, sondern Zaungäste, denen das Geschenk
wohlverpackt aus dem Himmel der ästhetischen Transzendenz heruntergereicht
wird. Von zelebrierter Trance und abgewehrter Scheinwerferblendung abgesehen
passen Karajans beim Dirigieren geschlossene Augen hierzu genau.
Daß einer, der sich für seine Berliner Konzerte vertraglich höhere Eintritts-
preise zusichern ließ als für die aller anderen, auch bei nie öffentlich dargebotener
Musik – wie bei Opernregie – meinte, es besser zu können als jeder andere,
bleibt eine traurig-rätselhafte Teilauskunft angesichts der perpetuum-mobilehaften
Geschäftigkeit, des selbstgefertigten Karussels, von dem er – was wäre das für
ein Zeichen gewesen! – nicht abspringen konnte, wahrscheinlich nicht wollen
konnte. Machtbewußtsein mag die Einsicht versperrt haben, daß er nicht nur
Antreiber, sondern auch Getriebener war.
Als plausibelste Antwort befestigt sich die makabre Vermutung, Musik habe
ihm als Medium von Kontaktnahme und Mitteilung nicht viel bedeutet – ma-
kaber, weil einer, der soviel Glück geschenkt hat, nicht darauf angewiesen war,
zu verstehen, was er schenkte, und weil er mit dem kommunikativsten Stoff, den
wir haben, allein bleiben wollte.
174

Günter Wand

Herbst 1995 – ein Fest für Wuppertaler Musikfreunde, als der Sohn der Stadt
Bruckners Fünfte Sinfonie in der renovierten Stadthalle dirigierte.Wenn es Zufall
war, der Werk und Anlaß zusammenbrachte, dann ein beziehungsreicher. Mit
demselben Stück hatte knapp zwanzig Jahre zuvor Wands Schallplattenruhm
eingesetzt, zugleich das, was man »Alterskarriere« nennen dürfte, unterschlüge die
Bezeichnung nicht, daß er zuvor schon drei Jahrzehnte lang ein hoch angesehener,
am Ende schnöde verabschiedeter Gürzenich-Kapellmeister war.
Allerdings einer, der sich den Spielregeln des Musikbetriebes und billiger
publicity verweigerte. Bruckners Fünfte z.B. hatte er lange gemieden, mußte
seinerzeit zu ihr fast überredet werden; später wollte er sie der hochvirtuosen
Chicago Symphony zunächst nicht zutrauen, bevor er die Musiker nicht ken-
nengelernt hätte. »Daß sie die Noten spielen können, daran zweifele ich nicht;
ob sie aber die Sinfonie spielen können, das will ich erst feststellen.«
Damit bestand er auf einem Unterschied, den zu vernachlässigen die hochtou-
rigen, pragmatisch auf Effektivität abgestellten Mechanismen des Musikbetriebs
heftig einladen. Wie selten findet einer wichtig, wie selten wird überhaupt be-
merkt, ob ein Orchester Werke solchen Anspruchs nicht nur klingend umsetzen,
sondern in ihnen eingelebt, eingewohnt, sie aus einerVertrautheit mit dem Ganzen
musizieren kann, die zu erwerben Zeit braucht? Wand besteht auf Probezeiten,
welche Veranstaltern und gewerkschaftlich Verantwortlichen die Haare zu Berge
stehen lassen; »je besser das Orchester, desto mehr Proben brauche ich« (Celibi-
dache) – das könnte auch er gesagt haben. Deshalb verzichtet er gegebenenfalls
auf verlockende Angebote; deshalb finden sein Dialog mit den Partituren der
Meisterwerke und das Ungenüge mit jeweils Erreichtem kein Ende, nicht ge-
rechnet minutiöse Einrichtungen des Orchestermaterials im Sinne der aus der
Partitur herausgelesenen Intentionen – ein Unbequemer, Unangepaßter also
und in der grimmigen Verachtung derer, denen Verdienen über Dienen geht,
ein zorniger Prophet der Sorte, die der Musikbetrieb nötig hat und sich auch
leistet, weil er Exoten braucht und ihr Alter sicher erscheinen läßt, daß man sie
bald loswird.
Der Begriff »Alterskarriere«, welcher Wands Wirksamkeit seit den späteren,
mehrmals wiederholten Bruckner-Einspielungen und dem Engagement beim
NDR-Sinfonieorchester begleitet, erscheint nicht nur angesichts der vorange-
gangenen Tätigkeit unangebracht, sondern beleidigend, weil Maßgaben einer
Karriere ihm stets fernlagen. Die Musikwelt hatte genug Zeit, zur Kenntnis zu
nehmen, daß mit dem 1912 in Elberfeld Geborenen fast dreißig Jahre lang in
Köln ein Musiker ersten Ranges amtierte und höchste Maßstäbe setzte – in der
Qualität seiner Arbeit ebenso wie in Programmkonzeptionen, welche auf infor-
matives, lebendiges Miteinander älterer und zeitgenössischer Musik ausgingen.
Günter Wand 175

Wie viele Uraufführungen hat er betreut, wie viele bedeutende Komponisten,


vorab Bernd Alois Zimmermann, zu Freunden gehabt!
Dabei war es nicht nur der kantianisch strenge Begriff von Verantwortung,
der ihn sein Konzept verfolgen ließ – nach dem Kriege nicht zuletzt in Über-
einstimmung mit einem Klima des Aufbruchs, das der Auseinandersetzung mit
ungewohnter Musik günstig und weitab war von bequemer Kulturbesitzer-
Ideologie, die genau das veruntreut, dessen sie sich berühmt: Die Werke sollen
»Mühe machen« (Brecht). Darüber hinaus waren es wechselseitige Anregungen
beim Musizieren älterer und jüngerer Musik, das Gespräch zwischen den Großen
der Vergangenheit und den Zeitgenossen, das Wand inspirierte und noch spür-
bar bleibt, da der Anteil der letzteren sich bei ihm verringert hat. Insoweit ist er
der moderne, leidenschaftlich sachliche Dirigent geblieben, welcher Strukturen
ergründet, aufhellt und verdeutlicht, von subjektiver Zutat, Aura etc. wenig hält
und bei Beethoven, Brahms und Bruckner Disziplinierungen mitsprechen läßt,
welche eher von Schönbergs Gnaden sind.
Leidenschaftlich sachlich – sofern das als Widerspruch erscheint, löst Wand
ihn dank einer unbequemen, bohrenden Intensität, die das kleinste Detail ernst-
nimmt und ins Ganze einbindet und noch die Verve der Selbstkontrolle, etwa
in der Geradlinigkeit der Temponahme, im musizierenden Zugriff verankert.
Nichts bleibt da gleichgültig; weil Wand den Furor der Genauigkeit mit musi-
kantischem Furor zusammenzwingt, bleibt wenig – intentional kein – Dissens
zwischen kontrollierendem Vorbedacht und treibender Spontaneität. Das Finale
von Bruckners Fünfter Sinfonie erscheint hier als einzigartiger Prüfstand, auch,
weil Wand sich zu direkt, zu konkret auf Werk bzw. Textur verpflichtet fühlt, als
daß er viel übrig haben könnte für spekuliertes, ihm offenbar ablenkungsver-
dächtiges Drumherum.
Das hat nicht wenig zu tun mit der ihm eigenen Glaubwürdigkeit und Lau-
terkeit. Was er nicht auf tief eigene, existentielle Weise beglaubigen, womit er
sich nicht »innigst identisch machen« kann, das dirigiert er nicht. Zimmermann
übrigens war es, der ihm u.a. zu Bruckners Fünfter zugeredet hatte; das hat nicht
verhindert, daß die Freundschaft zerbrach, weil Wand zu Zimmermanns späteren
Kompositionen keinen Zugang fand; da blieb kein vermittelnder Zwischenraum,
der das eine mithilfe des anderen zu tolerieren erlaubt hätte – entsprechend kann
er auch auf sachbezogene Abweichungen bzw. Fehlleistungen empfindlich bis
beleidigt reagieren. Immerhin blieb Zimmermanns Erste Sinfonie weiterhin auf
seinen Programmen.
Daß sich ein erfahrener, renommierter Dirigent zu Bruckners Fünfter zureden
lassen muß und zu Schuberts großer C-Dur-Sinfonie sich erst als Sechzigjähriger
entschließt, liegt im Zeitalter des perfektionistischen catch as catch can nahezu
außerhalb des Vorstellbaren und war auch früher die Ausnahme.Wenn Wand sich
dirigierend bekennt – und Bekenntnis, ohne alles bekennerische Pathos, ist es
allemal –, dann mit einer Glaubwürdigkeit, welche u.a. bei Mozart ohne ausdrück-
lichen Hinblick auf historische Aufführungspraxis auskommt, bei Beethoven ohne
176 Günter Wand

dogmatische Befolgung der Metronomangaben etc. Ohnehin musiziert Wand


mit aufklärerischer, allem Ungefähr und genießerischen Abwegen mißtrauen-
der Zügigkeit, welche Beethovens Angaben nahekommt. Derselbe aufhellende
Durchblick entzieht seinen Bruckner dem Dämmerlicht bigotter a priori-Ka-
tholizität, bringt ihn auf »protestantische« Weise zum Leuchten. Authentisch – das
läßt sich bei solcher Konturierung eindrucksvoll erleben – wird Musizieren nicht
kraft einseitiger Bezugnahme auf die Positivität des Textes, sondern in der nie
endgültig auflösbaren Spannung zwischen der Textur und den Umständen ihrer
klingenden Realisierung – welche ihrerseits der Dialektik zwischen Interpretation
und deren Entgegennahme durch die Hörenden ausgesetzt ist.
Als Entschuldigungsgründe indessen läßt Wand derlei wechselseitige Abhän-
gigkeiten nicht gelten – darin ähnelt er Bülow, Mahler, Toscanini, Klemperer,
unter den Jüngeren u.a. Gielen. Im Zeichen eines »So und nicht anders« scheut
er denVerdacht der Rechthaberei ebensowenig wie Ungerechtigkeiten gegenüber
Kollegen, von denen er sich unterscheiden will. Jochums Bruckner sieht er weiter
von seinem entfernt, als er ist; daß auch er – u.a. in der Sechsten Sinfonie – Tempi
wechselt, wo entsprechende Anweisungen von Bruckner fehlen, gibt er nicht
gern zu. Auf einem Berufsweg wie dem des Dirigenten, welcher allemal von
Einladungen zu Kompromissen gesäumt ist, hat derlei Unbeirrbarkeit ihren Preis
– gar in einer Beliebigkeitskultur, in der die aufklärerische Fackel ebensowohl
ästhetischer und moralischer Ansprüche nur schwächlich leuchtet.
Sicherlich fände Günther Wand, wenn er dies läse, den panegyrischen Tonfall
unangebracht. Als wir nach dem Wuppertaler Konzert zusammensaßen, über
Bruckner und Orchester, Politik und Dirigieren, Gott und Welt redeten, erin-
nerten wir uns der ersten Begegnung im Dezember 1982 in Hamburg, ebenfalls
nach einer Bruckner-Aufführung – ich damals auf einer Tournee mit der Wei-
marischen Staatskapelle, politisch unter Druck und von etlichen Teilnehmern
der abendlichen Runde gedrängt, den Weggang aus der DDR zu erwägen.
Wand widersprach heftig, ohne meine Situation genau zu kennen, und befahl,
auf meinem Posten auszuharren; am Ende konnte ich nicht gehorchen. Das hat
die Hochachtung vor seiner Ethik des Standhaltens nur gesteigert, für die er als
junger Kapellmeister unter den Nazis selbst ein Beispiel gegeben hatte, die ich
in seinem Musizieren allenthalben wiederfinde.
177

Gelebte, erlittene Musik


Zum Tode von Carlos Kleiber

Dieser Tod hat eine Lücke gerissen, die sich nicht schließen lassen wird. Die
Formulierung klingt euphemistisch und nachruf-üblich, weil Carlos Kleiber
sich seit Jahren rar gemacht hat, es diese Lücke also längst gab.Von prinzipieller
Verweigerung war das nicht weit entfernt; kein anderer Dirigent hätte fast jede
Spitzenposition haben können und hat sie dennoch nicht gewollt; noch die
Umstände der Beerdigung bestätigen die Verweigerung – weitab in einer ost-
slowenischen Kleinstadt mit verspäteter Unterrichtung der Öffentlichkeit.
Wenn irgendein Dirigent nach Leonard Bernsteins Tod genial genannt werden
durfte, dann Kleiber; daß die Musikwelt sich darin weitgehend einig war, verweist
auf die besondere Problematik jener Lücke: Seine exzentrische Persönlichkeit
hat es leicht gemacht, als vornehmlich individuell bedingt zu verkleinern, was
eher ein historisch dimensionierter Sachverhalt sein dürfte – die Bewahrung
eines aufs Ganze gehenden, »fundamentalistischen« Identifikationsanspruchs,
wie insbesondere Gustav Mahler und Wilhelm Furtwängler ihn vertraten. Seine
Schrumpfform, die déformation professionnelle selbstherrlicher Rechthaberei,
lag Kleiber meilenfern; er konnte es sich leisten, die Musiker in eigene Unsi-
cherheiten einzubeziehen.
Mahler und Furtwängler verstanden sich als eher durch äußere Zwänge zum
Dirigieren gedrängt und, unterschiedlich berechtigt, in erster Linie als Kompo-
nisten – auch und gerade, wenn sie rekomponierend dirigierten; Schaffen und
Nachschaffen zu unterscheiden lag ihnen fern. So letzten Endes auch Kleiber;
nur komponierte er außer in seiner Jugend nicht und zog sich zunehmend auf
kaum mehr als ein Zehntel von deren Repertoire zurück.Wie sehr er die Veren-
gung als Risiko und Defizit empfand, zeigte seine rückhaltlose Bewunderung für
Kollegen, die mit großen Repertoires umgingen. Er hat ausdauernd in Karajans
Salzburger Ring-Proben gesessen und ist einem über dessen Hochglanz-Ästhetik
lästernden Tonmeister barsch über den Mund gefahren.
So geschehen während der Tristan-Einspielung in Dresden, bei der ich
– manchmal musikalisch, öfter in schwierigen Situationen vermittelnd – assi-
stierte und sich zwischen uns ein Spontankontakt entwickelte.Von Freundschaft
zu reden, trotz etlicher bis in die letzten Jahre hinein ausgetauschter Kurzbot-
schaften, erscheint mir unangemessen, weil Stetigkeit seine Sache nicht war und
ironisch abwimmelnde Höflichkeiten wie die gravitätische Briefanrede »verehrter
Maestro« eher eine Notwehrmaßnahme. Dem stand eine denkbar unbefangene
Direktheit der Mitteilungen gegenüber: daß er »eigentlich ein Kitschier« sei;
daß die Oboe in der Durchführung des ersten Satzes von Brahms’ Zweiter ihn
»besides myself« geraten lasse; daß ich – Antwort auf die Zusendung von Es-
178 Gelebte, erlittene Musik

says über Bruckner und Brahms – schleunigst »über alle wichtigen Sinfonien«
schreiben müsse; daß ich – nach Hinweisen auf fehlerhafte Überlieferungen in
Beethovens Pastorale hatte er mich bei einemVersehen ertappt – nicht leichtfertig
mit den Texten umgehen solle wie »alle die theoretischen Klugscheißer«; daß in
einer Anfrage um Zuspruch für protestierende Studenten das Wort »politisch«
vorgekommen sei und damit jede Diskussion sich erübrige (ein Privatkonzert
für Leo Kirch war also unpolitisch); daß ich, Tristan dirigierend, »nur keine
Selbstverwirklichung« betreiben solle; daß Bayerns Ludwig normaler gewesen
sei als wir alle zusammen. Nach der Fernsehübertragung eines seiner Konzerte
schrieb ich ihm, er müsse öfter in Erscheinung treten, weil unser pragmatisierter
Musikbetrieb seiner als des kompensierenden Wahrheitszeugen bedürfe; daraufhin
kam eine Postkarte mit zwei unappetitlich verklammerten Sumo-Ringern – auf
den einen Bauch hatte er »C.K.« geschrieben, auf den anderen »Orchester«, und
darunter: »Wollen Sie das??«
Das war ungerecht. Bei den Orchestern hatte C. K. mehr Kredit als fast
jeder andere, die Berliner, Dresdner, Münchner, Wiener und andere Musiker
gingen in einer Mischung von schwärmerischer Anhänglichkeit, furchtsamer
Sensibilität und nachsichtigem Humor mit ihm eher wie mit einem launischen
Wunderkind um; nicht weniger galt das für Sänger, Regisseure, Tonmeister etc.
»Das klingt sooo häßlich«, mit leidensverzerrter Miene, nachdem er eine süffige
Rosenkavalier-Passage abgebrochen hat, oder »meine Herren, für jeden Tag habe
ich einen Rückflug gebucht« bei der Begrüßung zur ersten Probe – das hätten
Spitzenorchester keinem anderen durchgehen lassen. Für das Ereignis Kleiber
war man viel zuzugestehen bereit, immer auf die Gefahr hin, daß er das, oft
nahe bei Verfolgungswahn, als Hinterlist ansah. »Launisch« erscheint insofern
als Verkleinerung, als er mit ungeheurem Risiko und stets letztem Einsatz musi-
zierte – dies vor allem hat ihm jenen Kredit verschafft.
Kleiber lebte die Musik; er wollte und konnte keinen Ton zum Klingen
bringen nur, weil er als Note geschrieben steht. Wenn er – nicht selten – vor
den Orchestern plötzlich meinte, er wisse nicht, wie man das dirigieren soll, war
das die blanke Wahrheit des Augenblicks, nicht, wie beflissene Profis meinten,
»Schau«, sondern Zeugnis einer eher mystischen, im japanischen Zen geübten
Kongruenz von Erfüllung und unbewaffneter, jeder rational-pragmatischen
Stützung entledigter Absichtslosigkeit. In Dresden war nach zwei mit knapper
Not reparierten Krächen der dritte auch deshalb nicht zu reparieren, weil er in
der großen Tristan-Szene am Beginn des dritten Aktes passierte und Kleiber, von
Ärgereien mit dem ekstatisch hochgeputschten 5/4-Takt abgesehen, den gegen
sich und die Welt wütenden Tristan nicht nur dirigierte, sondern dieser selbst
war und von der Identifizierung nicht herunterkam. Weil er sich auf jene Kon-
gruenz angewiesen fühlte, waren beim jähen Abschied von Dresden längst nicht
alle Passagen »gestorben«, fast alle wenigstens vom Anspiel im Kasten. Nachdem
wir das Material drei Jahre später in Hannover durchgehört, zusammengesetzt
und Kleiber, seine Ungeduld und Ermüdung benutzend, zur Freigabe überredet
Gelebte, erlittene Musik 179

hatten, sagte er zu mir, da ich ihn zum Taxi brachte: »Sie haben mich heute zum
unglücklichsten Mann der Welt gemacht.«
Gelebte Musik – das betraf nicht weniger als den die Wunden aufreißenden
Tristan jene Momente wunderbarer Gelöstheit, welche jeden spüren ließen, wie
Kleiber die Musik durch sich hindurchströmen fühlte und beredte Klang-Epi-
phanien herbeizauberte, welche nichts zu tun hatten mit beschönigender Politur;
nicht weniger die deklamative Wahrnehmung vermeintlicher Nebenstimmen, die
Aktivierung hilfreicher Assoziationen weitab vom Purismus »tönend bewegter
Formen« als die hinreißende Naivität, mit der er die Klamaukszene am Beginn
des dritten Rosenkavalier-Aktes aufmischen und die kindlichen Späße des Wiener
Neujahrskonzertes zelebrieren konnte. Es betraf – anders als etliche, die sich auf
halb soviel Temperament zehnmal so sehr verlassen – die akribische Lektüre der
Texte; die in Ljubljana liegende Stichkopie der Pastorale z.B. oder die Quellen
zu Brahms’ Vierter Sinfonie hat er eingehend studiert, über die Problematik so-
genannter Urtexte viel nachgedacht; Herausgeber hätten in ihm einen idealen,
freilich ungeduldigen Partner gehabt.
Exzentrizitäten, Unberechenbarkeiten, Verletzungen und das »Himmelhoch
jauchzend, zu Tode betrübt« waren die obligate Begleitmusik seiner Wirksamkeit
– zu sehr, als daß über Hintergründe nicht gerätselt und geredet worden wäre.
Nun erst recht, da er begraben liegt, muß man fragen, ob er statt auf zudringliche
Recherche nicht auf Diskretion Anspruch habe in Dingen, mit denen er nicht
zurechtkam, mit denen peripheres Geschwätz stets leicht und auf falsche Weise
zurechtkommt. Leider ein verspäteter Respekt: Physiognomische Ähnlichkeit
und das schikanöse Verhalten Erich Kleibers haben die einschlägigen Spatzen
früh von den Dächern pfeifen lassen, daß Carlos nicht dessen, sondern der Sohn
Alban Bergs sei. Dazu paßt die seltsame Weise, das Über-Ich Erich Kleiber abzu-
arbeiten: Fast ausnahmslos ist dessen Name in besonderer Weise mit den Werken
verbunden, auf die Carlos sich zunehmend konzentrierte.
Gäbe es noch irgendetwas zu veruntreuen, hätten diese Vermutungen hier
nichts zu suchen; niedergeschrieben mögen sie helfen, den Ruch der vielsagend
beschwiegenen Peinlichkeit zu tilgen. Überdies helfen sie, die Eindringlichkeit
seines Musizierens auch als Ringen um die eigene Identität zu verstehen, weniger
als Siegfried-Frage, woher er komme, denn – angefangen bei der Erich Kleiber
abgetrotzten Musiker-Karriere – als Frage, wieviel Herkunft ihm gestattet sei,
man könnte auch sagen: als Versuch, beim Dirigenten-Vater anzukommen, da
es den anderen nicht geben durfte; oder auch: beide zugleich zu haben. Was be-
deutet es für einen hochsensiblen, hochbegabten Mann, zunächst als Sohn eines
prominenten Vaters definiert zu sein, und überdies des falschen?
Oben wurde die belastete Kategorie »Fundamentalismus« bemüht. Bezeichnet
sie neben Gefahren nicht auch ein Defizit? Ermutigt das vielgesungene Lob von
Liberalität, Polytheismus, Pluralismus etc. nicht auch zu einer Verwöhnungs- und
Beliebigkeitskultur, innerhalb deren Toleranz wenig kostet, weil virtuell alles
zu haben und nichts mehr erstwichtig, keine bis zum existenziellen Ernstfall
180 Gelebte, erlittene Musik

vorgetriebene Identifikation mehr vonnöten ist? In dieser Problematik steht


der Exzentriker Carlos Kleiber zentral, wird der vermeintliche Sonderfall zum
Wahrheitszeugen: Weil in ihm sich bündelt, was uns zunehmend fehlt; weil er
erkennen hilft, wo keine Beliebigkeit mehr erlaubt sein dürfte, sofern wir eine
definitionsfähige Identität nicht verspielen, im lauwarmen Ozean des »anything
goes«, in der Entropie einer Flachkultur nicht ertrinken wollen. »Jetzt weiß ich,
wie die frühen Christen ins Martyrium gingen«, sagte ein Dresdner Geiger nach
einer Tristan-Probe. Das möge mitempfunden und -bedacht bleiben, wann und
wo immer das wunderbare Geschenk seines Musizierens nachklingt.
181

Die Verjährung der Meisterwerke


Überlegungen zu einer Theorie der musikalischen Interpretation

Seitdem Justus Thibaut die altitalienische Vokalpolyphonie neu entdeckte und


Mendelssohn die Matthäuspassion aufführte, ist unserem Musikleben immer
mehr eine Funktion zugewachsen, die es vordem nicht kannte, diejenige eines
Sachwalters des geschichtlichen Erbes. Vielerlei trug zu der Erschließung der
musikalischen Vergangenheit, die seit anderthalb Jahrhunderten im Gange ist,
bei: Nicht der geringste Antrieb war das Bewußtsein, daß an den Alten etwas
gutzumachen, daß ausgleichende Gerechtigkeit zu üben sei. So entstand eine
alexandrinische Bibliothek der Musik, deren Bestände rapid anwachsen, besonders,
seitdem die Forschung auch die fernere Vergangenheit erfaßt und die modernen
Mittel der Konservierung den Klang, die sinnliche Unmittelbarkeit der Musik
fixieren. Es scheint heute fast so, als könnten wir uns demiurgengleich über Welt
und Geschichte erheben und alles je Geschaffene überblicken, ja, noch mehr: Da
die historischen Kategorien von uns geschaffen wurden, ordnet sich alles auf uns
hin, und die Synopsis, die wir genießen, könnte fast als der nun erst offenbare
Sinn des Geschehenen erscheinen.
Natürlich trügt dieser Schein. Niemand glaubt, daß ein Perotinsches Organum,
heute aufgeführt, sich in Sinn und Zweck vollkommener erfülle und richtiger
angehört werde als um 1200 in Notre Dame. Ähnliches gilt auch für jüngere
Werke. Spätestens aber bei Bach und Händel ließe sich der Musikfreund seine
Zuständigkeit nicht bestreiten.
Hier stehen wir an einer Grenze: Demjenigen, was vorangeht (oft unglücklich
als »historische Musik« bezeichnet), wird Vergänglichkeit, wird historische Dia-
lektik zugestanden, auch, insofern sie bewirkte, daß die ästhetischen Werte schwer
rezipierbar wurden. Im gleichen Maße, in dem die Unmittelbarkeit des Zugangs
in diesen Werken schwindet, tritt die Geschichtsschreibung in ihre Rechte, und
immer ausschließlicher setzt uns nur historische Kenntnis in ein Verhältnis zu
ihnen – nicht zu vergessen freilich, daß auch die Aura von Entfernung,Versun-
kenheit und vorweltlicher Unschuld einen Reiz darstellt und dem Hörer (wie
schon E. T. A. Hoffmann) eine wenn auch fragwürdige emotionale Brücke bauen
kann. In diesem Sinne sind die Werke Palestrinas ihren ersten Entdeckern wie
eine Welt vor dem Sündenfalle erschienen.
Indem man jener Musik den Rang in sich ausgereifter Kunst zugestand, voll-
zog man etwas von Rankes Erkenntnis, daß jede Epoche unmittelbar zu Gott
sei, mißdeutete diese zugleich aber, indem man den Reiz des Naiven, Unver-
bildeten wenn nicht Primitiven goutierte und damit unterstellte, daß die Musik
inzwischen sich zum Vollkommenen hin entwickelt, wenn vielleicht auch ihre
182 Die Verjährung der Meisterwerke

edle Einfalt verloren habe. So entstand jene Grenze, die die »historische« von
der lebendigen Musik trennt.
Vielerlei Faktoren haben bewirkt, daß die Musik zwischen Bach und Wagner
als ein einmaliger, unwiederholbarer Glücksfall erscheint, als ein Gipfelpunkt,
der jede Verabsolutierung erlaubte, sowohl diejenige, daß sie das Ziel einer jahr-
hundertelangen Entwicklung sei, wie auch die, daß es solcher Musik gegeben
sein werde, ewig zu dauern.
Diese Kanonisierung erscheint so wünschenswert, daß jeder Einwand gegen
sie sich auf ihr Objekt zu richten scheint anstatt auf sie selbst und sich ein fauler
Begriff von Tradition bildete, der eine unredliche Apologie der Meisterwerke
mit diesen ineins setzt und die historische Perspektive, deren man sich beim
Blick auf alles Frühere bewußt ist, leugnen will. Die Widersprüche verlagern sich
dabei vom historischen ins ästhetische Feld, das »Ewige« und das »Zeitgebunde-
ne« werden betrachtet, als könne man sie säuberlich voneinander trennen. Die
schärfsten Formulierungen dieser Kunstideologie finden sich bei Furtwängler:
»Nur jene große, ewige Musik, die ich als Musik ersten Ranges bezeichnet habe,
erschöpft sich nicht. Sie gibt allem unseren Musizieren … seinen eigentlichen
Sinn«, formulierte er kurz vor seinem Tode.1 Eine ästhetische Detaillierung des
Gedankens versucht er, indem er vom »Kunstwerk« die »Materie« schied als
»nicht das, was ein Künstler sagt, sondern das Mittel, durch das er es sagt, die
Art, wie er es sagt«.2
Über solche pauschalen Definitionen geht er kaum hinaus, erörtert das Wech-
selverhältnis beider, die Grundlage einer solchen Nomenklatur gar nicht, kommt
aber zu dem Schluß: »Die Materie – ganz im Gegensatz zum Kunstwerk selber,
– hat nämlich die Eigenheit, im Laufe der Zeit an Kraft zu verlieren.«3
Hier scheint es geboten, Mißdeutungen zu begegnen.Wir haben allen Grund,
die Kraft jenes Dogmas von den Ewigkeitswerten großer Musik, das wir attak-
kieren, zu bestaunen: Es hat die Arbeit ganzer Generationen von Musikern und
Forschern beflügelt – Namen wie Hugo Riemann, Ernst Kurth, August Halm
oder Heinrich Schenker wären ebenso zu nennen wie Casals, Furtwängler oder
Bruno Walter. Dies aber enthebt uns nicht der Frage, ob die Meisterwerke dadurch
gerettet würden, daß man alle historische Dialektik von ihnen abhält. Wenn in
einem Liede oder einem Streichquartett von Schubert nach einer Moll-Partie
plötzlich das Dur aufleuchtet, ist das nun »Kunstwerk« oder »Materie«? Besser
zu fragen: Wird jenes plötzliche versöhnliche Aufleuchten kraft seiner Verwur-
zelung in der Form stark genug sein, auch denjenigen das hier Einmalige und
Unerhörte des Vorganges fühlen zu lassen, der diese Kunstmittel als Requisit
und der die Tonsprache des Dur-Moll-Systems nur noch als eines von vielen
Idiomen kennt und hört? Allgemeiner heißt die Frage, ob das große Kunstwerk

1 In einem Interview mit Karla Höcker, Die Neue Zeitung, November 1953.
2 W. Furtwängler, Gespräche über Musik, Zürich 1947, S. 82/83.
3 A.a.O.
Die Verjährung der Meisterwerke 183

fähig sei, die Mittel, deren es sich bedient, dergestalt zu integrieren, daß sie die
Unmittelbarkeit ihrer Wirkung allerVergänglichkeit zum Trotz bewahren, daß sie,
gleichsam in einen Bernstein eingeschlossen, jeglicher Veränderung widerstehen
– eine Frage, gestellt wie verneint.

✵✵✵

Der Schreiber dieser Zeilen stand unlängst vor der für einen Kapellmeister nicht
außergewöhnlichen Aufgabe, Schuberts Unvollendete aufzuführen.Aufschlußreich,
daß es eines eingehenden Stilvergleichs bedarf, um das Schroffe, Kompromißlose
dieses populären Werkes zu erkennen und zu definieren. Für den Hörer von heute
verschmolzen in irrtümlicher Gleichsetzung das scheinbar Unkomplizierte der
Tonsprache und die Aussage des Werkes in eins, und so entstand in derVorstellung
von ländlerisch sich wiegenden Themen und einer Zugabe dezenter Wehmut
ein von Grund auf falscher Begriff. In Wahrheit gehört es zum Härtesten, zum
Unbarmherzigsten, was die Wiener Klassik hervorgebracht hat; es gibt wenige
Werke aus jener Periode, in denen alles Polster, alle Vermittlung so völlig fehlte
und die Idee des Stückes so konsequent und nahezu abstrakt hervorträte wie
hier. Dem berühmten zweiten Thema zum Beispiel wird keine Fortsetzung
gegönnt, kein versöhnliches Fortspinnen, kein sorgsames Einweben in die Faktur
des Ganzen; vielmehr verstummt es jäh4, und in die Generalpause, zu der die
Musik erstarrt, bricht das harte Forte des Tutti ein. Dem Zuhörer von heute
kann man die Intention dieser Stelle schlechterdings nicht mehr nahebringen;
er kann die Brutalität, die sich hier Platz schafft und, unvorbereitet eintretend,
alles formale Herkommen sprengt, nicht mehr nachempfinden. Einmal kennt er
das Werk, und schon die Gewißheit, wie es weitergehe, schont ihn, weil sie ihm
den Schock des Unerwarteten erspart, der hier komponiert wurde; zweitens hat
das einbrechende c-Moll (in einem h-Moll-Stück!) längst seinen Stellenwert.
Das ungebändigt Gedachte wurde im Nachhinein von der musikgeschichtlichen
Erfahrung doch gebändigt. Man müßte etwa einen Zwölftonakkord aus dem
Apogäum vom Lutoslawskis Trauermusik einsetzen, um heute der Wirkung nahe-
zukommen, die Schubert beabsichtigt hat und gewiß erzielt hätte, wäre das Werk
zu seinen Lebzeiten aufgeführt worden. Endlich haben die Dirigenten selbst
zur Verfälschung beigetragen, indem sie der romantischen Tradition biegsamen
Musizierens bequem folgten und das Thema mit dem Gestus versöhnlicher Ver-
bindlichkeit retardierend in ein nun zu erwartendes Schweigen hineingeleiteten,
als sei dies die freundlichste Sache der Welt und nicht das jähe Verstummen im
Angesicht des Grauens.
Entsprechendes ließe sich an jeder qualitativ exponierten Komposition der
Wiener Klassik mit dem gleichen Ergebnis zeigen: Die Werke sind zutraulich

4 Takt 62, analog Takt 280.


184 Die Verjährung der Meisterwerke

und zutunlich geworden; die aus revolutionären Akten schöpferischer Freiheit


geborenen Geschöpfe leben heute friedlich mit uns als Haustiere unseres täg-
lichen Umganges.
Wir haben uns hier des Vorwurfs zu erwehren, daß unser Begriff vom Mei-
sterwerk allzu radikal gefaßt sei – ein Vorwurf, der fälschlicherweise vom Mei-
sterlichen als einem Normhaften und Approbierten ausgeht und das, was heute
geworden ist, mit dem gleichsetzt, was einst war. Die unverfänglichsten Zeugen
für die Wirkung großer Musik sind diejenigen, die sie verkannten. Immer wieder
verraten sie, daß ihnen die Anerkennung eines Meisterwerkes eine Revision ihres
Begriffes von Musik abgenötigt hätte, zu der sie nicht bereit waren. Dies findet
sich schon in Jacobus von Lüttichs Kritik an der Ars nova des Philippe de Vitry.
Die polemische Gleichsetzung der Tradition mit dem »Natürlichen« wird schon
im 17. Jahrhundert in Artusis berühmter Kritik an Monteverdi formuliert: »Die
neuen Regeln sind dem Ohre wenig gefällig, und es kann nicht anders sein. Denn
während sie die guten Vorschriften überschreiten, die teils auf die Erfahrung,
die Mutter aller Lehre sich gründen, teils der Natur abgelauscht und teils durch
den Verstand bewiesen sind, müssen wir dafürhalten, daß sie mißgestaltet und
unnatürlich, dem Wesen der Harmonie entgegen sind …«5
Rezensionen, die Meisterwerke verwarfen, pflegen heute ein besserwisserisches
Amüsement auszulösen. Haydns Quartette haben »einen entschiedenen Hang für
das Schwere und Ungewöhnliche«; Mozart scheint mit seinem Dissonanzenquartett
KV 465 »seine Freude daran zu finden, das verfeinerte Gehör zu martern … es
ist unbegreiflich, wie ein Musiker wie Mozart solche Harmonien schreiben kann
… grobe Fehler … mißlungene Imitationen … unverständliche und ziellose
Dissonanzen, die das Ohr zerreißen …«; im Jahre 1799 warnt ein Rezensent der
Allgemeinen Musikalischen Zeitung Beethoven auf der Hut zu sein, »daß sein Feuer
ihn nicht zu Modulationen und Härten hinreißt, die seine Werke unverständlich,
barock und finster machen«; nicht anders die Musiker: »Als Schuppanzigh das
Rasumowsky-Quartett in F zuerst spielte, lachten sie und waren überzeugt, daß
Beethoven sich einen Spaß machen wollte und es gar nicht das versprochene
Quartett sei«; ein so einfühlsamer Geist wie Grillparzer hängt den »nachteiligen
Wirkungen Beethovens auf die Kunstwelt« nach und begründet dieses u.a. so:
»Durch Beethovens überlyrische Sprünge erweitert sich der Begriff von Ordnung
und Zusammenhang eines musikalischen Stückes so sehr, daß er am Ende für
alles Zusammenfassen zu lose sein wird.«6
Besser sollten diese Zeugnisse als Dokumente einer Erfahrung gewertet wer-
den, die realer, authentischer und auch in der Ablehnung der Intention des Werkes

5 Cit. H. H. Stuckenschmidt, Glanz und Elend der Musikkritik, Berlin 1957, S. 8.


6 Cit. I. Ormay, Sie irrten sich, Herr Kritiker, Leipzig 1967. Im gleichen Sinne vgl. u.a. Schuberts
antibeethovensche Tagebucheintragung vom 16.VI.1816 (O. E. Deutsch, Schubert, Die Dokumente
seines Lebens, S. 45), die nicht so sehr als persönliche Stellungnahme denn als Widerspiegelung
einer gängigen Schulmeinung Gewicht hat.
Die Verjährung der Meisterwerke 185

nahe war, zumal diese Erfahrung heute nicht mehr nachvollzogen werden kann,
es sei denn, man übte jahrelange Askese und ginge zunächst mit Gyrowetz, Hum-
mel, KoÏeluch oder Pleyel um, um dann zu Haydn oder Mozart zurückzukehren.
Da dies kaum möglich ist, weil unser musikalisches Empfinden sich gegen eine
solche Rückverwandlung sperren würde, ist eine Erforschung der Rezeption
der Meisterwerke um so wichtiger. Sie würde insbesondere viel kritisches Ma-
terial gegen die falsche Aura von Werken zeitigen, denen die Nachwelt spezielle
Postamente baute. Diese Aura hat das Bild dieser Werke radikal verändert und
die Art des Zuganges zu ihnen diktatorisch festgelegt; damit beschleunigte sie
die Neutralisierung in besonderem Maße.
Die falsche Heroisierung der Meisterwerke fand eine Stütze in derVorstellung,
daß der große Komponist seiner Zeit im allgemeinen weit voraus sei, was verschie-
dene Aussprüche Beethovens ebenso bestätigen wie Schönbergs merkwürdiger
Wunsch, er möge eines Tages gehört werden wie ein besserer Tschaikowski7.
Diese Vorstellung, sofern man sie generalisiert, ist ein Irrtum. Es ist abwegig,
anzunehmen, daß die tonsprachlichen Kategorien, die Begriffe von Konsonanz
und Dissonanz etc., in denen große Komponisten dachten, grundsätzlich andere
seien als diejenigen ihrer Zeit – als hätten sie ihren Zeitgenossen darum in aller
Unschuld Unzumutbares zugemutet. Auf dem gemeinsamen Bezugspunkte des
Zeitstils fußten sie gerade dann, wenn sie die Position und bestimmte Eigenarten
ihrer Werke aus der Distanz zu ihm bestimmten. Schilderte Haydn das Chaos vor
der Schöpfung, so stellte er die chromatisierenden Mittel als besondere aus; ähnlich
muß auch hinter der Einleitung von Mozarts Dissonanzenquartett eine bestimmte,
sie in ihrer Eigentümlichkeit rechtfertigende Konzeption, möglicherweise die
Darstellung des vor dem Eintritt in die Loge Irrenden, stehen8. Wie deutlich
Schubert die Besonderheit seiner Winterreise empfand, verrät der Kommentar,
dem er seinen Freunden gab. Spaun berichtet: »Schubert war durch einige Zeit
düster gestimmt und schien angegriffen. Auf meine Frage, was in ihm vorgehe,
erwiderte er nur: ›Nun, ihr werdet bald hören und begreifen!‹ Eines Tages sagte
er zu mir: ›Komme heute zu Schober, ich werde euch einen Kranz schauerlicher
Lieder vorsingen. Ich bin begierig zu hören, was ihr dazu sagt. Sie haben mich
mehr angegriffen, als dies je bei anderen Liedern der Fall war.‹ Er sang uns nun
mit bewegter Stimme die ganze Winterreise durch.Wir waren durch die düstere
Stimmung der Lieder ganz verblüfft, und Schober sagte, es habe ihm nur das

7 Brief an Hans Rosbaud vom 12. V.1947, in A. Schönberg, Briefe hrsg. von E. Stein, Mainz 1958,
S. 254 ff.
8 Vgl. J. Chailley, Sur la signification du quator de Mozart K.V. 465, dit »les dissonances«, et du
7ème quator de Beethoven, in: Natalicia Musicologica Knud Jeppesen Septuagenario, Kopenhagen
1962. Probedrucke des Quartettes wurden an den Verleger Artaria zurückgesandt, damit dieser
die Druckfehler verbessern möge.
186 Die Verjährung der Meisterwerke

Lied ›Der Lindenbaum‹ gefallen. Schubert sprach hierauf nur: ›Mir gefallen diese
Lieder mehr als alle und sie werden euch auch noch gefallen.‹«9

✵✵✵

Was sich in den angeführten Beispielen implicite darstellte, ist der Einzug der
Meisterwerke ins musée imaginaire unseres Konzertlebens, ein Vorgang, der auf
die Musikwerke viel eingreifender zurückwirkt als der entsprechende auf dieje-
nigen der bildenden Kunst.10 Das Bild, wo und wie immer es hängen mag, ist in
seiner Materialität vorhanden; Musik aber muß zum Erklingen gebracht werden,
und dies Erklingen ist schon durch dasVerhältnis bestimmt, das die Aufführenden
zu dem Werk haben, ist schon ein Aspekt der Sache und nicht die Sache selbst.
Die »schauerlichen« Lieder der Winterreise, wie sie den Freunden Schuberts im
Jahre 1828 erstmalig in den Ohren klangen, gibt es nicht mehr; im Munde des
Sängers, der auch seinen Brahms und Wolf oder Schönberg und Henze kennt,
sind sie zu anderen geworden.
In seiner Entstehung bezieht sich jedes Werk unmittelbar auf seine musika-
lische Umwelt; gemessen an dieser erscheint es mehr oder weniger oder teilweise
gelungen, beweglich, virtuell noch veränderbar, lebendig und stellt sich als ein
bestimmter Mechanismus von Erfüllungen und Versagungen dar, von eingelösten
oder offenen Versprechen, von enttäuschten oder erfüllten Erwartungen. Als ein
solcher Mechanismus war es gewiß auch konzipiert, als »schaurig«, als »theatra-
lisch«, als »barock und finster«. Gleichgültig, ob dem Autor gelang, was er wollte,
– den Zuhörer erheben, erschüttern, begeistern, gleichgültig, ob der Zuhörer die
Herausforderung annahm oder nicht: Er hat die Komposition musikalisch erfah-
ren in dem realen Sinne, daß er, mit Neuem konfrontiert, zu einer Bereicherung
wenn nicht Erweiterung seines Begriffes von Musik genötigt wurde.
Wird das Werk anerkannt, so schafft es neue Begrenzungen.Was gestern noch
variabel war, setzt sich nun – als integres Ganzes – selbst als Maßstab; es bedarf
des lebendigen, des bestätigenden oder negierenden Bezuges auf die originale
Erfahrungswelt nicht mehr, weil es als Objekt der Erfahrung approbiert wurde
und dies auch von sich aus formt; es versteinert und wird kanonisiert als »voll-
kommen«, wird im buchstäblichen Sinne zum »Begriff«. Seine Erfüllungen und
Versagungen werden als neue Lösungen adaptiert, d.h. in ihrer unmittelbaren
Wirksamkeit allmählich neutralisiert. Jedes neu entstehende Werk befördert diesen
Vorgang und trägt zur Entschärfung des vorangehenden bei. »Nicht als Zeugnis
der ursprünglichen Sicht oder der unverhüllten Wirklichkeit des künstlerischen
Individuums, sondern losgelöst von seinem Erzeuger fügt sich das Werk in den

9 Schubert im Freundeskreis, Leipzig 1951, S. 77; Schubert, Die Dokumente seines Lebens, gesammelt
und erläutert von O. E. Deutsch, Leipzig/Kassel 1964, S. 413.
10 A. Malraux, Psychologie der Kunst I und II, Rowohlts Deutsche Enzyklopädie Bd. 39 und 60,
Hamburg 1957 und 1958.
Die Verjährung der Meisterwerke 187

Chor anderer Werke; befreit auch von der Bestimmung, die ihm der Urheber gab,
gewinnt es seine wahre Bedeutung (besser: seine »neue« Bedeutung – d.Verf.) im
autonomen Universum der Werke, das durch das Hinzukommen immer neuer
Gestaltungen in ständiger Transformation lebt.«11
Bei diesem Vorgang, der so alt ist wie die musikalische Kultur selbst, wäre
jegliches moralisierende Bedauern im Interesse der authentischen künstlerischen
Wirkungen fehl am Platze. Inwiefern es auch neue Zugänge öffnete und durch
die Möglichkeit desVergleichs neue Aspekte der Werke entdeckte, steht hier nicht
zur Debatte. Er mußte um so komplexer werden, je reichhaltiger das Repertoire
wurde und an die Stelle einer stilistisch homogenen Erfahrungsgrundlage, an der
das jeweils Neue sich messen ließ, eine Vielzahl von Meisterwerken trat, deren
unterschiedliche Stile eine einheitliche und ihrer Maßstäbe gewisse musikalische
Fühlweise nicht mehr zuläßt. Unser Musikempfinden ist pluralistisch geworden;
indem es die Fixierung auf ein bestimmtes Stilbild weitgehend einbüßte, mußte
es zugleich an Erfahrungstiefe verlieren. Da wir nicht wissen, was genau unsere
Musik sei, kann unser Musikbegriff nur schwer beleidigt werden; verglichen
mit früheren Uraufführungsskandalen sind die Randalierereien von heute müde
formale Verrichtungen.
Die musikalische Erfahrungswelt des Hörers um 1800 glich einer überschau-
baren Landschaft, an deren Horizontlinie sich die Höhen deutlich abhoben; die
Erfahrungswelt des Hörers von heute gleicht eher einem Karstgebirge, einem un-
verbundenen Nebeneinander eigenwüchsiger Bildungen, in dem kein Horizont
die Höhe eines Gipfels abzulesen ermöglicht. Das Meisterwerk ist nicht länger
der Endpunkt eines Weges, auf dem sich der Hörer ihm nähern und adäquate
Stilkategorien anhand kleinerer, anspruchsloserer Werke zu eigen machen konnte.
Die Erosion der künstlerischen Auslese hat dies Verbindende zwischen den Gip-
feln ausgewaschen, die Klüfte vertieft, und so können die Kategorien des Hörens
nur noch in der respekteinflößenden Gipfelhöhe der Meisterwerke erfahren und
erlernt werden. Auch die alltäglichste I-IV-V-I-Kadenz, die gängigste Rezitativ-
formel per se erhält nun das Odium des Genialen, Inspirierten, Einmaligen. Die
Familiarität, die der Hörer der klassischen Zeit in der Sphäre der Cassationen,
Divertimenti und Serenaden mit bestimmten Stilrequisiten gewonnen hatte, war
auch beim Anhören z.B. eines der späten mozartschen Klavierkonzerte gegen-
wärtig und half, die Eindrücke zu differenzieren und zu ordnen.

✵✵✵

Im Gegensatz zur Komposition hat die Interpretation diese Wandlungen und


damit die Verjährung der Werke als von den Autoren intendierte Wirkungs-
mechanismen kaum zur Kenntnis genommen. Dabei kann sie sich auf dieser

11 W. Hess im enzyklopädischen Stichwort zu A. Malraux a.a.O.


188 Die Verjährung der Meisterwerke

Grundlage am ehesten als eigener ästhetischer Bereich konstituieren; der Ver-


zicht darauf entstammt nicht zuletzt der falschen Bescheidenheit, in der sie
sich bemüht, den moralischen Makel, der ihr seit der Periode unbescheidener
Eigenmächtigkeiten anhaftet, zu verarbeiten und zu verdrängen. Es waren
zunächst romantische Interpreten, die ihre Tätigkeit als eigenschöpferisch aus-
wiesen. Wenn dennoch keine Theorie daraus wurde, so ist daran in erster Linie
das Dogma von den Ewigkeitswerten mit all seinen Konsequenzen schuld.
Zu diesen gehört die einseitige Hypostasierung der Meisterwerke ebenso wie
die Verabsolutierung der ausdeutenden Intuition zur Funktion des natürlich
empfindenden Menschenherzens, das den Forderungen des Stils, überhaupt
allem Erlernbaren und Geschichtlichen antithetisch gegenübertreten müsse.
Diese Frontstellung gehörte zu dem antiintellektuellen Trend der romantischen
Kunstanschauung und verfiel der Macht der Geschichte gerade dadurch, daß sie
es verschmähte, sich reflektierend über sie zu erheben und die Frage zu stellen,
ob nicht auch jene Intuition geschichtlich geformt sei. Insofern erschien sie der
Musikwissenschaft wenig diskutabel und umgekehrt. Furtwänglers Diatriben
gegen die »historischen Leitbilder«, die einer ihrer selbst unsicher gewordenen
Fühlweise als Krückstöcke dienten12, trafen eine wesentliche Problematik des
Musikhörens, empfahlen aber mit einer docta ignorantia, die sich allen Wissens
entschlüge, das falsche Medikament.
Wie die Apologie der ausdeutenden Subjektivität sich gegen die Geschichte
wendet, so tat es auch die Apologie des Werkes, die gegen die romantische Inter-
pretation zu Felde zog. Furtwänglers Bild vom schöpferischen Interpreten mit
dem Recht auf herrscherliche Willkür und Strawinskys Ideal vom Interpreten als
dem pedantischen »Realisator« sind sich darin einig, daß sie das Werk als unver-
änderlich setzen. Die Differenz besteht darin, daß der eine nur durch die Gewalt
und die Prägung einer schöpferischen Subjektivität das Werk in die Wirklichkeit
»hineingerissen« sieht, während der andere schlechtweg bestreitet, daß der Weg
vom geschriebenen Notentext zum konkreten Klingen eine Individuation sei, bei
der das Werk zwangsläufig etwas von seiner abstrakten Reinheit verlieren müsse.
In beiden Spielarten bezieht sich die Interpretation auf das Werk als fixen Punkt.
Die Werktreue, wie fruchtbar und reinigend sie als Gesetz gewirkt haben möge,
strebt wie die technisch perfekte Aufführung dahin, das Werk hinzustellen, wie
es ist, es ganz aus sich selbst sprechen zu lassen, als stünde es wie ein Fels in der
historischen Erscheinungen Flucht. Von hier aus scheinen so unterschiedliche
Dinge wie die Bachbearbeitungen Stokowskis, Gräsers Instrumentation der Kunst
der Fuge, Mahlers Uminstrumentierung der Beethoven-Sinfonien, Strawinskys
Bearbeitungen von Werken Bachs und Gesualdos, ja selbst Weingartners »Rat-
schläge« mit der Ethik des Interpreten unvereinbar zu sein. Es muß aber gefragt

12 Das intellektuelle Leitbild in der Musik – ein Gespräch mit Wilhelm Furtwängler, in: Die Neue
Zeitung, Berlin 8.II.1953.
Die Verjährung der Meisterwerke 189

werden, ob sich in ihnen nicht etwas darstellte, was der »kritischen Aneignung«,
dem Theater seit Brecht ein fester Begriff, sehr ähnlich ist.
Freilich blieb es bislang eine Aneignung außerhalb der musiktheoretischen
Legalität. Da jede Epoche (und besonders die romantische) ihren Musizierstil
als den natürlichen ansieht, konnten die Diskrepanzen zum Urtext, die das
Musizieren kraft seiner historischen Veränderungen entwickelte, erstaunlich
lange verborgen bleiben. Als müßten diese verdrängt werden, beurteilt man
Bearbeitungen nur nach ihrem Abstande vom Original und nicht nach der Art
und Weise, in der sie jenen Veränderungen Rechnung tragen. Beispielsweise
hat die Entwicklung der letzten 150 Jahre Klangvolumina gebracht, die die
dynamische Skala der klassischen Musik revidierten und, die Reizschwelle in
beiden Extremen hinausschiebend, neue Begriffe der Stärkegrade schufen. Das
fortissimo des Anfangs der Fünften Sinfonie, so wie es sich in Beethovens Instru-
mentation und einer seinerzeit üblichen Streicherbesetzung darstellen würde,
läge heute im Mittelfeld. Die Neigung zu dynamischen Extremen, die etliche
heutige Aufführungen klassischer Werke kennzeichnet, erhält angesichts dieser
Lage den Charakter einer notwendigen Korrektur im Sinne der authentischen
Wirkungen. Gewiß träumte Beethoven von anderen Aufführungsbedingungen
als solchen, mit denen er vorlieb nehmen mußte; zweifellos aber entsprechen
die Streichkörper, welche heute die Spitzenorchester aufbieten, nicht seinen
Intentionen – bestenfalls seinen Intentionen, multipliziert mit den Bedingungen,
unter denen wir heute musizieren.
Es folgt daraus, daß die überlieferten musikalischen Texte nicht einfach als
Konstante angesehen werden können: Die Wandlungen des musikalischen Hörens
verwehren ihnen, weiterhin den ursprünglich intendierten Sinn zu erfüllen. Das
Koordinatensystem einer bestimmten musikalischen Erfahrungswelt, in das der
Musiker sie komponierend eintrug, hat seine Maße verändert und neue Rela-
tionen entstehen lassen. Die Wahrheit der romantischen Interpretation besteht
darin, daß sie die Notwendigkeit der Vermittlung sah und damit zugleich sagte,
daß das Werk der Vergangenheit, für sich genommen, in der Welt fremd sei, des
Dolmetschs bedürfe; ihre Lüge war, daß sie ihre Methoden der Vermittlung als
unhistorische, natürliche und als grundsätzlich unveränderlich hinstellte, so daß
die Werke in deren autoritativer Umhüllung versteinerten. Die Wahrheit der
»werkgetreuen« Interpretation besteht darin, daß sie diese Methoden als historisch
bedingt erkannte; ihr Irrtum, daß sie glaubte, die klingende Realisierung brauche
nicht als Medium zu wirken, in dem sich der Lichteinfall des Werkes breche, als
stünde das Werk von gestern von selbst in der Welt von heute.
Das Tertium comparationis wäre eine Theorie, die das Verhältnis zwischen
dem historisch determinierten Werk und dem historisch determinierten Hörer
beidseitig dialektisch begriffe, die den Mut hätte, das Werk auch, und zwar im
umfassenden Sinne, zu kritisieren. Aus der Erkenntnis, daß uns der originale
Zugang zu den Meisterwerken der Vergangenheit nicht mehr offensteht, könnte
sie deren Verdinglichung und Versteinerung entgegenwirken, indem sie sie als
190 Die Verjährung der Meisterwerke

auch heute noch veränderlich begreift, sie nach ihrem ursprünglichen Sinn, ihren
Absichten befragt und diese nach Möglichkeit zu reflektieren sucht. Es liegt auf
der Hand, daß diese Möglichkeiten, die Mittel der Interpretation, sich aus einem
Kompromiß von Stiltreue und Sinntreue bestimmen, der anhand eines jeden
Werkes neu gefunden werden muß.
Um das Problem der Distanz zwischen der Absicht und dem heutigen Er-
scheinungsbild eines Werkes in aller Schärfe zu fassen, muß man die äußerste
Alternative zu den Versuchen stilgetreuen Musizierens, z.B. mit historischen
Mensuren der Streicher, formulieren: Wie wir hier dem Werk in seiner originalen
Klanggestalt uns zu nähern und alle Veränderungen des Musizierens und Hörens
zu ignorieren versuchen, wäre gleicherweise denkbar, daß wir die Werke an unsere
Erfahrungswelt heranholen, d.h. die von ihnen intendierten Wirkungen, soweit
wir sie aus der Formanalyse und der Betrachtung ihrer Umwelt ablesen können,
mit unseren Mitteln reproduzieren und damit gewährleisten, daß der Hörer heute
von ihnen in gleicher Weise an die Grenzen seiner Erfahrungswelt herangeführt,
genauso im besten Sinne schockiert und provoziert würde wie ehedem. Die
Meisterwerke müßten periodisch neu komponiert, ihre Sprachlichkeit auf dem
neuesten Stand gehalten werden. Das ist natürlich Spekulation. Einmal sind die
Bezüge der Werke zu ihrer originalen Umwelt vielfältig und erschöpfen sich
keineswegs in den Zumutungen, die sie für den herkömmlichen Geschmack
darstellen; zweitens ist die Tonsprache ein integrales Ganzes, und unsere Revision,
wollte sie den Ausgleich im Zusammenspiel aller musikalischen Parameter intakt
halten, könnte sich z.B. nicht auf eine Schärfung der Harmonien beschränken;
drittens würden wir überhaupt gegen das Axiom verstoßen, daß die künstlerische
Aussage von den Mitteln, derer sie sich bedient, nicht zu trennen und auf keine
andere Art zu geben ist als derjenigen, die der Künstler fand. Dennoch ist der
Gedanke nicht so absurd, wie er beim ersten Hinblick erscheint. Dies beweisen
Versuche wie Weberns Bearbeitung des Ricercare aus dem Musikalischen Opfer oder
Paul Dessaus Adaptation des Streichquintettes KV 614 von Mozart – interpretative
Akte. Da gegen die Verjährung der Werke schon nichts zu machen ist, schreiten
derlei Versuche wenigstens gegen die falsche Selbstverständlichkeit ein, die sich
einstellt, wenn man das Werk entsprechend den bekannten Stilmustern musiziert,
die im Hörer ausgelöste Etikettierung die Rezeption in eingefahrene Geleise
lenkt und ihn für alles Ungewohnte, für die Erfahrung von Neuem taub macht.
Indem eine Seite der Sache verfremdet wird, bei Webern z.B. durch die Instru-
mentierung, erscheint diese als Ganzes in einem neuen Lichte.
Damit wäre einer »kritischen Interpretation« die Richtung gegeben, den Musi-
kern zu reflektieren aufgegeben, inwiefern sie einer falschen Selbstverständlichkeit
zuarbeiten, sei es, daß sie sich der Gefühlsunmittelbarkeit der Musik bedienen und
diese als einen Verlauf von »organischer«, emotioneller Logik ausdeuten, sei es,
daß sie tun, als bedürfe es solcher Vermittlungen gar nicht. Gewisse klischeehafte
Vorstellungen (Barock-Terassendynamik, Beethoven-Titanismus, Romantik-
Rubato etc.) tun überdies das ihrige, um die Rezeption normativ auszurichten,
Die Verjährung der Meisterwerke 191

ehe sie ans Objekt geraten ist. Nur in derlei herabgekommenen Formen wirkt
historisches Wissen einem naiven Musikempfinden entgegen, nicht aber, wenn es
uns anleitete, das Werk gegen trügerische Selbstverständlichkeiten, mit denen es
affiziert ist, neu zu entziffern – um die Unvollendete in ihrer Schroffheit zu erken-
nen, Mozarts g-Moll Sinfonie KV 550 in ihrer Tragik und ihren Kühnheiten, um
ermessen zu können, wie das erste Publikum der Zauberflöte von der neuartigen
Klangwelt der Sarastromusik überrascht und überwältigt gewesen sein muß.
Demgegenüber ist es erschreckend, mit wie geringem Anspruch die musi-
kalische Interpretation auskommt, wie es sich auch prominente Vertreter hinter
der unbefragten Stabilität, der Unverwüstlichkeit der Meisterwerke bequem
machen und meinen, daß gediegenes Handwerk, musikantisches Temperament
und ein paar Brocken Stilkunde als Voraussetzung hinreichten. Ein eklatantes
Beispiel ist die Behandlung der Teilwiederholungen in klassischer Musik13. Daß
es Wiederholung im buchstäblichen Sinne nicht gebe, weil das zweite Erschei-
nen der gleichen Musik ihr als Zitieren einen neuen Sinn gibt, wenn es nicht
gar als vertiefende Ausdeutung, als Interpretation und Kommentar eines schon
Bekannten wahrgenommen werden darf, sollte eine Binsenweisheit der For-
menkunde sein. Dennoch hat es z.B. des Dirigenten Pierre Boulez bedurft, um
die Wiederholung der Exposition im ersten Satz der Eroica, die von Beethoven
ausdrücklich nachgetragen wurde, wieder in ihre Rechte einzusetzen. Nicht
anders steht es bei der Kritik, die die Abweichungen, die Eigenprägung der
Interpretation häufig nur daran mißt, wie sehr sie durch die Persönlichkeit des
Musikers autorisiert scheint.
Sie wäre aber zu messen als das, was sie tatsächlich ist – alsVermittlung zwischen
Geschichte und Gegenwart, als Definition des Verhältnisses zwischen dem Men-
schen von heute und dem Werk von gestern, das er musiziert und anhört. Sie muß
den Wirkungsmechanismus von Erwartungen und Erfüllungen, vonVersagungen
und Versprechen etc. neu durchdenken, damit das Werk auf Abstand gehalten
bleibe zu den vorfabrizierten Normen der sogenannten Tradition, den Abdrük-
ken, die sie in der Vorstellung des Hörers hinterließ und bestätigt wissen möchte.
»Einen Vorgang oder einen Charakter verfremden heißt zunächst einfach, dem
Vorgang oder dem Charakter das Selbstverständliche, Bekannte, Einleuchtende zu
nehmen und über ihn Staunen und Neugierde zu erzeugen«.14 Unterstützt man
in der oben diskutierten Generalpause in der Unvollendeten das vorgeschriebene
decrescendo nicht durch ein ritardando, in dem das Thema sich müde auspendeln,
dahinwelken würde, spielte man es so, als wolle es weitersingen, so wäre dies vor
der Maßgabe der eingeschliffenen Gewohnheit eine Verfremdung; in ihr könnte
ein Schatten von der Intention dieser Stelle wiedergewonnen werden.

13 Vgl. hierzu W. Hess, Die Teilwiederholung in der klassischen Sinfonie und Kammermusik, in:
Musikforschung XVI, 1963, Heft 3, S. 209 ff.
14 B. Brecht, Schriften über das Theater, Berlin/Weimar 1964, Band II, S. 109.
192 Die Verjährung der Meisterwerke

Es geht hier um die Methode, um eine Neubewertung der interpretatorischen


Mittel, nicht um die Mittel selbst. Der Respekt vor dem Notentext des Werkes
zieht dem Musiker ohnehin enge Grenzen. Ihm fehlt die Freiheit, die sich zum
gleichen Zweck Walter Felsenstein gegenüber dem Dialogtext nehmen kann,
wenn er die Funktion der Musik von der Szene aus präzisiert und sie »auslöst«.
So kann nach einer extremen Situation, in der Sarastro Pamina den Dolch der
Mutter und damit die Möglichkeit gibt, ihn zu ermorden, der E-Dur-Arie alle
Selbstverständlichkeit eines Wunschkonzertstückes genommen und sie als Ver-
lautbarung einer tätigen Humanität, als das Pädagogium, als die »Ringparabel«
der Oper neu erlebt werden.
Die Meisterwerke altern. Wie wir heute an einem Gedicht Walthers von der
Vogelweide den archaischen Reiz des mittelhochdeutschen Idioms viel stärker
empfinden als irgendeine ursprüngliche, über den begrifflichen Inhalt hinausge-
hende künstlerische Intention, wie die expressive Kunst eines Orlando di Lasso
durch den Stil ihrer Tonsprache in eine Sphäre gerückt ist, die alle Unmittel-
barkeit dämpft, so wird auch die große Musik der letzten Jahrhunderte mehr
und mehr verblassen, wird sich das Verhältnis der Lebenden zu ihr verdünnen,
an emotionaler Unmittelbarkeit verlieren und immer mehr den Kategorien
historischen Wissens anheimfallen. Dergestalt stehen sich die unmittelbare Er-
fahrung des Zeitgenossen und die einordnende Erkenntnis des Nachlebenden
antithetisch gegenüber, und das Werk erscheint vor den Möglichkeiten einer
vollkommenen, mit allen Kräften zu leistenden Rezeption tatsächlich als Utopie.
In bezug auf die Musik, die in unseren Konzertsälen erklingt, mag heute ein
gewisses Gleichgewicht zwischen unmittelbarer Erfahrung und distanzierender
Erkenntnis erreicht sein. Die Chancen dieser Situation ließen sich ergreifen in
einer Interpretationsweise, die sich als Definition und als Objektivierung eines
historischen Verhältnisses verstünde.
193

Wandlungen des Dirigentenbildes

Von einer »heute … größeren Partnerschaft zwischen Dirigent und Orchester«


hat Christoph von Dohnányi unlängst gesprochen und »vom Ende eines total
patriarchalischen Systems«, und das derzeit meistdiskutierte Buch über Diri-
genten, Norman Lebrechts The Maestro Myth, verkündet unverblümt das Ende des
Zeitalters der Dirigenten. Das mag man widersinnig finden, schon weil es heute
mehr Konzerte und Dirigenten gibt als je vordem, und der Betrieb, temporäre
Störungen nicht gerechnet, auf vollen Touren läuft, Dirigenten also gebraucht
werden. Selbst aber eine nachgewiesenermaßen falsche Folgerung muß nicht die
Beweggründe desavouieren, die sie fundieren; nicht selten haben sich besonders
fragwürdige Hypothesen auf besonders interessante Argumente gestützt.Auch im
vorliegenden Falle sollten wir sie ernst nehmen, gerade, wenn wir uns eine Welt
nicht vorstellen wollen und können, in der kein Auditorium mehr einer Sinfonie
lauscht, in der keiner mehr bereit wäre, sich dem auszusetzen, was an vertrauter
großer Musik »reale Gegenwart«, irritierendes Rätsel ist, was uns mit ihr nicht
zurechtkommen läßt. Zweifellos engen sich Spielräume und Kompetenzen des
Vermittlers um so mehr ein, desto weiter die »zweite Welle« der Historisierung
in der Aufhäufung von Einspielungen getrieben, desto mehr die Musik um die
ihr gehörige Vergänglichkeit betrogen wird, welche immerfort nach sich zieht,
daß sie klingend erneuert werden muß. Andererseits vergrößert eben dies die
Chancen des Musizierens, auch des Dirigenten, in der Einmaligkeit des jewei-
ligen Abends jenen scheinbaren »Betrug« zu überführen, zu zeigen, inwiefern
und worin das Phänomen Musik nicht angetastet werden kann.
Auf solche Überlegungen hat Lebrecht sich kaum eingelassen, sich vornehm-
lich mit nüchternen Realien beschäftig, die wir nicht minder ernst nehmen sollten
– die wachsende Kompetenz derer, die nicht unmittelbar mit der Hervorbringung
von Musik beschäftigt sind, derVerlust von Treueverhältnissen zwischen Orchester
und Dirigenten; Honorare, deren Höhe auch die inkommensurabelste Sternstunde
nicht rechtfertigt; oder der Umstand, daß mittlerweile auch drei Chefpositionen in
einer Hand nicht als bedenklich, sondern als werbewirksames Faktum gehandelt
werden. Sehr wohl greift der Betrieb ins Innere der Interpretation; daß sie sich
von der des Konkurrenten unterscheide, wiegt oft genug schwerer als das, was
sie in der Verpflichtung auf dasselbe Werk verbindet. Es gibt zunehmend so etwas
wie Unsicherheit in bezug auf den Ort, wo interpretatorische Phantasie sich
entfalten kann. Einerseits drohen die Zwänge des Betriebes die Interpretationen
einzuebnen, nur zu häufig war einer origineller, da er zur Spitze strebte, als später,
da er dort angekommen war. Und diese Tendenz zur Normierung wiederum
regt die – mithin auf falschen Motivationen beruhende – Gegenströmung an:
»Man muß heute entweder zu laut oder zu leise, zu schnell oder zu langsam
sein, um Aufmerksamkeit zu erregen, auf keinen Fall darf man dirigieren, wie
194 Wandlungen des Dirigentenbildes

es in der Partitur steht«, hat Christoph von Dohnányi unlängst befunden. Die
Ostensionen falschverstandener Originalität drohen zu verspielen, was – genau
umgekehrt – verteidigt und neu gesucht werden müßte: den (soweit möglich)
direkten, selbstverständlichen, geradlinigen Zugang zum Werk.
Napoleon und Prospero – mit dieser Zusammenstellung charakterisierte
Carl Dahlhaus vor fünfzehn Jahren Wagners Wachtraum, nachdem dieser Carl
Maria von Weber als Dirigent erlebt hatte: »Nicht Kaiser und nicht König, aber
so dastehen und dirigieren.« »In der imperialen Geste des Kapellmeisters«, so
Dahlhaus, »steckt die Gebärde des Feldherrn, der über seine Truppen gebietet, und
zugleich die des Zauberers, der ein Wunderreich, E. T. A. Hoffmanns Dschinnistan,
beschwört.« Womit die Ambivalenz angesprochen ist, derentwegen der Dirigent
zum umstrittensten, ebenso vielumjubelten wie vielgelästerten Repräsentanten
des Musiklebens aufgestiegen ist. Mißtrauen erscheint allemal angebracht ge-
genüber einer zu unverkennbar stellvertretenden Erscheinung wie der seinigen,
gegenüber einem Beruf, in dem man mit außerordentlich unterschiedlichen
Qualitäten reüssieren kann, gegenüber einer Tätigkeit, deren hochgradig vermit-
telnder Charakter eine auf positive Fakten gegründete Wertung erschwert.
Indem er einerseits große schöpferische Ansprüche anmeldet, andererseits
keinen Ton unmittelbar produziert, verkörpert der Dirigent als Extremfall
das Dilemma der Musik, daß Schöpfung und Realisierung auseinanderfallen.
Notwendig geworden, weil die komplizierte Maschinerie des Orchesters der
koordinierenden Führung und weil das im Werk anonym gewordene kompo-
sitorische Subjekt beim Vollzug einer Vertretung bedarf, erscheint der Dirigent,
als in einem gewissen Vakuum agierend (»Luft sortieren« nennen die Musiker es
unter anderem), prädestiniert als Gegenstand törichter Heldenverehrung eben-
so wie als Opfer der Unsicherheit musikalischer Wertungen. Bei niemandem
schwanken die Urteile so sehr, wie immer die Medien dem Konsumenten ein-
zupauken versuchen, wer etwas tauge und wer nicht. Dennoch bedarf es nicht
viel, um die schmale Fundierung vieler Wertungen zu erkennen. Inwiefern z.B.
ein profiliertes Orchester die Konzeption des Dirigenten beeinflusse, inwieweit
es ihn als musikalische Persönlichkeit gar überwachsen könne, bleibt zumeist
ebenso unter Wert geschlagen wie andererseits auch das, was der Dirigent in der
Oper tut – da erscheint in der Regel alles, was man auf der Bühne sieht, auch
das nichtigste inszenatorische Detail, besprechenswerter als die Art und Weise,
in der einer vom Orchestergraben her aus dem Abend ein musikalisches Ganzes
zu machen versucht – oder nicht; oft genug »waltet er mit gewohnter Umsicht
seines Amtes« o.ä.
E. T. A. Hoffmann hat in seiner Rezension von Beethovens Fünfter Sinfonie
bezweifelt, daß die Musik sich noch vom Konzertmeisterpult her führen lasse,
und Carl Czerny empfiehlt in seinen Beethoven-Kommentaren dem Solisten
von Klavierkonzerten, bei solistischen Passagen Takt und Tempo streng zu
halten, um den Orchestermusikern das Mitzählen zu erleichtern. Derlei Hin-
weise markieren eine Grenze, jenseits derer es ohne Dirigent nicht mehr ging.
Wandlungen des Dirigentenbildes 195

Vergegenwärtigt man sich, welche Praxis dabei als gängig vorausgesetzt ist, so
sieht man sich in ein Gruselkabinett geraten: Wieviel konnte einer von einem
Werk wie Beethovens Fünfter wissen und für sich realisieren, wenn er es allein
von der Direktionsstimme her einstudierte? Dort waren die Bläser überhaupt
nur in Stichnoten eingetragen, wo die ersten Violinen pausieren; Partituren
gab es nicht (die erste der Fünften wurde erst 18 Jahre nach der Uraufführung
gedruckt), das Satzganze ließ sich am ehesten mithilfe von – oft fragwürdigen
– Bearbeitungen kennenlernen, welche bei erfolgreichen Werken rasch aufgelegt
wurden. Notwendigerweise fällt das Erscheinen des Kapellmeisters im moder-
nen Verständnis (Weber, Habeneck, Mendelssohn etc.) zeitlich mit dem endlich
sich einbürgernden Verfahren zusammen, bei anspruchsvollen Werken mit den
Einzelstimmen auch die Partitur zu drucken – beides definitiv erzwungen durch
Beethoven, welcher im Orchesterbereich weniger in eine bestehende Praxis
hinein- als über sie hinauskomponierte.
Bezeichnend auch, wie lange erste Versuche einer Rationalisierung des Di-
rigierhandwerks auf sich warten ließen, wovon einiges, ungeachtet der Bemü-
hungen u.a. von Szendrey,Waltershausen, Scherchen, Malko, Markevitch, Greene
(im Chorbereich u.a. Ehmann und Thomas), noch immer aussteht. Die ungute,
von Hochbegabten gern ausgestreute Verallgemeinerung, daß Dirigieren nicht
erlernbar sei, daß man es halt könne oder eben nicht, ist noch längst nicht vom
Tisch. Andererseits erscheint es unmöglich und nicht einmal sachgerecht, von
der Funktion des Dirigenten auch den letzten Rest fatalen Schamanentums
wegrationalisieren zu wollen; zu häufig wird Qualität beim Musizieren erreicht,
ohne daß man genau definieren könnte, wie es dabei zuging. Doch taugt dies
am wenigsten dazu,Theorien und prinzipielle Auskünfte zu rechtfertigen. Auch
Genies müssen die »Eins« manchmal nach unten schlagen.
Nicht aber nur, weil der Bezug auf ein kompositorisches Subjekt (»… ein
zur Idee sublimierter Komponist: ein ästhetisches Ich statt eines empirischen«,
Dahlhaus) immer stärker hervortrat und der Verkörperung bedurfte und weil
die komplizierter werdende Maschinerie des Orchesters von einem Punkte aus
gesteuert werden mußte, war der Dirigent vonnöten.Auch die Programme wur-
den komplizierter, das Nebeneinander von Werken unterschiedlichen Zuschnitts
und Stils sprengte die Identität eines selbstverständlich von einer Grundhaltung
ausgehenden Musizierens. Da bedarf es desjenigen, der die Objektiva der ver-
schiedenen Stile klärt, deren unterschiedliche Sprachen dolmetscht, der möglichst
ebensogut mit barocken Stricharten und Punktierungen, mit den verlorenge-
gangenen Selbstverständlichkeiten des klassischen Musizierens wie mit Clustern
umzugehen versteht.Wenn überhaupt irgendeiner, dann ist der Dirigent imstande,
eine Universalität des Musizierens zu gewährleisten, die Bach und Lutoslawski
gleichermaßen einschließt.
Wie diese Universalität gefährdet ist, zeigen die Schwierigkeiten, Randbereiche
wie den barocken oder den zeitgenössischen im Rahmen normaler Konzerte
festzuhalten, deren Abwanderung in Spezialkonzerte und zu Spezialensembles
196 Wandlungen des Dirigentenbildes

zu verhindern.Vom Versuch, deren Ergebnisse ins Konzertleben zu integrieren,


sollte niemand sich dispensieren dürfen, und zur Abwehr dieser Verpflichtung
taugt weder die vermeintliche Einschüchterung durch Spezialkenntnisse (als ob
es schwer wäre, Geminiani, Quantz, Leopold Mozart oder moderne Spielanwei-
sungen zu lesen) noch die Berufung auf die fadenscheinig gewordene Antinomie
von »lebendigem« und »historischem« Musizieren – als ob das lebendige nicht
auch historisch wäre, als ob man es mit der Lebendigkeit des historischen schon
allenthalben versucht hätte! Im Offenhalten des Repertoires nach früher hin
wächst dem Dirigenten paradoxerweise eine besondere Zuständigkeit für eine
Musik zu, für die er ursprünglich nicht zuständig war und in der er sich weitestge-
hend überflüssig machen, am besten irgendwo im Orchester mitwirken sollte.
Undankbar erscheint diese Aufgabe auf den ersten Blick auch, weil Univer-
salität nur geringen Marktwert hat. Sieht man von wenigen Namen ab, die es
sich leisten können, alles – und möglicherweise das eine vorzüglich, das andere
abscheulich – zu machen, so zieht der Musikbetrieb durchaus frustrierende
Konsequenzen aus dem Gemeinplatz, daß einer nicht alles können kann, und
beschneidet durch vorschnelle Abstempelung die Chance, Erfahrungen mit
barocker Musik in klassische, mit moderner in romantische einzubringen etc.,
mithin jene Osmose aufrechtzuerhalten, welche die innere Universalität des
Musizierens ausmacht. Wie sehr diese bedroht ist, zeigt sich, wenn Orchester
sich mit mittleren Haydn-Sinfonien ungleich schwerer tun als mit Heldenleben
oder Petruschka.
Daß einer oben steht und – auf welche Weise auch immer – eine Mannschaft
befehligt, deren akkumuliertes Wissen und Können das seinige allemal übersteigt,
und umgekehrt: daß die Mannschaft bei einer anspruchsvollen, geistig, nervlich
und körperlich gleich anstrengenden Tätigkeit auf diesen einen angewiesen ist,
um als Orchester funktionieren zu können, ergibt eine schiefe Situation. Regel-
bar wird sie mit Hilfe von Autorität und von Ritualen, deren Frustrierendes am
ehesten durch Konzentration auf die Sache vergessen werden kann – kaum je
ganz, soviel immer geredet werden mag von Gemeinschaft im Dienst am Werk.
Auch, wo der Glücksfall eintritt, daß der Dirigent vor allem als Katalysator einer
gemeinsamen Willensbildung fungiert (soweit dies die Unterschiedlichkeit der
Zugänge zum Werk zuläßt), bleiben beiderseits Frustrationen stehen. Wie der
Musiker einiges wegstecken, sich etlichen nicht sofort verständlichen Zwängen
beugen muß, muß der Dirigent wegstecken, wozu im Umgang mit Meisterwerken
immer wieder Anlaß besteht: Unsicherheit und Zweifel.
Die Uhren der Gewerkschaft ticken zu laut, die Rationalisierungszwänge
regieren zu hart in die Probe hinein, als daß für experimentelle Umwege und
Umständlichkeiten Platz bliebe. Daß ein Kapellmeister genau wisse, was er will,
gilt als uneingeschränktes Lob im Munde derer, denen wohl klar ist, wie schnell
man im Umgang mit großer Musik beim sokratischen »ich weiß, daß ich nichts
weiß« ankommen kann – dies die Innenseite eines Spannungszustandes, dessen die
Mitwelt erst gewahr wird, wenn alte, zuvor euphorisch beschworene Kamerad-
Wandlungen des Dirigentenbildes 197

schaften zwischen Orchestern und Dirigenten zerbrechen. Fundierte Neuansätze


und richtungweisende Leistungen kommen derzeit häufig in Nischen zustande,
wo man tun kann, was der durchschnittliche Betrieb kaum je gestattet: sich Zeit
nehmen; sie kommen vornehmlich zustande bei kleineren Ensembles oder in
der kontinuierlichen Zusammenarbeit eines Orchesters mit einem Dirigenten,
bei der beim jeweils nächsten Vorhaben an die Ergebnisse des vorangegangenen
angeknüpft werden kann.
Zum Erbe der Zeit der großen Orchester-Potentaten gehört, daß man sich
die déformation professionnelle der Dirigenten am allerwenigsten als Frustration
vorstellen kann, bestenfalls als Lehrersyndrom. Sicherlich zählt Piatigorskis viel-
kolportierte Formulierung, er habe Dirigenten jeder Art, jeden Charakters und
unterschiedlichster Qualität angetroffen, niemals jedoch einen, der unter Mangel
an Selbstbewußtsein gelitten hätte, zu den falschesten, unverkennbar redet da ein
tradiertes Feindbild mit, das jeder demokratischen Verständigungsbereitschaft das
Odium von Streikbrecherei o.ä. anzuheften bereit, glücklicherweise aber schon
antiquiert ist. Die Chancen für mehr Verständigung stehen nicht schlecht; nicht
zuletzt sind die oben negativ akzentuierten laut tickenden Uhren auch Ausdruck
gewachsener Rechte – nach langen Zeiten rechtlosen Deklassiertseins –, mit-
hin auch eines anderen Selbstbewußtseins. Und dieses bildet noch immer die
beste Basis einer Kameradschaft des Musizierens, von der in alten Zeiten eher
ausnahmehaft die Rede sein konnte: An der Wiege der Orchesterarbeit im uns
geläufigen Sinne, bei Hans von Bülow, stand preußischer Drill.
Chancen und Gefahren liegen nah beieinander: die Chance, daß sich die Wahr-
nehmung künstlerischer und arbeitsrechtlicher Interessen gerechter verteile, und
ebenso, daß im Miteinander von Orchester und Dirigent das ungute Gegenüber
von diktierendem »Subjekt« und ausführendem Organ abgebaut werde, nicht
aber zugleich die unabdingbare Disziplin. Andererseits die Gefahr, daß ein vor-
dergründig professioneller, flinker Pragmatismus der Arbeit Grenzsituationen und
Reibungen vorenthält, welche zu künstlerischer Arbeit substantiell gehören, und
das technische Niveau des Musizierens den Umstand bemänteln hilft, daß wichtige
Auseinandersetzungen nicht stattgefunden haben. Der Gastierbetrieb, der geringe
Kurswert von Treue – zu einem Orchester, einem Ort, zu bestimmten Arbeitsbe-
dingungen etc. – leisten da ebenso bedenklichen Vorschub wie die Allgegenwart
vorgefertigter Musik in den Medien. Man macht sich nicht kulturkonservativ
verdächtig, wenn man nachdenkenswert findet, daß Furtwängler sich in seiner
Lübecker Zeit bei einer befreundeten Musikliebhaberin nach deren Rückkehr
von einem Konzertbesuch genauestens nach Nikischs Tempi erkundigte.
Niveau und Lebendigkeit des Musiklebens hängen – im Zeichen einer alexan-
drinischen Pluralität der Stile mehr noch als vordem – von der Fähigkeit und dem
Willen ab, die großen Werke der Vergangenheit neu zu sehen, die Partituren neu
zu lesen. Schwerlich wird das Heil von denen kommen, die bei einem jeweiligen
Werk vor allem dessen prominente Interpretationen im Ohr haben – wie wir
uns andererseits nicht dümmer und ärmer machen dürfen als wir sind, indem wir
198 Wandlungen des Dirigentenbildes

die Chancen, die uns deren Verfügbarkeit bietet, verachten. Sosehr mit ihrer Hilfe
vielerlei (nicht alle) Irrgänge vermieden werden können, so sehr doch können sie
den entscheidenden interpretatorischen Auftrag irritieren (in Worten Furtwäng-
lers): das Werk, die Ausführenden und sich selbst auf eine Linie zu bringen.
Die Problematik ähnelt derjenigen des heutzutage von jungen Musikern oft
frühzeitig erreichten hohen technischen Niveaus. Daß spieltechnische Probleme
zum Dolmetsch musikalischer werden können, daß im Ringen um diesen Fin-
gersatz, jenen Lagenwechsel oder um ein dirigiertechnisches Detail substantielle
Fragen von selbst in den Gesichtskreis treten und implizit auch um sie gerungen
wird – diese pädagogische Binsenweisheit wird insgesamt zunehmend seltener
beansprucht, mit ihr werden etliche produktive Mühen und Zweifel abgebaut.
Und die Mechanismen des Betriebes sichern den vornehmlich technischen
Begabungen, haben sie einmal eingeschlagen, im Erfahrungsgewinn einen so
gewaltigen Vorsprung, daß die Schwierigen, Langsamen ins Hintertreffen zu
geraten drohen. Derlei war gewiß schon immer zu befürchten, und sicherlich
hat jede Epoche die ihr gemäßen Begabungsstrukturen ausgelesen und andere
verkümmern lassen; daraus aber erwächst uns, die es genauer wissen, kein Recht,
so fortzufahren.Weder muß man mit 25 Jahren Sacre du Printemps dirigiert haben
noch mit 30 Beethovens Neunte.Viel weniger als bei anderen Musikern läßt sich
bei Dirigenten Erfahrung durch Begabung kompensieren.
Mag die noch unlängst vielbemühte Antinomie der ausdrucksmächtigen Subjek-
tivität der großen Alten und der anonymisierenden Tendenz moderner Perfektion
verblaßt sein, mögen sich neuerdings einschlägige Nekrologe zurückhalten, beim
Tode eines großen Musikers gleich ein Zeitalter verdämmern zu sehen – hinter
einer noch immer glänzenden Fassade, die er in besonderer Weise repräsentiert und
oft auf fatale Weise bedient, sind Funktion und Position des Dirigenten in Verän-
derung begriffen. Gleichgültig, wie man findet, daß Furtwängler als musikalischer
»praeceptor Germaniae« apostrophiert wurde: Der darin formulierte Anspruch auf
spirituelle Führerschaft hatte seine Legitimität. Dieser Anspruch läßt sich angesichts
der Spezialisierungen unseres Musiklebens nicht mehr halten, die nunmehr wei-
tergespannten Verantwortungen können auch von den Begabtesten kaum noch
wahrgenommen werden – Konsequenz eines Strukturwandels, der nicht primär mit
dem Format der Protagonisten zu tun hat. Einstweilen verdecken hohe Standards,
die Machtfülle und die Allgegenwart der großen Namen, daß die Verabschiedung
des Präzeptors längst begonnen hat, wie immer Napoleon und Prospero partiell
überdauern mögen.Wegweisende interpretatorische Impulse gehen immer seltener
von Dirigenten aus, am wenigsten von den betriebskonformen.
Der Dirigent wird dafür gerade zu stehen haben, daß das Verhältnis von uni-
versalem Anspruch und Spezialisierung neu definiert werden muß. Vielleicht
aber wird sich gerade die Verschiebung des präzeptoralen Anspruchs (welcher
ja nie bedeuten konnte, daß einer in allen Bereichen als letzte Instanz galt) als
Moment einer demokratisierenden Versachlichung erweisen, als Entlastung, die
in der Wirksamkeit des primus inter pares neue Möglichkeiten freisetzt.
199

Nistet der Kommerz


schon in unseren Interpretationen?

Die als Thema formulierte Frage klingt provozierend naiv, sie scheint weniger
mit seriöser Problemstellung als mit dem rhetorischen Trick zu tun zu haben,
den Gegenstand als Widerlegung einer schief formulierten Überschrift abzuhan-
deln; und sie erscheint provozierend unoriginell, weil die Warnung, die Seuche
der Kommerzialisierung drohe auch Musik und Musikanten zu befallen, zu den
kulturkritischen Ladenhütern gehört. Immer wenn wir – mit oder ohne Zuhörer
– musizieren, verkaufen wir Musik, verkaufen sie an eine jeweilige Gegenwart
und verkaufen uns selbst – gleichgültig, ob und wie sehr wir die kommerzielle
Komponente mitspielen meinen. Allemal ist Musizieren ein kommunikativer
Akt, ein Austausch, bei dem Rückkoppelungen durch die Kanäle unserer Er-
lebnisweisen hin- und herschwappen; man befördert nicht Musik in die Welt,
ohne Welt in die Musik zu befördern. Daß wir der Welt nicht sicherer entfliehen
und zugleich uns nicht sicherer mit ihr verbinden als in der Kunst, ist eine viel-
zitierte Einsicht. Goethes Weg »vom Nützlichen durchs Wahre zum Schönen«
läßt sich in beiden Richtungen begehen, und wenn wir mit »Kommerz« einen
auf Nützlichkeit orientierten Begriff gebrauchen, sollten wir uns hüten, im
Bereich der Kunst – immer eines »schwebenden Angebotes« (Thomas Mann)
– jegliches Anbieten, Darbieten, Austauschen sogleich als schnöde kommerziell
zu verdächtigen. Indes – je genauer wir hinblicken, desto schwieriger wird es,
eine Grenze zu ziehen.
Auch dieser Unsicherheit wegen nehmen wir uns das Recht, zuviel Nähe
von Musizieren und Verkaufen nicht zu mögen. Insofern Kommerz auf fixierten
Tauschwerten gründet, halten wir uns an das Paradoxon, Unverkäufliches ver-
kaufen, mit Unverhandelbarem handeln zu müssen. Man braucht nicht gleich
den Elfenbeinturm, ein »Reich nicht von dieser Welt« zu postulieren oder von
jenem Paradoxon zu einem anderen, Kants »Zweckmäßigkeit ohne Zweck«, zu
fliehen, um es zu begründen – es reicht aus, zu vergegenwärtigen, daß wir nie
ganz genau wissen, wie gut, d.h. wieviel wert wir an diesem oder jenem Abend
gewesen sind, geschweige denn, daß wir es nachrechnen könnten wie der Be-
sucher das für die Eintrittskarte erlegte Geld.
Wenn wir uns von der naiv oder scheinheilig prinzipiell formulierten Frage,
ob Kommerz in unserem Musizieren niste, auf die speziellere zurückziehen,
inwiefern, auf welche Weise er dort niste, reagieren wir als eben die gebrannten
Kinder, die die vorgegebene Thematik zu diskutieren nötig fanden. Denn der
Spagat zwischen ästhetischer Weltverbundenheit und Weltflucht, das Paradoxon
der »Zweckmäßigkeit ohne Zweck« findet sich wieder in Verlegenheiten des
Argumentierens. Daß vor 60 Jahren Menschen am Abend desselben Tages, an
200 Nistet der Kommerz schon in unseren Interpretationen?

dem ihre Wohnung zerbombt worden war, ein Konzert besuchten, daß Ge-
schundene in Gefängnissen und Lagern im Memorieren von Musikstücken oder
Gedichten Halt und Kraft fanden, daß wir uns ein Leben ohne Bach, Mozart,
Beethoven, Goethe, Hölderlin usw. nicht vorstellen wollen und können, taugt
nicht als Argument für die Auseinandersetzung mit Leuten, die das durchaus
können. Schönheit ist nicht beweisfähig, de gustibus non est disputandum. Also
beziehen die gebrannten Kinder die Mittel zur Verteidigung ihres Reviers nicht
aus diesem selbst, sie müssen, um sich verständlich zu machen, von Lebensqua-
lität, Standortvorteil, Umwegrentabilität sprechen, prätentiöser von emotionaler,
charakterlicher Bildung, Konzentrationsfähigkeit oder, noch weiter hinauf, von
kultureller Identität: jedes für sich triftig und schwerwiegend und allemal legiti-
miert, weil man Reviere an deren Grenzen verteidigt, keines jedoch ein substan-
tiell ästhetisches Argument. Schlecht verhohlener Umwegigkeit können solche
Gesichtspunkte um so eher geziehen werden, desto weniger eine Majorität bereit
ist, Gegenstände, zu denen sie wenig Zugang hat, als Teile einer übergreifenden
kulturellen, nationalen oder lokalen Identität zu respektieren. Und um diese
Bereitschaft darf man sich, nicht nur angesichts der in den Medien zelebrierten
Verblödungsorgien, Sorgen machen.
Daß große Kunst heute sicherlich mehr Menschen erreicht als je vordem,
taugt nur teilweise als Einwand, müssen wir doch weiterfragen, auf welche Weise
sie sie erreicht. Beispielsweise kann Kunst durchaus verbunden sein mit dem,
was heute »event« genannt wird; streng verstanden indessen endet sie dort, wo
– die Nähe zum philosophisch nobilitierten »Ereignis« beiseitegelassen – der
event anfängt.
Jenem nobilitierten Ereignis bleibt der event nahe, wo er die besonderen
Umstände der Begegnung mit dem Schönen betonen hilft; er entfernt sich von
ihm, wenn diese die Oberhand gewinnen, erst recht jedoch, wenn diese sich vor
die Musik bzw. das Werk schieben und die Differenz zu anderen Interpretationen
desselben Werkes wichtiger wird als dieses selbst. Daß man es gegebenenfalls
mit technischen Mitteln leicht abrufen kann, daß wir darüber leichter verfügen
können, als es zumeist zur Zeit seiner Entstehung möglich war, hat nicht nur
vergessen lassen, daß einstmals beim Komponieren die jeweils neue Evokation
des heute zur Selbstverständlichkeit degenerierten Wunders klingender Musik
mitsprach, es übt erheblichen Druck auf den Musizierenden aus, sich vom Mu-
sizieren des anderen mit demselben Werk befaßten Kollegen zu unterscheiden,
im Sinne der Warenästhetik: Das Produkt muß kenntlich sein.
Dieser kommerziellen Bezugnahme ließe sich, arg puristisch, leicht entge-
genhalten, daß, solange die Musik obenan steht, das Aufgehen in ihrer über-
persönlichen Anonymität höher stehen müsse als die Unterscheidbarkeit von
anderen Realisierungen. Wer aber bestimmt, wie die oberhalb alles individuell
Bedingten befindliche Identität dieser Musik, dieses Werkes beschaffen sei, wer
könnte es bestimmen, ohne das von sich her, von seiner Subjektivität aus zu tun?
»Aufgabe der Interpretation ist … nicht die Treue zum Text an sich, sondern die
Nistet der Kommerz schon in unseren Interpretationen? 201

Darstellung des Werkes d.h. der Musik, für die der Text einsteht«, formulierte
Adorno, in erster Linie gegen Gleichsetzungen von Text und Klang, Sinn- und
Buchstabentreue gewendet, – und lud weiterzudenken ein: daß die Musik, das
Werk bei je unterschiedlichen Konstellationen, Räumen, Zeitpunkten bis hin zu
Stimmungslagen und der Individualität der Musizierenden je andere sein müßten
und ihre Identität ausschließlich zu suchen wäre bei der – imaginären – Summe
aller klingenden Realisierungen.
DerVerpflichtung auf den festgeschriebenen Text entkommt der Musizierende
ebensowenig wie der Einmaligkeit der Konstellation und des Augenblickes, da er
spielt – so wäre das Spannungsfeld zwischen (in einer groben Charakterisierung)
objektiver und subjektiver Interpretation im Hinblick auf unterschiedlich gepolte
Verantwortungen zu beschreiben, zwischen einer vornehmlich auf die Positivität
des Textstandes bezogenen, von Wilhelm Furtwängler abschätzig »referierend«
genannten Darstellungsweise und einer anderen, nahezu fundamentalistisch von
Gustav Mahler und Furtwängler vertretenen, welche der Musik in erster Linie
dadurch Treue hält, daß sie sie aus der je einmaligen Konstellation des Musizie-
rens heraus neu erzeugen, die Objektivität des Werkes dekonstruieren, dessen
Sein als Gewordensein entschlüsseln, mithin die Differenz von Schaffen und
Nachschaffen nicht wahrhaben will.
Historische Interpretationsstile überkreuzen sich in diesem Spannungsfeld
mit persönlichen, definieren sich gegeneinander und nutzen die Spielräume um
so exzessiver, desto sicherer sie des kanonischen Ranges der jeweiligen Musik
sein können – in mehr als einer Hinsicht läßt sich die Tätigkeit musikalischer
Interpreten mit der aktualisierenden Kommentierung kanonischer religiöser
Texte vergleichen. Kein Wunder, daß, wenn es Musik neu durchzusetzen, neue
Konfessionen zu begründen gilt, die »objektive« Ausrichtung dominiert, und
daß die Wiedererschließung älterer Musik in den zwanziger Jahren wesentlich
als Alternative zu spätromantischen Musiziertraditionen konzipiert war. »Neue
Sachlichkeit« gab das Stichwort und diente u.a. als Vorwand für die Unterschei-
dung von »historischer« und »lebendiger« Musik, eine Unterscheidung, deren
polemische Stoßkraft in dem Maße dahinschwand, in dem man es mit der Leben-
digkeit der historischen versuchte und die lebendige auch als historische begreifen
lernte. Dazu haben Musikforscher ebenso beigetragen wie Interpreten – heute
musiziert man, von stilistischen Maßgaben abgesehen, italienische Madrigale des
16. Jahrhunderts, Palestrina oder Bach nicht prinzipiell »objektiver« als Beethoven
oder Brahms, mittlerweile kann man sich auch bei der Aufführung von Musik
des Mittelalters und der Renaissance gegeneinander definieren.
Das wiederum könnte auch mit Kategorien der Warenästhetik oder des
Marktes als Kenntlichkeit eines besonderen Angebots oder als Besetzung einer
Marktlücke beschrieben werden – das letztere könnte man in der Kompositi-
onsgeschichte gar für die Okkupation der seinerzeit subalternen Gattung des
Liedes durch den jungen Schubert in Anspruch nehmen.Vordem vergleichsweise
laxe Gepflogenheiten der Orchesterarbeit ließen eine Marktlücke für Hans von
202 Nistet der Kommerz schon in unseren Interpretationen?

Bülows preußischen Drill, Bülows autoritärer Stil ließ eine Marktlücke für Ni-
kischs kommunikatives Musizieren, die distanzierte Musizierweise von Strauss und
Weingartner ließ Lücken für Furtwängler, dessen vermeintliche Subjektivitäten
ließ wiederum andere für den jungen Karajan und dessen spätere Hochglanzpo-
litur Lücken für Harnoncourts Aufrauh-Ästhetik. Derlei – hier schematisch und
ausschnitthaft beschriebene – Kurven der Interpretationsgeschichte sind uns, auch
dank der Klangaufzeichnung, so gegenwärtig, daß es zu simplen Gegenüberstel-
lungen wie denen des »objektiven« Toscanini und des »subjektiven« Furtwängler
und damit verbundenen historischen Zuordnungen – der eine »modern«, der
andere »romantisch« – kaum noch kommen kann. Hierfür spricht auch, daß die
alte Musik, weitab von einem Dogmatismus, welcher vor allem verordnete, was
man nicht tun dürfe, zur Spielwiese unterschiedlichster Interpretationskonzepte
geworden ist.
Man muß nicht gleich von Neurosen reden im Zusammenhang mit der
Beobachtung, daß Profilierungen, welche die Besetzung der genannten Lücken
signalisieren, sich abzuschleifen und das Odium des Wagnisses und der Recht-
haberei zu verlieren pflegen. Das ließe sich nahezu erschöpfend begründen
mit zunehmender Reife, zunehmender Gelassenheit beim Hinstellen eines
Werkes, welcher die Beglaubigung durch die Subjektivität des Interpretierenden
nicht mehr erstwichtig ist, wäre da nicht jene auffällige Beschleunigung samt
nivellierenden Tendenzen, für welche jene Begründung etwas hoch gegriffen
erscheint: Schneller als früher verlagert sich die Qualität bedeutender Musiker
von originellen Konzeptionen hin zu einem allgemeineren hohen professi-
onellen Niveau ihrer Ergebnisse. Auch in der musikalischen Interpretation
scheint das Karussell der Moden sich, bewegtes Nacheinander durch einen
statischen Zustand, durch »rasenden Stillstand« (Paolo Virilio) ersetzend, immer
schneller zu drehen und auf eine Gleichzeitigkeit unterschiedlichster Konzepte
zuzulaufen, welche gleicherweise up to date zu sein beanspruchen – nahe bei
den von Hans Magnus Enzensberger schon vor Jahrzehnten durchschauten
»Aporien der Avantgarde«. Dergestalt erscheint fast alles historisch halbwegs
plausible Nacheinander außer Kurs zu geraten zugunsten eines »anything goes«,
welches unverwechselbare interpretatorische Konzepte des Hintergrundes, der
Unterscheidbarkeit, des allgemeineren Referenzpunktes zu berauben droht,
wovon sie sich abheben könnten. Nicht zuletzt deshalb ist die Musik neuerdings
kaum noch – was wegen der Nähe zur taktilen Belästigung einst ihr Privileg
war – skandalfähig.
Hierbei spielt der Produktionsdruck des Musikbetriebes mit. Die Arbeits-
normen der Orchester (denen ambitionierte junge Musiker nicht zufällig gern
ausweichen) lassen immer seltener jene Versenkung in das einzelne Werk zu,
welche um so dringender vonnöten ist, je genauer die Musiker es grosso modo
schon kennen und je schneller sie es spieltechnisch bewältigen. Man kann wohl,
wie heute etliche Spitzenorchester, eine Mahler-Sinfonie nach zweieinhalb
Proben spieltechnisch im Griff haben, kann aber in der gleichen Zeit kaum mit
Nistet der Kommerz schon in unseren Interpretationen? 203

ihr vertraut geworden, in ihr zuhause sein und sich innerlich eingerichtet haben;
der Spurt mag pragmatisch gelingen, »die Seelen« jedoch – in Worten eines von
Europäern gehetzten afrikanischen Lastenträgers – »sind nicht mitgekommen«.
Spätestens wenn man die Differenz nicht mehr bemerkt, wird das zum Unheil:
Wir haben das Vokabular der Musik zwar richtig buchstabiert, den syntaktischen
Zusammenhang, vom weiterreichenden nicht zu reden, aber nicht verstanden
– und die Musik hält allemal genug interessanten klanglichenVordergrund bereit,
um die Defizite im Hintergrund übertönen zu können.Wie wichtig das Wieder-
erkennen für die Familiarität mit Musik immer sein mag (innerhalb komplizierter
Formen die Voraussetzung ihrer Wahrnehmung) – wenn es vorherrscht und das
erledigende »Aha« dominiert, wenn das Moment der Erstmaligkeit, wenn dem
Erlebnis die Risikobereitschaft zum Anprall am qualitativ Neuen, Anderen ab-
handen kommt, ist es um sie geschehen – nicht als klingendes, jedoch als in den
Gemütern nachklingendes Ereignis.
Die biblische Warnung an den, dem es nicht hülfe, die Welt gewonnen zu ha-
ben, wenn er Schaden nähme an seiner Seele, sollten wir wohl beherzigen – nicht
als Einwand gegen höheres spieltechnisches Niveau, sondern als Aufforderung zu
deren richtigem Gebrauch.Vor allem diesen meinen viel- und meist als arrogant
kolportierte Dirigentensprüche: »Wo andere aufhören, fange ich erst an« (George
Szell); »je besser das Orchester, desto mehr Proben brauche ich« (Sergiu Celibi-
dache).Von falschem Stolz auf technische bzw. spieltechnische Errungenschaften
könnte man fast die gesamte Geschichte der Neubearbeitung bzw. -einrichtung
älterer Werke inspiriert sehen, zuallermeist, vornan von Richard Wagner, ist die
Dialektik von Intention und Realisierung übersehen worden, u.a. die Art und
Weise, in der ältere Komponisten instrumentaltechnische Begrenzungen pro-
duktiv gewendet i.e. das Gemeinte, solange die Mittel es hergaben, so präzise
definiert haben, daß es, wo diese nicht mehr mithielten, dennoch – wenn auch
nicht als klingende Realität – definiert und anwesend blieb. Die Entwicklung
mancher fulminanten Musikerbegabung beginnt als jugendlich-ungestümes An-
rennen gegen die Übermacht des Machbaren und biegt allzu schnell, nicht selten
kaum bewußt, pragmatisch zur Kapitulation vor dem Überdruck des technisch
Machbaren ab; und dieser drückt leicht beiseite, was über das technisch Machbare
hinaus gemacht werden müßte.
Die – hier grob pauschalierend beschriebene – Bewegung wäre als Abbau
dessen, was einem Werk nicht substantiell zugehört, nur zu begrüßen, ließe sich
ihr nicht nachsagen, daß sie oft einsetzt, wenn die Protagonisten nicht mehr
nötig haben, auf andere Weise aufzufallen, mithin als Adepten der Warenästhetik
verdächtig werden, wenn die Zurücknahme nicht einem Einpendeln auf übliche,
gut erreichbare Mittellösungen oft näherstünde als einer Konzentration auf das
je Wesentliche, und wenn sich im Zeichen des »anything goes« die Koordinaten
nicht so rasch verschöben: Was heute noch Demonstration und herausfallendes
Erkennungsmerkmal – die »stille Einfalt und edle Größe« seraphisch tönender
Männerensembles, ruppig behandelte Pauken, gedehnte Generalpausen, rasche
204 Nistet der Kommerz schon in unseren Interpretationen?

bis überzogene Tempi etc. – ist morgen bereits Allgemeingut und kaum noch als
Herausforderung bzw. »kritisches Musizieren« verstehbar.
Mit derlei Bedenken freilich läßt sich leicht hausieren gehen in einer Situation,
da die Breite des Angebots der Stilistiken und Interpretationsweisen ein vordem
unbekanntes Ausmaß gewonnen hat, Musik vieler Jahrhunderte in unsere Ohren
klingt und wir auch gar nicht geneigt sind, die enger gefaßten Anhalte früherer
Epochen zu beneiden, da man wenig mehr als die Musik der eigenen Zeit
pflegte und von älterer fast ausschließlich vom Hörensagen wußte. Die obige,
von Bülow bis Harnoncourt reichende Marktlücken-Aufzählung z.B. setzt mehr
Identität des Repertoires und mehr Kontinuität seiner Pflege und ihrer Formen
voraus, stabilereVerhältnisse in dem Dreieck zwischen Werküberlieferung, derzeit
aktuellen Musizierweisen und dem Interpreten, als die historische Gerechtigkeit
erlaubt. Je enger begrenzt das derzeit musizierte Repertoire, desto weniger wird
das Verhältnis von Werküberlieferung und Musizierweise befragt und problema-
tisiert werden müssen, je größer der Ambitus, desto mehr treten ungeschriebene
Selbstverständlichkeiten und Kontinuitäten des Musizierens zurück, desto mehr
muß der Interpretierende diesen Verlust wettmachen, indem er andere Wege
bzw. Umwege zu dem Werk sucht. Für die Beschäftigung etwa mit dem mitt-
leren Haydn erscheint heute die Kenntnis der Theoretica zwischen Mattheson,
Carl Philipp Emanuel Bach und Leopold Mozart wichtiger als die – teilweise
über Tondokumente noch erreichbare – von Interpretationen der vorletzten
Generation. Muß uns, die über direktere Zugänge zu verfügen meinen, ein gar
oft noch auf gemütvolle Behäbigkeit hingetrimmter »Papa Haydn«, in dessen
Bild weder der geschärfte Esprit seiner Musik noch der Furor der »Sturm-und-
Drang«-Sinfonien unterkommen, noch interessieren?
Vielleicht doch. Neben der Authentizität der möglichst direkten, zwischen
dem Interpreten und dem Werk hergestellten Linie wo nicht als Teil von ihr
gibt es eine von der Rezeptionsgeschichte getragene Authentizität, weitgehend
unabhängig davon, ob jüngere Musiker vorangegangene Interpretationen zum
Vorbild nehmen oder nicht.Wie für Komponierende der erste Bezugspunkt die
Musik ihrer jeweiligen Gegenwart ist, auch, wenn sie negativ Bezug nehmen, so
für Musizierende die durchschnittliche Musizierweise ihrer Zeit – auch, wenn
sie ihreVorbilder woanders suchen.Wie problematisch es immer erscheinen mag,
hierbei einen »Durchschnitt« zu supponieren – bei der Auseinandersetzung mit
einem Notentext treffen allemal die in diesem enthaltenen Anweisungen mit
Vorstellungen klingender Musik zusammen, in denen sich mehr Erfahrungen
und Erlebnisse sedimentiert haben, als uns bewußt ist – ein Stück zu »innerem
Afrika« gewordene Interpretationsgeschichte. Auch wo wir bestimmtenVorgaben
opponieren, beziehen wir uns auf sie und arbeiten, wie in der obigen Markt-
lücken-Filiation angedeutet, einer Totalität interpretatorischer Möglichkeiten
bzw. Realisationen zu.
Das zu reflektieren wird der Naivität und Direktheit des interpretatorischen
Zugriffs am Ende eher förderlich sein als, wie häufig vermutet, schaden. Wir
Nistet der Kommerz schon in unseren Interpretationen? 205

können bei der Figaro-Realisierung einer Generation, deren Opernästhetik


primär an Verdi, Wagner und Strauss orientiert ist, fast alles falsch finden – u.a.
Tempi, Besetzung, Appoggiaturen – und dennoch, auch wenn wir es bei Tempi,
Besetzung, Appoggiaturen etc. »besser« machen, den Erfahrungshintergrund
von Interpreten nicht kompensieren, welche auf 500 oder mehr Opernabende
zurückblicken; wir können bei den Darstellungen des Adagios in Beethovens
Neunter Sinfonie in der Furtwängler-Generation noch so viel Bruckner oder
Parsifal eingeschmuggelt finden und dies u.a. anhand der überlieferten Tempo-
Angaben als objektiv falsch diagnostizieren – und entgehen dennoch der Frage
nicht, ob es der Musik nicht Dinge zugebracht habe, die wir nicht ignorieren
sollten, ob derlei hinreißende »Verfehlungen« nicht auch ermöglicht wurden, weil
in der Musik ein Raum für sie offenstand.Wer derlei mit dem Metronom in der
Hand als schnöde, in der Hochblüte der Kunstreligion überdies gut verkäufliche
Anpassung an den Zeitgeist verdächtigt, sollte sich klarmachen, daß es sich bei
Niederschriften von Musik um Netze handelt, welche einem Fundus von Nicht-
Fixierbarem übergeworfen sind, und daß wir MM-Angaben mitunter hoch zu
bewerten schon deshalb geneigt sind, weil sie im Ozean des Nicht-Meßbaren bzw.
verlorengegangener Selbstverständlichkeiten die Insel des präzise Gemessenen
darzustellen scheinen – auch sie nicht positiv verläßlich: in einem größeren Raum
mit dunklem, längerem Nachhall wäre ein leicht zurückgenommenes Tempo
musikalisch das gleiche wie in einem kleineren Raum ein etwas schnelleres.
Musik und Kommerz in Verbindung zu sehen wird auch dadurch erleichtert,
daß auf der Strecke zwischen Spielenden und Zuhörenden, Bezahlten und
Zahlenden eine Zwischenstation weitgehend abhanden gekommen ist, auf der
beide sich, als einer gegen kommerzielle Regelungen abgesperrten Enklave,
begegneten: Hausmusik. Nicht anders als in der – gleicherweise weitgehend ver-
schwundenen – Kultur des Briefeschreibens haben gesellig-gesellschaftliche und
ästhetische Betätigung hier in einer Weise einander durchdrungen und inspiriert,
welche die Scheidung der Bereiche – des pragmatisch-banalen von den Arcana
der »Zweckmäßigkeit ohne Zweck« – beiseite schob, kommerzielle Belange
akzidentiell erscheinen ließ und im übrigen, der anonymen Einbindung ins ge-
sellschaftliche Leben wegen, schlecht dokumentiert ist.Vermutlich ist hier, wenn
man z.B. Sinfonien in Bearbeitungen, zumal als Klaviertrio oder in Fassungen für
Klavier zu vier Händen musizierte, deren Verständnis nachhaltiger zugearbeitet
worden – man mußte üben, sich anstrengen, wiederholen, jedes musikalische
Detail auch ein körperlicher Vollzug – als in seltener stattfindenden, lange Zeit
auch nicht jedermann zugänglichen und lediglich anzuhörenden Orchester-
konzerten. Und vermutlich war das bei diesen vorausgesetzt, anderenfalls ein
halbwegs angemessenes Verständnis anspruchsvoller Werke vollends zur Utopie
verurteilt geblieben wäre.
Geübt wurde damit nicht zuletzt die Wahrnehmung weitgreifender struktu-
reller Bezüge. Neil Postmans diesbezügliche Erkenntnisse haben genug Anlaß
gegeben, zu fragen, ob wir in diesem Bereich nicht mit Defiziten zu tun haben,
206 Nistet der Kommerz schon in unseren Interpretationen?

die wir nicht mehr bemerken, weil das Sensorium für sie verlorengegangen,weil
unsere Rezeptivität zu einem Flachspeicher für zwar viele, doch wenig kohä-
rente Informationen umgeformt worden ist. Für Musik steht die Frage eher
noch schärfer, weil wir sie jeweils neu herstellen und vermuten müssen, daß
diese Defizite die jeweiligen Neu-Herstellungen mitbestimmen – u.a. beim
genüßlichen Hervorheben von Details, welche damit oft aus weiterreichenden
Zusammenhängen und Funktionen isoliert werden. Gemessen an dem mitt-
lerweile schwer nachvollziehbaren Umstand, daß mindestens zwischen Bach
und Beethoven, mit Schwerpunkt bei Haydn, die Originalität der Verarbeitung
weit über der des verarbeiteten Themas liegen und dessen Simplizität durch
besondere Ansprüche seiner Verarbeitung bedingt sein konnte, müßten wir uns
oftmals eines »Punktscheinwerfer-Musizierens« verdächtigen, welches delikaten
Augenblickswirkungen zuliebe das Ganze vernachlässigt und uns, als auf Mini-
Informationsquanten getrimmte Kinder des Fernsehzeitalters, adäquater bedient,
als wir bedient werden dürften.
Nicht nur hier. Daß die Klangaufzeichnung, welche die jeweils Spielenden
einem enorm vergrößerten Konkurrenzdruck aussetzt, die spieltechnischen
Standards nach oben gedrückt hat, steht außer Zweifel, jedoch auch, daß dies
– Gegenreaktionen nicht gerechnet – auf Kosten riskanterer Spielweisen ging.
Chopins rechte Hand soll beim agogischen Melodie-Vortrag der regelmäßig
skandierenden linken zuweilen davongelaufen, zuweilen hinter ihr zurückgeblie-
ben sein; von Alexander von Zemlinsky wird berichtet, er sei imstande gewesen,
dies in entsprechenden Passagen aufs Orchester zu übertragen; insbesondere
Zemlinsky fände heute vor den Ohren eines CD-Hörers bzw. des Tonmeisters
keine Gnade, die Kontexte des Nicht-zusammen, der Unterschied zu purem
Dilettantismus lassen sich kaum mitteilen.
Stärker noch – und mit weitergreifenden Wirkungen, weil ein Defizit, dessen
wir uns oft nicht mehr bewußt sind – betrifft das klangliche Komponenten.
Besonders in der Frühzeit der Schallaufzeichnung konnte man Extreme nicht
riskieren; heute, da derlei Rücksichten überflüssig geworden sind, müssen wir
uns fragen, ob unsere Vorstellungen insbesondere von schönem Klang, als auf ein
bequemes Mittelfeld eingependelt, nicht weiterhin von den früheren Einschrän-
kungen mitbestimmt werden – die Parallelität der klanglichen, auf hohem Niveau
anonymisierenden Hochglanzpolitur der fünfziger und sechziger Jahre mit der
Prosperität der Plattenproduktion spricht eine deutliche Sprache.
Nun sind Gegenstand und Mittel in der Musik viel zu innig verbunden, als
daß »in sich selber seliger« Schönklang nicht dazu angetan wäre, die Momente
von Anstrengung, Wagnis und Risiko unseren Begriffen vom ästhetisch Schö-
nen zu entfremden. Dem Recht des »verdienstlos Schönen«, alles Weiterfragen
unnötig zu machen wo nicht zum Sakrileg zu stempeln, steht das Recht des
Kunstwerkes gegenüber, unvollendbar zu erscheinen, den Stachel der Überschrei-
tung stehenzulassen. Ist ein mühelos gespielter Beethoven noch Beethoven, ist
jedoch ein von Anstrengung gezeichneter, falls nicht mit einem großen Namen
Nistet der Kommerz schon in unseren Interpretationen? 207

verbunden, konkurrenzfähig? Wo die Virtuosität der Spieler, die Klangorgien


großer Orchester etc. sich selbst zum Gegenstand werden und im Schönen die
Weisung verlorengeht, »warum und zu welchem Ende« es schön ist, werden sie
zu Agenten von herabgesetzten Preisen und Billigangeboten, mit denen wir es
vielerorts zu tun haben. Daß die möglichst umweglose Direktheit der künstleri-
schen Mitteilung verwechselt wurde mit der Illusion, große Musik müsse leicht
zu haben sein oder habe gar die Pflicht, sich verständlich zu machen, ist nicht
neu; neu allerdings sind Umfang und Intensität, mit denen ihr zugearbeitet wird.
Es waren nicht von vornherein zwei verschiedene Arten von Vollendung, welche
einen, der wie wenige um Vollendung rang – Eduard Steuermann –, von der
»Barbarei der Vollendung« zu sprechen veranlaßten. »Res severa verum gaudium«
ist keine Losung von Moralpredigern; »solange die Werke Mühe machen …,
dauern sie« (Brecht).
Wenn wir hierin, wofür leider vieles spricht, den Ausdruck zunehmender
Unfähigkeit sehen, die Werke ernstzunehmen, dürfen wir nicht ausschließen,
daß, was heute bedeutenden Opern auf den Bühnen angetan wird, einen Vor-
geschmack dessen gibt, was den Partituren bevorsteht. So viel immer dagegen
spricht – allemal braucht der Inszenator mehr Freiheit als der auf den Notentext
verpflichtete Musiker, und dieser Text erscheint in überwiegend zuverlässigen
Ausgaben unverrückbar festgeschrieben –, auch unsere Art zu lesen, verändert
sich, ist durch Erfahrungen und Erwartungen vorgeformt und keine tabula rasa
für eine Lektüre, mit der wir bei dem Text unbeschadet alles Vorangegangenen
jeweils als einem Nullpunkt neu ansetzen könnten. Auch am Musiker gehen
Nötigungen nicht vorüber, welche um einer Neuheit willen, die morgen alt
sein wird, große Werke weniger als Bewährungsprobe zu begreifen helfen denn
Inszenierungskonzeptionen zu zimmern helfen u.a. aus Ängsten vor dem unge-
schützten Anprall an deren »realer Gegenwart«, am Nichtauflösbaren – Ängsten,
welche leicht zu Verführungen werden, die Werke nicht ernstzunehmen. Wenn
wir uns verdeutlichen, daß wir nicht beliebig zu den Werken »als solchen« (hat
es diese je gegeben?) zurückkehren bzw. neu von ihnen ausgehen können, müs-
sen wir auch weiterfragen, wie lange diese aushalten werden, daß so wie derzeit
oft mit ihnen umgesprungen wird, inwiefern wir selbst daran mitwirken, sie zu
Hieroglyphen zu machen – bis hin zu der Frage, inwiefern sie möglicherweise
bereits Hieroglyphen sind.
Es wäre allzu einfach, dies dem Kommerz aufs Konto zu buchen, ohne zu
erinnern, daß Beethovens Ärger über Rossinis in seinen Augen billige Erfolge
durch ähnlich grundsätzliche Sorgen um das Seelenheil der Musik vergrößert
wurden; daß Liszts Schubert-Transkriptionen u.a. auch als aufgedonnerte An-
preisungen im Sinne von »Achtung, Klassik!« oder »Radio Klassik« interpretiert
werden könnten; daß der Perfektionismus von Strauss-Partituren auch herrührt
aus einem Kalkül von Aufwand und Wirkung, vor dessen Sicherheit jeder Ka-
pitalist neidisch erblassen müßte; daß bei der Toscanini-Furtwängler-Konfron-
tation, wie auch bei späteren, Verdachte schnöder Anpassung an Pragmatismus
208 Nistet der Kommerz schon in unseren Interpretationen?

und Effektivität kommerzieller Prägung immer eine Rolle gespielt haben; und
daß die Prosperität der Pflege alter Musik nicht vorstellbar erscheint ohne das
geschäftsfördernde Prestige einer – angefangen bei »Urtexten« und »Original-
instrumenten« – unzureichend reflektierten Authentizität.
Dergestalt gibt es genug Gründe, bei der Behandlung des Themas die Bo-
genform zu beachten und, zum Anfang zurückkehrend, zu fragen, wieviel
moralisierenden Aufwand ein Sachverhalt verdient, dem wir ohnedies nicht
entkommen.Würden wir jedes Konzert, die Erarbeitung jedes Details daraufhin
prüfen, ob wir auch dem Kommerz bzw. seinem Geist oder Ungeist gehuldigt
hätten, erginge es uns wie dem Tausendfüßler, welcher Auskunft geben soll, ob
er gerade den zweihunderteinunddreißigsten oder den zweihundertzweiund-
dreißigsten Fuß benutzt. Auch sollten wir uns die Idee des Wettbewerbs nicht
von der Seite vermiesen lassen, welche Erfolge, Mißerfolge und Rangordnungen
leichter und besser abrechnet. Angesichts dessen, was wir haben, gibt es genug
Anlaß, mit jenem »Gala-Pessimismus« bzw. »Miserabilitäts-Belcanto« zu sparen,
von dem Peter Sloterdijk in einem jüngst erschienenen Buch handelt.
Was tun? – weitermachen. Jene Einheit von Spiel und Ernst üben, die die
schönen Künste moralisch macht; jene Befangenheit üben, dank deren die
technische Bewältigung einer kniffligen Passage, die deklamative Erfüllung einer
Melodie jeweils die wichtigsten Sachen auf der Welt sind.
209

Klang als theoretischer Gegenstand –


Irritationen und Weiterungen

»Klang« als Leitthema eines Symposions ist eine gefährliche Wahl, erst recht,
wenn das Symposion dem Jubiläum eines oftmals »Wunderharfe« genannten
Orchesters gewidmet ist; wir machen uns verdächtig, lediglich zu Preisgesängen
und Festreden zusammengekommen zu sein. Die Sächsische Staatskapelle bedarf
dessen nicht, es wäre ihrer nicht würdig, die schönsten Feste richtet sie sich selbst
aus. Der Musizieranspruch, der ihre Klangkultur trägt, ist zu reich gefächert, als
daß die notorische Rede vom schönen Klang nicht schnell als billiger Konsens
verdächtig würde.Vor allem diese Fächerung meint Igor Markevitchs Auskunft,
er habe nie wieder ein Orchester so farbenreich, so sehr in kleinsten Facetten
nuancierend spielen gehört wie die Dresdner unter Fritz Busch zu Beginn der
dreißiger Jahre; und Herbert von Karajan wird bei der enigmatischen, vielzitierten
Metapher »Klang wie Altgold« gewußt haben, was er da ansprach und inwiefern
angesichts der Vorstellung warm leuchtenden Goldes der Einwand töricht ist,
daß niemand wisse, wie Altgold klingt. Wir sollten uns vor Augen halten, daß
die Rede vom »schönen Klang« als billige, zustimmungssichere Pauschalierung
genauso naheliegt wie die von der spieltechnischen Virtuosität amerikanischer
Orchester.
Verfänglich aber als leitender Gesichtspunkt einer theoretischenVersammlung
ist »Klang« noch viel mehr, weil es sich bei ihm um das flüchtigste, am wenigsten
faßbare Element der Musik handelt, wenngleich um ihre »eigentliche« Realität:
Musik ist wirklich, indem sie klingt. Jedoch, indem sie erklingt, verklingt sie auch,
und Klingendes entzieht sich der begrifflich fixierenden Beschreibung nicht nur,
weil diese auf Metaphern angewiesen, sondern auch, weil es im nächsten Moment
schon wieder ein anderes ist und festlegende Definitionen diesem strömenden
Kontinuum der Eindrücke nicht auf den Fersen bleiben können – glücklicher-
weise: Denn wäre dies möglich, wäre Musik nahezu ersetzbar. Heute vormittag
können wir schon nicht mehr genau sagen, wie Arabella gestern abend geklungen
hat. Wie es bei Fritz Busch, Ernst von Schuch, Richard Wagner, Carl Maria von
Weber, Johann Adolf Hasse oder Heinrich Schütz geklungen hat, weiß keiner;
und auch der aus perfekten Klangaufzeichnungen zurückgerufene Klang ist ein
anderer als der ursprüngliche, nicht gerechnet die Abhängigkeit des Klingenden
vom Hier und Jetzt, von Raum, Klima, Stimmung etc.
Es bedarf also keiner besonderen Zuspitzung, um nachzuvollziehen, inwiefern
diejenigen, die sich für das Leitthema »Klang« entschieden, die Referierenden
in Verlegenheit bringen mußten:Von Klang allein könnte man nur in Verallge-
meinerungen reden, die wir besser meiden. Wenn wir zu »Klang« nicht sofort
hinzudenken, wie er zustande kommt, wären alle Referenten verurteilt, das
210 Klang als theoretischer Gegenstand – Irritationen und Weiterungen

Thema zu verfehlen, könnten wir nur auf möglichst produktive Verfehlungen


hoffen. Fassen wir ihn hingegen als Inbegriff bzw. Ziel und Endpunkt, so wird
jeder solide Beitrag zu Geschichte und Arbeit dieses Orchesters willkommen sein,
solange – arg philosophisch gesprochen – die Selbstaufhebung des Referierbaren,
der Charakter einer Voraussetzung in bezug auf die lebendige, klingende Musik
als das nicht Referierbare mitgesetzt bleibt, damit auch der Hinblick auf die
Praxis. Dies zu betonen scheint wichtig, weil Musik und Musikwissenschaft an
unnötigen Abgrenzungen und Distanzierungen viel zu leiden gehabt haben und
noch immer leiden – Grund genug, ausdrücklich zu begrüßen, daß hier auch
Praktiker, prominente Mitglieder der Staatskapelle, zu Worte kommen.
Daß der Klang der Musik sich nicht getrennt vorstellen läßt von der Art
seiner Herstellung, rechtfertigt am ehesten die Auskunft eines Dirigenten wie
Sergiu Celibidache, welcher u.a. auch Klang zaubern konnte: der Klang sei »un-
wichtig«; oder auch die mehrmals in Lexika begegnende, sehr viel törichter, weil
reflektierter klingende, es handele sich um ein »Sekundärphänomen«.Verhielte
es sich so, wäre eben das, als welches Musik real wird, als zweitrangig angesehen,
wären wir auch zu fragen gezwungen, wo die »eigentliche« Wirklichkeit der
Musik ihren Ort habe – eine mit weitreichenden Implikationen verknüpfte
Frage, welche wir hier ebensowohl beiseite lassen, wie wir sie nicht ganz und
gar ignorieren können. An ihre Stelle setzen wir die pragmatischere nach der
Verschiedenheit dessen, was wir meinen, wenn wir von »Klang« reden – der
Geiger eine bestimmte Art der Bogenführung, der Hornist u.a. einen bestimm-
ten Tonansatz, der Paukist die Wahl der richtigen Schlägel, der Zuhörer in viel
stärkerem Maße die Außenseite, die Summe solcher Details. Die Verachtung des
Klangs als »unwichtig« und »sekundär« meint in erster Linie das, was eben als
resultierende Außenseite, einseitig als sinnliche Komponente der Musik verdächtig
ist, obendrein vergänglich, vorüberwehend auf eine Weise, welche als mangelnde
Gegenständlichkeit dem ästhetischen Denken viele Verlegenheiten bereitet hat.
Bei allemVerständnis für die scheinbar zeitenthobene Dignität innerer Strukturen,
musikalischer Logik, Architektur etc., von ästhetisch belanglosen Möglichkeiten,
klanglich »aufzumischen« oder aufzuplustern abgesehen, kann das, was klingt,
nicht als Außenseite der Musik betrachtet werden.
Allerdings legt die Geschichte der Ensemblebildung den Schluß nahe, den
Komponierenden sei zunächst gleichgültig gewesen bzw. hätte gleichgültig sein
müssen, wie es klingt – Freiheiten der Besetzung u.a. in den Liedsätzen des 15.
und 16. Jahrhunderts und der frühesten Instrumentalmusik lassen das vermuten.
Indessen gab es auch hier Normative, welche doch so gefestigt erschienen, daß
Abweichungen sich als solche darstellen konnten; auch gab es offenbar Traditi-
onen der Wahrnehmung von Raum und Räumlichkeit, welche wir etwa anhand
der Organa von Notre Dame oder altniederländischer Messen bestenfalls noch
erahnen können, klingende Erschließung von Räumen bzw. Kongruenzen
von Raum- und Klangerlebnissen, welche wahrzunehmen angesichts nachmals
verfestigter Kategorien nicht nur der Reflexion, sondern schon des Hörens
Klang als theoretischer Gegenstand – Irritationen und Weiterungen 211

schwer geworden ist. Auf diese Weise ließe sich weiterfragen bzw. vermuten,
ob Erlebnisqualitäten, welche heute mit suggestiven Klangüberwältigungen
der Orchester Wagners, Bruckners oder Mahlers verbunden sind, in früheren
Jahrhunderten tatsächlich unangesprochen blieben i.e. nicht vorhanden waren,
oder ob Verschiebungen zu unterstellen sind und also die Möglichkeit »rausch-
hafter« Zustände, etwa, wenn ein vierstimmiges Organum an einem der hohen
Festtage im Kirchenschiff großer Kathedralen erklang. Das bedeutet, umgekehrt
betrachtet, auch, daß von der Unmittelbarkeit des Klingenden Inspirationen für
die Komponierenden ausgegangen sein müssen, vielleicht ebensowichtige wie
die, die aus dem theoretischen Selbstverständnis, etwa dem Widerspiel zwischen
sakrosanktem Cantus und tropierendem Überbau, herkamen.
Die kaum abweisbare Vermutung überspringt eine seinerzeit genau beob-
achtete Unterscheidung der Zuständigkeiten des Komponierenden und des die
Realisierung besorgenden »musicus mechanicus«; dieser sorgt fürs Erklingen und
ist damit eingeschränkt aufs Nichtbleibende, in der Formulierung mittelalterlicher
Theoretiker das »opus non manens«. Die Unterscheidung freilich mag mehr
den Gegenstand als die Personen betroffen haben; immerhin war sie geeignet,
die beunruhigende Widersprüchlichkeit zwischen geschriebenem, bleibendem
Text und vergänglichem Klang auf dem Umweg über Kompetenzverteilungen
ruhigzustellen, welche im Gefolge des 11. Buches der Augustinischen Confessiones
auf den Begriff gebracht und jedem Gebildeten vertraut war. Auch ist nicht an-
zunehmen, daß das Verständnis kompositorischer Strukturen vom Begriff eines
Ganzen, bei dem nichts fortgelassen werden kann, bis zu Listenius’ Formel des
»opus absolutum et perfectum« (1537) sich zunehmend verfestigt hat, ohne daß
man von der gesicherten Bastion aus nach der ungesicherten je einmaligen Rea-
lisierung, nach ihrer Vergänglichkeit und ihren Verpflichtungen in bezug auf den
fixierten Text gefragt hätte. Die grosso modo unterstellte und notgedrungen oft in
Anspruch genommene Besetzungsfreiheit jedenfalls taugt kaum als Beweis dafür,
daß dem Komponisten gleichgültig gewesen sei, wie das Komponierte klingt.
Aus der Reflexion des »movere animos« oder spezieller Wirkungen der Musik
auf melancholische Gemüter etc. läßt sich das Interesse der Komponierenden an
der Unmittelbarkeit des Klingenden und seiner Rezeption sicher erschließen.
Die Gründungsurkunde der nachmaligen Staatskapelle, welch dem diesjäh-
rigen Jubiläum den Rechtstitel verschafft, markiert eines der frühesten Daten
einer Entwicklung, in der musikalische Strukturen und Institutionen konvergie-
ren und einander an die Hand arbeiten – mit der Folge einer Annäherung von
Komponiertem und Klingendem, Text und Realisierung, die die Zuständigkeit
des Komponierenden erweitert und die des Ausführenden einschränkt – in bezug
auf unser Thema: in deren Zuge Momente des Klanglichen in die Reichweite
der Komponierenden geraten. Notwendigerweise wird das Orchester nicht
nur als zunehmend differenziertes und leistungsfähiges Realisierungsmittel, als
»Multiplikator« begriffen, sondern bald auch als Stellvertretung der Zuhörenden,
mindestens als die musikalischen Ideen bzw. die Handlung und ihre Kontexte
212 Klang als theoretischer Gegenstand – Irritationen und Weiterungen

sowohl tragend als auch beantwortend, gewissermaßen (der Vergleich begegnet


bei A.-E.-M. Grétry) als moderne Stellvertretung des Chores der antiken Tragödie.
Derlei Vergleiche sind auch wichtig als Reflexe auf die Macht des Klingenden.
Selbst wenn man das Faktum unter Hinweis auf »Gefühlsmoden«, etwa in der
Zeit der Empfindsamkeit, relativieren möchte – es kann kein Zufall sein, daß in
den Jahrzehnten, da das Orchester im modernen Verständnis sich konstituiert,
Zeugnisse der emotiven Wirkungen sich häufen und das Ungenüge an der
braven, von den Unwägbarkeiten fühlender Herzen kaum berührten Katego-
rientafel der barocken Affekte sich deutlich artikuliert. Daran, kein Zweifel, hat
auch die besondere Wucht erstmaliger oder seltener Erlebnisse teil (man denke
an die Wirkung der Mannheimer Raketen und Crescendi) – in einer für das
ästhetische Denken beängstigenden Weise, wie bei Kant, Schiller und etlichen
Geringeren nachzulesen, wie selbst bei Mozart zu ersehen, wenn er gelegentlich
der Bändigung des Ausdrucks ungebändigter Affekte bei Osmin davon spricht,
daß die Musik allemal »Musik bleiben« müsse; besonderes Gewicht erhält die
Bemerkung durch die mitbedachte Möglichkeit, daß Musik es auch anders
könne. Wenn der Gesichtspunkt, daß man, um als Musiker einen bestimmten
Affekt zu treffen, zuvor sich in diesen »setzen« müsse, toposartig nahezu überall
begegnet, wo von musikalischem Vortrag die Rede ist, dann doch wohl auch,
weil Kontrollen eingebaut werden mußten. Auch von Leuten, die sentimentaler
Empfindsamkeit kaum verdächtig sind, wieVoltaire und Casanova, wird berichtet,
daß sie bei Musik die Fassung verloren haben; von anderen, auch Ausführenden,
sowieso; Moses Mendelssohn muß sich abendliche Musikaufführungen versagen,
weil sie ihn in gefährlicher Weise erregen etc. Solche Zeugnisse lassen uns neu auf
vertraute Musik blicken, derer wir uns – gerade auch, was ihre Wirkungen angeht
– sicher wähnten, sie stellen diese Musik in ein anderes Licht und führen eine
Unmittelbarkeit musikalischer Wirkungen vor Augen, welche am allerwenigsten
denkbar erscheint ohne die oft hart gescholtenen, vorgeblich subalternen, die
»sinnlichen« Komponenten der Musik – die klanglichen.
Freilich ist die zunehmend verkürzte Strecke zwischen Text und Klang
keine Einbahnstraße, die Klangmittel »wollen« nicht mehr nur Mittel bleiben,
das Orchester komponiert mit – als Anspruch, Dimension, als Ensemble und
Apparat. In den Aufwänden barocker Ouvertüren-Einleitungen, musikalischen
Insignien von Majestät, Macht und Drohung, protokolliert der Komponierende
vornehmlich, was die Konstellation der Klangmittel ihm in traditioneller Weise
diktiert; die überkommene Verknüpfung von Instrumenten mit bestimmten
musikalischen Gesten, Gangarten, Rhythmen etc. verdeutlicht auch, wie Klang
und Text komplexhaft verbunden sind – noch ex negativo, wenn, wie in zwei
der vier Bachschen Ouvertüren-Suiten, die »lauten« Instrumente fehlen. Die
Überredungskraft expansiver Aufwände, großer Dimensionen erreicht eine
neue Qualität, wo diese der musikalischen Idee bzw. Struktur als antwortendes,
produktives Medium gegenübertreten: ein Streichquartett z.B. könnte die Textur
des Allegretto aus Beethovens Siebenter Sinfonie nicht tragen, die mehrmalige
Klang als theoretischer Gegenstand – Irritationen und Weiterungen 213

Wiederholung des vierundzwanzigtaktigen »Themas« müßte informationsarm


erscheinen, weil ein wichtiges Moment fehlt: die allmählich fortschreitende
Aneignung der Musik durch den Apparat, der um sich greifende Rundgesang.
Mit deren Hilfe hingegen kann das Komponierte taktile Qualitäten gewinnen, es
rückt dem Hörer auf den Leib und fordert Resonanzen ein, denen er sich nicht
entziehen kann, oft nahe heran an Grenzen, wo der Klang zur Gewalttat wird: er
»mißbraucht« den Umstand, daß man ihm sich nicht verweigern, die Ohren nicht
verschließen kann. Gerade hieran mag deutlich werden, wie breit die Klaviatur
der Rezeptionsmöglichkeiten ist, auf der der Komponist mit Hilfe des Orchesters
vom strukturbewußten Hören bis hin zum taktil »unterjochten« spielen kann.
Billig wäre es, alte Vorurteile in die Charakterisierung dieser Klaviatur hinein
zu verlängern und strukturelle Momente schlicht mit Rationalität, klangliche
vornehmlich mit sinnlicher Unmittelbarkeit verbunden zu sehen. Die Kompetenz
und Macht musikalischer Eindrücke und Wirkungen rührt wesentlich daher, daß
beides, und dazwischen noch viel mehr, sich wechselseitig durchdringt und in
einer Weise ineinander aufhebt, die die Rede von den zwei polaren Komponenten
gegenstandslos macht.Von dem so schwebenden wie gespannten Pianissimo z.B.,
auf das die Staatskapelle sich unübertrefflich versteht, ist, auch abgesehen von
kompositorischen Zusammenhängen, das spirituell-meditative, gewissermaßen
meta-rationale Moment nicht wegzudenken.
Solche Pianissimi machen uns das Faszinosum einer »primären Klangform«
vorstellig, um eine anschauliche Begriffsprägung zu zitieren, wobei »primär« im
Sinne einer gewissen Emanzipation von Struktur und Zusammenhang verstanden
werden mag. Das Tremolo Brucknerscher Sinfonie-Anfänge gibt Klang nahezu
vor der Anmeldung strukturierender Ansprüche, Wagners Rheingold-Vorspiel
erscheint eher als kompositorische, wenn nicht poetische Idee denn als musi-
kalische Struktur. Da jegliche musikalische Form auch angesehen werden kann
als Rechtfertigung des Wunders artifiziellen Tönens, wäre derlei zuständliches
Tönen auch zu verstehen als Musik vor der Musik, als nie lange währender Un-
schuldsstand eines zum Klingen gebrachten, puren, voraussetzungslosen Da-Seins,
welches nichts »will« und nichts bedeutet als sich selbst. Das gilt ähnlich für etliche
Passagen langsamer Sätze zwischen Mozart und Mahler – auf eine Weise, welche
zu Spekulationen einlädt, inwiefern differenzierte musikalische Strukturen nicht
auch als Vorwände fungieren, um jene zweite Naivität eines absichtslosen, für
sich selbst sinnhaften Tönens zu ermöglichen, Bewußtmachungen im Dienste
eines aller Bewußtheit unbedürftigen Klingens – gute Gründe mindestens, die
»argumentierenden« Komponenten zeitweise zu vergessen.
Hier waren und sind Orchester die Lehrmeister. So sehr freilich die gemeinten
Passagen, unmittelbar gefunden, wie Geschenke anmuten, sie kommen weder ex
nihilo noch »frei von den Göttern herab«. Sie müssen in früherer Musik vorausge-
hört worden sein,Weber muß die Hörner oder die hohe Klarinette des Freischütz
andeutungsweise woanders vorausgehört haben, Wagner die Oboe des Karfrei-
tagszaubers, das Englisch-Horn des Tristan oder die Sommernachtstraum-Musik der
214 Klang als theoretischer Gegenstand – Irritationen und Weiterungen

Streicher im zweiten Meistersinger-Akt.Von irgendeinem Ufer muß die erfindende


Phantasie, die die Seele des Instruments scheinbar neu entdeckt, sich abgestoßen,
von irgendetwas schon Bekanntem, irgendwelchen Traditionen und Erwartungen
in bezug auf Ton,Tonfall,Toncharakter muß sie ausgegangen sein – auch in wag-
halsigen, an bewährtenVorgaben ganz und gar vorbeisehenden Lösungen wie den
primär klanglich konzipiertenVorspielen zu Lohengrin und Parsifal, Lösungen, von
deren sprachkräftiger Faszination die Raffinesse des Argumentationsverzichts kaum
sich trennen läßt: weil Zuordnung zu einem strukturgebenden Bedeutungs- und
Bezugsfeld verweigert wird, muß das Klingende, auf sich selbst zurückgeworfen,
aus sich selbst Bedeutung akkumulieren.
Hier mögen die Anstöße zu suchen sein für Systematisierungsversuche wie
Schönbergs »Klangfarbenmelodie«, eine contradictio in adiecto mindestens,
solange der Begriff der Melodie behaftet bleibt mit dem Anspruch auf eine
Folgerichtigkeit, kraft deren der eine Ton dem anderen folgt, eine partiell nicht
nur die gerade erklingende Melodie betreffende, also normative Logik.Von einer
solchen ist Klang als Parameter weiter entfernt als jeder andere. DieVerbindlichkeit
normativer Regelwerke, wie sie im Bereich von Harmonie und Kontrapunkt
solide und vielfältig ausgebildet wurden, nimmt über Rhythmus, Metrum und
Melodie zum Klang hin kontinuierlich ab, die Plausibilität, mit der eine klang-
liche Disposition der anderen folgt, läßt sich nicht nur, weil besonders eng mit
anderen Parametern verknüpft, nicht in Regeln fassen; keine Klangfarbe muß
der anderen folgen mit der Notwendigkeit, welche die Harmoniefolge innerhalb
einer Kadenz regiert.
Ein dergestalt gesetzesfreier Raum ist zugleich ein Freiheitsraum, die Ver-
einnahmung der Parameter durch das Komponieren stößt hier auf Grenzen.
Wohl kann der Instrumentierende die Vorgaben in sensiblen Farbmischungen
aufs äußerste zu präzisieren versuchen, kann Klänge »abschmecken«, wohl kann
er, wie spätestens ab Weber über Wagner, Strauss, Schönberg, Debussy bis hin
zu Lutoslawski und über ihn hinaus, Farbwerte strukturieren und klanglichen
Momenten auf vielerlei Weise den Ruch des sekundär sich Ergebenden, der
unwichtigen Außenseite zu nehmen versuchen: wie ein Bläser an das Solo eines
Kollegen anschließt, wie Streicher ein »dolce piano« ansetzen, welche Abfederung
ein Orchester beim »fp« bevorzugt, welches Einschwingverhalten bei massiven
Akkordsäulen, kann er nicht vorschreiben; hier behauptet sich ein letztes Re-
servat der Improvisation und der Spieltraditionen. Beides hängt zusammen:
Orchesterklang entsteht aus unendlich vielen stillschweigenden, teilweise kaum
artikulierbaren Verabredungen und Übereinkünften, er ist das luftige »Haus« des
Orchesters; wer eintritt, muß sich an die Hausregeln halten.
Wenn ein Orchester wie unser Jubiläumskind im Sinne solcher Hausregeln
die Kontinuität vom jetzt Klingenden höchst konzentriert ins demnächst Klin-
gende verlängert, wenn jeder hinzukommende Spieler empfinden, erkennen,
gestalten muß, inwieweit sein Beitrag sich aus dem Vorangehenden ergibt, also
anschließen und sich einfügen muß, oder wie hoch der Neuigkeitswert ist, er also
Klang als theoretischer Gegenstand – Irritationen und Weiterungen 215

vorsichtig hervortreten darf, erfüllt sich, unabhängig von der jeweiligen Stilistik,
nicht wenig vom Traum einer allerengsten Verknotung von Struktur und Klang,
verliert letzterer nahezu alles Odium des von woandersher Verursachten und der
Außenseite. Diese nicht planbare Verknotung findet in jenem letztverbliebenen
Reservat statt und bleibt Sache der Musizierenden, oft Geschenk glücklicher
Konstellationen und immer dasjenige eines kommunikativen Niveaus, welches
die Vorstellung weit hinter sich läßt, das Ganze müsse sich wie von selbst zu-
sammenfügen, wenn nur jeder genau realisiert, was seine Stimme vorschreibt.
Stufungen der Wichtigkeit, wie die von Schönberg eingeführte Kennzeichnung
von Haupt- und Nebenstimmen, lassen sich nur ungefähr bestimmen, Differen-
zierungen selbst in Aufführungen mittlerer Ensembles übertreffen das Fixierbare
bei weitem; dynamische Vorschriften z.B. geben allemal nur Relationen an zum
Raum, zur Zahl und Konstellation der Mitspielenden etc.; unter veränderten
Bedingungen kann die Identität einer interpretatorischen Konzeption mögli-
cherweise durch Modifikationen u.a. des Tempos und der Dynamik eher gewahrt
bleiben als bei starrer Fixierung. Der Tendenz zu immer detaillierter notierten
Stimmen entgegen, die dem Spieler bei der Einpassung seines Parts ins Ganze
möglichst viel abnehmen sollen, überlebt in der in das Totum des soeben Klin-
genden hineinhörenden und spielenden Aktivität des Musikers die alte Tradition,
die eigene Stimme vor allem als einen bestimmten Weg hinein ins Ganze wahr-
zunehmen und zu gestalten. Man könnte das »kammermusikalisch« nennen u.a.
im Sinne des Streichquartett-Topos vom gleichberechtigten Gespräch von »vier
vernünftigen Leuten« oder, weiter zurückgehend, als herstammend aus Zeiten,
da vermeintliche Unvollkommenheiten der Notation den Spieler oder Sänger
unabdingbar zwangen, auf die anderen Stimmen zu hören – etwa in der Mensu-
ralnotation, wo die Länge eines in Ligatur notierten Tons sich zuweilen erst aus
dem Zusammenhang ergab. Insofern eine besondere Aktivierung, ein bestimmtes
Niveau des Hineinhörens und -spielens ins Ganze von der Mehrdeutigkeit des
Geschriebenen erzwungen wurde, sollte man von »unvollkommener« Notation
besser gar nicht sprechen. Und erst recht nicht, weil auch unsere Notation bei
näherer Prüfung, wenn auch in geringerem Maße, mehrdeutig und auf Abstim-
mung unter den Musizierenden angewiesen ist, nicht nur solche, die in dem aus
Spieltraditionen und wohlbedachter Improvisation erbauten »Haus« eines guten
Orchesters praktiziert werden.
Daß es den schönen Klang nicht gibt, könnte als überflüssiger Allgemeinplatz
abgetan bleiben, neigten einschlägige Lobgesänge nicht häufig zu Pauschalie-
rungen, in denen regelmäßig die Frage untergeht, im Hinblick worauf und auf
welche Weise ein Klang schön sei. Der Gesichtspunkt erscheint besonders wichtig
in Anbetracht dieser regelmäßig wiederkehrenden Kalamität der Klang-Panegy-
riker: Einerseits die je einem Orchester speziell gehörige Klangkultur preisend,
müssen sie andererseits, bezugnehmend auf die sehr unterschiedlichen Aufgaben
eines Orchesters, sehr unterschiedliche Facettierungen benennen und landen oft
bei einer Pluralität der Bestimmungen, bei der besondere Charakteristiken der
216 Klang als theoretischer Gegenstand – Irritationen und Weiterungen

einzelnen Orchester kaum noch erkennbar sind. Aus guten Gründen läßt sich
keiner gern auf eine eingehende detaillierte Bestimmung klanglicher Differenzen
etwa zwischen der Sächsischen Staatskapelle, dem Gewandhausorchester, den
Berliner und Wiener Philharmonikern ein, geschweige denn auf eine Auskunft,
was eines dieser Orchester seiner Eigenart gemäß besser könne als die anderen.
Zu bemängeln, daß man lieber bei vergleichslos in der Luft hängenden Superla-
tivierungen stehenbleibt, besteht freilich wenig Anlaß. Denn nicht nur gehören
klangliche Kriterien zu den am schwierigsten bestimmbaren; der um präzis ein-
grenzende Definitionen Bemühte bekommt überdies mit dem Problem zu tun,
daß, je klarer er spezifiziert, er desto deutlicher andere Bestimmungen ausschließt,
mithin z.B. bei einer explizit bescheinigten Eignung als Wagner-Orchester den
Umkehrschluß nahelegt, daß die Eignung für Mozart Grenzen haben müsse.
Wir gehören nicht zu den unkritischen Festrednern, wenn wir feststellen, die
Staatskapelle widerlege diese Schlußfolgerung schlagend.
Freilich müssen wir dann auch genauer sagen, inwiefern ein sehr spezifisch
geprägter Klang und Musizierstil zusammengehen kann mit der Eignung für
Musik unterschiedlichster Art – und eben das ist schwierig. Gewiß kann eine
solche Prägung – diese Antwort erscheint angesichts dessen, was da klingt (gestern
in Arabella, heute in der Walküre, übermorgen in Così), unangemessen pauschal
– nur in einem je besonderenVerhältnis oder Zusammenspiel unterschiedlich an-
gewandter Kriterien bestehen, einem Zusammenspiel, innerhalb dessen z.B. eine
mit dunklen Tönungen verbundene Wärme des Klangs kompensiert und gegen
Verdickung abgesichert wird durch kammermusikalische Transparenz,Weichheit
des Ansatzes durch Präzision, welche erforderlichenfalls harte Attacken ermöglicht
etc. Im Sinne einer solchen Dialektik von Grundprägung und unterschiedlichen
Anwendungen muß zur besonderen »Schönheit« des Klanges allemal das Mo-
ment des Sprechenden gehören, darüber hinaus ein Moment der Spannung:
denn irgendwo gibt es (nicht im Sinne schematischer Bestimmungen etwa als
Mozart- oder Strauss-Orchester) ein Gravitationszentrum, eine »Mitte«, von wo
aus die »Seele«, goethisch gesprochen die »Entelechie« des Klanges zu jeweiligen
Aufgaben hingebogen werden muß. Die trockene, helle, obertonarme Härte des
klassizistischen Strawinsky z.B. liegt bei der Kapelle gewiß nicht in jener Mitte;
jedoch sprechen die Intelligenz und das professionelle Vermögen, mit denen sie
anvisiert und wahrgenommen wird, in ihrem Sinne stärker, sagen sie mehr aus
als eine pure, unproblematische, durch keinerlei bewußte Annäherung verschärfte
Präsenz; ein hochgespanntes, zugleich aufs äußerste zurückgenommenes »ppp«
kann bei Bruckner oder Debussy Welten auftun, seine bewußte Vermeidung bei
Haydn, wo es geschmäcklerisch erscheinen könnte, gibt ihm besondere Ein-
dringlichkeit. Schön im Sinne hoher Musizieransprüche ist Klang immer nur
in solchen intentionalen Ausrichtungen, i.e., wenn er auf eine bestimmte Weise
spricht und Struktur reflektiert – selbst in den oben angesprochenen »primären
Klangformen«, bei denen Vorausschau oder Rückblick auf bevorstehende bzw.
eben vernommene Musik stets zur Sache gehört. Weil die spieltechnischen
Klang als theoretischer Gegenstand – Irritationen und Weiterungen 217

Standards moderner Orchester klangliche Beschönigungen begünstigen, darf


nicht unbedacht bleiben, daß Beschönigungen Vergröberungen sind, klangliche
Nuancierungen entsprechend immer auch Einsprüche gegen die Verödung des
Ohrs in einem primär optisch dominierten Zeitalter, das mit dem Wunder des
artifiziellen Klangs inflationären Mißbrauch treibt.
Vielleicht noch mehr. »Das Ohr«, hat Herder gesagt, »ist der Seele am nächsten«,
und fast als Ergänzung formulierte sein Zeitgenosse, der Naturwissenschaftler
Lorenz Oken: »Das Auge führt den Menschen in die Welt, das Ohr führt die Welt
in den Menschen.« Daß wir das Ohr, anders als das Auge, nicht verschließen,
also nicht entscheiden können, welche Höreindrücke wir einlassen und welche
nicht, hat nicht nur mit der Herkunft des Hörsinnes aus dem Tastsinn, also mit
palpatorischen Komponenten zu tun; was uns berührt, rückt uns auf den Leib und
erfordert gegebenenfalls sofortige Reaktion, wohingegen Gesehenes sich zumeist
in einer Distanz befindet, welche uns Zeit zum Reagieren läßt, oft gar Zeit, zu
überlegen, wie wir reagieren sollten. Klingendes berührt uns und »meint« uns
direkter als Gesehenes, schon die früheste Wahrnehmung von Umwelt, die des
Herzschlages der Mutter im Mutterleib, ist mit Klang und Rhythmus verbunden.
Vernommen haben wir viel früher als gesehen, wie auch die Sprache weiß. »Ver-
nunft« kommt von »vernehmen«, erscheint also ursprünglich bezogen auf etwas,
worin wir uns befinden, indem wir es wahrnehmen, das uns einhüllt und nicht
im Sinne des Gegenübers von Subjekt hier und Objekt dort vor uns hingestellt
ist. Für die Risiken dieses Darin, mithin stets Berührtseins hat die Natur Vorsorge
getroffen: In der Cochlea befinden sich mehr Nervenzellen als irgendwo sonst.
Im Zeichen der zunehmenden Dominanz eines optischen, rationalen Weltver-
hältnisses – beides hängt zusammen – erscheint diese Anreicherung nicht mehr
vonnöten, sie verödet. Gehört zu dem von großer Musik oft beschworenen Fas-
zinosum des Klangs nicht auch eine untergründige Sehnsucht nach dem Paradies
einer zugleich um und in uns tönenden Welt, nach »musique maternelle« und
der mit ihr verbundenen Identität von Angerührt- und Geborgensein?
219

Momentaufnahmen

Geschehenlassen. Berlin-Ost, Ende der sechziger Jahre: Celibidache kommt zur


Staatskapelle, um über die Mauer hinweg zu demonstrieren, wo und wer die wahre
Musik spielt. Er genießt, daß die Musiker, ein paar unterbeschäftigte Blechbläser
ausgenommen, an seinen Lippen hängen und hält sich lange beim Lever du jour
in Ravels zweiter Daphnis-Suite auf, ohne um genaue Koordinationen, etwa der
murmelnden Flöten und der Harfe, besorgt zu sein. Noch mehr genießt er, daß
er unterbrechen und neu anfangen kann, zögert den ersten Auftakt lang hinaus,
probiert die Anfänglichkeit der Musik mehr als sie selbst; er will ihrem Beginn
alle Absichtlichkeit des Jetzt-geht’s-los nehmen, sie soll von selbst kommen – so,
wie der Pfeil eines Zen-Mönchs sich vom Bogen löst. »Woher soll ich wissen,
wann?«, hatte er einmal einen Musiker angeblafft, als der ihn bat, das Pizzikato im
fünften Takt des Andante moderato in Brahms’ Vierter Sinfonie deutlich anzugeben
– die Klarinetten sollen es herbeiholen.
Das Risiko, daß etwas entsteht, sich ereignet, daß es »wird«, der Übertritt
vom Schweigen ins Tönen duldet keine Manipulation, keine technisch, mithin
äußerlich regulierte, das Ereignis verkleinernde Sicherheit. Bei Ravel bewegte
Celibidaches diszipliniert geführte Taktstockspitze sich millimeterweise, wie auf
der Suche nach dem Punkt, wo eher die Erwartung des Eintritts, die psychische
Spannung zu tönen beginnt als irgendein Instrument; in der Bewegung steckte
in nuce Heideggers Technik-Kritik.
So haben wir den Anfang nie gehört, so werden wir ihn nicht wieder hören.
Weil immer einbegriffen war, daß es schiefgehen und neu versucht werden könne,
weil die Probe ohne Zwang, daß es jetzt, genau jetzt klappen müsse, Freiheit ge-
genüber diesem Risiko gewährt und alle Absichtlichkeit aufs äußerste abzusenken
erlaubt, ging Ravels Sonne im Konzert längst nicht so wunderbar auf.

✵✵✵

Disziplin in Freiheit, Freiheit durch Disziplin. Zwei Cellisten eröffnen Lutoslawskis


Trauermusik in der konzentriertesten aller konzentrierenden Lösungen – als eng
verschlungenen Kanon (der zweite Cellist setzt nach dem ersten Ton des ersten
ein) einer Zwölftonlinie, die mit zwei Intervallen – Tritonus und kleine Sekund
– und zwei Tonlängen – Halbe und punktierte Ganze – auskommt. In ihrer
Grundgestalt (s. Beispiel) verschränken sich zwei chromatische Quartabgänge,
»Lamentobässe« bzw. »passus duriusculi«, seit dem 15. Jahrhundert geläufige Kla-
ge- und Trauersymbole; hier sind sie Béla Bartók zugedacht, der, als Lutoslawski
an dem Stück arbeitete, vor zehn Jahren gestorben war. Mit nur zwei Intervallen
und Tonlängen eine über die vermeintlichen Strangulierungen der Dodekaphonie
220

weit hinausgehende Beengung – kommt hinzu, daß beim Tritonus als einzigem
Intervall die Umkehrung dasselbe Intervall, wieder ein Tritonus, folglich die
transponierte Krebsumkehrung der Grundreihe mit dieser identisch ist.

Noch mehr kommt hinzu: Der als schlimmes Exempel zerebraler Rechnerei
verschrieenen Dodekaphonie stülpt Lutoslawski ein ähnlich verschrieenes
Verfahren über, die die Motetten des 14. und frühen 15. Jahrhunderts prägende
Isorhythmie, die Benutzung einer bei unterschiedlicher Tonhöhen-Besetzung
gleichbleibenden rhythmischen Reihe, damals »talea« genannt (s. Beispiel).Würde
sie ebenso viele Töne umfassen wie die Reihe, wäre es zwar einfach, aber ein
allzu enges, den Komponisten auf sture Wiederholungen festlegendes Korsett.
Deshalb bevorzugte man seinerzeit oft einfache Teilungen – eine rhythmische
Reihe mit doppelt soviel Positionen wie die melodische bzw. umgekehrt oder
Teilungen in denVerhältnissen 2:3 oder 3:4, welche sicherstellen, daß die Anfänge
nach wenigen Durchläufen neu zusammentreffen und zur Untergliederungen
des Ablaufs dienen können.
Lutoslawski indessen besorgt sich härtere Bandagen. Seine mit den 12 Tönen
der Reihe kombinierte Talea umfaßt 17 Töne, so daß die Anfänge der beiden
Reihen erst nach 12 mal 17 = 184 Tönen wieder zusammentreffen würden,
überdies, weil sich innerhalb der Talea drei punktierte Ganze befinden, erst nach
276 Taktzeiten. Dergestalt befindet sich der Konvergenzpunkt in so weiter Ferne,
daß er – abstrakt gedacht läge es nahe – als Ziel einer steigernden Aufschichtung
nicht in Frage kommt. Nach zwei Dritteln der hierfür erforderlichen Strecke,
nach dem achten Durchlauf der – immer neu permutierten – Zwölftonfolge biegt
Lutoslawski ab, nach dem 8 mal 12 = 160sten Ton; dank der drei punktierten
Ganzen, die den Gleichlauf der Halben unterbrechen, ergibt das 184 Taktzeiten
Momentaufnahmen 221

– genau die Zahl, die die Töne nach dem weiteren Drittel der durchmessenen
Strecke am Konvergenzpunkt von 12 und 17 erreicht hätten.
Die von der Unvereinbarkeit der beiden Zahlen bewirkten Verschiebungen
führen Neukombinationen von Tonhöhen,Tonlängen und Artikulationen herbei,
deren Spielräume dank nur zwei verwendeter Intervallschritte klein sind, sich
gegen deren Hintergrund jedoch als ausdrucksstarke Gesten darstellen; stets
handelt es sich um Dreitongruppen mit einem kleinen Sekund- und einem Tri-
tonusschritt, die durch die Artikulation zusätzlich profiliert werden. So entsteht
der Eindruck unablässig sich wandelnder Kristallisationen desselben Grundstoffs,
einer musikalischen Übersetzung von deterministischem Chaos, welche mit
Kategorien der kontrollierten Aleatorik – bei ihr wird Lutoslawski im nächsten
Werk ankommen – genauso angemessen beschrieben werden könnte wie mit
denen der Dodekaphonie. Diese erscheint gerade durch das überstrenge Regle-
ment an die Aufhebung ihrer selbst herangeführt.
»Geradeaus« im Sinne der einmal etablierten Regel spielen, regelmäßig zwi-
schen Grundgestalt und Umkehrung wechselnd, vorab – im Tritonus-Abstand
– die Celli. Schon der nächstfolgende Einsatz der ersten Bratsche läßt sich von
den Reglements aus zwar schlüssig, jedoch nur umwegig erklären, so daß man
fragen darf, ob primär von ihnen aus über ihn entschieden worden ist (gleichzeitig
spielt sie zwei Töne dem ersten Cello hinterher) – ein transponierter Krebs der
Reihe, dem der erste Ton cis zu fehlen scheint; den hat das zweite Cello an der
richtigen Stelle, wenn man zugrundelegt, daß die Bratsche nach der ersten Talea
des zweiten Cellos, nach dessen ersten 17 Tönen einzusetzen hat. Der Einsatz
der zweiten Bratsche indessen widerlegt das entliehene cis, weil exakt nach der
ersten Talea der ersten Bratsche erfolgend, wenn man zugrundelegt, daß deren
Reihe mit dem ersten realiter gespielten Ton beginnt. Im übrigen spielt die zweite
Bratsche der ersten im Tritonusabstand nur einen Ton, außerdem dem zweiten
Cello im Oktavabstand zwei Töne hinterher wie die erste Bratsche beim ersten
Einsatz dem ersten Cello. Die dritten und vierten bzw. ersten und zweiten Vi-
olinen setzen jeweils paarig in der Anfangskonstellation der Celli ein, die erste
Violine genau, nachdem die vierte ihre Talea absolviert hat.
Das zuletzt eingetretene Stimmenpaar schafft eben noch zwei zwölftönige
Durchgänge, ehe das Reglement zusammenbricht, dessen Fügungen auch an-
ders, freilich nicht weniger umständlich hätten beschrieben werden können.
Die nach dem zweiten Violinenpaar (I und II) eintretenden ersten Kontrabässe
können das Ende der Violin-Talea nicht abwarten, setzen schon nach den zwölf
Tönen der Reihe ein und bringen nur noch eine eigene zustande, ehe es fast
zum Credo quia absurdum der, mindestens dieser Dodekaphonie kommt: Im
Übereinander von vier jeweils hart akzentuierten Längenwerten (fünf Halbe,
punktierte Ganze, Ganze, Halbe) bleiben nur die Töne f und h übrig, was sich
noch zweimal wiederholt, dazwischen jeweils ein achtstimmig enggeführter
Kanon der Grundgestalt bzw. Umkehrung, in gleichmäßigen Halben laufend,
also ohne Talea.
222 Momentaufnahmen

Lutoslawski, der sich von Debussy, Bartók, Strawinsky, Varèse und Cage stärker
angeregt fand als von Schönberg und in einem Gespräch kurz vor seinem Tode
inspirative Momente ausdrücklich hervorhob, hat sich auf abstrakt vorausgesetz-
te, Rahmen und Spielregel sichernde Dodekaphonie nie eingelassen, sondern
nur – und oft – als jeweils neu formulierten, mit der Werkidee verbundenen
und mit dieser dem Risiko ausgesetzten Testfall. Demgemäß handelt es sich bei
dieser Implosion, welche als irreduziblen Baustein nur den Tritonus übrigläßt
und ihn obsessiv einhämmert, nicht allein, nicht einmal in erster Linie um einen
tektonischen Einbruch, sondern zugleich um einen affektiven; das ästhetische
Ich der Musik verbeißt sich in den einen Baustein, lädt ihn mit seiner Insistenz
auf und kommt nicht los.
Nach den die Mitte des Werkes bildenden Metamorphosen gewinnt Lutoslawski
Reihe und Talea über ein die zwölf Töne bündelndes Apogäum im triumphalen
Unisono zurück. Doch zerfallen sie trotz kontrapunktischer Gegenmaßnahmen
schnell und ähnlich wie gegen Ende des ersten Teils – wieder homogen-mecha-
nisch ineinandergefügte, nur mehr erinnernde Kanonverläufe und im Tritonus
f/h sich festbeißende Repetitionen. Am Schluß im Cello, mit dem es begonnen
hatte, ein Echo vom Echo vom Echo, worin nochmals die Identität der von der
Musik gemeinten Trauer mit der Trauer angesichts einer zerborstenen Struktur
aufscheint.

✵✵✵

Machtgeschützter Innenraum. Wenn der Anspruch der argumentativen Befestigung


eines Aspektes eines Gegenstandes Maßstäbe setzt für die Vernachlässigung eines
gleich wichtigen anderen Aspektes desselben Gegenstandes, erscheinen die
Dirigenten-Kapitel in Canettis Masse und Macht und Adornos Einleitung in die
Musiksoziologie auf hohem Niveau töricht. Beide widmen sich ausführlich dem
Aspekt der Machtausübung, wozu Potentaten wie Hans von Bülow, Mahler,
Toscanini, Mengelberg, Reiner, Szell, Mrawinsky, Karajan etc. genug Handhabe
bieten, und versäumen die Frage, deren Beantwortung auch der gruppen- bzw.
sozialpsychologischen Vertiefung dienlich gewesen wäre: Wozu?
Viel Demokratie kann man bei der Orchesterarbeit nicht wagen, über Stu-
fungen von Forte und Piano, Tempi oder Aufführungskonzeptionen kann man
nicht abstimmen lassen – am wenigsten, weil der Zeitaufwand immens wäre.
Abstimmung, auch im anderen Sinn des Wortes, findet auf andere Weise statt,
und hierfür bedarf es der Fokussierung, nicht nur, weil einer den Einsatz geben
und koordinieren muß. Schon bei halbwegs anspruchsvollen Partituren sind die
Spielenden mit ihrem Part bzw. sich zu sehr beschäftigt, als daß sie viel Aufmerk-
samkeit für das Ganze der Musik abzweigen oder gar dieses, wie einstmals am
Cembalo oder anderswo mitspielende Komponisten, vertreten könnten. Dessen
jedoch, eines »Statthalters« (Carl Dahlhaus) bedarf es, eines von »materieller« Ar-
beit und Partikularität im Hinblick aufs Ganze freigestellten, »Luft sortierenden«
Momentaufnahmen 223

Vertreters des impliziten Autors, des dem jeweiligen Stück zugeordneten ästhe-
tischen Ich. Seine Funktion kann weder auf Fragen der Koordination noch die
einer billigen Flucht in die Sichtbarkeit reduziert werden, Dirigentenmusik ist
das Orchesterrepertoire seit Beethoven in einem substanziellen Sinne, den die
genannten Erklärungen nur partiell treffen, einem Sinne, welcher Überschät-
zungen von Dirigenten ebenso inspiriert hat wie Allergien von Musikern und
Komponisten.
Über die Stellvertreterschaft hinaus sind Fokussierung und Machtausübung
vonnöten, um jene andere Abstimmung bzw. Gleichstimmung zu sichern, eine
im Innenraum der Musik sich herstellende, mit ausmusizierten Kommunikati-
onen identische »Demokratie«, wie sie u.a. in Goethes Charakterisierung eines
Streichquartetts als eines »Gesprächs von vier verständigen Männern« anklingt.
Macht muß ausgeübt werden, um dies zu ermöglichen, um den hierfür nötigen
machtfreien Raum einzuzäunen. Daß er als Freiheitsraum bei Bülow, Toscanini
oder Mrawinsky weniger kenntlich war, weil diese tiefer in ihn hinein regierten
als Mahler, Mengelberg, Furtwängler oder Karajan, relativiert bestenfalls, daß ohne
ihn, ohne das Reservat einer nicht von vornherein reglementierten Spontaneität
Musik nicht stattfindet.
Adorno und Canetti sahen genau, aber nur, was sie sehen wollten.

✵✵✵

Flußbegradigung. Nach zwei Orchesterproben, Gesprächen, Eintragungen in Or-


chesterstimmen etc. müde und allein im Hotel ist man am ehesten verführbar
durch mediale Verdummungsorgien und zappt durch die Programme. Plötzlich,
allen heruntergefahrenen Erwartungen zum Trotz und mit dem Einschlag
von Offenbarung, der allen Überraschungen eigen ist, erscheint bzw. erklingt,
makellos gespielt, die Szene am Bach. Und ruft alsbald Debussys Rezension der
von Weingartner dirigierten Pastorale in Erinnerung: »Er dirigierte … mit der
Sorgfalt eines ängstlichen Gärtners. Jede Raupe war peinlichst entfernt worden.«
Alle Sechzehntel auf Vordermann, die auf und ab wogenden Achtel in wohlre-
glementiertem Gleichschritt: Flußbegradigung. »Was nur und durchaus stimmt,
stimmt nicht«, ist in Adornos Ästhetischer Theorie zu lesen.
Von der naturhaften Hüllkurve des halb oder überzählig Realisierten,
von der latenten Aleatorik dieser Musik – zu ihr gehört, daß mitunter etwas
wegbleiben oder hinzukommen könnte – ließ der gnadenlose Positivismus
der Aufführung nichts, nichts vom andächtig-atemlosen Innehalten, bevor im
Terzett von Nachtigall,Wachtel und Kuckuck die Beschwörung des Naturlauts
gelingt und nichts mehr zu sagen bleibt – alles »come è scritto«, alles richtig,
alles im Tempo, Natur voll im Griff. So stelle ich mir Ernst Jüngers Schmet-
terlingssammlung vor.
Man lernt etwas über den Nutzen musikalischer Kleinlebewesen: Wie wir
Intervalle im Sinne harmonischer Funktionen zurechthören, gegebenenfalls gar
224 Momentaufnahmen

eine gleich intonierte Terz als kleine oder große, mithin Unsauberheiten tole-
rieren, so auch bei kleinen rhythmischen Gruppen. Das nehmen wir oft nicht
wahr, es bleibt, weil es sich innerhalb übergreifender Einheiten – Takte oder
halber Takte usw. – ausgleicht, unterhalb dessen, was wir als »nicht zusammen«
registrieren. Gerade dieser Ausgleichsvorgang indessen trägt zur Eindringlichkeit
musikalischer Verläufe bei, auch zur nur scheinbaren Paradoxie, daß ein Tempo
konsequent durchgehalten sein und doch drängend erscheinen kann: Es muß
gegen den Eigenwillen verschleppter Pfundnoten, nach vorn fallender Punk-
tierungen, vernuschelter Daktylen etc. immer neu hergestellt werden, es ist nie
einfach »da«, es wird durch Gegendruck beglaubigt. So wenig Ungenauigkeit
eo ipso mit Lebendigkeit zu tun hat, so wenig macht man sich als Anwalt von
Schlamperei verdächtig, wenn die bis in die kleinen Zellen durchgesetzte Re-
glementierung einem totalitär erscheint. Schließlich handelt Carl Philipp Ema-
nuel Bach in seinem Versuch… (S. 120) auch, wenngleich mit Kautelen, von der
Möglichkeit, »die schönsten Fehler wider den Tackt (zu) begehen«. Beethovens
Bach braucht die Mäander, besonders dringlich die winzig kleinen.

✵✵✵

Furtwänglers Pianissimo. Wir meinen die Musik gut genug zu kennen, um kaum
noch von der Frage irritiert zu werden, weshalb Brahms in seiner Ersten Sinfonie
nach einer am Beginn weit ausholenden Introduktion vor das Finale eine zweite
setzt, welche, als avancierteste je von ihm komponierte, die erste in fast jeder
Hinsicht übertrifft, namentlich in der bis an strukturelle Dissoziation herantrei-
benden Unterschiedlichkeit der Prägungen. Eine historische Begründung liegt
auf der Hand: Die Legitimation, das Erbe des seinerzeit hinter jeder sinfonischen
Ambition »tappenden Riesen« Beethoven für jeden vernehmbar zu reklamieren,
sollte unmittelbar vor Amtsantritt nochmals neu erworben sein.
Ausschließlich geschichtsbezogen wäre sie für eine ästhetische Struktur, min-
destens nach Brahms’ strengen Prämissen, dennoch nicht qualifiziert, es bedarf
mehr. Zur Hälfte exponiert er bereits hier – hintergründig janusköpfig: Das
»Beethoven-Thema« (Bülows flapsige Titulierung als »Zehnte von Beethoven«
war ihm ärgerlich) holt er möglichst weit unten im ungestalten Chaos ab und
löst es als Hauptthema des Allegro non troppo ma con brio feierlich ein; umge-
kehrt ist das Alphornthema in der Introduktion »bei sich«, innerhalb des Allegro
indessen eher zitiert wo nicht entstellt als zu sich gebracht. Das eine hat seinen
»eigentlichen« Ort da, das andere dort; das heißt auch, daß es den gemeinsamen
Ort, das für beide gleich verbindliche Konfliktfeld nicht gibt.
Der geschrumpften Kompetenz trägt Brahms in einer originellen, weit vom
dialektischen Regelwerk entfernten Formung Rechnung – und er braucht den
Choral. Ohne daß von ihm die Rede ist, klingt das in Clara Schumanns vor-
sichtigem Tadel an, der Satzschluß komme ihr »nicht wie herausgewachsen aus
dem Ganzen vor« (Brief vom 12.II.1877). Und auch, weil Brahms den Choral
Momentaufnahmen 225

braucht, braucht er die Introduktion. Wäre dieser hier nicht schon erklungen,
träte er am Satzschluß wie ein Deus ex machina auf, im Sinne von Claras Tadel
bescheinigend, daß die Beendigung nicht »aus dem Ganzen … herausgewach-
sen« sei. »Schlüsse überhaupt sind ideologisch besonders gefährdete Zonen«,
schreiben Jürgen Ude und Renate Wieland in einem der gescheitesten Bücher
über musikalische Interpretation (Denken und Spielen. Studien zu einer Theorie der
musikalischen Darstellung) – eben dies muß Clara empfunden haben.
Entgegen der Brahms-Anweisung »p dolce« ließ Furtwängler den Choral der
Introduktion in distanzierendem Pianissimo spielen – wohl auch, um ihn als an
diesem Ort, in dieser Musik noch nicht angekommen, als von fernher klingende
Außenposition auszustellen, um eine hintergründige, einstweilen nur erahnbare
Anwesenheit zu etablieren, von der aus der Weg zur – oft prahlerisch überzogenen
– Fortissimo-Präsenz am Satzende nicht weit und als Weg kenntlich ist.
In der Reihung der von Furtwängler stärker als von anderen nebeneinander,
fast je für sich gestellten Komplexe bildet der Choral, wie später am Satzende,
das letzte Glied; danach strebt die Musik der dominantischen Öffnung und der
Einlösung im Allegro-Beginn entgegen. Der Charakter der nach etlichen unfer-
tigen Komplexionen einzigen halb autonomen Prägung stärkt die Sonderstellung
ebenso wie der Umstand, daß Furtwängler immer wieder neu anzusetzen versucht
– das ex niente aufsteigende Pizzikato nach der gewaltigen, weiträumig abflau-
enden Klangballung des Beginns, welche bei der Wiederholung sich als nahezu
neugefunden darstellt, weil er zuvor das Stringendo bis zum Abriß gewaltsam
hochgetrieben hat, ein am jähen Aufprall scheiternder Anlauf. Der zweite (ab
Takt 16) scheitert noch schneller, wonach die Charakteristiken von Anlauf und
Abprall die Textur ganz und gar bestimmen. Dem letzten, durch das Fortissimo
der Pauke akzentuierten Aufprall peitscht Furtwängler die Musik entgegen – um
so befreiender, größer danach der für das Alphornthema aufgerissene C-Dur-
Horizont.Wie präsent auch immer beim Solo-Horn und der Solo-Flöte (»f sempre
e passionato«, emphatische Anweisungen sind Brahms’ Sache sonst nicht), bleibt es
doch verwoben in hintergründig anspielende Gegenführungen, Umkehrungen,
Kontrapunkte, so daß sich der Eintritt des Note-gegen-Note-Chorals, der
Doxologie polyphoner Messen ähnlich, als Ankunft darstellen kann – Ankunft
allerdings in einer »falschen« Tonart und bei einer bestenfalls randständigen, im
Sonaten-Diskurs nicht verhandelbaren Prägung. Auch dieser Ambivalenz trägt
Furtwänglers zurücknehmendes, den Deus ex machina verschleierndes Pianis-
simo Rechnung.

✵✵✵

Der kleine Liebestod. In der Nummer XXIII von Wolfs Italienischem Liederbuch
bleibt viel im Schweben – das lyrische Ich zwischen Leben und Tod, der Singende
zwischen »Rezitativ« und »Arie«, die Musik zwischen festen Taktzeiten und syn-
kopierendenVorwegnahmen. Dagegen stehen als fixierende Regularitäten die von
226 Momentaufnahmen

der linken Klavierhand festgehaltene As-Oktave, jeweils acht den zwei vierzeiligen
Strophen zugeordnete Takte (dazu ein Vortakt und zwei Takte Nachspiel) und, in
Varianten achtmal erklingend, eine zweitaktige Figur der rechten Klavierhand.
Wäre da nicht etliches im Schweben gehalten, ließe derlei Konsistenz bestenfalls
Raum für eine wie von außen aufgetragene, eher additive Singstimme. Gerade
aber als hinzugetretene ist sie zugehörig.Von außen kommt sie schon, indem sie,
rhythmisch »mangelhaft« koordiniert, mit »Sterb’ ich« auf die Subdominate die
Sixte ajoutée setzt, übersteigt damit indessen nur eine im Satz gelegene Tendenz
– der erreicht die Grundtonart erst im dritten Takt.
In Fischer-Dieskaus »Sterb’ ich«, im emphatischen »st« und dem aufgehellten
»-erb« ist der angeschärfte Überstieg, in der Vokalfärbung die ergänzte Subdomi-
nante ebenso enthalten wie die Gewichtung des Schlüsselwortes – es wird später,
als sei die Höhe hierfür ausgespart, auf es’ und des’ wiederkehren, übertroffen
lediglich am Ende durch f’ beim zweiten Schlüsselwort »deinetwegen«. Enthalten
ist auch die diskret-untragische Beiläufigkeit – »durchweg gedämpft vorzutragen«
lautet die Anweisung –, die die Beschreibung der äußeren Umstände des Todes
diesem verschafft und mit der die Deklamation des Singenden sich durch die
ostinaten Bildungen des Klaviersatzes girlandenhaft durchwindet, sie umspielend
ornamentiert, bei keinem Zeilenbeginn eine setzende Takteins riskiert. Immer
erscheinen Beliebigkeit und Freiraum mitgesetzt, die Möglichkeit, daß auch
anders gesungen bzw. zum singenden Klavier rezitiert werde; zur Finalität der
Aussage »Ich sterbe lieblich, sterb’ ich deinetwegen« z.B. steht die Fragefigur, mit
der der Sänger endet, eigentümlich quer.
Die lockere Addition hebt sich merklich vom Gegensatz ab, den Takten 10 bis
13, in denen die Deklamation sich, die Sterbeumstände gesprächig ausmalend,
am Klaviersatz entlangbewegt; nirgends sonst sind Töne des Sängers und des
Klaviers so oft identisch oder nahe beieinander.Verdankt sich die Intensität der
Deklamation nicht auch dem Eindruck, daß der Singende immerfort auf dem
Sprunge scheint, »arioser« zu singen als gerade jetzt? Fischer-Dieskau singt die
vier Takte weicher, er verlagert das Schwergewicht diskret zugunsten der ihrer
Fortführung und Bettung sicheren Melodie.
Glaubt das lyrische Ich das eigene Bekenntnis nicht, wenn es »deinetwegen«
als Frage in der Schwebe hält? Dies erscheint allzu sehr von der Psychologie
einer Realsituation aus gefragt; andersherum: Ist die Musik den Worten nicht
voraus, ist sie fast schon jenes Grab, das der Singende nicht wünscht; stirbt sie
seinen – sehr schönen, ästhetischen – Tod nicht voraus; sind die Anweisungen
für die Funeralien, weil die Musik im As-Dur von Tristans »O sink hernieder…«
dunkle Liebestod-Mystik beschwört, nicht zugleich ein Requiem?
Fischer-Dieskaus Gesang, irgendwo zwischen passivem Lallen und dem Ver-
sprechen kantabler Erfüllungen, enthält solche Fragen und beantwortet sie nicht;
er besteht auf einem ästhetischen Ort, der sie erübrigt, bestenfalls sie nahelegt,
um kartographiert zu werden – ein Möglichkeitsort, dessen ästhetische Reali-
Momentaufnahmen 227

tät aus dem unentscheidbaren Miteinander halber vordergründiger Realitäten


zusammengesetzt ist.

✵✵✵

Nicht zu retten. Konkret zeitverhaftete Werke können uns lehren, weshalb wir
musizieren sollten, als würde die Musik heute gerade noch, morgen aber nicht
mehr verstanden. Die schöne Illusion überzeitlicher Ewigkeitswerte verbündet
sich gern mit einer Besitzerideologie, die es leicht haben will, schon im simplen
Gegenüber von zeitverhaftet und zeitenthoben. Relevante Werke sind, wenngleich
in unterschiedlicher Dosierung, beides zugleich. Daß mit Gesellschaftssystemen
auch, im Guten wie Bösen, wichtige Bezugspunkte der künstlerischen Arbeit
versinken, haben nach 1989 zuerst Literaten, teilweise auch bildende Künstler
zu spüren bekommen, Musiker meist weniger.
Weil kaum diskursiv abrechenbar – darum hat schon Grillparzer Beethoven
beneidet –, verbindet Musik sich leichter mit veränderten Hörweisen, ästhetischen
Richtpunkten, gesellschaftlichen Klimata etc., allerdings um den Preis abwei-
chenderVerständnisse wo nicht von Mißverständnissen.Weil zur Authentizität und
Direktheit musikalischer Erlebnisse gehört, daß sie jeweils als die einzig möglichen
und richtigen erscheinen, sollte gerade die Vertrautheit mit vertrautester Musik
zu überlegen Anlaß geben, ob andere Zeiten, besonders die Zeitgenossen der
Komponisten, sie nicht anders erlebten. Formen und Vorzeichen von Mahlers
seit den sechziger Jahren prosperierender Popularität haben denen, die es genau
wußten – unter ihnen Bernard Haitink – viel zu denken gegeben.
Derzeit trifft es Schostakowitsch.Wir können nicht vermitteln, daß das dröh-
nende D-Dur am Ende der Fünften Sinfonie ein negatives, gebrochenes, ironisch
geblähtes Dur, eine Widerlegung von »Durch Nacht zum Licht« ist, daß diese
Musik sich selbst ins offene Messer des verordneten Optimismus treibt und den
Bonzen übel werden sollte. Mit Doppelbödigkeit hat Musik es allemal schwer,
es bedarf schon des mächtigen Gegendrucks schlimmer Umstände, um die in
penetrantes Jubel-Vokabular verpackte Selbstverstümmelung als Überlebensstra-
tegie eines Gequälten nicht nur zu erkennen, sondern auch zu erleben.
Noch weniger läßt sich retten, wo wir einen Verbrecher als Repräsentanten
positiver Sachverhalte begreifen müssen – unumgänglich, um den fulminanten
Aufbruch der Künste in der jungen Sowjetunion angemessen zu begreifen,
Kraft und Anspruch von Utopien und des Vertrauens in eine gestaltungsoffene
Zukunft zu ermessen, welche selbst die Trennlinie zwischen Kunst und Leben
meinten aufheben zu können. Chagall Kulturkommissar in Witebsk, El Lissitzky
und Rodtschenko bis ans Ende treu zur Fahne, anfangs bis zu den grausamen
Enttäuschungen gegen Ende der zwanziger Jahre auch viele Schriftsteller – wer
das auf törichte Verblendung herunterredet, mißbraucht das Privileg der späteren
Geburt, verhält sich mindestens so situationsabhängig wie die Betroffenen und
versperrt sich dasVerständnis einer bei miserabelsten Lebensumständen allenthal-
228 Momentaufnahmen

ben pulsierenden, fröhlich-aktiven, grenzenlos opferbereiten Offenheit gegenü-


ber Neuem, Zukünftigem, welche zunächst von parteipolitischen Definitionen
unabhängig und allgemein genug war, um die Fokussierung auf die Symbolfigur
Stalin nicht näher befragen zu müssen.
Der waghalsige Avantgardismus des ersten Satzes von Schostakowitschs Zweiter
Sinfonie,Versuch einer Musik, die unverwandt nach vorn schauen, immerfort zu
Neuem fortgehen und rückbezogene Korrespondenzen meiden will, mündete
im Zeichen aufgehobener Grenzen zwischen Kunst und Leben folgerichtig,
konzeptionell nahe bei den Intonationen von Revolutionsfesten im Finale von
Beethovens Fünfter Sinfonie, in die plakative Maifeier des Finale. Heute erscheint
er durch sie widerlegt.

✵✵✵

So gesteht man schwere Schuld. Swjatoslaw Richter mit Schuberts postumer


B-Dur-Sonate. Jedem Anschlag, jeder Fortschreitung bleibt das Zögern einge-
schrieben; Verweigerung ihrer selbst, will die Musik kaum je vorankommen,
vielmehr unausgesetzt zurück ins Schweigen. Richter erlegt ihr ein Tempo auf,
das zu langsam zu nennen billig wäre – natürlich ist es, oft nahe bei quälender
Zeitlupe, »zu langsam«. Schon die zwei Achtel am Ende des ersten Taktes machen
Mühe, der Wechsel in die Subdominante zum vierten Takt, zugleich der erste
melodische Ausgriff, noch mehr. Der tiefe Ges-Triller, ein gurgelnder Abgrund,
der sie zu verschlingen droht, im Hinblick auf den thematischen Ort der Musik
thematischer als das Thema, hält sie schon beim ersten dominantischen Halb-
schluß fest, und Richter dehnt die Pausenfermate so, daß wir auf Fortgang kaum
zu hoffen wagen.
So immer wieder. Harmonisches Neuland wie das fis-Moll der Takte 48 ff.
wird betreten wie vermintes Gelände, nur ausnahmsweise und, wenn die nächsten
Takte sichere Bettung des Vorangangs versprechen, öffnet Richter vorsichtig die
Schleusen. Eigentlich, scheint die Musik zu sagen, müßte sie verboten werden; ihr
Glücksversprechen ist zu gewaltig, so große Verheißung blamiert die »miserable
Wirklichkeit« (Schubert).
Richter dekonstruiert. Funktionierende Form scheint ihm als Formalität, als
Veranstaltung, als partiell stillgelegte, gefrorene Intention oder billige Gleitschiene
verdächtig; Takt für Takt muß die Musik sich im Gegenwind jener Wirklichkeit
bewähren, die ihre nicht ist, ästhetische Schutzschirme nicht erlaubt. In dem
Prüfstand, auf den Richter die Musik zwingt, ist ihre Sache nicht verhandelbar.
In etwas geschwinderem Tempo könnte leichter verhandelt werden – andere
Interpretationen beweisen es, angesichts deren zu sagen billig wäre: So langsam
wie Richter muß man spielen können, solches Tempo durchhalten, so lange
als Fakir auf dem Nagelbrett einer allemal unruhigen Emotionalität aushalten
können. Brendels zügigeres Tempo z.B. erleichtert Fernsicht, Einordnung und
die Wahrnehmung unterschiedlicher Wichtigkeitsgrade, welche zum Getriebe
Momentaufnahmen 229

mehrthemiger Strukturen unabdingbar gehören. Er hält die Musik oberhalb


jenes Prüfstandes fest, er »jeanpaulisiert«, d.h. sucht einen Ort, eine Ebene auf,
wo die Erzählung ungestört verhandelbar bleibt, er geht auf eine Legende mit
sicherer – bei Richter unsicherer – ästhetischer Transzendenz aus, welche in ihrer
Stimmigkeit glaubwürdig genug ist, um einer Beglaubigung durch die Risiken
jenes Prüfstands nicht zu bedürfen; sie funktioniert besser.
Dieser Begriff evoziert technikfeindliche Positionen – und tut insofern der
Musik Unrecht, als sie, um überhaupt vorhanden zu sein, funktionieren muß
– gewiß in unterschiedlichen Gewichtungen. Richters sorgsam buchstabierender
Vortrag scheint funktionsbedingte Unterschiede, das Gefälle zwischen mehr bzw.
weniger thematischen Passagen etc. zu ignorieren – und bringt zutage, inwiefern
Schubert sie unterläuft. Stärker als bei anderen stellen sie sich als Emanationen
eines tragenden Untergrunds, Grundtons, einer Grundbefindlichkeit dar, welche
die Reglements mehrthemiger Formen gerade so weit bedienen, daß weitläufige
Zusammenhänge entfaltet werden können. Doch eben nicht mehr: Schuberts
erstes Thema exponiert nicht nur eine musikalische Gestalt, sondern eine Gang-
art, einen Verlaufsmodus; wenn man bei der Bestimmung des zweiten Themas
am Junktim zwischen Eigenprägung und harmonischem Ort festhält, müßte
man es als in die epiloghafte Schlußgruppe der Exposition verrutscht ansehen
(Takte 99 ff.); harmonische Entfernungen werden häufig mehr übersprungen als
vermittelt bzw., weil nicht mehr entzifferbar, durch enharmonisches Umnotieren
verborgen – das d-Moll in den Takten 173 ff. z.B. ist eigentlich ein eses-Moll; und
der präsentierende Gestus des Reprisenbeginns kann schwerlich konsequenter
gemieden sein als hier – Richter setzt ihn, als überließe er sich müde-passiv der
Mechanik eines Kreisgangs, noch zögernder an als den Satzbeginn.
Dergestalt schwimmen die Details in einer Ursuppe, einer Grundbefindlich-
keit, für die als vages Ganzes sie um so stärker einstehen können, als sie mit-
einander nichts abzumachen und fast alle diskurstreibende Teleologie verloren
haben; der Kreisgang hat den Zeitpfeil verdrängt. So könnte der Satz insgesamt
als Abgesang, als Coda einer Musik verstanden werden, die ihre Geschichte
hinter sich hat, als von früheren Verursachungen dispensierte Erinnerung eines
knapp Entronnenen. In und über dem einen Ganzen kreist sie auf eine Weise,
welche das Nacheinander der musikalischen Gestalten jenseits von Kausalitäten
und unterschiedlichen Gewichtungen zur imaginären Gleichzeitigkeit eines
immerwährenden Jetzt zusammenzieht.
Dem entspricht Richters Insistieren auf der Gleichursprünglichkeit aller
Details, als Einkrallen in der Wirklichkeit der Musik etwa der Beschwörung
in Rilkes neunter Duineser Elegie vergleichbar: »E i n mal/ jedes, nur e i n mal.
E i n mal und nicht mehr. Und wir auch/ ei n mal. Nie wieder. Aber dieses/
ei n mal gewesen zu sein, wenn auch nur ei n mal:/ irdisch gewesen zu sein,
scheint unwiderrufbar.«

✵✵✵
230 Momentaufnahmen

Schumanns Kokon. Hierhin wollte die Musik von vornherein, und von hier will
sie, nachdem angekommen, nicht mehr weg. Das aber ist unmöglich – um Mu-
sik zu bleiben, muß sie weiter. Die Rede ist vom Seitenthema, substanziell dem
Hauptthema im ersten Satz von Schumanns Violinkonzert. Bereits zwischen die
beiden Präsentationen des brucknerischen ersten Themenkomplexes am Satz-
beginn drängt es sich ungeduldig-unvermittelt ein. Zum »regulären« Eintritt im
Takt 89 muß sich der Solist, damit es als Ziel- und Ruhepunkt ausgewiesen sei,
durch etliches virtuoses Gestrüpp hindurcharbeiten; Zeit und Auslauf indessen
hat es auch hier nicht.
Die gönnt Schumann ihm im Mittelteil – von »Durchführung« läßt sich
kaum sprechen. Nun erscheint es erst in der Haupttonart d-Moll, danach in der
Parallele F-Dur, eine Gegenmelodie tritt hinzu, von der Klarinette, dann von der
Oboe gespielt; nachdem die Solo-Geige sie übernommen hat, verdichtet sich
die vordem innerhalb des diatonischen Sich-Wiegens diskrete Chromatik zu
Vier-Halbton-Gängen, welche in den Takten 199/200 unzweideutig gestehen,
woher sie kommen – aus dem Larghetto von Beethovens Violinkonzert. Sie bilden
das Eingangstor zu einer Kalmenzone, einem kleinen, sechstaktigen künstlichen
Paradies (Baudelaire: »Là tout est ordre et beauté,/ luxe, calme et volupté«), worin
die Musik verweilen möchte und nicht darf. Fast kommt sie zum Stehen, ruht
auf dem Orgelpunkt der Hörner bzw. schaukelt leise darüber; das Dialogische
der thematischen Folge von Halbe und Vierachtelfigur wird im Wechsel von
Tutti-Streichern und Solist eingelöst, wie unter einem Schweigebann raunen,
hören sie einander zu, scheinen Zeit und Stunde zu vergessen, ehe das Fagott
(Takte 209) zur Ordnung und in den Zusammenhang zurück ruft.
So u.a., wenn Gidon Kremer spielt. Nicht nur verzögert er das Tempo (von
Schumann mit Halbe=50 sehr rasch angegeben, im Seitensatz weiter verlangsa-
mt) und macht die halbtönigen Wechsel (fis zu f, gis zu g) zu Ereignissen, schwer
gewichteten Anfragen, die das tönende Schweigen des dunkel tönenden Tutti
unbeantwortet stehenläßt; nachdem der Dialog sich im Wechsel der Partner
materialisiert hat, läuft er ins Leere. Dialog worüber? – am ehesten über die
Unmöglichkeit, einander zu antworten. »Logik des Zerfalls« droht das Ende als
Konsequenz selbstmörderischen Verweilenwollens an. Dies unterstützt Kremer
neben der Verlangsamung durch verfremdende, am Ende knapp vor dem Rö-
cheln innehaltende Tongebung; expressiv ausbuchstabierte Achtel unterstreichen
das Moment girlandenhafter Umschlingung und legen, bestätigt durch Tutti als
Repräsentanten eines bedrohlichen Außen, die Vorstellung eines Kokons nahe,
in den der Komponierende sich einspinnt.
So lange nicht als Agens oder Rechtfertigung, darf man bei diesem letzten vor
der Katastrophe komponierten Großwerk auch die Biographie mitdenken.

✵✵✵
Momentaufnahmen 231

Verlorene Freiheit. Nicht zusammen und deshalb – nicht: trotzdem – richtig sein:
Das hat uns die Technik vermasselt. Übereinander im Text befiehlt Gleichzei-
tigkeit des Erklingens, bei den Kriterien ordentlichen Musizierens rangiert Zu-
sammensein vor allen anderen. Mit Brahms zu reden: jeder Ochse merkt, wenn’s
klappert. Aber der Ochse merkt nicht, daß und warum es zuweilen richtig wäre,
nicht zusammen zu sein.
Die Pianisten – vorab denkt man an Chopin und seine bedeutenden Inter-
preten – sind die Großsiegelbewahrer. Wenn rechte und linke Hand auseinan-
derlaufen, wieder zusammenkommen etc., ist das eine besondere, große Kunst;
geschieht Vergleichbares im Orchester, liegt der Verdacht nahe, der Dirigent hätte
die Gruppen nicht koordinieren können. Dabei wäre von ihm nicht weniger
gefordert – technisch in bezug auf Unabhängigkeit der Hände, musikalisch
insofern, als er die subtilen Freiheiten auf den großen Apparat übertragen und
zugunsten des Anscheins improvisatorischer Spontaneität alle – meist überdosie-
rende – Absichtlichkeit meiden muß; nicht zufällig gehören diskrete Rubati im
Orchester zum Schwersten.Von Zemlinsky wird berichtet, er habe es gekonnt,
er habe mit der einen Hand die begleitenden Instrumente geradeaus, mit der
anderen die melodiespielenden in Verzögerungen und Beschleunigungen frei
führen können. Die wenigen erhaltenen Aufnahmen verraten hiervon nichts;
vielleicht wollte er, zugleich hochprofessionell und überängstlich, angesichts der
Mikrophone den Verdacht nicht riskieren, Schludereien zu tolerieren.
Das Problem reflektiert schon Carl Philipp Emanuel Bach, wenn er im Zu-
sammenhang mit »schönsten Fehlern wider den Tackt« betont, »daß, wenn man
alleine oder mit wenigen und zwar verständigen Personen spielt, solches der-
gestalt geschehen kan, daß man der gantzen Bewegung zuweilen einige Gewalt
anthut; die Begleitenden werden darüber, anstatt sich irren zu lassen, vielmehr
aufmercksam werden, und in unsere Absichten einschlagen; daß aber, wenn man
mit starcker Begleitung, und zwar wenn selbige aus vermischten Personen von
ungleicher Stärcke besteht, man bloß in seiner Stimme allein wider die Eintei-
lung des Tackts eine Aenderung vernehmen kan, indem die Hauptbewegung
desselben genau gehalten werden muß« (Versuch über die wahre Art das Clavier zu
spielen, Berlin 1753, Das dritte Hauptstück, § 8, S. 120).
Nicht nur sind es »schönste Fehler«, sondern ihre Ausführung hängt überdies
davon ab, ob man »mit wenigen und zwar verständigen« oder mit »vermischten
Personen von ungleicher Stärke« spielt! – da gerät jene Ideologie des »Come è
scritto«, des »So und nicht anders« arg ins Schleudern, welche, auf die Textur fixiert,
nach den Partnern der musikalischen Mitteilung zu fragen vergißt. »Verständige«
sind allerdings vonnöten: So leicht man feststellen kann, ob etwas zusammen ist, so
schwer fällt es, sensibel kalkulierte Freiheiten von Schludereien zu unterscheiden
– wann, warum und in welcher Dosis auseinander bzw. wieder zusammen? Da
hält man sich lieber ans Abmeßbare, erlegt die Gestehungskosten eindringlich
sprechender Nuancierungen und freut sich der im Einmachglas dingfesten Mu-
sik. Nicht also nur Maßgaben der Technik sind schuld, sondern auch, eng mit
232 Momentaufnahmen

ihnen verbündet, eine positivistisch angekränkelte Ästhetik. Ihretwegen fällt den


Aufführungspraktikern die Rückgewinnung dieses Bereichs besonders schwer;
wie immer sie eine Klangaufzeichnung als Momentaufnahme verstehen mögen
– von der kommunikativen Offenheit, welche »verständige« bzw. »vermischte
Personen von ungleicher Stärke« mitreden läßt, bleiben sie weit entfernt.
Chopins melodische Ornamente, auch barocke, entziehen sich der genauen
Koordination.Wie vorwegnehmende aleatorische Enklaven indessen erscheinen
sie nur, so lange man sie nicht als kleine Abdankungen hinsichtlich der Korrela-
tion von Geschriebenem und Klingendem erkennt, als lesbarste Zeugnisse eines
Musizierens, welches den Anschein lockerer Zügel riskieren kann, weil es eine
spezifische Disziplin beobachtet im Abwägen von formbedingter Strenge und
direkter Mitteilung, res facta und Improvisation.Wohl, weil er Freiheitsräume voll
nutzen und doch allen Anschein von Beliebigkeit meiden mußte, war Chopin
mit Komponiertem ebenso selten zufrieden wie mit dem eigenen Spiel.
Wenn Alfred Cortots rechte Hand der linken davonläuft und danach auf sie
wartet bzw. hinter ihr zurückbleibt und später aufholt, befreit sich nicht nur eine
Polyphonie der Verläufe aus dem Streckbett des Taktes, entreißen nicht nur de-
ren Reibungen das Zeitwesen der Musik aller bequemen Selbstverständlichkeit
– es wächst als logische Konsequenz aus der herrlich freien, nuancierungs- und
mitteilungssüchtigen Handhabung der Tempi hervor. Möglicherweise erklärt sich
von hier aus leichter, daß wir, selbst nach Berücksichtigung üblicher Tempo-Sub-
jektivitäten, technisch bedingter Übertragungsmängel und der Differenz zwischen
Orchester und Klavier, ratlos bleiben, wenn wir den Welte-Mignon-Aufnahmen
der klavierspielenden Mahler oder Mottl abzuhören versuchen, welches ihr Tempo
beim Adagietto der Fünften Sinfonie bzw. beim Tristan-Vorspiel war.

✵✵✵

Harlekin und Totentanz. Musiker, Dirigenten besonders befinden sich fast ständig
in Situationen, in denen es ohne sie nicht geht. Was Wunder, daß sich bei alten
irgendwo zwischen Credo und déformation professionnelle die Überzeugung
befestigt, jeweils die Letzten zu sein, die noch Bescheid wissen. Weil dies der
Nachwelt unbedingt mitgeteilt werden muß, verbietet sich der Rückzug aufs
Altenteil – jetzt, und je später, desto mehr. Loslassen können die Wenigsten, der
auf der Probenarbeit lastende Rationalisierungsdruck hat zu lange jene défor-
mation begünstigt, indem er verlangte, stets rasch anzugeben, wo es lang geht;
Zweifel und Umwege sind nicht erlaubt, mag immer der Umgang mit großer
Musik dazu veranlassen und manche Unsicherheit die allerbesten Gründe haben.
Weil Erklingen und Verklingen nahezu ein und dasselbe sind, ist musikalischen
Aufführungen ohnehin ein testamentarisches Moment eigen:Wie hier und jetzt
werden wir es nie wieder hören.
Alte Dirigenten können davon auf unredliche Weise profitieren, und außer
Musikern merken es wenige. Da dirigiert einer Brahms’ Deutsches Requiem in
Momentaufnahmen 233

einem großen Theaterrund im gleißendem Licht der Fernsehkameras, und jeder


weiß – er selbst als erster –, daß er sein eigenes knapp vorwegnimmt. Zittrig-kraft-
los durchfahren die Hände die Bahnen der Taktfiguren, gleichgültig gegenüber
markanten Einsätzen, Forte, Piano und kleineren Nuancierungen, das maskenhaft
unbewegte Gesicht bei geschlossenen Augen läßt nicht erkennen, ob er, nach
innen gewendet, inmitten der Menge mit sich und der Musik ganz allein ist,
vom gleißenden Licht geblendet ist, Mitleid einheimsen will, kaum noch weiter
kann oder – er dirigiert ohne Partitur – sich angestrengt darauf konzentriert,
wie es weitergeht. Entsprechend das Ergebnis; mit immer wieder angstvoll an-
gehaltenem Atem singt, spielt und hört man eine zur Nebensache gewordene,
teppichhaft eingeebnete Musik. Die penetrant auf ihn gerichteten Kameras
laden zu kritischen Blicken ein: Mehrmals scheint er tatsächlich kaum weiter zu
können, und wenn doch, zeigt er, daß er’s eigentlich nicht kann – Dirigieren hat
schließlich mit Schaustellerei zu tun. Stünden nicht jahrzehntelang akkumulierter
Respekt und Sympathie im Raum, würden zirzensische Lüste offener mitspielen,
welche nach Beglaubigung suchen; wenn schon nicht jetzt – der Schock wäre
unbekömmlich –, müßte der Maestro morgen oder übermorgen das Zeitliche
segnen. Dann wäre das Requiem wirklich eines gewesen. Zuweilen sollte Alten
die Freundlichkeit verdächtig werden, mit denen man ihnen begegnet; sie kostet
nicht viel: Demnächst ist man sie los.
»Altern als Problem für Künstler« (Gottfried Benn) hat bei Musikern eine
besondere Dimension. Hirn, Herz und Körper verbinden sich in ihrem Tun zu
innig, als daß nicht besonders schmerzen würde, wenn man besser als je zuvor
weiß, wie es gemacht wird, es aber nicht mehr kann. Und weil Wissen und Kön-
nen genauso innig zusammengingen, fällt die Einsicht schwer, daß das eine noch
vorhanden ist und das andere nicht mehr und ein von praktischen Bewährungen
dispensiertes Wissen zunehmend abstrakt wird – dies der bessere Grund, weshalb
alte Lehrer ihre Schüler oft überfordern. Nicht zu reden davon, daß das Glück
der körperlichen – singenden, streichenden, blasenden, dirigierenden – Teilhabe
an der Musik, des Eintauchens in den Fluß, des Mitschwingens im »Vogelflug«
durch nichts zu ersetzen ist. Musiker, große ganz und gar, waren zu lange nur
im entäußernden Hervorbringen bei sich selbst, sie haben ihre Identität zu lan-
ge im Austausch realisiert, als daß jene Altersweisheit nicht schwerfiele, welche
als Verzicht, Rückzug, Einkehr, Besinnung, Beschränkung eine Lebensform zu
kündigen bedeutet.
Wie billig also, sich das Maul zu zerreißen! – über öffentlich zelebrierte prä-
mortale Rührseligkeiten, sentimentale Schlußansprachen, oft wiederholte letzte
und allerletzte Konzerte; über den, der das Künstlerzimmer forschen Schrittes
erreicht, vor dem Publikum indes mühsam sich zum Pult schleppt, innehält,
schwach lächelnd um Vergebung für seine Hinfälligkeit bittet und, endlich am
Pult angekommen, donnernden Beifall einheimst, weil er’s noch einmal möglich
macht; über den einen, der mit überzogenen Tempi vor den verweichlichten
Jungen die Zuchtrute schwingen will, und den anderen, der sie in schwer er-
234 Momentaufnahmen

träglichen Verlangsamungen auf jeder Zählzeit zu einer Lektion über das Wesen
der Musik zwingt; über diejenigen, die sich nicht vorstellen können, in Ersatzbe-
schäftigungen, beim Dozieren, Schreiben, Malen etc. nicht genau so bedeutend
zu sein, wie sie in ihrem Hauptberuf waren; über den, der vom Rad des Ixion
nicht herunterkommt und den gut besetzten Terminkalender sein »Lebenseli-
xier« nennt, oder den, glücklich ist über einen schweren Unfall, weil der ihm
die Entscheidung abgenommen habe, nicht mehr öffentlich zu spielen; über die,
deren Hände oder Stimmen es nicht mehr tun, die aber meinen, mit Dirigieren
ginge es allemal; über den Alten von Anif, der fast wie Spalanzani zwischen
Apparaturen sitzt und an Home-Videos bosselt, mit denen er die Nachwelt zu
überschwemmen, seine musikalisch-mediale Weltherrschaft zu verewigen gedenkt
und nicht begreift, daß er das Gegenteil bewirkt; indem er für Generationen
festzulegen versucht, welche Totale mit diesem Tutti assoziiert bleiben soll, welche
Profilansicht mit einem bestimmten Einsatz der Oboe, welches im Silberhaar
gebrochene Gegenlicht mit einem Cello-Thema etc., degradiert er die Musik
zum Ministranten im Hochamt seiner selbst – und hintergeht seine Kunst in
deren eigenster Dimension, der Zeitlichkeit bzw.Vergänglichkeit.
Andererseits – was kann sich nicht im Schatten des Abschieds, gar auf der
Kippe zum Geht-nicht-mehr, und nur hier ereignen! Im Zeichen wachsender
Risiken wächst das Glück des noch einmal Geschenkten; eine spezifische Rück-
sichtslosigkeit des Alters – Bruckner riskiert mehr als je vordem; Rodin zerschlug
Skulpturen, um sie zu verbessern –, setzt ungeahnte Kräfte um so sicherer frei,
desto eher angesammelte Erfahrungen dem Sog der Routine widerstehen; zu
den Hintergründen gehört vorab der Befürchtung, die Physis könnte nicht mehr
leisten, was die Intention fordert. Mancher gediegene Musiker wuchs unter dem
Druck solcher Herausforderungen zum großen. Nicht nur bei Komponisten,
Malern, Dichtern gibt es Altersavantgardismus: Jugendliches Ungestüm beim
ersten Satz von Mozarts g-Moll-Sinfonie KV 550, worin alle Nuancierungen
vorangegangener langsamerer Aufführungen aufgehoben sind (Furtwängler);
ein »Ich träumte von bunten Blumen...«, dessen Beglaubigung keine jugendli-
che Stimme erreichen kann (Fischer-Dieskau); die so altersweise wie liebevoll
nachbuchstabierte Jugendlichkeit von Schumanns Vierter Sinfonie (Sanderling);
der Chopin des alten Rubinstein; eine Bruckner-Achte, in deren kantiger Gerad-
linigkeit unversöhnliche Ecken und Reibungen, in deren orchestraler Opulenz
Drohungen und Verachtung materieller Vordergründe unterkommen (Karajan);
Brendels Haydn oder Schubert – genug Beweise für eine besondere Zuständigkeit
ausschließlich der Alten, genug Gründe für schwere, aufgeschobene, oft nicht
eingestandene Abschiede.
»Die meisten alten Leute haben Jüngern gegenüber etwas Lügnerisches in
ihrem Wesen, man lebt ruhig neben ihnen fort, glaubt das Verhältnis gesichert,
kennt die vorherrschenden Meinungen, bekommt fortwährend Bestätigungen
des Friedens, hält alles für selbstverständlich, und plötzlich, wenn sich etwas
Entscheidendes ereignet und die so lange vorbereitete Ruhe wirken sollte,
Momentaufnahmen 235

erheben diese alten Leute sich wie Fremde, haben tiefere, stärkere Meinungen,
entfalten förmlich erst jetzt ihre Fahne und liest man darauf mit Schrecken den
neuen Spruch. Dieser Schrecken stammt vor allem daher, weil das, was die Alten
jetzt sagen, wirklich viel berechtigter, sinnvoller, und als ob es eine Steigerung
des Selbstverständlichen gäbe, noch selbstverständlicher ist. Das unübertrefflich
Lügnerische daran aber ist, daß sie das, was sie jetzt sagen, im Grunde immer
gesagt haben, und daß es eben doch im Allgemeinen nie vorauszusehen war«
– das schrieb Kafka, 31jährig.
»Nur einen Sommer gönnt, ihr Gewaltigen!/ Und einen Herbst zu reifem
Gesange mir« – demütig bitten wie Hölderlin können die meisten nur, wenn
sie noch einige Sommer und Herbste vor sich wissen. »Man muß es können«,
hat Ansermet, nachdem Furtwängler gelassen in den Tod gegangen war, an die
Witwe geschrieben; »er hat es gekonnt«.

✵✵✵

»Sie unterschätzen mich«, beschied Karajan, als es aufs Ende der Dresdner Mei-
stersinger-Einspielung zuging, den wegen knapp werdender Termine besorgten
Aufnahmeleiter. Deren Liste hatte er vorweg gekürzt und damit sich und die
Mitwirkenden unter Druck gesetzt. Dennoch nahm er sich, als es schon eng
wurde, Zeit, bei der Prügelfuge Solisten und Chorgruppen neben dem Orchester
und auf den Emporen der Lukaskirche mehrmals umzustellen; die als Zaungäste
zugelassenen Kapellmeister beobachteten hingerissen, daß seine Einsätze bei dem
für Schmisse bekannten Stück, als habe er im Computer die Software gewechselt,
trotz Tempos und mehrmals veränderter Positionierung stets in die richtige der
sechs möglichen Richtungen zielten.
Vielleicht ist das Gespräch zwischen Sachs und Evchen, erotisch unterlegtes,
fein nuanciertes Geplänkel zwischen dem Alternden, der seine Liebe zu dem
Mädchen als amour fou wegschieben will, und dem Mädchen, welches nicht
mitbekommt, daß er zu ihrem Glück helfen will, nicht ein, sondern das Herzstück
der Oper. Hier kommt alles auf den Tonfall an, das anspielungsreich Beiläufige,
angezeigt auch durch die entspannte Selbstverständlichkeit, mit der die Musik
vom Fliedermonolog her weiterströmt, ihn fortsetzt. Der setzt sich tatsächlich
fort – im Abschiednehmen, dort von der Kunst, für die der Flieder (= Holunder)
steht, mit der Sachs durch ihn hindurch redet (»gäbst, Freund, lieber mich frei«),
nun von dem Mädchen. Es kommt auf die sensible Schwebe zwischen Ernst und
Koketterie an, welche dem Schuster verwehrt – es wäre die letzte Gelegenheit –,
von einer mehr als onkelhaften Liebe zu reden, und die dem Mädchen verwehrt,
von der Liebe zu dem anderen zu reden.
Das Orchester hatte die Szene mit Karajan noch nicht gemacht, so ging es
wohl darum, sie zunächst durchzuspielen. Daß die Mikrophone eingeschaltet
waren und das Aufnahmeteam am Mischpult saß, haben die Sänger sicher gewußt,
die Musiker nicht. Karajan wollte wohl das Halbverbindliche, die spielerische
236 Momentaufnahmen

Vermeidung von zuviel Ernst ins Musizieren hereinholen – neben dem Kom-
pliment an die Musiker (»wir können so was«) und dem Beweis, daß man ihn
abermals unterschätzt habe. Nachdem durchgespielt war, erklärte er die Szene
für gestorben.
Das größte Wagstück hob er sich fürs Ende der Arbeit auf. Alle wußten beim
letzten Termin, daß außer kleineren Passagen das Vorspiel und der den ersten
Akt eröffnende Choral noch nicht im Kasten waren; die Spannung stieg zum
Siedepunkt, als er sich ausführlich anderen, jetzt überflüssig erscheinenden Details
widmete. Karajan genoß das, wie die Dresdner Konstellation insgesamt – die durch
nichts und niemanden irritierbare Hochstimmung, die auf der Stuhlkante sitzende
Staatskapelle, die von einer Euphorie in die nächste taumelnden Choristen, die
VIP-Aufmerksamkeiten der DDR-typischen Sicherheitsmaßnahmen, die hinter
Absperrungen versammelten Dresdner, welche ihn die zehn Meter vom Taxi bis
zur Kirchentür gehen sehen wollten.
Kaum eine Viertelstunde über die Zeit hinaus, welche Vorspiel und Choral
brauchen, war übrig, als es endlich so weit war und er der höchsten Konzentration
aller Beteiligten sicher – psychologisch meisterhaft die Herstellung eines strikt
fokussierten Kraftfeldes, welches all seinen Narzißmus auf die Sache zu beziehen
erlaubte. Wenn irgendeine, dann war das seine Situation: Alle blickten auf ihn,
alles hing von ihm ab, suggestiver kann sich vor dem Startschuß kein Sportler
sammeln, den Körper in Bereitschaftsstellung straffen. So wie in diesem ersten
und letzten Ritt ist der Meistersinger-Beginn auf die Platte gekommen.

✵✵✵

Der Musikfeind. »Die schmelzenden Affekte, die blos zärtlichen Rührungen, gehö-
ren zum Gebiet des A n g e n e h m e n , mit dem die schöne Kunst nichts zu tun
hat. Sie ergetzen blos den Sinn durch Auflösung oder Erschlaffung, und beziehen
sich blos auf den äußern, nicht auf den innern Zustand des Menschen … Sie
bewirken blos Ausleerung des Thränensacks und eine wollüstige Erleichterung der
Gefäße; aber der Geist geht leer aus, und die edlere Kraft im Menschen wird ganz
und gar nicht dadurch gestärkt … Die Musik der Neuern scheint es vorzüglich
nur auf die Sinnlichkeit anzulegen, und schmeichelt dadurch dem herrschenden
Geschmack, der nur angenehm gekitzelt, nicht ergriffen, nicht kräftig gerührt,
nicht erhoben sein will. Alles S c h m e l z e n d e wird daher vorgezogen, und
wenn noch so großer Lärm in einem Konzertsaal ist, so wird plötzlich Alles Ohr,
wenn eine schmelzende Passage vorgetragen wird. Ein bis ins Thierische gehender
Ausdruck der Sinnlichkeit erscheint dann gewöhnlich auf allen Gesichtern, die
trunknen Augen schwimmen, der offene Mund ist ganz Begierde, ein wollüstiges
Zittern ergreift den ganzen Körper, der Atem ist schnell und schwach, kurz alle
Symptome der Berauschung stellen sich ein: zum deutlichen Beweise, daß die
Sinne schwelgen, der Geist aber oder das Prinzip der Freyheit im Menschen der
Gewalt des sinnlichen Eindrucks zum Raube wird.«
Momentaufnahmen 237

Geschrieben wurde das im Jahre 1793; da war Mozart keine zwei Jahre tot,
Haydn befand sich zwischen den beiden Englandreisen, Beethoven hatte sich
bei ihm gerade als Schüler angemeldet. Man könnte den Text als durch das Da-
tum widerlegt, als inkompetent oder pure Gemeinheit abtun, gehörte er nicht
zur umfassendsten theoretischen Selbstverständigung der Weimarer Klassik und
hieße sein Autor nicht Friedrich Schiller. Daß er, wie sein Gewährsmann Kant
– der hatte Musik u.a. mit Tapetenmustern in Zusammenhang gesehen –, nicht
sonderlich musikalisch war, taugt als Entschuldigung kaum; er hätte ja nicht von
Musik reden müssen.
Aber er mußte es; die Dramaturgie der Abhandlung erforderte den grellen
Kontrast zum »Prinzip der Freyheit«, mithin Charakterisierungen von einer Dras-
tik, zu der er sich in theoretischen Abhandlungen kaum je hinreißen ließ.Welche
»Musik der Neuern« war es, deren Wirkungen er, »wollüstige Erleichterung der
Gefäße« nicht scheuend, beschrieb, wie genau kannte er die Musik jener Jahre
bzw. Jahrzehnte, kannte er sie überhaupt? Nur wenig später werden ebenfalls
in Jena freche Junggenies, die er nicht mochte und die ihn nicht mochten, eine
ästhetische Nobilitierung der Musik einläuten, ohne an deren jüngsten Entwick-
lungen sonderlich interessiert zu sein. DerVerdacht, Schiller sei jener Dramaturgie,
einem zum »Reim’ dich oder ich freß’ dich« hintreibenden Argumentationszwang
erlegen, läßt sich schwer von der Hand weisen; es gehört einiges dazu, damals so
von Musik zu reden, besonders, wenn man selten von ihr redet.
Wie immer jene Zwänge mitsprachen, zumal Unkenntnis der Details pau-
schale Urteile allemal begünstigt – der Anspruch der »philosophischen Bude«
lag zu hoch, Konsultationen mit dem musikkundigen Freund Körner lagen zu
nahe, und Blößen mit leicht anfechtbaren Wertungen wollte Schiller sich gewiß
auch nicht geben. Ein Erfahrungshintergrund muß dennoch im Spiel sein, und
das Stichwort »Empfindsamkeit« deutet in die Richtung, in der er zu suchen
ist. Daß es vergleichsweise lange gedauert hat, bis die »Wonnen der Wehmut«,
die wohltemperierten Melancholien, der Kult der schlagenden Nachtigallen,
lauen Sommernächte und bemoosten Gräber verdächtig wurden, trifft sich mit
Auskünften über die Wirkung von Musik, welche in unseren Ohren größtenteils
harmlos klingt: Rousseau schwimmt bei der Uraufführung seines Devin du village
mitsamt dem hocharistokratischen Auditorium in Tränen; der aller Rührselig-
keit unverdächtige Voltaire muß beim Spiel einer jungen Cellistin weinen; dem
Geiger Giziello entsinkt beim Vortrag eines Adagios der Bogen, er kann erst
fortfahren, nachdem er und die Zuhörer ihrer Rührung Herr geworden sind;
Moses Mendelssohn sagt einen Konzertbesuch ab, weil er angesichts eines fragilen
Gesundheitszustandes für seine Fassung fürchtet. Carl Philipp Emanuel Bachs
vielzitierte Auskunft, der Spielende werde seine Zuhörer nicht rühren können,
es sei denn, er sei selbst gerührt, muß vom Hör-Klima her kräftig grundiert sein,
weil ein Musiker seines Formats genau wußte, inwiefern Konzentration aufs
Musizieren auch Nüchternheit erfordert – bei spieltechnischen Schwierigkeiten
hilft keine Rührung; Goethes Mignon und Harfner setzen Erlebnisse mit Musik
238 Momentaufnahmen

voraus, welche wir mit der in seinem Umkreis dominierenden, ausgenommen am


ehesten Mozart, kaum zusammenbringen; nicht zu reden von mittleren Etagen,
auf denen alles in kleinere Münze gewechselt wird – etwa beim edlen Räuber
Rinaldini, welcher dem Überfall auf eine Kalesche mit betuchten Insassen un-
vermeidlich das Idyll mit knapp geretteter, schöner Gräfin, Gesang zur Laute
und einschlägigen Herzensergießungen folgen läßt.
Wir mögen darüber lächeln. Könnte Schillers musikfeindliche Tirade nicht
aber auch zu vermuten Anlaß geben, die uns vertraute, ihm verdächtige Musik
habe mit einer uns schon in der Intensität fremden Wahrnehmung rechnen kön-
nen, nach deren Maßgaben wir eher emotionale Schrumpfwesen wären?

✵✵✵

Verwirrspiele. Sich an der Schlagfigur festhalten – das sollte verboten sein, weil
wir dem »Instrument«, das wir führen sollten, Führung überlassen. Freilich
kennt auch diese Regel Ausnahmen, nicht nur, wenn rhythmisch Identisches
unterschiedlich im Takt positioniert erscheint und, was beim ersten Mal auf eine
schwere Zeit fiel, später sich auf einer schwachen befindet. Divergenzen zwischen
den durch die Figur symbolisierten Schwereverhältnissen und denen der Musik
können zur Sache gehören; also wäre eine Automatisierung falsch, die die von
hier ausgehenden Irritationen beiseitekehrt. Mancher, der das Adagio ma non
troppo in Brahms’ Zweiter Sinfonie mehrmals gehört und erst später die Partitur
zu Gesichte bekommen hat, wird über die Notation der wie schwerflüssige Lava
daherkommenden Melodie der Celli erstaunt gewesen sein, und in den Takten
333 ff. des Finales sollten die Halben, die der Dirigierende beibehalten muß,
nicht ganz beiseite schieben, daß Brahms hier vier 5/4-Takte und anschließend
vier ¾-Takte komponiert hat; daß hier etwas durcheinandergerät, läßt sicher
vermitteln, kaum aber, was.
Schwieriger noch das Allegretto in Beethovens Achter Sinfonie.Von der Mitte
der Takte 24 bzw. 59 bis zur Mitte der Takte 29 bzw. 62 laufen jeweils vier 3/8-
Takte, vom Beginn der Takte 37 bzw. 70 bis zur Mitte der Takte 39 bzw. 72 vier
5/16-Takte. Das ist wohl vorhanden, läßt sich aber kaum herausbringen – es sei

denn durch Akzentuierungen, welche der viel akzentuierende Beethoven hier


gerade vermieden, vielleicht bewußt verweigert hat; auch hier nehmen wir ein
Durcheinander wahr, nicht aber, welches. Das wiegt schwer, weil das Spiel mit
unregelmäßigen, schrumpfenden, am Ende fast zerstäubten Gruppen, immerfort
veränderten, nicht notierten Taktarten nahezu den kompositorischen Hauptge-
genstand bildet: Nach nur einem regulären Anfangstakt in den vorgeschriebenen
2 Vierteln gibts gleich zweimal je einen ¾- und einen 4/4--Takt, und die repetie-
rend geschrubbten 64stel im 23. Takt haben, wie eine dilettantisch überbetonte
Takteins, mit der Befriedigung zu tun, daß man nach etlichen Irritationen bei-
sammen ist und soeben reguläre zwei plus vier Takte hinter sich gebracht hat;
zwei Takte später sitzen die 64stel schon wieder »falsch«. Dirigieren läßt sich das
Momentaufnahmen 239

nicht, es läßt sich nur wissen; Beethoven verurteilt den Dirigenten zur regulären,
gegen die Musik durchzuhaltende Schlagfigur.
Haydn fordert uns im Finale seiner d-Moll-Sinfonie Nr. 80 ein konsequent
synkopisches Hören ab, welches kaum durchzuhalten ist; das vorwegnehmende
Achtel liegt im raschen Tempo so knapp vor der Takteins, daß wir es leicht zu
ihr umhören. Im Trio der Oxford-Sinfonie (Nr. 92) treibt er es insofern arg, als
man sich im Menuett-Trio der Taktordnung am sichersten wähnt. Wer hätte
nicht, wenigstens beim ersten, zweiten und dritten Mal, empfunden, daß die
Eins im Takt 79 des Trios verspätet kommt? – die synkopierend vorgreifenden
tiefen Instrumente haben die Wahrnehmung der Schweren mindestens irritiert
wo nicht gar in der Vorstellung sich als Takteins etabliert. Allerdings haben solche
Irritationen an dieser Stelle im Jahre 1788 bereits Tradition – vor dem Hinter-
grund jüngst oder jetzt noch praktizierter Tanz- und Schrittordnungen heben sie
sich besonders deutlich ab. Hier, wenngleich am Beginn des zweiten Trio-Teils
kulminierend, macht Haydn sie zum Thema: Fagotte und Hörner spielen den
Trio-Beginn »zu früh«; damit jeder den Spaß auch als Spaß verstehe, tun sie es
mit Hornquinten, erwecken also den Eindruck, sie wollten vorweg noch einmal
die wichtigste Fortschreitung kontrollieren.
Wie immer die synkopischen Vorwegnahmen als Fehlleistung inszeniert
erscheinen – neu sind sie nicht; schon den Beginn des zweiten Menuett-Teils
prägen sie, zudem kommt hier wie im Trio die paartaktige Metrik ins Schleudern.
Sehr ähnlich geschieht es, ebenfalls mit einem melodischen Abgang, der vom
Hauptthema herstammt, in der Durchführung des ersten Satzes (Takte 95 ff.),
mit einer polyphonen Verknotung verbunden, welche das Taktschweregefühl
kaum weniger irritiert als im Trio. So rasch Haydn sich in die Verknotung hin-
einkomponiert, so rasch wieder hinaus – ab Takt 100 rasselt ein übliches Tutti,
als sei nichts gewesen.
Gehörte die Sinfonie nicht zu der für den französischen Grafen d’Ogny
komponierten Trias, könnte man annehmen, Haydn habe mit dem höchstwahr-
scheinlich bei der Ehrenpromotion in Oxford aufgeführten Stück die Talare
amüsieren oder foppen wollen. Das eine schließt das andere nicht aus, um so
mehr, als er bei den Verfügungsrechten der Widmungsträger geschummelt hat
und sich wie ein ertappter Schuljunge herausreden mußte. So und so führte er
in Westeuropa vor, daß man mit dem dort als eitel-handwerklich skandalisierten
Kontrapunkt virtuos und humorig spielen könne.

✵✵✵

Was tun mit Bolero? Dirigierbar im Normalverständnis ist er nicht. Es wäre um die
Insistenz der »évolution sur place« (Igor Markevitch) bereits geschehen, bedürfte
das Orchester des Taktierenden; die Konzentration des auf den Trommelspieler
fokussierten Zusammenhörens macht den Blick auf den Taktschlag zum Umweg.
Den erspart Kurt Masur den Musikern, er hilft ihrer Konzentration, indem er Mit-
240 Momentaufnahmen

hilfe beim rhythmischen Reglement verweigert, er stört.Wohl enerviert ihn der


Rhythmus sichtbar, aber er taktiert nicht, sondern sendet mit jähen Zuckungen
auf unkalkulierbaren Zeiten Stromstöße ins Orchester, die dieses zu immer neu
intensiviertem Zusammenhalt zwingen und alle Selbstverständlichkeit eines auf
die Trommel ausgerichteten Ablaufs verhindern. Der Normalfall des geradeaus
gehenden Tempo giusto wird zur Gewalttat, das Favoritstück der Wunschkonzerte
nicht erst am Schluß, sondern fast von vornherein in Mahlerschen Dimensionen
katastrophisch.

✵✵✵

Das richtige Tempo. A und B verhauen im Dirigierkurs das Tempo, beide zu lang-
sam. A wird kritisiert, B nicht. A verfolgt das, verwahrt sich gegen ungerechte
Behandlung und bringt mich in Verlegenheit, weil er nicht verstehen wird,
weshalb ich dennoch nicht ungerecht war: A klammerte sich im verschleppten
Tempo an dieselbe Musik, B versuchte eine etwas andere Musik zu machen. Beide
haben im Adagio cantabile von Haydns Oxford-Sinfonie versagt angesichts des für
viele Mittelsätze charakteristischen Zwiespalts zwischen musikalischem Atem in
größeren Zeiten, hier im Zweivierteltakt Viertel, und koordinationsbedingten
Unterteilungen, hier in vier Achtel; bei beiden erlag die musikalische Vorstellung
der Gravitation der körperlichen Aktion, dem Taktieren in Vier.
Wie vieleVerlangsamungen, auch historisch dimensionierte, mögen von derlei
Versagen herrühren! Schlimmer noch als Unterteilungen in Zwei hat es die in
Drei getroffen, die Takte mit 3, 6, 9 oder 12 im Zähler. Ohne sicher zu sein, es
besser zu können, halten wir nicht für ausgeschlossen, daß Dirigierende in Zeiten,
da sie große Orchester zusammenzuhalten erst lernen mußten, aus Zwiespalten
wie den geschilderten vorschnell in – oft hochemotionale – Beglaubigungen
langsamer Tempi flüchteten, eindrucksvoll genug, um wie Entdeckungen musi-
kalischer Latenzen zu erscheinen und sich traditionshaft verfestigen zu können.
Hiermit könnte, der Großartigkeit mancher Ergebnisse unerachtet – Festhalten
an Fehlleistungen kann ungeahnte Kräfte wecken –, mancher ausgewalzte Ein-
gangschor der Matthäuspassion, manche allzu breit ausgezogene 12/8-Passage im
Adagio von Beethovens Neunter Sinfonie ebenso zu tun haben wie der im Parsifal
übliche Langsamkeitswettbewerb. Manche Rechenschaft, die sich zugrunde-
liegende Unzulänglichkeiten der Ausführung unbedingt verhehlen wollte, hat
erstaunliche interpretatorische Lösungen inspiriert.
A verfing sich zunehmend in den Beschwernissen des langsamen Tempos, die
schwachen Zählzeiten wurden zu Bleigewichten, den melodischen Girlanden
kam alle Leichtigkeit abhanden, die Repetitionen im Minore stampften primitiv
– und noch mehr, weil er zu beschleunigen versuchte. B begriff rasch, was pas-
siert war, aktivierte in der melodischen Deklamation das Espressivo, versuchte
die schwachen Zählzeiten leicht zu halten; weil mehr Zeit war, inspirierte er
hier ein messa di voce, dort artikulatorische Finessen, sorgte insgesamt für viel
Momentaufnahmen 241

Innenleben und legte mit diskreten Übertreibungen hinter das Minore eine
ironisierende Meta-Ebene. Zu den Kriterien von Musikalität gehören präzise
Tempovorstellungen ebenso wie die Fähigkeit, gegebenenfalls bei der gleichen
Musik mit unterschiedlichen Tempi umzugehen.
»Es gibt nur ein Tempo: das richtige« – der Spruch klingt gut im Munde bzw.
in den Ohren derer, die es zu wissen meinen bzw. froh sind, wenn einer genau
weiß, wie es gehen muß. Allerdings verdankt er den entschiedenen Ton dem
Umstand, daß er die Unsicherheiten in den Begriff »richtig« hinein verschiebt.
Ein metronomisch identisches Tempo kann mit einem größeren Ensemble, in
einem größeren Raum schneller und gehetzt wirken, mit kleinerem Ensemble
im kleineren Saal schleppend; demgemäß ist ein geringfügig gehalteneres dort,
ein geringfügig beschleunigtes hier substantiell das gleiche. Nicht anders als
Dynamik ist Tempo eine Verhältnisgröße. So wenig Forte oder Piano allein nach
Phon-Zahlen gemessen und gewertet werden können, so wenig gibt es das eine,
einzige, unverrückbar richtige Tempo.

✵✵✵

Avigail. Im Orchester sitzt sie am Konzertmeisterpult innen – auf eigenen


Wunsch? Das zu vermuten liegt nahe, weil sie wie eine typische Zweite sitzt und
agiert, der überaktiv und hart spielenden Ersten zugeordnet, deren Impulse an
die Gruppe weitergebend, zuhörend. Irgendwo zwischen Backfisch und spröder
Jungfrau, reagiert sie stets übervorsichtig-verbindlich, wenn man sie anspricht,
redet kaum und leise und schaut bei Erklärungen scheu-rehäugig auf, als müsse
sie um Entschuldigung bitten. Noch die jüngsten Mädchen im Orchester gehen
mit ihrem bißchen Fraulichkeit souveräner um als sie.
Gestern in der letzten Runde des Solo-Wettbewerbs war sie eine andere
und schien geigend auf eine Reife vorzugreifen, von der sie als Person weit
entfernt scheint.Vielleicht hat geholfen, daß sie schön hergerichtet, geschminkt,
kühn frisiert, von sich hinweg in eine andere Rolle gelockt war. Ihrer Ysaye-
Sonate blieb sie geigerisch so wenig schuldig wie darstellerisch, mit oft flie-
gendem Bogen, fliegenden Haaren war da nichts mehr vom Schulmädchen
am Orchesterpult, vielmehr bekannte sie sich so konzentriert wie mutig, fast
un-verschämt zu dem, was sie kann und was sie sein könnte. Als nach ihr die
nunmehr aussichtslosen Mitbewerber spielten, saß sie im Publikum wieder wie
vormittags in der Probe.
War der Auftritt ein Sprung über den eigenen Schatten, einVorgriff auf das, was
sie als Person einmal sein wird? – ich bin nicht sicher. Nicht selten sind Musiker
als Musiker interessanter denn als Person, nur musizierend verfügen sie über das
vollständige Instrumentarium ihres Selbst, ein großer, wichtiger Teil ihrer Perso-
nalität geht in Musik derart auf, daß er fast ausschließlich dort sich auslebt und
erfüllt. Die tiefen Blicke ins Menschenherz, in Temperamente und Charaktere,
die Mozart komponierend tat, waren der empirischen Person Mozart verwehrt;
242 Momentaufnahmen

und über Rameau hat eine böse Zunge gesagt, daß, wenn er den Deckel des
Clavecin zugeklappt hätte, niemand mehr im Raum gewesen wäre.

✵✵✵

Così 1954. Redet, soviel ihr wollt, von Perfektion, Hochglanzpolitur und Wirt-
schaftswunderästhetik, von stark besetzten, sämig-sonor spielenden Streichern,
weich abfedernden Pizzikati, genießerisch abschmeckendem Abtauchen in den
Klang – es schrumpft zur Besserwisserei angesichts dessen, wie Karajan im Ab-
schiedsterzett der Così Mozart auf der Spur ist – im sicher equilibrierten Zugleich
von strömender Bewegung und Innehalten, von Gelöstheit und Konzentration.
Strichgeschwindigkeiten, Bogen- und Atemdruck der Musiker müssen so mi-
nutiös aufeinander abgestimmt gewesen sein wie, leichter hörbar, Dynamik und
Stimm- bzw. Vokalfärbungen der Sänger – in einem Grade, welcher durch vorweg
vereinbarte Abtönungen allein nicht erreichbar ist – schon, weil das Klanggefüge
in beinahe jeder Zählzeit, zumindest jeder Harmonie, neu equilibriert werden
muß: Einstimmigkeit, welche die Musizierenden zu einem Miteinander, einer
Gleichgestimmtheit zusammenzwingt, worin Singen bzw. Spielen und Zuhören,
Hervorbringen und Reagieren fast eins sind, jeder des anderen Last mitträgt, alle
Mitwirkenden wie auf ein und dasselbe Instrument gespannte Saiten erscheinen
und agieren. Karajan hat dafür den schönen Vergleich mit dem Vogelflug benutzt.
Es mag seltsam erscheinen, daß er solche Kommunikationen sicher herstellen
konnte, mit denen von Mensch zu Mensch jedoch Schwierigkeiten hatte.
Oder gerade nicht? Vielleicht kam das Terzett seinen Idealvorstellungen
von Interpretation auch in fataler Weise entgegen: Abgehobene Enklaven alle
beide. Wie Mozarts Musik, den gelogenen Abschied transzendierend, Abschied
schlechthin ist – so daß man dem Drahtzieher Alfonso kaum als gewissenlos
ankreiden kann, daß er einstimmt –, so geht Karajans Musizieren auf eine frei-
schwebende Schönheit aus, welche im Hinblick auf Fragen nach Woher,Warum,
Wofür gewissenlos, weil sie ihr eigenes Gewissen ist. Wie immerhin denkbare
hämische Kommentare Alfonsos erübrigen sich jene Fragen, weil man sich in
platonischen Höhenregionen befindet bzw. sie unterstellt, wo sie nicht verfangen;
Karajan war tatsächlich an ihnen nicht interessiert, wofern er sie nicht expressis
verbis als marginales Geschwätz abwies. Was in der Oper, vom Handlungsgang
ebensowohl herbeigeführt wie, von ihm abhebend, als knapp erlaubtes, epi-
sodisches Refugium in einer anderen Zeitdimension gerechtfertigt ist, will er
perpetuieren, Innenraum wie das Terzett soll sein Musizieren insgesamt sein. So
breitet er das melancholisch abgeblendete Licht des Watteauschen Sfumato, das
im Terzett seinen Ort hat, fast über die gesamte Oper aus und hält sie auf einer
Mitte zwischen Glasperlenspiel, L’art pour l’art und Boudoir fest.
Das Terzett allerdings, wenngleich kaum noch vor kontrastierender Folie, trifft
er genau. Im moderaten Tempo ist das Innehalten aufgehoben – auf die Real-
situation bezogen das Zögern im letzten Moment, da man das katastrophische
Momentaufnahmen 243

Spiel noch abbrechen könnte, und über sie hinausgehend, insofern die Musik
den vorgetäuschten Abschied um ein Unendliches übersteigt und über die Köp-
fe der Betroffenen hinweg »weiß«, daß es ein größerer ist. Denn die Jünglinge,
die in stupid-weinseligem Übermut auf die Treue ihrer Bräute gewettet haben,
begreifen nicht, daß dieses Spiel kein Spiel bleiben kann, daß sie mit der Treue
ihr und das Glück der Mädchen verwettet und verwirkt haben. Die Musik gibt
zu verstehen, daß in dem gelogenen Abschied der endgültige steckt, in ihrem
die Realzeit aufhebenden Innehaltenwollen das Requiem.

✵✵✵

Anfangen. Manchem Sinfoniebeginn wünscht man das unruhige, schwatzende


Publikum, von dem aus der Anfangszeit öffentlicher Konzerte berichtet wird,
von noise-killer-effect hat ein Amerikaner in bezug auf signalhaft dreinfahrende
Eröffnungen mit dem unzweideutigen Untertext »Jetzt sind wir dran« gesprochen.
Haydn betätigt den Effekt u.a. am Beginn der Dudelsack-Sinfonie ebenso wie
Mozart in der Prager oder der Jupiter-Sinfonie, Beethoven meldet sich in unter-
schiedlichen Höflichkeitsgraden zu Wort. Bei der Achten Sinfonie tut er so, als sei
er von vornherein mittendrin; die durch zweitaktige Piano-Strecken unterbro-
chenen Akkordschläge der Siebenten muten wie Stromstöße an, die zwei Schläge
am Beginn der Eroica wie Ohrfeigen, der Beginn der Fünften, als spränge eine
Raubkatze ins Publikum. »Ich glaube, man sollte überhaupt nur solche Bücher
lesen, die einen beißen und stechen. Wenn das Buch, das wir lesen, uns nicht
mit einem Faustschlag auf den Schädel weckt, wozu lesen wir dann das Buch?«
(Kafka) – gilt das nur für Bücher? Genau genommen beginnt die Ästhetisierung
– teilweise zugleich Neutralisierung – bereits, wenn, sicheren Konzertritualen
folgend, den noise-killer-Anfängen eine andächtige Stille vorausgeht, bei der
aller Augen am Stock des Maestro hängen. Wir wissen den »Faustschlag auf den
Schädel« zu genau voraus.
Orchesterwerke leise anzufangen muß man sich leisten können, Haydn und
Mozart haben es selten riskiert. Zunächst hat das mit der Etikette des Konzert-
saales zu tun, dann zunehmend mit jenem – vom noise-killer übertönten – Ver-
trauensvorschuß, der sich in erlebnis- und hörbereiter Stille materialisiert. Wohl
erst jetzt kam das Tremendum des Anfangs ganz zutage, welches den Musiker,
der das Instrument ansetzt, zum Nachbarn des »Mannes vom Lande« macht,
der in Kafkas Proceß »um Eintritt in das Gesetz« bittet: Zwar ist der Eingang nur
für ihn bestimmt, zwar muß oder müßte er hinein, aber er zögert, weil er nicht
genau weiß, was ihn erwartet.
Etliche klassische und romantische Introduktionen lassen sich alsVersuche ver-
stehen, dies Zögern formalisierend zu bewältigen, die Problematik des Anfangens
zu entspannen – vorerst sind wir bei herabgesetztem Risiko nur auf dem Hinweg,
noch nicht bei der Hauptsache angekommen. Vom späten Beethoven wissen
wir, daß ihm »vor jedem Anfang... graute«, Bruckner suchte die Nullsituation zu
244 Momentaufnahmen

umgehen, indem er vor Beendigung des einen Werkes das nächste mindestens
anvisierte wo nicht bereits zu komponieren begann; Brahms hat zwei einleitende
Takte zur Vierten Sinfonie kurz vor der Drucklegung vermutlich gestrichen, weil
sie ihm zu kompromißlerisch erschienen, d.h. den Eindruck erwecken konnten,
er traue dem Thema nicht zu, für sich allein einstehen, unvermittelt in das er-
wartungsvolle Schweigen des Publikums hineinfahren zu können (bei den zwei
groß atemholenden Takten am Beginn der Dritten war es anders gewesen, weniger
als Charakter bedurfte das Thema des ausgerollten Teppichs als, weil es unver-
stellt Schumann erinnerte). Und »Coraggio, maestro«, von einem fürsorglichen
Konzertmeister vor dem ersten Einsatz dem bebenden Furtwängler zugeraunt,
ist nicht nur eine effektsicher erzählbare Anekdote. »Tief in jedem Kunst-Akt
liegt der Traum vom absoluten Sprung aus dem Nichts, von der Erfindung einer
Ausdrucksform, die so neu wäre, so einzigartig für ihren Urheber, daß sie die
vorherige Welt buchstäblich hinter sich lassen würde« (George Steiner) – wer es
überhaupt wahrnimmt, erfährt es am ehesten am Anfang, beim Grenzübertritt,
beim Verlassen der »bisherigen Welt«.
Leise Anfänge haben es auch schwer, weil es viele Arten erwartungsvoller Stille
gibt, weil Stille ruhen, spannen, brodeln, kochen, umkippen kann und schon nach
zwei Sekunden eine andere ist – erfahrbar am deutlichsten, wenn sie sich als
gegenstandslose Andacht verdächtig wird. Mit den Anfängen von Mozarts g-Moll-
Sinfonie KV 550 oder Beethovens Pastorale muß man die Stille anderswo erwischen
und beenden als mit den stärker auf einen Punkt konzentrierten Anfängen von
Beethovens Erster, noch darüber hinausgehend seiner Vierten Sinfonie. Bei ihnen
möge die Spannung knapp unter dem kritischen Kulminationspunkt liegen, bei
Mozart weiter unten, offen für den kurzen Anlauf des dunkel-leidenschaftlichen
Agitato, bei der Pastorale oder Brahms’ Zweiter Sinfonie abermals darunter, der
rückwärts suchenden Illusion Raum gewährend, die Musik sei schon in Gang
gewesen, bevor wir sie hörten. Bruckner scheint im Tremolo am Beginn seiner
Vierten und Siebenten Sinfonie die Schwelle zwischen Schweigen und Klingen so
niedrig wie möglich legen zu wollen, nahe beim Eindruck, die Stille werde sich
selbst vernehmbar; schon bei den unisonen Anfängen der Achten und Neunten
halten die drohenden Konnotationen die Schwelle höher, doch auch hier haben
die danach eintretende erste thematische Prägung einVorfeld und der Hörer Zeit
und Anhalt, seine Erwartungen genauer auszurichten.
Zwischen Feuerüberfall und leisen Sohlen – richtiger Umgang mit Musik
verlangt auch, zu erspüren, wo und wie und wann sie abgeholt werden will.

✵✵✵

Nochmals:Anfangen. Dem fünfjährigen Mädchen verdanke ich eine Lektion darü-


ber, was Anfang sei.Wir saßen in der Oper auf dem Seitenrang schräg über dem
Orchester. Dorthin und auf den geschlossenen Vorhang schaute sie während der
Ouvertüre unverwandt, bis er – endlich – aufgezogen wurde. Da ging eine Welt
Momentaufnahmen 245

auf, da fing etwas an, da fielen ihr fast die Augen aus dem Gesicht; so hatte ich
sie zuvor nur erlebt, als sie im Zoo zum ersten Mal einen Elefanten sah.
»Ouvertüre« meint Öffnen – den Vorgang, nicht das, was geöffnet wird; sie
verlängert die Strecke zwischen Davor und Danach, sie signalisiert Beginn, nicht
jedoch oder nur andeutungsweise, was da beginnt, und stimuliert die erwartend
vorgreifende Phantasie. Man muß nicht die wenigen, ausschließlich der Musik
gehörigen Minuten verteidigen, um töricht zu finden, wenn der Phantasie die
Spielfreiheit genommen und die Ouvertüre bei offenem Vorhang, wie Theater-
leute es nennen, »vertanzt« wird, abgesehen von anderen Torheiten – der Akku-
mulation von Erwartungen keine Zeit zu lassen; der Klärung von Verhältnissen
und Situationen, die jeder gute Stückbeginn besorgt, weitere hinzufügen zu
wollen. Es muß nicht alles erklärt werden, und zum Wesen jeder Kunstform ge-
hört das Spielfeld samt Abgrenzungen – die Verschossenheit des Figaro-Grafen in
Susanna muß nicht durch die Mitteilung verkleinert werden, daß er zuvor schon
anderen Mädchen nachgestiegen ist, und sein Flehen um Vergebung (»Contessa,
perdono...«) nicht durch die, daß es so bleiben und er weitere »Perdono«-Anlässe
besorgen wird.
Spielt da hinter szenischer Wichtigmacherei nicht auch Horror vacui mit, die
Angst, unseren bildersüchtigen, auf Überfütterung getrimmten Sehsinn unbe-
schäftigt, besetzbare Räume unbesetzt, vermeintlich klärbare Dinge unerklärt zu
lassen, die Ahnung jenes kleinen, ins Davor verpackten Nichts zu verscheuchen,
das im Werk vorausgesetzt ist, aus dem es herkommen muß, um es widerlegen
zu können; auch hier also unterschwellig die Problematik des Anfangs?
»Stille sich selbst vernehmbar« (s.o.) – wenn das nicht nur Gerede ist, muß in
ihr mindestens soviel schon vorhanden sein, wie die unterschiedlichen Anfänge
– laute, leise, überfallende, zögernde etc. – bedingen und als je eigenes Vorfeld
mitbringen. Manchmal vielleicht noch mehr – in der Stille von Situationen, in
die keine artifizielle Musik hineinpaßt, weil sie ihre eigene Musik haben oder
sind: ein Abend irgendwo abseits am Wasser, kein lärmender Motor, nur einzel-
ne Vogelrufe, der Wind in den Bäumen der dunklen Ufer oder das Plätschern
springender Fische ritzen das Schweigen o.ä. – da könnten auch das Andante
aus Bachs d-Moll-Doppelkonzert, das Adagio aus Schuberts Streichquintett oder der
Abschied aus Mahlers Lied von der Erde überflüssig sein.
Zumindest hilft die tiefgelegte Schwelle, die banale Selbstverständlichkeit und
Positivität des Klingenden zu verdrängen. Ist purer Klang schon Musik, gehört
zum Rheingold-Beginn und Brucknerschen Anfängen, daß es zumindest noch
nicht die Musik, sondern eine Trittstufe zu ihr ist? Fraglos ist in ihnen Erinnerung
aufgehoben an etwas, was im Zeitalter der unwillkommenen Beschallungen
nachzuvollziehen schwer geworden, vielleicht unmöglich ist – daß jahrhunder-
telang Musikwerke nicht nur als je spezielle Lösungen, Aussagen, Strukturen
intendiert und wahrgenommen wurden, sondern, weit davor, als Beschwörungen
des Wunders artifiziellen Klingens, als Epiphanien. Als solche erleben wir sie am
ehesten, wenn sie uns jäh und unerwartet überfallen, oder auf dem schmalen,
246 Momentaufnahmen

von formaler Logik verbotenen Grat zwischen Gerade-noch-nicht- und Gera-


de-schon-Vorhandensein.
Vermutlich weniger Epiphanien des puren Klangs als verbunden mit Raum
und Örtlichkeit, wo nicht von hierher inspiriert: So muß die erste definitive
Prägung der europäischen Mehrstimmigkeit, das mit Notre-Dame zu Paris ver-
bundene Organum mindestens auch als tönende Vergegenwärtigung, anagogische
Weitung des gotischen Kirchenschiffs verstanden werden, als Entsprechung zu den
von den farbigen Fenstern hereingezauberten Lichtwundern – lux aeterna und
musica mundana. Schon, wenn der Klang auf einem ausgehaltenen Fundamentton
als dem Stellvertreter des unbewegten Bewegers ruht und die darübergebauten
anderen, reigenhaft bewegten Stimmen im Nachhall des großen Raumes zün-
geln und verschwimmen, erscheint dieser in das Erlebnis der Musik integriert
– auch die zu feierlichen Anlässen gehörigen Festgewänder, Fahnen, ausgelegte
und aufgehängte Teppiche mögen, sofern sie überhaupt sollten, wenig geholfen
haben. Und wenn in der berühmtesten Komposition der frühen Renaissance, Du
Fays im Jahre 1436 für die Weihe des Florentiner Doms geschriebener Motette
»Nuper rosarum flores«, viermal nach zweistimmigen Passagen Vierstimmigkeit
eintritt (das erste Mal zu den Worten »Grandis templum...«), hat nicht nur die
symbolträchtige Strukturierung Anteil, sondern auch, daß die Vollstimmigkeit
viermal den neuen Raum nach den vorsichtig hineintastenden Duos ganz er-
schließt, erfüllt, vergegenwärtigt. Kein Zufall, daß etliche Bestimmungen von
Musik Raumbestimmungen sind – musique haute, die »laute« als Freiluftmusik,
musique basse, die »leise« als musica da camera etc.
Die Primärerfahrung jener Epiphanien wird zumindest gesteigert, wenn der
Hörende sich von den »corps sonores« umschlossen wo nicht in sie eingeschlossen,
im Jetzt die Zeit und im Hier den Raum ununterscheidbar als singuläres Zugleich
erlebt. In jeder Bruckner-Sinfonie klingt als Urerlebnis mit, daß der Organist
von St. Florian die Stiftskirche zum Beben, seine Musik ins Gemäuer eingraben
konnte. Die Aufforderung, solche Singularitäten zu suchen, enthalten Beethovens
»Weitergehen ist in der Kunstwelt Zweck« ebenso wie Wagners »Kinderchen,
macht Neues«, mag der letztere auch mit der Gewißheit kokettieren, daß nach
ihm Neues zu machen schwer sein würde.
In der Singularität des Anfangs steckt allemal, und seis als Hintergrundstrah-
lung, eine Ahnung dessen, wohinein wir den Anfang setzen, woher wir zu diesem
Anfang kommen. Insofern erscheint nicht als verstiegene Spekulation, daß Musik
auch dieVoraussetzung jener Situation, wo nicht jener Welt mitschleppt, in der sie,
und einzig sie, möglich ist. Zu Recht hören wir in Musik des Mittelalters und der
Renaissance den Abstand zur Stille einer Welt mit, die von unserer akustischen
Umweltverschmutzung sternenweit entfernt liegt. »Wir haben keine Anfänge
mehr« – der paukenschlaghaften Diagnose, mit der George Steiner seine »Gram-
matik der Schöpfung« eröffnet, liefert die Musik mehr Anhalt, als uns lieb ist.

✵✵✵
Momentaufnahmen 247

Nach oben geklappt. »Oh Gott!« stöhnte der österreichische Kanzler vernehmlich,
nachdem wir nach der Aufführung von György Kurtágs Vier Capriccios nach Ge-
dichten von István Bálint angekündigt hatten, sie gleich noch einmal zu spielen.
Aus einer spektakulären Festspielpremiere hatte es den prominenten Besucher zu
uns verschlagen, vielleicht, weil dort auf der Bühne nach neuer Schelmenweise
nicht das Stück, sondern ein eventsüchtiger Abhub stattfand. Und nun das!
Wir hatten uns mit der Musik, nicht nur spieltechnischer Schwierigkeiten und
feinster Nuancierungen wegen, lange herumgeschlagen; nun wußten wir, was
sie und wie sie war, nun fiel es leicht, zu ihr zu stehen. Wir wußten aber auch,
wie unangemessen wo nicht unverschämt es sein würde, sie dem Publikum am
Abend ein einziges Mal vorzusetzen mitsamt der Erwartung, es werde sie sofort
erfassen, gar schön finden können. Im Konzert mitgeteilt, erschien das eher als
taktische Finte, um der auf Mozart eingestellten Hörerschaft den lästigen Zeit-
genossen abermals unterzujubeln.
Wohl räumen wir gern ein, daß wir große Werke nie vollständig begreifen,
daß jede weitere Beschäftigung immer Neues finden wird und hinter jeder ge-
öffneten Tür sich andere, vorerst geschlossene Türen befinden. Die Normalform
unserer Konzerte indessen nährt die Illusion, wir könnten billiger davonkommen
– jedes Stück gefälligst nur einmal. Dem, das wir schon kennen, kommt es zugute;
es schadet dem, das wir noch nicht kennen, mit jenem konkurrieren und eine
Zustimmung einheimsen muß, die die baldige Wiederholung sicherstellt. Weil
ähnliche Stilistik allzu großen Abstand zwischen beidem verhinderte – Corelli
bekannte sich bereits unkundig im damaligen stylo francese; Haydn war entsetzt, wie
man in London seine Quartette spielte –, hielt sich die Ungleichheit der Chan-
cen in der Frühzeit des bürgerlichen Konzertwesens in Grenzen. Heute, sofern
man sich auf das Nebeneinander überhaupt einläßt, erscheint sie unerträglich,
unbeschadet der Tatsache, daß gegensätzliche Werke sich oft auf überraschende
Weise gegenseitig erhellen und erklären. Nur zu oft wird das Problem vom com-
me-il-faut-Beifall weggebügelt, der der Leistung der Ausführenden oder dem
Umstand gilt, daß es überstanden ist, jedenfalls kaum der Komposition.Wer mit
dieser dank jener Chancenungleichheit nicht gleich zurechtkommt, hat freilich
viel Recht, so zu reagieren.
Keiner erwartet, daß er sofort Strukturen nachvollziehen, einer Logik des
Verlaufs auf die Spur kommen kann usw., aber doch wenigstens, daß etwas von
jener Plausibilität aufdämmere, welche zu weiteren Vertiefungen der Eindrücke
einlädt. Daß die Konstellation der Programme immerhin als möglich sugge-
riert, man könne ein neues Werk rezipieren wie ein vertrautes, wirkt ebenso
einschüchternd wie einseitig überzogene Begriffe von Musikverständnis. Weil
auch Emotionen Erkenntnismittel sind, beginnt mit dem Erleben bereits das
Verstehen, braucht man das Wie der Musik, die Machart nicht durchschaut zu
haben, um von Verständnis reden zu dürfen. Jener falschen Einschüchterungen
wegen müssen derlei rezeptionspsychologische Allgemeinplätze immer neu
hergebetet werden.
248 Momentaufnahmen

Die Illusion oder Unterstellung, eine wie immer zunächst beschränkte, den-
noch repräsentative Totalität des ästhetischen Eindrucks sei auch beim ersten Mal
schon zu haben, ist jungen Datums. Nicht nur Literatur, auch Bilder und Musik
mußten direkt oder im übertragenen Sinne gelesen werden, ausgelesen waren
sie nie. Wie immer man die Spruchbänder auf Gemälden des 15. Jahrhunderts
lesen konnte – ein erschöpfendes Verständnis der Botschaft war dem Lesenden
entzogen. Wie um das zu verdeutlichen, hat Jan van Eyck auf dem Genter Altar
einige Bänder nach oben geklappt: Nur von oben her, mit dem Auge Gottes
können sie richtig gelesen und verstanden werden.
Nach oben geklappt auch die Musik: Die Cantus firmi der frühen Motet-
ten können und sollen in ihrer Überdehnung nicht als melodische Gestalten
wahrgenommen werden, um so weniger, als sie segmenthaft aus Melodien des
gregorianischen Repertoires herausgeschnitten sind. Über sie, gleichsam als Na-
belschnüren, nährt die Musik sich aus der religiösen Transzendenz, mithin aus
einem Sinnzusammenhang, von dem sie jeweils nur einen winzigen Ausschnitt
ästhetisch realisiert – und abhängig bleibt; sie verweist permanent auf etwas,
was sie selbst nicht ist. Mehrere in den Oberstimmen nebeneinander laufende
Texte in den großen Motetten des 14. und 15. Jahrhunderts entziehen sich der
Verstehbarkeit von vornherein, man kann nur einen verfolgen und muß den
oder die anderen fast ignorieren, kann die wohldurchdachten Querbezüge nur
erkennen, wenn man vorher studiert, möglichst auswendig gelernt hat.Auf einen
Totaleindruck hin ist dieses Ganze – inwiefern überhaupt ein Ganzes? – nicht
angelegt, vielmehr als Einübung in die unserem beschränkten Vermögen einzig
angemessene Erkenntnisweise, mit Nikolaus von Kues zu reden: der Mutmaßung.
Oder, um weiter innerhalb der Musik bleiben: nur zwei selbständig nebeneinander
her laufende Stimmen können wir kontinuierlich verfolgen; schon wenn eine
dritte hinzutritt, ist unsere Wahrnehmung auf das Tertium comparationis harmo-
nischer Zuordnungen, des rhythmischen Miteinanders etc. verwiesen – hier bereits
entzieht sich die Struktur, schon hier »verstehen« wir nicht mehr alles. Brahms
hat die Reliefbänder auf römischen Triumphsäulen, welche, minutiös ausgear-
beitet, in den oberen Etagen von niemanden genau gesehen, »gelesen« werden
können, als symbolisch für wahre Kunst angesehen. Nicht also nur Bruckners
Neunte Sinfonie ist dem lieben Gott zugedacht. Wobei die Frage beiseitegelassen
sei, wie weit das Erlebnis der Musik vom Nachvollzug ihrer Bauformen entfernt,
schlichtweg etwas anderes und dennoch authentisch sein könne.
Man kann es ebensowohl aufklärerisch wie theologisch nennen, daß Kunst
unsereVerstehensansprüche ebensowohl stimuliert wie ihnen Grenzen setzt.Auch
dies bezeugt, obwohl er es nicht meinte, der Wehruf des Kanzlers.

✵✵✵

Deutungsresistent. Weberns Opus 10 mit Musikern eines mir bislang unbekannten


Orchesters, welches normales Repertoire spielt – das kann einem bange machen.
Momentaufnahmen 249

»Das Anhören dieser Musik stürzt den unvorbereiteten Hörer in eine vollständige
Verwirrung, aus der nur eine lange Gewöhnung heraushelfen kann« – das hat
kein Außenstehender formuliert, sondern René Leibowitz.
Also wird gelesen, wieder und wieder, studiert, gelernt – möglichst auswendig;
Melodien werden nachgesungen und auf verborgene Expressivität, kryptische
Romantik hin abgeklopft;Töne werden gezählt, gruppiert, »Nester« gleicher oder
ähnlicher Töne lokalisiert, rhythmische Folgen registriert und in übersichtliche
Ablaufschemata übertragen;Tonhöhenverläufe zu Protokoll genommen (wie nahe
bei der Zwölftönigkeit?), versuchsweise Hauptstimmen herausgefiltert und die
fortschreitende Ballung von der Einstimmigkeit bis zu komplizierten Überlage-
rungen verfolgt,Taktgruppen bzw.Abschnitte abgegrenzt; aphoristisch verknappte
traditionelle Strukturen vermutet; die zunächst hinzugesetzten, dann gestrichenen
Betitelungen in Betracht gezogen, welche zwischen allgemeiner Symbolik und
präzisen Auskünften über den Verlauf schwanken (»Urbild«, »Verwandlung«,
»Rückkehr«, »Erinnerung«, »Seele«) und, in Worten des Komponisten, »keine
programmatische Erklärung geben, sondern nur jene Stimmungen andeuten«
sollten, »die ihn bei der Komposition der einzelnen Stücke beherrschten«.
Fürs eigene Verstehen sind solche Einstiegsversuche ebenso wichtig wie, um
gerüstet zu sein, wenn Musiker fragen. Je weniger wir nachvollziehen können,
weshalb dieser Ton, jene Harmonie etc. unbedingt den je vorangegangenen fol-
gen müssen, desto eher vermuten wir dahinter eine Logik, welche kräftig genug
wäre, die Last der Verrätselung zu tragen, ein Losungswort, das die Verknotung
schlagartig entwirren hülfe, wenn wir es wüßten. Freilich könnten wir nach
solcher Folgerichtigkeit des Vorangangs auch bei der Kleinen Nachtmusik fragen
– und kämen mit der Antwort ebenfalls in Verlegenheit; nur sind wir hier auf sie
nicht angewiesen. Die heiß erwünschte eine, möglichst viel, gar alles entlang einer
Linie auffädelnde Logik – es gibt sie nicht; es gibt deren mehrere, und von einer
Art, welche kaum zu entscheiden erlaubt, ob sie einander ergänzen oder wider-
sprechen; und selbst, wenn wir sie alle beisammen hätten, wäre das Stück nicht
erklärt.Wie stets bei bedeutender Musik zeigt sich im eingestandenen Scheitern
der analytischen Anstrengungen eine Evidenz, eine supra-rationale Plausibilität,
welche unsere Erklärungs- und Deutungsansätze wohl nicht überflüssig macht,
jedoch hinter sich läßt – und darüber belehrt, daß wir mit »was bedeutet es?«,
»was sagt es uns?« etc. an der Kunst im Kunstwerk vorbeifragen. »Gleichnisse
bitte ich die Stücke nicht zu nennen, es sind nicht eigentlich Gleichnisse«,
schrieb Kafka an Martin Buber, der diesen Obertitel für Schakale und Araber und
Bericht für eine Akademie vorschlug. Kafka wollte keine Transparenz suggerieren,
welche die Autonomie des Erzählten untergräbt, indem sie sie als illustrierenden,
symbolischen etc. Vordergrund eines eigentlich Gemeinten hinstellt. Gemeint
war, in aller Vieldeutigkeit, das Erzählte selbst. Man könnte den Vergleich mit
Literatur für unangebracht halten, weil er, auf inhaltliche Momente orientiert,
Schönbergs für die Musik wichtige Unterscheidung von »was es ist« und »wie
es gemacht ist« vernachlässigt, indes: Läßt beides sich trennen, gibt es musikalisch
250 Momentaufnahmen

ein »Was«, welches unabhängig vom »Wie«, von den Mitteln wäre, mit denen
es sich darstellt? Weberns gespreizte Intervalle, nahezu zwölftönige Nester, in
denen Nach- und Miteinander kaum noch unterschieden werden kann, und
vieles andere sind beides zugleich.
Ohne daß es der Reflexion bedürfte, war das einer der Gründe, derentwegen
die Musiker nach meinen Einsichten nicht gefragt haben; insoweit waren die
analytischen Zurüstungen überflüssig und erschienen alsbald umwegig. Daß
Weberns Verwandlung (Nr. II) auf eine schrille Verdichtung zuläuft, bei Rückkehr
(Nr. III) nach einem zweitaktigen Scheitelpunkt zurückgekehrt, zurückgespult
wird und Seele (Nr. V) in einer sparsam hingetupften Verabschiedung verweht,
war schnell erkannt, und alsbald hatte ich gute Gründe für ein Erklärungs- und
Deutungsmoratorium, welches, nicht nur bei op. 10, Webern nicht schlechter
anstünde als Kafka. Zunächst war wichtig, daß – z.B. am Beginn – das h der
Trompete mit dem der Harfe, mit deren c das der Celesta zusammenstimmen, die
Flöte die Vierteltriolen der Harfe mitvollziehen, das Glockenspiel sie fortsetzen
würde, das Crescendo der dolcissimo spielenden Flöte von dem der Celesta
diskret gestützt würde usw. So entstand ein unausgesetzt bewegtes, Prioritäten
wechselndes Kraftfeld einander überlagernder, jeweils präzis gezielter Stromstöße
bzw. Aufmerksamkeiten, eine Übersetzung von Weberns filigranem Maßwerk
ins Psychische.
Wo verläuft da die Grenze zwischen einer ausschließlich der klingenden Um-
setzung gewidmeten Konzentration und ästhetisch erlebter Musik? Fast löste sie
sich auf, genug jedenfalls, um ein Paradox zutage zu fördern: Daß eine Musik,
welche überwiegend als Struktur gelesen, beschrieben und beredet wird, sich fast
unabhängig von dort gewonnenen Einsichten direkter und gewiß authentischer
als Tätigkeit und Vorgang erschließt. Arme, auf kritisches Bewußtsein, Struktur
und Intellektualität festgelegte Schönbergianer! – entgegen dem Leumund hat
Weberns Einrichtung des Bach-Ricercars mit Aufführungsgewohnheiten des Fin
de siècle ebenso viel zu tun wie mit analytischer Instrumentation, Schönbergs
Händel-Bearbeitung mehr mit Ungeduld als Verständnis, und seine Fassung der
Es-Dur-Tripelfuge mehr mit Stokowskys Breitwandorgien als mit Bach.
Sehr bald haben wir, nachdem die meditativen Herausforderungen ange-
nommen und die übergreifenden Verstehensfragen unwichtig geworden wa-
ren, viel, jedes Stück mehrmals hintereinander durchgespielt. Wie immer die
Vorüberlegungen die »zweite Naivität« unseres Musizierens eher befördert als
behindert hatten, das Leitseil einer Sinngebung, an dem man sich ein Stück
weit entlanghangeln kann, immer noch besser ist als gar keines und die besseren
Deutungsversuche sich im Verlauf ihrer Anwendung aufzuheben pflegen –, am
Ende dachte ich eher an »Laß die Deutungen« von Kafkas Josef K. und an Paul
Celans Ratschlag an Leute, die mit seinen Texten schwer zurechtkamen: Lesen,
lesen, immer wieder laut lesen.

✵✵✵
Momentaufnahmen 251

Terror am Karfreitag. In der Kantine saß er nach der Vorstellung leichenblaß und
den Tränen nahe; ein Herr vom letzten Pult der zweiten Violinen hatte ihn zur
Strecke gebracht.
Er war, neu engagiert, in den Parsifal frisch eingestiegen, hatte sich eingehend
mit dem Stück beschäftigt, nicht nur mit seinem Part, hatte eine Vorstellung
besucht, war mit dem Bühnengeschehen nicht zurechtgekommen und wollte
in einem Gespräch möglichst alles wissen, angefangen bei der Konstellation der
exponierten Soli der Oboe. Schnell waren wir beim Karfreitagsmorgen ange-
kommen, jener seltsamsten, zeremoniefeindlichsten, schönsten Salbung eines
Königs mit den drei scheinbar zufällig anwesenden, dennoch kompetentesten
Ministranten: einem Pförtner mit Sonderkonditionen, degenerierter Nachfahre
des Sprechers von Sarastro: Gurnemanz; einer Hure mit höherer Bedeutung, in
höherem Auftrag: Kundry; und der Natur, der Musik, anfangs identisch mit der
Oboe. Nirgendwo sonst in dem Stück wird Musik so sehr zum Handlungsträger,
nirgendwo sonst blüht sie wie hier, nirgend sonst verknoten sich die Sinnschichten
so abgründig. Danach, bei den Zurüstungen zur offiziellen Inthronisation, erschien
es mir immer, als würde Asche regnen; gern hätte ich die aufmarschierenden
Ordensleute noch verzweifelter, unschöner brüllen lassen, als Wagner erlaubt.
Als er die Oboe ansetzte, habe ich nicht hingesehen, es nur indirekt überwacht;
vor schwierigen Soli sollen die Spieler sich »genommen«, beachtet, jedoch nicht
fixiert fühlen. Und dann wurde die Giftspritze verpaßt, knapp, zielgenau, diskret,
nicht einklagbar: Man wird sich doch, da man ein paar Begleittakte auswendig
spielen kann, mal umdrehen und verwundert den Kopf schütteln dürfen, wenn
einer sich verblutet! Der Oboer hat es durchgestanden, nicht einmal die Aura
des unverstellt-absichtslos aufklingenden Naturlauts, so schien mir, hat das Gift
erreichen können. Aber der Kontext verzweifelter, mit letzter Kraft gelungener
Behauptung ist an der Melodie haftengeblieben.
In solchen Situationen, fürs erste hilflos, denkt man an Schlimmeres als Diszi-
plinarmaßnahmen – und reagiert die Scham darob in Einräumungen ab. 50 oder
80 oder 120 Leute können sich nicht durchweg und auf die Dauer grün sein.
Sie sitzen eng beieinander und sind zu Koordinierungen wo nicht Intimitäten
gezwungen, welche, geistige, psychische und physische Momente gleichermaßen
umfassend, kaum einer anderen Tätigkeit vergleichbar sind. Jeder Außenstehende
kann an der Sitzordnung auf einen Blick erkennen, wieviel sie wert sind; sie er-
leben sich als gemeinsam einem Dritten gehorchend, sollen die gleiche Passage
je nach Anweisung einmal so, einmal anders spielen, und jedesmal, als könne sie
nur so und nicht anders gespielt werden; sie müssen gleichzeitig atmen und den
Atemdruck ähnlich dosieren, müssen möglichst in gleicher Geschwindigkeit
streichen, sie kennen sich – Musizieren heißt vor einem Röntgenschirm stehen
– viel zu gut; der eine hört und weiß, was sein Nebenmann kann und nicht kann,
und dieser weiß dasselbe von ihm, und beide wissen, daß der andere es weiß. Es
gibt Konstellationen, in denen keine Euphorie musizierender Gemeinsamkeit,
kein »Vogelflug« ausreicht, dies vergessen zu machen; nur zu glaubhaft wird
252 Momentaufnahmen

berichtet, Musiker, die sich nicht riechen konnten, hätten jahrelang am selben
Pult gesessen und kein Wort miteinander gesprochen.
Zudem kann keiner unausgesetzt so begeistert, mit allen seinen Möglichkeiten
so sehr bei der Sache sein, wie die großen Werke es verlangen; mittlere Gemüter
sind da schnell versucht, sich auf praktizistische Positionen, Dienst nachVorschrift
zurückzuziehen. Format und Qualität von Musikern bemißt sich wesentlich
nach der Art und Weise, wie sie die Überforderung mit einer auf die materiell-
technische Seite des Musizierens konzentrierten Sachlichkeit ins Gleichgewicht
bringen. Wenn in der Musik ganz und gar bei der Sache, sind wir »aufgerissen«
wie unser Oboer, also verwundbar. Das wußte der Herr, der sich nach ihm in
der Sorge umdrehte, der Neue könnte die Preise verderben.

✵✵✵

Traumatisches Pizzikato. Er wollte mehr und erhielt weniger; er mußte Rigoletto


übernehmen und bekam, wenn die todwunde Gilda den Vater um Verzeihung
bittet, das Pizzikato nicht zusammen.
Bei dem anderen, der die Oper einstudiert hatte, war das kein Problem ge-
wesen – ein erfahrener Koordinierer, dem Präzision im Zusammenspiel und ein
bißchen Intonation obenan standen, den die Regisseure mochten, weil ihn die
Bühne wenig interessierte und er selten, ungeschickt und leicht widerlegbar
dazwischenredete, am ehesten, wenn die Sänger kriechen, galoppieren oder
hinten stehen sollten. Subtilere Vermittlungen zwischen Musik und Szene fan-
den nicht statt, was nicht weiter auffiel. Die musikalische Einstudierung für sich
hatte Hand und Fuß und sonst nicht viel, und das Pizzikato gelang, mit flinker
Hand unabhängig vom Atem der Sängerin im letzten Augenblick hereingewinkt,
prompt, präzis und penetrant.
Dem Übernehmenden, der es gern mit ihrem Atem verbunden, aus ihn her-
vorgehend gehabt hätte und sich auf jäh hineingeschossene Impulse nicht einlas-
sen wollte, gelang es nicht. Daß der andere, der ihn nicht mochte, vielleicht ein
paar Musiker angestiftet hatte, für Kleckerei zu sorgen – Pizzikati zählen zu den
simpelsten Testfällen, ob einer dirigieren kann –, macht kaum einen Unterschied,
weil es auch ohne sie schwierig gewesen wäre. Fürs Trauma reichte es allemal.
Wenn er mit Rigoletto nicht dran war, richtete er seine Proben so ein, daß
er bei Gildas Todesgesang auf die dunklen Hinterbühne kommen, das präzise
Pizzikato hören und verzweifelt davontaumeln konnte.

✵✵✵

Größere Distanz zum Geist. Vom Musikheiligen des Mittelalters – »Nam qui facit
quod non sapit diffinitur bestia« – bis zu Hanns Eisler reichen die Selbstermächti-
gungen der Gescheiten – ›wer nur von Musik etwas versteht, versteht auch von Mu-
sik nichts‹. Doch so leicht kommen sie nicht davon, wie immer sie argumentieren,
Momentaufnahmen 253

um die Musik herum mehr zu wissen fördere auch die Naivität, weil es Zugänge
öffne, die die »bestiae« nicht kennen. Platons Sokrates nimmt den großmäuligen
Rhapsoden Ion zwar auf die Schippe, scheut sich aber, dessen Berufung auf Stimmen
zu bezweifeln, welche irgendwoher durch ihn hindurch sprächen.
Wie leicht fällt das verallgemeinernde Zugeständnis, daß es diskursferne Weis-
heit und Erkenntnisse gebe, die in der Materialität, als der vermeintlichen Ober-
fläche der Musik aufgehoben sind; wie schwer indessen, Kultur der Oberfläche
zugleich als Kultur dessen wahrzunehmen, was dahinter liegt! Dieselben, die unter
Berufung auf Hofmannsthals Diktum über die Dialektik von Oberfläche und Tiefe
diskutierten, wußten von ihr nichts mehr, wenn sie Karajan als Großmeister aller
kulinarisch weggebügelten Spiritualität oder als Chef einer – gewiß erlesenen
– Lackierwerkstatt apostrophierten.Wie schwer es fällt, hat der Gescheiteste, Ad-
orno, zugegeben und im Anschluß an ein Gespräch über Karajans Aufführung der
Achten Bruckners ebenso reflektiert wie in der verdruckst-anonymen Anerkennung
von Karajans Einspielung der Variationen op. 31 von Schönberg. Sie ist, nahezu
40 Jahre alt, neben der Michael von Gielen die beste, die wir haben, obwohl die
Ästhetiken des Komponisten und des Dirigenten sternenweit auseinander lagen.
Leibowitz, der ein Buch über die Variationen geschrieben hat, ist dirigentisch mit
ihnen nicht zurechtgekommen, und bei Boulez klingt manches eckig, gezwungen
und im Zusammenspiel kniffliger Passagen unbewältigt.
Die Problematik auf eine des technischen Vermögens herunterzureden wäre
billig. »Die Sprache der Musik«, notierte Adorno, »gestattet größere Distanz zum
Geist und seinem spezifischen Inhalt.« Kaum vergleichbar mit anderen Künsten
wimmelt es in der Musik, zumal in mittleren Etagen, von Kindsköpfen, Spießbür-
gern und Naivlingen, die man zu ihrem Tun und den Hintergründen besser nicht
befragt; nicht nur, weil schwerer belangbar, sind sie unter totalitären Verhältnissen
besser durchgeschlüpft als andere.Wie sehr die Wiener immer übertrieben, wenn
sie Mozart zum Paradiesvogel, Haydn zum harmlosen Papa stilisierten, den cho-
lerischen Sonderling Beethoven scheuten und bewunderten, Schubert im Beisl
sahen oder Bruckner, frei nach Mahler, »halb als Gott, halb als Trottel« belächelten
– die Richtung der Übertreibungen hat ihre eigene Wahrheit.
Komponisten abgerechnet, setzen Musiker in Töne um, was geschrieben
steht, im Orchester obendrein nach Anweisungen eines anderen; das für sich ist
schon schwer genug. Fast ununterbrochen sind sie mit großen Gegenständen
konfrontiert. In der Höhenluft ihrer Ansprüche kann sich, wenn überhaupt, keiner
ständig halten, ob nun intellektuell oder emotional; schon dem Selbstschutz, der
inneren Ökonomie zuliebe bedarf es einer Pragmatisierung des Zugangs, der
die spieltechnischen Anforderungen genug Anhalt und Rechtfertigung liefern.
Allemal befindet sich darunter der verläßliche Quellgrund eines unbewußten,
nicht reflexionsbedürftigen Wissens, unbefragt mitarbeitender Selbstverständ-
lichkeiten, welcher dafür sorgt, daß ein materiell-technisches Problem nie nur
ein solches bleibt – dies die Innenseite von etwas, das von außen wie Stolz auf
eigene Borniertheit aussieht.
254 Momentaufnahmen

Jenes Wissen spielt offenkundig bei einer Abstinenz mit, welche nicht weitab
liegt von religiösen Bilderverboten. Etliche hochgebildete Komponisten, denen es
leichtgefallen wäre – Mendelssohn, Chopin, Brahms, Bartók, Lutoslawski, Kurtág
– haben sich, form- oder technikbezogene Details ausgenommen, ungern oder
gar nicht zu allgemeineren, ästhetischen etc. Fragen geäußert: Über Musik redet
man nicht, man macht sie.
Im Übrigen sollte man ihr Eigenreich, soweit es eines ist, nicht auf hohem
poetischen oder theoretischen Niveau beneiden und zugleich sich darüber
wundern, daß viele sich in seinen Grenzen bescheiden und den absolutistischen
Ansprüchen dadurch genügen, daß sie ohne Umweg auf die Sache zugehen.
Mögen die Gescheiten sich hinter die Ohren schreiben, daß man auf andere
Weise gescheit sein, auf höchstem Niveau Musik machen und einen spärlich
besetzten Bücherschrank haben kann.

✵✵✵

Unbewältigte Biographie? Es gibt mehrere Gründe, im ersten Satz von Brahms’


H-Dur-Trio op. 8 bzw. 108 den Komponisten auch in bezug auf die alla breve-
Vorschrift und die Charakteristik »con brio« ernst zu nehmen, sich also nicht,
wie fast üblich, von der großbogigen Kantabilität des Beginns zu pastoser Breite
verführen zu lassen. Den am schwersten wiegenden Grund hat Brahms in der
mehr als 35 Jahre später vorgenommenen Neufassung geliefert – mit der »tran-
quillo«-Vorschrift zur neukomponierten Coda. Inzwischen hatte er die Kunst
der Coda vielfach geübt, Kunst des erinnernden Rückblicks und des friedlichen
Beieinanders von Themen, welche allen Konflikten entronnen sind; hier stand
ihr eine besondere Aufgabe bevor, weil er das ursprüngliche Seitenthema gegen
ein anderes ausgewechselt hatte und einige Legitimation nachgeliefert werden
mußte – gerade mithilfe der spezifischen Glaubwürdigkeit einer Kalmenzone,
innerhalb deren die Prägungen nur noch neben- und ineinanderklingen, nicht
aber mehr gegeneinander antreten.
Genau das geschieht in der neuen Coda. Brahms fügt in das leicht nachsing-
bare Thema abwärtslaufende Achtelgirlanden ein und kontrapunktiert sie alsbald
mit aufwärtsgehenden. Damit zieht er innerhalb des ersten zur Gleichzeitigkeit
zusammen, was in den gegenläufigen melodischen Akkordbrechungen des
neuen zweiten Themas ins Nacheinander auseinandergelegt ist. Wenn dieses
gleich anschließend zitiert wird, mutet das wie eine geradlinige Konsequenz des
Vorangegangenen an, als könne das neue Thema gar nicht anders als ans erste
direkt anschließen.
Dies allein jedoch würde nicht unbedingt das tranquillo erfordern. Sicherlich
haben wir es bei Brahms’ Auskunft an einen Jugendfreund, er habe dem Stück
»die Haare ein wenig gekämmt und geordnet«, mit einer der für ihn typischen
camouflierenden Untertreibungen zu tun. Es war mehr, war auch eine Verab-
schiedung. Das am ehesten erklärt das glaubwürdige Zeugnis, Brahms sei »über
Momentaufnahmen 255

diese Neufassung glücklicher« gewesen »als über ein neues Werk«. Zwar fiel
es ihm zunehmend schwer, sich mit der frühen Fassung zu identifizieren – in
einer Aufführung in der siebziger Jahren veranlaßte er in der Durchführung des
ersten Satzes ein Vi-de –, und angesichts vergleichbarer Werkgeschichten kann
man nicht ausschließen, daß das Trio ihm bald leichtfertig in die Öffentlichkeit
entlassen erschien. Das ließe sich weniger als Einwand denn als Bestätigung dafür
verstehen, daß es ihm viel bedeutet hat – wie immer zunehmend in Widerspruch
zu seinen ästhetischen Prämissen.
Mehr und konsequenter als andere hat Brahms Spuren getilgt – was nicht
wenig bedeutet bei einem, der neben Beethoven gewiß der skrupulöseste Arbeiter
war, also viel zu tilgen hatte. Weshalb und wie das Werk entstanden war, ging
keinen etwas an; anders als für seinen Mentor Schumann sollte das mit dessen
ästhetischen Beglaubigungen nichts zu tun haben dürfen – im Sinne der Auto-
nomie einer (in seiner Formulierung) »dauerhaften«, subjektive Momente in sich
aufhebenden Musik. Das liegt, inbegriffen ein an Selbstbestrafung grenzendes
Mißtrauen gegenüber spontaner Inspiration, nicht weitab von Hegels Radikal-
auskunft, was in seinen Büchern von ihm sei, sei falsch. In diesem Sinne mochte
es Brahms später nachgerade obszön erschienen sein, daß er in der frühen Trio-
Fassung Clara Schumann mit jenem bei Beethoven entliehenen »Nimm sie hin
denn, diese Lieder« ansprach, mit dem ihr Ehemann sie dreimal an exponierter
Stelle angesprochen hatte – sicherlich der einzige Ehebruch, dessen der Jünger
sich schuldig gemacht hat. Warum sollte der 55jährige sich für den 20jährigen
nicht zugleich geschämt und ihn um die Frechheit beneidet haben, mit der er
die populärste romantische Künstlerfigur, Hoffmanns Kapellmeister Kreisler,
als Namensgeber reklamierte und sich wichtig genug fand, sein – dessen – als
Klaviertrio komponiertes »Tagebuch« dem Publikum zu präsentieren?
Als er es bearbeitete, standen ihm neben dem eigenen, in 35 Jahren durch-
laufenen Weg die Monate bei den Schumanns vor Augen. Für ihn begann es
immer noch im Jahre 1853 – am Anfang hat er nicht geändert –, es muß für ihn
gewesen sein, was für Proust das Madeleine-Törtchen war. Nicht nur dank ein-
gewobener Anspielungen und Zitate aber war es zugleich eine Reliquienkammer.
Nun zwang ihn die Treue zu seinen Prämissen, sie auszuräumen, innerhalb der
eigenen Musik, um diese zu retten, kostbarste Erinnerungen zu veruntreuen, sie
in eine kunst-ungemäße Privatheit zu verbannen. Am Ende des ersten Satzes
kann man »Am farbigen Abglanz haben wir das Leben« sehr wohl mithören, das
Eingeständnis, daß der Abschied von der ersten Fassung ein schwerer Abschied
war und weder sauber noch radikal vollzogen werden konnte.
Wird der Satz zu breit ausgespielt, so muß das tranquillo, soll die Proportion
der Tempi gewahrt bleiben, notwendig zu langsam geraten; so verfehlt man,
was Brahms generell und sensible Punkte wie diesen besonders betrifft: die
Diskretion.

✵✵✵
256 Momentaufnahmen

Das Übernächste. »Was glauben Sie, wieviel Ihnen die Musiker anbieten, wenn sie
nur wüßten, wann!« Der Dirigierlehrer war nicht glücklich über den fröhlichen
Beifall, den die Bemerkung fand; es klang pragmatischer, als er wollte, und er
hatte den Delinquenten am Pult dem Gelächter preisgegeben. Der würde nun
noch schüchterner sein, noch weniger seine Mittel ausfahren können, um vor
dem »Übernächsten«, gestalterischen Fragen etc., das Nächste, die elementaren
Koordinierungen zu besorgen. Zwei Übelstände lassen sich bei der Ausbildung
junger Dirigenten kaum vermeiden: Zu ihrem »Instrument«, dem Orchester,
kommen sie vergleichsweise selten, und wenn, dann müssen sie am Pult als der
agieren, der das Sagen hat, und befinden sich zugleich in einer Schülersituation;
es bedarf einiger Standfestigkeit, um da Balance zu halten.
Abgesehen von der Ungeduld des Lehrers, der die Probe in die falsche Rich-
tung laufen und das kooperative Klima gefährdet sah, war der Tadel berechtigt.
Ohne die nächsten, ersten Dinge in den Griff bekommen zu haben – es war
nicht zusammen, das Tempo schlingerte, Dynamik wurde nicht dirigiert –, hielt
der Delinquent sich, klug und überflüssig redend, bei den übernächsten auf.
Spätestens, als er selbstverschuldete Mängel zu monieren begann, wurde das nur
noch als schulmeisternde Ausrede und Verdrängung eigener Defizite wahrge-
nommen. Bekanntlich bieten wir zur Bemäntelung oder Verteidigung unserer
Schwachpunkte oft mehr Energie,Verstand und Phantasie auf als zu ihrer, aller-
dings meist schwierigeren, Beseitigung. Gottfried Benns Diktum, Kunst sei das
Gegenteil von »gut gemeint«, trifft hier recht genau, abgerechnet der Umstand,
daß der Hader mit spieltechnischen Schwierigkeiten die Auseinandersetzung
mit gestalterischen Fragen stimulieren kann.
Nicht nur, weil Musiker auf den angewiesen sind, der vorn steht – immerhin
nennen sie Proben »Dienste« –, reagieren sie auf den leisestenVerdacht unredlicher
Bevormundung. Schwerer wiegt hier, daß die elementaren »nächsten« Dinge die
übernächsten im Schlepptau haben und man z.B. nicht präzise zusammen sein
kann, ohne daß die Art und Weise geklärt wäre, in der man zusammenkommt.
In jedem Orchester bildet sich ein Sediment von Musiziererfahrungen, eine
Weisheit des großen Apparats, welche überall ungefragt mitarbeitet und etwa in
der Natürlichkeit von Tempoübergängen bei vorsichtig kontrolliertem Freilauf
Dinge zustandebringt, die kein herrisches Kommando vom Pult erreichen würde.
Deshalb ist des Lernens kein Ende in bezug auf das, was man probieren muß
bzw. nicht zu probieren braucht, deshalb geht es in der Arbeit guter Orchester
und Dirigenten, enttäuschend für die auf »öbere Eingebungen« Versessenen,
meist pragmatisch-technologisch zu. Die übernächsten Dinge verstehen und
vermitteln sich von selbst.

✵✵✵

Instrumentation – Indiskretion. Als wir die Purcell-Phantasien vor fünfzig Jahren


auf Gamben spielten, habe ich hier den abgeblendeten Klang gedämpfter
Momentaufnahmen 257

Trompeten, dort die dunkle Sonorität moderner Streicher mitgehört, woanders


schlanke Posaunen oder unter hellen, geschäftigen Holzbläsern eine ölig-sonore
Baßklarinette usw. Jahre später, da wir nicht mehr zusammen waren, habe ich
nicht widerstehen können und die Assoziationen in einer Orchestereinrichtung
festzuschreiben versucht.
Wieviel wird da veruntreut von einer äußersten Konzentration, zu der auch die
Beschränkung auf die Gamben gehört? Die Frage verliert an Dringlichkeit nicht,
weil sie bei Weberns Fassung von Bachs Ricercar a 6 ebenfalls stand und von seinem
Lehrer bei dessen Einrichtungen von Bach, Händel, Monn und Brahms beiseite-
geschoben wurde. Eher umgekehrt – bei der äußerst verdichteten Struktur spricht
die geschichtliche Konstellation mit: Ein Junggenie komponiert die Phantasien
in den achtziger Jahren des 17. Jahrhunderts als Abgesang und kondensierenden
Rückblick auf die große, gerade noch erinnerbare Kultur des Consorts.
Nicht nur das kontrapunktische Geflecht ist dicht, nicht nur gewagte har-
monische Fügungen, sondern auch die Folge der Charaktere und Ereignisse
– mitunter nicht weit von Schönbergs und Weberns Aphorismen. Nirgends
z.B. verläßt Purcell sich auf Garantien und Tragkraft des virtuos beherrschten
Kontrapunkts, fugischer Dispositionen etc. Sind ein Einfall, eine Prägung, eine
Konstellation etc. eingelöst, haben sie sich verbraucht, bricht er ohne Rücksicht
auf naheliegenden Möglichkeiten der Verlängerung ab und geht zu neuen, zu-
weilen drastisch kontrastierenden Bildungen fort.
Dergestalt kommt ein Katalog, eine repräsentative Totalität des seinerzeit Mög-
lichen zustande; man meint, in den Brennspiegel des Consorts hineingezwungen
alles zu hören – wie es in pathetischen Opernszenen klang, bei Auftritten großer
Herren, von Kirchtürmen oder in der Kammer, wie man ausgelassen war, auf
welche Weise traurig usw. Die kompositorische Fügung bringt zustande, was
Marcel Proust anläßlich einer Interpretation in den Guermantes als »Spiel eines
großen Musikers« schildert, »das eines so großen Pianisten ..., daß man nicht
mehr weiß, ob man ... einen Pianisten vor sich hat, weil eben dies Spiel … so
durchsichtig geworden ist, so ganz von seiner Aussage erfüllt, daß man es selbst
gar nicht mehr bemerkt oder doch nur wie ein Fenster, das den Durchblick auf
ein Meisterwerk eröffnet.«
Als ein solches Fenster kann sich auch die Fassung für Orchester rechtfer-
tigen, wie immer Prousts Durchblick dem von der instrumentalen Darstellung
abgelösten Werk gilt. Allerdings unter umgekehrten Vorzeichen: Denn hier wird
die Musik stärker, jeweils spezieller an Instrumente angebunden, man könnte
auch sagen: in eine Konkretion hineingezwungen, angesichts deren die origi-
nalen Gamben wie ein anonymisierend übergeordnetes Medium erscheinen, als
Durchgangsstation auf dem Wege von der Orchesterfassung zu der von Proust
anvisierten, oberhalb der Klangmittel gelegenen »Musik als solcher«.
Indes – gibt es diese anders denn als in die Idealität hinausverlegten Zielpunkt?
Wäre sie, in dieser Idealität angekommen, nicht jener Spannung zwischenVorlage
und Materialisation entzogen, aus der noch jede Aufführung einen wichtigen
258 Momentaufnahmen

Teil ihrer Eindringlichkeit bezieht, in der sich scheinbar ganz vom Instrument
herkommende Musik – die Freischütz-Klarinette, das Englischhorn des Tristan
– ebenso befindet wie solche, die keinem bestimmten Instrument zugewiesen
ist? Oder, noch weitergefragt: Rührt etliche Eindringlichkeit der Darstellung
nicht daher, daß nicht alle Latenzen erschlossen werden können? Wieviel die
Töne an- und ineinanderziehendes Cantabile läßt das melodieführende Ham-
merklavier im Andante von Mozarts C-Dur-Klavierkonzert KV 467 unerfüllt,
steigert es unsere Wahrnehmung nicht, daß wir ergänzen? Nicht selten hören
wir in Klaviermusik Instrumente wo nicht ein Orchester hinein, unterschiedlich
»zivilisierte« bzw. sprechfähige Instrumente – Streicher und Holzbläser einerseits,
Blechbläser, Pauken etc. andererseits – prägen die vielzüngige Klangrede des
klassischen Orchesters wesentlich. »Ist nicht gerade der arme, dürftige Klang
dieses Orchesters«, hat Adorno in bezug auf das Beethovensche gefragt, »aufs
tiefste der Musik verschränkt? Ist nicht Armut ein Ferment ihrer Humanität? ...
Ist das nicht die Armut von Goethes Sterbezimmer, die Nüchternheit gerade der
größten Prosa der Epoche? Daß instrumental die Produktivkräfte nicht höher
entwickelt waren, ist zumindest nicht nur ein Mangel. Gerade diese Absenz,
die sich gefesselten Produktivkräften verdankt, steht in der geheimnisvollsten
Kommunikation mit der Substanz. Was verwehrt wird, ist, was fortbleiben muß,
um zu überleben, und nur auf diesem Mangel wird die Stimme des Instruments
zum überwältigenden Laut.«
Im Zeichen einer dialektisch begriffenen Authentizität, die von auffüh-
rungspraktischen Beglaubigungen bis zum Nichtrealisierten ausgreift, stehen
die Gamben als ebenfalls nur eingeschränkt zuständig knapp über, eher neben
modernen Instrumenten. So mag die Phantasie des einen sordinierte Trompeten
assoziieren, wo der andere tiefe Streicher hört; filigrane Holzbläserdialoge, wo
es beim anderen solistische Streicher täten; er mag Streicher in komplizierte, zu
Querständen gesteigerte Geflechte hineintastend vorschreiben, die der andere
im großen Tutti reflektiert fände; einen oft wiederkehrenden, Choralpartiten
erinnernden Abgang herausheben wollen, den der andere als diskret mitlaufend
oder dank der Unauffälligkeit tragend empfindet.

✵✵✵

Ich bin blöd, ich fand’s schön. Warum soll ich zwei Minuten nach dem Schlußakkord
wissen, wie es gewesen ist? Daß es mal geklappert hat, im Tutti die Intonati-
on auseinanderlief – Hörner etwas tief, Trompeten hoch, daß die Fagotte den
Holzbläsersatz mehrmals nach oben drückten und der betuliche Maestro eine
knifflige Passage in den Sand setzte, müßt ihr mir nicht sagen. Ich habe Musik
gehört und möchte bei dem verweilen, was sie ist, bevor ich mich als Kenner
beweise und sage, wie sie war, wie ich’s fand.
Zum Schönfinden gehört Schönfindenwollen, zur ästhetischen Wahrnehmung
gehört ein Vertrauensvorschuß, vorweg gewährte Empfänglichkeit für Dinge,
Momentaufnahmen 259

deren Vertrauenswürdigkeit wir nicht überprüfen konnten und nie vollständig


überprüfen werden; im Umgang mit Kunst üben wir Weltvertrauen, Offenheit
gegenüber jener Mehrzahl von Umständen und Geschehnissen, welche keine
Versicherungspolice abdeckt, wo wir unvorbereitet anprallen und im Anprall
uns und das Jetzt, in dem wir uns befinden, anders, intensiver wahrnehmen als
mithilfe der rasch herbeistürzenden, zuordnungssüchtigen, schmerzlindernden
Reflexion. Ein bißchen Urknall samt Blendung möchte schon sein.
Kommt hinzu, daß der zum Anprall gehörige Anspruch auf Schutzlosigkeit,
Voraussetzungslosigkeit der Begegnung verspüren läßt, daß wir ihn mindestens
halb verfehlen, weil wir nur anprallen können als die, die wir sind, daß wir
Schutzhüllen und Voraussetzungen mitbringen – so oder so veranlagt, so oder
so interessiert, so oder so gestimmt, dieses und jenes erwartend, erhoffend, be-
fürchtend etc. Doch eben diese Disposition fördert eine Empfindlichkeit, eine
Bereitschaft, sich mit allen Sensorien und Erfahrungen auszusetzen, vielleicht
sich neu zu erfinden (»du mußt dein Leben ändern«), welche Horizonte des
Begreifens bzw. Erlebens öffnet, die dem flinken Bescheidwissen verschlossen
sind. »Pour comprendre il faut aimer« (Pascal).
Solch liebendes Begreifen braucht Zeit, schon, weil es – das formulierte schon
Anselm von Canterbury – sich aufs scheinbar paradoxe Begreifen von Unbe-
greifbarem einlassen muß.Wann hätten wir ein Kunstwerk je ganz begriffen? Da
wünscht man sich, was in einem leider veralteten Verständnis »Blödheit« meinte
– ängstlich, schüchtern, schwer sich zurechtfindend, schwer von Begriff zu sein,
langsam im Denken, weil dieses auf allen Stationen von der dunklen Begleitmusik
der Emotionen beglaubigt sein will, deren Senkblei weit unten hängt und sich
nur mit Mühe weiterziehen läßt. Wem blöde Langsamkeit gelingt, der darf sich
vorübergehend als Gast fühlen in George Steiners Phantasiestadt, wo jenem Pri-
mär-Anprall zuliebe »jedes Gespräch über Kunst, Musik und Literatur verboten
ist«, mag auf allen Wahrnehmungsebenen, mit allen gegebenen Mitteln erfassen,
was bei Steiner »reale Gegenwart« heißt, beim Gründervater der Ästhetik arg
negativierend »cognitio confusa«, bei anderen Autoren, abgerückt vom alltäglichen
Gebrauch, »Ereignis«, »Epiphanie«, »Präsenz«, »Erscheinen«.
Allerdings – wenn wir die Bescheidwisser als Agenten der Ungeduld und der
Furcht vor dem Anprall beschimpfen, beschimpfen wir auch uns selbst: Denn
in Steiners Stadt, in der Insularität radikal unvermittelter Begegnungen können
wir, als denkende Menschen zur Sinnsuche verurteilt, nicht lange verweilen,
können Erinnerungen an Erlebtes, wie immer verschoben, in unsere notdürftig
rational geordnete Welt am ehesten mitnehmen und bewahren, wenn wir mit
den einordnenden, relativierenden Kategorien einen vorsichtigen, die Urknall-
Sehnsüchte tolerierenden Frieden machen.
Besonders schön hat es Valéry im Eupalinos-Dialog verdeutlicht, einem subli-
men Lob irdisch-vergänglicher, dem Hier und Jetzt gehöriger Kunst. Sokrates und
Phaidros sind im Jenseits angekommen, langweilen und erinnern sich neidisch
der durch die »passion singulière pour les formes et les apparances« ausgezeich-
260 Momentaufnahmen

neten Menschen. »Ja, ich werde wieder lebendig, und ich sehe die vergänglichen
Himmel wieder! Das Schönste, was es gibt, kommt nicht vor in der Ewigkeit«,
sagt Phaidros, und Sokrates stimmt bei: »Nun, da wir des Körpers beraubt sind,
müssen wir uns offenbar beklagen und jenes Leben, das wir verlassen haben, mit
demselben neidischen Aug betrachten, mit dem wir früher hinübersahen nach
dem Garten der seligen Schatten«.
Dasselbe »neidische Aug« darf auch der auf sich ziehen, der zwei Minuten
nach dem Schlußakkord nicht weiß und wissen will, wie es gewesen ist.

✵✵✵

Das unerlaubte Divertimento. Das stets beim Erklingen des Hauptthemas im ersten
Satz von Bartóks Streicher-Divertimento geforderte Tempo I wiederzufinden ist
schwer. Man könnte verkürzt begründen:Weil es dem Komponisten schwerfällt,
das Thema wiederzufinden. Schon beim zweiten Erscheinen in den Takten 14 ff.
hat es sich verändert, noch mehr beim dritten am Beginn des Mittelteils, cum
grano salis einer Durchführung, in den Takten 73 ff., abermals beim Eintritt in
die Reprise in den Takten 132 ff., wo es sich nicht, wie formal gefordert, als wie-
deraufnehmbar erweist; und am Beginn der Coda in den Takten 181 ff., ist es im
euphonisch-dreistimmigen Kanon nur mehr eine Erinnerung seiner selbst.
Man dürfte diese Betrachtungsweise als unbillige, einer Komposition sol-
chen Anspruchs unangemessene Schulbuch-Erwartung klassifizieren, wären die
Verfehlungen nicht schon in Tempoanweisungen, darüber hinaus im gesamten
Verlauf reflektiert, daß die Musik das thematisch gegebene Versprechen nicht
halten kann. Wie immer die Vorkehrungen ausfallen – vor den Takten 14 ff. ein
mit Crescendo gekoppeltes »pocchissimo allargando… tornando al… tempo«; vor
den Takten 73 ff. ein nach vorangehender Verzögerung bereits zuvor erreichtes
»Tempo I« und davor fast ein transponiertes Zitat des allerersten Taktes; drastisches,
vom »fff« herkommendes Diminuendo vor der Reprise (Takte 132 ff.); vor der
Coda ein in zwei Takten vorsorglich ausgelegter Teppich –, das Thema entglei-
tet immer mehr, erscheint immer stärker nur im Rückblick, als Erinnerung an
Verlorenes wahrnehmbar.
Eben dies, als eine besondere Wahrheit dieser Musik, wird verfehlt, wenn man
das Tempo an den genannten Stellen mit derb-energischem Zugriff vorschriftsge-
mäß re-installiert, ein munteres Drauflos erzwingt, das sich nicht halten läßt und
das Thema als Charakter eher im Stich läßt als vorbereitet. Dem könnte gewiß
entgegengehalten werden, daß die zuVerzögerungen einladenden Momente epi-
logisierender Selbstzurücknahme nicht die Oberhand gewinnen dürften.Tempo,
Ton und Tonfall hängen stets zusammen, hier in besonders delikater Weise, und
gerade hier gibt der Divertimento-Charakter ihnen ein ungezwungen-entspan-
ntes Miteinander auf.
»Divertimento« meint, mit welchem Anspruch immer, Unterhaltung wo nicht
Zerstreuung,Assoziationen mit Mozart oder verbilligtem Tändel-Rokoko liegen
Momentaufnahmen 261

nahe. Damit soll Bartók in den ersten beiden Augustwochen des Jahres 1939
umgehen, von Paul Sacher eingeladen und beauftragt; leicht spielbar soll es auch
sein und den Beifall des Basler Publikums finden. Ringsherum um die Insel der
Seligen, das Asyl, in dem er komponiert, dröhnen faschistische Parolen – auch
in seiner Heimat; die Marschbefehle sind geschrieben, die Lunte zur größten
Katastrophe der Geschichte schon gezündet, und er muß nachhause zurück,
seine Mutter liegt sterbenskrank – eine Situation von aberwitziger, nachgerade
tödlicher Paradoxie. Da müßte man Strawinsky heißen und in Dumbarton Oaks
zu Gast sein, um mit den Altvorderen des 18. Jahrhunderts einen vergnügten
Wettbewerb in musikalischem Esprit veranstalten zu können.
Den ersten akkordischen Stau in den Takten 21/22 des ersten Satzes mag
man noch als strukturbedingte Barriere ansehen vor dem tänzerisch bewegten
zweiten Thema, welches ebenfalls ganz von Gnaden des Divertimento sein
soll – wenig später (Takte 40 ff., 45 ff., 50 ff. etc.) gewinnt er eine Massivität
und Schärfe, dank deren er wie von außen in die Musik einzufallen scheint,
besonders in unmittelbarer Nachbarschaft nahezu verspielt tändelnder Cha-
raktere. Sechsmal flüchtet die Musik in Schutzräume, Enklaven eines meist auf
beruhigte Klanghintergründe gestellten kanonischen Singens, beim ersten Mal
(Takte 53 ff. – ihm entspricht in Umkehrung das vorletzte Mal, Takte 163 ff.)
jäh herausgerissen durch schneidend scharfe Akkorde, beim zweiten Mal (Takte
80 ff.) durch eine Erinnerung an diese (Takte 88 ff.) in ein Precipitando gestürzt,
dessen katastrophischer Zug durch die in parallelen Septen über eine Oktav
chromatisch absteigenden Mittelstimmen unterstrichen wird; die nächsten
beiden Kanon-Inseln (Takte 95 ff. bzw 101 ff.) muten wie vergebliche, brutal
abgeschnittene Wiederherstellungsversuche an.
Im Übrigen bereiten die drei letztgenannten eine Konvergenz vor, welche
das eingangs angesprochene Problem ingeniös beantwortet: Als Varianten, Me-
lodisierungen des Hauptthemas präludieren sie dem Coda-Beginn, der letzten,
ausgedehntesten der sechs Enklaven (Takte 181 ff.), in der das Hauptthema nach-
hause gebracht wird, wenn auch nicht zu sich selbst in der anfangs postulierten
Form. Das im Satzverlauf kontinuierlich verstärkte epiloghafte Moment, im
Verhältnis zur ersten Präsentation negativ notiert als Selbstzurückname, erweist
sich mehr und mehr als Vehikel im Zulauf auf das neue Zuhause, als welches, weil
das Thema der »normalen« Abhandlung nicht gewachsen war, die Funktionen
von Reprise und Coda zusammenfallen: Divertimento-Musik als Diskurs über
Möglichkeiten und Unmöglichkeiten des Divertimentos.
In den anderen Sätzen schlagen die Verweigerungsgründe direkter durch – im
breitgezogenen, genau genommen end-losen Klagegesang des Molto Adagio;
daselbst im stockenden Gang der Takte 20 ff., welcher die Erinnerung an die
schneidend scharfen Akkorde des ersten Satzes periodisch ausformt; danach in
der Suggestion einer unaufhaltsam näher rückenden Drohung (Takte 33 ff.); im
Allegro assai als einem willentlichen Sturz in ein imaginiertesVolksfest, dem Finale
von Tschaikowskis Vierter Sinfonie vergleichbar; oder, wenn in die Disziplin eines
262 Momentaufnahmen

simpel gestrickten Schulbuch-Fugatos unversehens die Erinnerung einschlägt, die


Umkehrung des Themas vom Cellisten melodisiert wird und aller Kontrapunkt
in nostalgischem Schönklang aufgehend erlischt. Danach spielt die Solo-Violi-
ne, die Cello-Melodie ihrerseits umkehrend, den Epilog im Himmel für einen
Zigeunerprimas, an unverstellt private Einbrüche anschließend wie den eines
für Dvofiák erinnerungsträchtigen Liedes in dessen Cellokonzert.
Und abermals danach, als Rückkehr ins Volksfest, erfordert der Zugriff aufs
Tempo giusto wie beim Finale-Beginn jene energische Eindeutigkeit, die im
ersten Satz trotz genauer Angaben vermieden werden sollte.

✵✵✵

»Tags drauf« – die Einladung zum detektivischen bis voyeuristischen Blick ließ
sich kaum ignorieren, nachdem die Kommentare zur Lyrischen Suite zutage
kamen, die Alban Berg der heimlich Geliebten zugedacht hatte. Wie man das
zum Danach gehörige Davor vorzustellen hatte, war nicht zweifelhaft, indessen
– wo und wie hatte er es in der Musik untergebracht? Gewiß nicht so virtuos
un-verschämt wie Strauss im Rosenkavalier-Vorspiel.
Die Suchtrupps sind in der Musik, die dem »Tags drauf« vorangeht, nicht über-
zeugend fündig geworden. Um so schwerer wurde gewogen, obwohl oder weil
der klare Beleg fehlte, daß Berg doppelt ertappt war – als derjenige, der bei der
Stilisierung des reinen, hohen Paars gemeinsam mit seiner Frau überzogen hatte,
und als der Geheimtuer, der absolute Musik prätendierte und programmatische
komponierte. In dem hämischen »Auch du..«, das etliche Kommentare grun-
diert, offenbart sich der Jammer einer in dichotomische Begriffe eingesperrten
Diskussion.Wie immer sie, trotz mancher Bosheit und mutwilligen Verwundung
zwischen Brahminen und Neudeutschen, zur ästhetischen Selbstverständigung
konträrer Positionen notwendig gewesen sein mag – daß Inhalt die Form
einfordert und durch sie sich definiert – und umgekehrt –, daß beide, mithin
»Programm« und »absolute« Struktur, in einer Weise zueinander verurteilt sind,
welche die Problematik der außer- bzw. innermusikalischen Momente in den
Hintergrund drängt, ist ästhetisch ein alter Hut.
Diejenigen, deren Schaffen nachträglich zum Paradigma absoluter Musik
erklärt wurde, haben sich darum – wenn sie nicht auf »mehr Ausdruck der Emp-
findung als Malerei« hinwiesen – wenig gekümmert, was sie komponierten, war
in wechselnden Anteilen stets beides zugleich; daß die Theorie die eingeschliffene
Prämisse, die wahre Bestimmung der Musik erfülle sich nur in Verbindung mit
dem Wort, bis in den Beginn des 19. Jahrhunderts mitschleppte, war ihnen einen
Protest nicht wert. Allerdings war die Konstellation der Entdeckung im Nachlaß
von Hanna Fuchs-Robbetin – vage Andeutungen und findige Vermutungen
gingen voraus – dazu angetan, dies zu vergessen und »absolute«, abgehobene,
für sich sein wollende Musik als platonisch überzogene, wo nicht idealistisch
verlogene Camouflage zu verdächtigen.
Momentaufnahmen 263

Wie aber, wenn Berg für diesen Fall vorgesorgt und für Freundin und Nach-
welt falsche Spur gelegt hätte? Frau Fuchs wird es kaum bemerkt, und wenn
doch, würde sie es gewiß verziehen haben.Wenn es einen Tabu-Bruch in bezug
auf zwölftönige Reglements gibt, dann in dem mit »Tags drauf« überschriebenen
Adagio appassionato. Ab Takt 40 fahren Cello und Bratsche »molto f e patetico«
in Nonenparallelen mit dem emblematischen Viertongang (dis-a-cis-d bzw. cis-g-
h-c = transponiert Hanna Fuchs-Alban Berg) aus der Tiefe herauf und bringen
die in den Violinen ekstatisch rufenden Triolen rasch zum Ermüden, geleiten
sie »calando e diminuendo« in ein euphorisches Verschweben mit allen Charakteri-
stiken seliger Ermattung. Danach, beim Zitat aus Zemlinskys Lyrischer Sinfonie,
kehrt Berg zum genauen Protokoll zurück: »Nun sagst es Du auch: Du bist mein
eigen, mein eigen«.
Ist Berg nun ertappt und enttarnt? Hätte die Dynamik dieses Satzes nicht
auch von sich aus auf die Kulmination und die folgende Ermattung wo nicht
»Erfüllung« hingetrieben? War die Geliebte durch den Drang, solche Musik zu
komponieren, nicht im gleichen Maße herbeigerufen und notwendig geworden
wie die Musik durch sie?

✵✵✵

Die ominöse Linke. Gegen Ende der 30er Jahre wurde Furtwängler von einem
jungen Kollegen – wohl Eugen Jochum – gefragt, was er »eigentlich während
des Dirigierens mit der linken Hand mache.Während ich mir die Antwort über-
legte«, berichtet er in den »Gesprächen über Musik«, »kam mir zu Bewußtsein,
daß ich mir trotz meiner über zwanzigjährigen Praxis im Dirigieren diese Frage
niemals vorgelegt hatte. Erst wenn die Aufmerksamkeit und Gerichtetheit auf das
Kunstwerk nicht mehr alle Kräfte in Anspruch nimmt, beginnt man an sich zu
denken. Man lernt die ›Pose‹, ein Mittel besonders der Dirigenten – und gewiß
etwas, zu dem ein wirklicher Künstler schlechterdings keine Zeit haben dürfte.
Man beginnt weiterhin, der Kontrolle des Technischen besondere Aufmerksamkeit
zuzuwenden, das Technische beginnt unvermerkt, Selbstzweck zu werden. Das
bedeutet aber, daß man das Gefühl dafür verliert, daß die Seele Form und die
Form Seele sein muß; man verliert damit nichts weniger als das sichere Gefühl
für Notwendigkeit und Wahrhaftigkeit des künstlerischen Ablaufs.«
Im selben Atemzug Bekenntnis und unsaubere Argumentation von einem,
der es sich leisten kann! – weder denkt man man, wenn auf dirigiertechnische
Details aufmerksam, gleich »an sich«, noch muß dabei das Technische gleich
Selbstzweck werden. Eine konkret gestellte Frage wird durch einschüchternde
Verallgemeinerungen beiseitegewischt – in Furtwänglers »ich weiß es nicht«
klingt unüberhörbar ein »ich brauche es nicht zu wissen« mit. Der junge Kollege
hätte nachhaken können mit der Frage, ob Furtwängler auch bei Strawinskys
Sacre hierüber nicht nachgedacht habe – »so schwer, das mußte ich üben« wissen
wir von ihm selbst.
264 Momentaufnahmen

Von außen her erscheint, was Dirigenten tun, abgehoben und undurchschaubar
genug, um sie als Beweisfälle für das Horazische »poeta nascitur non fit« noch
geeigneter erscheinen zu lassen als die Dichter selbst. Dirigent ist man, man
kann es nicht werden, Dirigieren kann man nicht unterrichten bzw. lernen – in
den Refrain haben etliche eingestimmt, die es besser wußten und dennoch gern
an der hermetischen Aura mitbastelten. Was ein bedeutender Dirigentenlehrer,
Nicolai Malko, »the most complicated and the most difficult form of musical
performance« nannte, sollte der pädagogischen Vermittlung entzogen sein? Dazu
scheint zu passen, daß prominente Dirigenten selten gute Lehrer gewesen sind,
und wenn, dann ungern. Es gibt kaum einen anderen Beruf, in dem man mit so
unterschiedlichen Qualitäten reüssieren und eine die andere kompensieren kann
– dieser hört gut und schlägt schlecht, jener umgekehrt; dieser arbeitet vorzüglich
und bleibt im Konzert blaß, jener umgekehrt; dieser musiziert hinreißend, kann
aber nicht mit dem Orchester umgehen, jener umgekehrt usw., kaum je ist bei
einem einzigen alles zusammen.
Kommt hinzu, daß Urteile über dirigiertechnische Qualitäten extrem
schwanken, weil es kaum objektive, vom Hinblick auf das klingende Ergebnis
unabhängige Kriterien gibt, welches seinerseits dem »de gustibus non est dispu-
tandum« unterliegt. Es ist das gute Recht von Musikern, in ihren Urteilen sich
ans leicht Kontrollierbare zu halten – ob sie oder er es zusammenbringt, Fehler
schnell hört, den Hebel an der richtigen Stelle ansetzt, über die Spielweisen der
Instrumente Bescheid weiß, die Takteins nach unten, die Drei im Vierertakt nach
rechts schlägt, im Piano nicht zu groß usw. Fast geschenkt, daß »übergeordnete«
Qualifikationen dabei oft unter Wert geschlagen bleiben, Furtwängler z.B. bei
einer Operette in einem mittleren Haus durchfallen könnte, wenn man nicht
wüßte, daß es Furtwängler ist.
Wie überall in den Künsten gibt es beim Dirigieren Erlernbares und Nichter-
lernbares. Schon die Verantwortungen des Einen, der vor Vielen steht, verlangen,
daß er sich um das Erlernbare nach Kräften bemüht. Allerdings differieren die
Ansichten hinsichtlich der Anteile des Erlernbaren erheblich, was sich in der
Unterschiedlichkeit der einschlägigen Lehrbücher ebenso widerspiegelt wie in
derjenigen der Lehrmethoden – eine versteht sich vornehmlich als Anregung
und Katalysator von Selbstfindungsprozessen und baut auf produktive Toleranz
gegenüber den konstitutionsbedingten Momenten, die andere bevorzugt Or-
thodoxien als Anhalt der Selbstfindung.
Igor Markevitch, der als Exponent der letzteren von einer »Grammatik« des
Dirigierens als einem klar definierten Verständigungs-Vokabular sprach, ist nicht
widerlegt, weil prominente Schüler irgendwann von der Fahne gingen. Die für ihn
Takt für Takt festliegende, je einzig mögliche »Choreographie« der Dirigierhände
hat wohl manche Nachäfferei veranlaßt, vor allem aber das Bewußtsein dafür
geschärft, was die Hände tun, wo sie sich befinden, was und wie sie anzeigen
– vom heilsamen Zwang zur Rückkoppelung abgesehen: Der erste und wich-
tigste Grund für Unsicherheit der Hände ist allemal mangelnde Kenntnis der
Momentaufnahmen 265

Partitur. Schon deshalb lohnt es, z.B. beim Thema von Brahms’ Haydn-Variationen
zu überlegen, wie groß man taktieren, in welcher Höhe die linke Hand halten
bzw. bewegen soll je nachdem, ob es sich um volles Forte, um forte mit »mf« der
Blechbläser, »p« oder »pp« handelt; vor dem Orchester wird man derlei Geometrie
vergessen, jedoch von jener zweiten Naivität profitieren, der genaue Reflexion
vorausgegangen, die in sie eingegangen ist, und das oberste Dirigentengebot
besser befolgen können: Nicht bereden, was man zeigen kann.
Markevitchs Prämisse, man solle den Musikern helfen, solle es ihnen leicht
machen, berührt einen delikaten Punkt. Einerseits sollten spieltechnische Pro-
bleme den Weg zu den substantiellen nicht blockieren, andererseits hängt beides
zusammen; bedeutende Dirigenten haben es ihren Orchestern selten leicht ge-
macht, selten waren die virtuosesten die größten, oft erstaunlich undifferenziert
in der Zeichengebung u.a. Toscanini und Klemperer. Neben den gestischen
Verständigungen arbeiten, angefangen bei den konstitutions-, temperaments- und
stimmungsbedingten, andere Übertragungen. Sie könnten Furtwänglers Tech-
nikverachtung rechtfertigen, wären sie unserer Verfügung nicht meist entzogen,
so daß wir der verfügbaren, kontrollierbaren erst recht sicher sein sollten.
Obenan bei den anderen Übertragungen stehen, von Kondraschin im Hinblick
auf Wirkungsaspekte »künstlerische Willenskraft« genannt, die von konkreten
Vorstellungen ausgehenden. Musik kann in unserem Kopf in sehr unterschied-
lichen Graden präsent sein – merklich u.a., wenn einer in der bequemen Ge-
wißheit, daß es »geradeaus« gehe, kaum mehr als den Takt und etwas Dynamik
dirigiert. »Künstlerische Willenskraft«, wenn sie nur stark genug ist, kann sich
auch auf Wegen mitteilen, die mit üblichen dirigentischen Verständigungen we-
nig zu tun haben; so kommt manche hinreißende Aufführung zustande, welche
nach technischen Maßgaben nicht zustande kommen dürfte, also Wasser auf
die Mühlen der Technikverächter lenkt. Daß man – in Grenzen – Dirigieren
lehren und lernen kann, widerlegen sie nicht. Bestenfalls hindern sie uns daran,
Furtwänglers Stolz auf die unbewachte Hand mit der Frage zu konfrontieren,
was er zu einem Pianisten sagen würde, der nicht weiß, mit welchem Fingersatz
er die C-Dur-Tonleiter spielt.

✵✵✵

Nach innen gezogene Musik. Die Leute im Dorf mochten die alte Frau nicht. Sie
redete wenig, und wenn, dann kurz angebunden und laut wie Schwerhörige.
Böses Blut gab es, weil sie in bezug auf die Nutzung ihres Hauses, eines alten
Familienerbes, Privilegien genoß – sie war in Ravensbrück gewesen. Das lag
kaum 50 Kilometer entfernt, aber in einer Vorzeit, mit der man nicht zu tun
haben wollte.
Einer jener preußisch-jüdischen Familien entstammend, welche preußischer
und kultivierter waren als die waschechten Preußen, erhielt sie frühzeitig Geigen-
unterricht und wurde bald als sensationelles Talent herumgereicht. Dem machte
266 Momentaufnahmen

im ersten Weltkrieg ein Hörsturz ein jähes Ende. Fortan war sie stocktaub und hat
die Geige nicht mehr angerührt. Später heiratete sie einen Offizier; er kämpfte
im zweiten Krieg für Hitler, sie kam ins Lager.
Dort, sagte sie später, hat die Taubheit sie gerettet. Die Befehle der Schergen
hat sie so wenig gehört wie die Gespräche, Seufzer, Schreie der Mitgefangenen,
sie befand sich in einem Glashaus, einer Sonderrolle; daß ein Wachmann ihr
eine Kinderpuppe zuwarf, welche sich zwischen Häftlingskleidern Verstorbener
fand, die die Frauen in Fetzen reißen mußten, hat sie nie vergessen. Nach dem
Kriege lebte sie zurückgezogen – der Mann tot, der einzige Sohn im anderen
Deutschland – in dem Haus, worin kaum etwas verändert schien, seit Theodor
Fontane auf seinen Wanderungen im Dorf gewesen war. Als Sommergäste be-
vorzugte sie Musiker.
Sie hatte die sechzig bereits hinter sich, als eine Operation ihr das Gehör
zurückgab, wenigstens soviel, daß sie auch Musik hätte hören können. Aber sie
ertrug sie nicht und wollte nicht – weniger, weil sie die Musik vergessen, als,
weil sie sich wie die Gertrude in Gides Symphonie pastorale in der reduzierten
Sinneswelt eingerichtet hatte und die neuen Wahrnehmungen nicht unterbringen
konnte. Bei den wenigen Malen, da sie Eindrücken einer vormals vertrauten
Musik ausgesetzt war, hat sie sie als bedrohlich empfunden.
Vergessen nicht, aber verwandelt. Über fast 50 Jahre hinweg muß die amal-
gamierende Erinnerung ganze Arbeit geleistet haben. Weil nicht mehr direkt
erfahrbar, hatte sie das, was damals klang, mit Erinnerungen ans Spielen und
zugehörige Erlebnisse offenbar so verflochten, daß die Details auf mehrfache
Weise aufbewahrt blieben – mit dem Ton, der Melodie zugleich der Fingersatz,
die Art des Bogenstrichs usw. Daran wollte sie festhalten, das nur Klingende
machte ihr Angst.
Also ließ sie sich Musik erzählen und brachte die Befragten in Verlegenheit:
»Wie war der Anfang von Brahms’ Regenlied-Sonate? – wie der vom Adagio in
Mozarts Es-Dur-Sonate, der mit dem schnellen Allegro molto am Beginn? – pfei-
fen Sie doch mal der erste Thema von Beethovens c-Moll-Trio – singen Sie das
Seitenthema im ersten Satz von Schuberts »Der Tod und das Mädchen«-Quartett
usw. Ihr »Aha«, ihr Gesicht und weitere Nachfragen verrieten, daß man präzise
arbeitende, längere Erinnerungssequenzen in Gang gesetzt hatte – »und dann
kommt doch…«. Dabei ist es geblieben. Welche Musik in ihr aufstand, wußten
wir nicht; sicherlich eine andere, schönere, erlebtere, als wir ahnten.
✵✵✵

Opus-Konstrukte. Nach den vereinigten Theodor W. Adorno, Thomas Mann


und Wendell Kretzschmar an op. 111 als Beethovens letzter Sonate zu zweifeln,
erscheint wie ein Sakrileg. Unter den schönsten Beschreibungen von Musik
vielleicht die allerschönste, spricht für diese Apotheose der Letztmaligkeit von
der Opuszahl über Biographica, Analyse und poetische Stimmigkeit so viel, daß
auch triftige Gegenbeweise wenig Chancen haben.
Momentaufnahmen 267

Wozu auch? – die Frage drängt sich auf, weil die Betrachtung eines Kunst-
werks hier zum Teil eines anderen geworden – also schon dadurch, wenn auch
nur ästhetisch, legitimiert ist, und weil Beethoven seit dem Wiener Kongreß fast
nur summative, »letzte« Werke schrieb; der junge Schubert reagierte mit der halb
verzagten, halb protestierenden Frage, was denn »nach Beethoven überhaupt
noch zu machen« sei.
Indessen geht es weniger um Beweise als um Aspekte, hier im Besonderen
darum, ob wir bei der Betrachtung kompositorischer Ergebnisse nicht vorschnell
auf Werkganze schauen und darüber ihre für den Entstehungsprozeß wichtige
Teilhabe an Werkgruppen, Opera, Problemgemeinschaften o.ä. vernachlässigen.
In gänsemarschartigem Nacheinander und je für sich kamen Werke kaum je
zustande, viel öfter im Hin und Her von erwogenen, akzeptierten oder verwor-
fenen Lösungen, im Dialog mit »Geschwistern« – ein Opus kann einer Familie
ähnlich sein. »Im tiefsten Innern der Form liegt eine Trauer, eine Spur vonVerlust
... Die Form hat im Potential des Nicht-Seins einen ›Riß‹ hinterlassen, sie hat
das Reservoir dessen verringert, was hätte sein können« (George Steiner). Ar-
beit in Werkgruppen kann die Trauer um »Sein, das unbenutzt bleibt« (Steiner)
mindern, weil, was im einen Werk knapp »hätte sein können«, im Nachbarwerk
tatsächlich sein kann. »Vielleicht wäre es interessant, einmal ein Werk zu schaffen,
das an jedem seiner Knotenpunkte zeigen würde, wie Verschiedenartiges sich dort
dem Geist darbieten kann, bevor er daraus eine einzige Folge wählt, die dann
im Text vorliegen wird. Das hieße: an die Stelle der Illusion einer einzigen, das
Wirkliche nachahmenden Determinierung diejenige des In-jedem-Augenblick-
Möglichen setzen, die mir echter zu sein scheint« – dieser Überlegung Paul Valérys
tragen Opus, Werkgruppe, Problemgemeinschaft teilweise Rechnung. Nicht
selten definierte sich das Eigenprofil eines Stückes wesentlich aus der Teilhabe
an werkübergreifenden Konzeptionen, aus der Verwirklichung von woanders
schon möglich Gewesenem.
Dies läßt sich bei Beethovens späten Quartetten u.a. anhand hin- und herge-
schobener Sätze und daran erkennen, daß er, durch gegebene Zusagen bedrängt,
dem Grafen Galitzin die Quartette opp. 127, 130 und 132 im Dreierpack an-
bietet, obwohl die opera 132, 131 und 130 als solches, als von op. 127 bzw. 135
flankierte Kerngruppe, plausibler anmuten.
Nicht anders die späten Klaviersonaten, auch, wenn die knapp vorangehende
Hammerklaviersonate op. 106 die für ein Opus kanonische Dreizahl der opera
109, 110 und 111 relativiert. Die Chronologie der Entstehungsdaten legt gleich-
zeitige Arbeit an ihnen eben so nahe wie die mehrmalige summarische Erwäh-
nung der drei Sonaten in Briefen des Sommers 1820. Nicht also nur Beethovens
Erkrankung im Frühjahr 1822 läßt die Numerierung zufällig erscheinen, auch
sein Ärger angesichts derVerlegernachfrage nach einem Finale der c-Moll-Sonate
reicht als Beweis eines letzten Willens bezüglich einer dezidiert letzten Sonate
nicht aus. Viermal zuvor hatte in jeweils aus drei Werke bestehenden opera (2,
10, 31, 59) ein Moll-Stück neben zweien in Dur gestanden, zweimal am Anfang,
268 Momentaufnahmen

zweimal in der Mitte, in den Quartetten op. 59 überdies am Ende eine Fuge; in
der keineswegs hypothetischen Werkgruppe opp. 132/131/130 hätten wir, die
Originalfassung des letzten Stückes mit op. 133 als Finale zugrundelegend, eine
weitere mit einer Schlußfuge, und mit welcher!
Angesichts solcherVergleichsfälle erscheint die Aufeinanderfolge op. 109 – 111
– 110 plausibler, auch in der symmetrischen Konstellation der Tonarten E, c und
As und im Hinblick auf die schroff unterschiedlichen Satzweisen, Charaktere,
Genres, Stilistiken des offenkundig summativ intendierten Opus 110. Wenn in
einem dem Opus 133 vergleichbaren Maße irgendeine Schlußfuge geeignet
scheint, ein nicht abschließbares Stück wie op. 111 aufzufangen, dann die der
As-Dur-Sonate; denn das summative Konzept wirkt bis in ihre innere Struktur
hinein – der erste Teil ein Exempel in stile antico, der zweite mit der Umkehrung
des Themas dessen zeitgenössische Aneignung. Das ergab ein Paradigma von
»Kunstvereinigung«, wie Beethoven in einem Brief an Erzherzog Rudolph die
Idee bzw. Prämisse genannt hatte, Tradition im anspruchsvollen Komponieren
aufzuheben, mit einer dem Heute gehörigen Intention zu »vereinigen«.Was wäre
als Schlußstein einer Werkgruppe besser geeignet?
Die läßliche Handhabung bei den Quartetten könnte dafür sprechen, daß ihn
angesichts der inneren Plausibilität die äußere, an Opuszahlen ablesbare nicht
sonderlich interessierte – mehr als früher jeder Satz »unmittelbar zu Gott«. Im
Falle der Klaviersonaten wäre Wendell Kretzschmars Lektion eher als Auskunft
darüber zu lesen, welche Finalität der As-Dur-Sonate aufgegeben war, welche
und wieviel Nicht-Beendbarkeit sie einholen, aufheben mußte.

✵✵✵

»Text an der Kasse« – so heißt es am Theater, wenn Sänger nuscheln oder Orchester
zu laut sind, Erinnerung auch an Zeiten, da man Textbücher an der Kasse kaufte
und während der Vorstellung mitlas.
Heute steht die Frage anders. Oft haben wir die Texte im Programmheft, vor
oder nach der Aufführung zu lesen, und auf der Bühne den Originaltext, den,
wenn es sich nicht um die eigene Sprache handelt, nur wenige verstehen. Ich kann
mich an den Finessen und dem Esprit etwa der Da Ponte-Texte in 100 Proben
und 50 Aufführungen delektiert haben und die Rezitative hin- und rückwärts
auswendig können – höre ich sie, nicht ganz unkundig, im Original, ertappe ich
mich bei ungeduldiger Erwartung der nächsten Arie, des nächsten Ensembles.
Gewiß, das Italienische ist näher bei Mozart, Da Ponte oderVerdi, das Russische
näher bei Puschkin, Tschaikowsky oder Mussorgsky, das Französische näher bei
Maeterlinck und Debussy – aber wir sind weiter weg.Was hilft die Berufung auf
Werknähe und den Sprachklang, mit dem der Komponierende umging, wenn
die Sprache als mitteilendes Medium Schaden nimmt! »Ich liebe dich« sagt ein
Deutscher auf deutsch anders als auf italienisch, russisch, französisch usw.; es gibt
eine subkutane, bis in die Deklamation, die Lippen hineinreichende Identifikation
Momentaufnahmen 269

mit der Muttersprache, an die diejenige mit anderen, noch so gut beherrschten
Sprachen selten herankommt. Sie liegt nahe bei der mit musikalischen Erlebnis-
sen verbundenen und taugt als Argument gegen den nächstliegenden Einwand
– daß man sowieso nicht jedes Wort verstehe:Wir meinen den Text in der Oper
schon verstanden zu haben, wenn wir nur die wichtigen Worte verstehen; über
das Kleingedruckte, das hinter und zwischen den Zeilen Stehende gibt die Musik
ohnehin besser Bescheid.
Dennoch schützt auch die Berufung auf Fanatiker der direkten Mitteilung
– Janáãek, der nichts gegen Max Brods Eindeutschungen hatte; Mahler, der den
Ring in Budapest ungarisch singen ließ – dieses Plädoyer nicht davor, durch die
Umstände überholt zu sein und ins Leere zu gehen: Wieviel Sänger in unseren
international zusammengesetzten Opernensembles haben Gelegenheit, jeweils
in ihrer Muttersprache »ich liebe dich« zu artikulieren? Ist die »Originalsprache«
nicht schon vor aller Rücksichtnahme auf Gastspiele und auf die vonnöten, die
sich bei exponierten Stücken auf den verschiedensten Bühnen wiedertreffen?
Dies sind nicht die einzigen Gründe dafür, das Plädoyer auf zwei vorsichtig
intonierte Bedenken zurückzunehmen: Erstens, daß das Argument »Originalspra-
che«, besonders, wenn es mit Werktreue-Ansprüchen verbunden daherkommt,
auf tönernden Füßen steht und eher einer Distanzierung wo nicht Entfremdung
Vorschub leistet, wenn Originalität nur auf den Sprechenden bzw. Komponie-
renden und nicht auf den bezogen wird, der verstehen soll. Zweitens, daß der
Sprachverzicht offenbar mit dem sinkenden Kurswert rhetorischer, diskursiver
Momente zu tun hat und deshalb nicht als so bedrohlich wahrgenommen wird,
wie er ist. »Wenn im gegenwärtigen deutschen Theater etwas geopfert wird, dann
als erstes die Sprache« (Gerhard Stadelmaier).
Wie immer die Oper als das, was sich bei Monteverdi, Cavalli etc. alsbald wun-
derbar zeigte, nicht von vornherein anvisiert war, blieb ihr von den Florentiner
Experimenten doch die affektiv-rhetorische Erhöhung des Wortes in die Wiege
gelegt, schon damals im Rahmen des Vorstellbaren der Anspruch eines »Gesamt-
kunstwerks« – weitab von den herabgesetzten Preisen einer Partial-Taubheit,
welche sich zunehmend mit der Wahrnehmung begnügt, daß und wie gesun-
gen wird, aber nicht mehr genau wissen will, wovon. »So wurde es notwendig,
Sprache in Gesang nachzubilden«, formulierte einer der Gründerväter, Jacopo
Peri; »ich wußte wohl, daß in unserer Sprache Worte so intoniert werden, daß
auf ihnen eine Harmonie basieren kann und im weiteren Sprechen andere, bis
man zu einer frischen Konsonanz voranschreitet. Beugungen und Akzente im
Bewußtsein, die unserer Trauer und Freude und anderen Bewegungen dienen,
begründete ich den Baß als zeitparallele Bewegung, um den Gefühlen zu folgen.
Durch das Gleiten durch unterschiedliche Noten sollte die Stimme des Spre-
chenden zu einem Wort kommen, welches, als in verwandter Sprache intoniert,
sich einer frischen Harmonie öffnet.«

✵✵✵
270 Momentaufnahmen

Gratwanderung. »Mir ist so wunderbar« – »die Frau Mathis«, wie der alte Böhm
grazerisch sagte (das »a« hell, das »t« weich), hatte den Anfang des Quartettka-
nons im Fidelio so makellos rein und sensibel gesungen, daß die Meßlatte bei
der Aufnahme (Dresden 1970) plötzlich noch höher lag als ohnehin schon. Und
jeder verstand, daß jetzt nichts schiefgehen und man sich weniger als anderswo
auf Nachschnitte verlassen dürfe. Nach Marzelline setzt Leonore ein, welche
dank der schwereren Stimme Marzelline kaum geradlinig fortsetzen, ihren Faden
fortspinnen kann, wegen Überspannung schlecht intonierte Anfänge sind hier
nicht selten; nach Leonore tritt mit ähnlichen Problemen Rocco in den Kanon
ein, Jacquino hat es leichter; und im Orchester gibt es u.a. oft ungeduldig früh
gezupfte Pizzikati. Fünfzig bis sechzig Singende bzw. Musizierende wissen sich
auf dem Hochseil, dem Assistenten ist zum Beten zumute, daß keiner abstürze
– da wirkt durchaus hilfreich, daß einer am Pult unbewegten Gesichts geradlinig
taktiert, als gäbe es keine Probleme.
Schriftsteller können in Ruhe streichen und korrigieren, Maler von der
Staffelei zurücktreten; auf Musiker kommen die schweren Stellen zehntelsekun-
dengenau zu, sie können weder ausweichen noch korrigieren, dem Jetzt-oder-
nie entgehen sie nicht. Manchen Kapellmeister habe ich innerlich einknicken
sehen, wenn das Pizzikato am Ende von Brahms’ Dritter Sinfonie gekleckert hat,
manchen Musiker das Instrument vor einem großen Solo kalkweißen Gesichts
ansetzen sehen.

✵✵✵

Aufhören. Man wird des Jubels nicht recht froh, der sich mit dem Ende von
Brahms’ Zweiter Sinfonie leicht anrichten läßt. Wie sehr übertönt der finale Fu-
ror den Bezug auf das, was zu Ende gebracht werden muß! Der Schluß seiner
nächsten Sinfonie mutet wie der Versuch einer Entsühnung an. Schlüsse sind
notwendig konventionell, die Auskunft, daß eine Sache ein Ende hat, ist nicht
mehr die Sache selbst; also hängt viel davon ab, wann und wie man das zugibt.
»Daß du nicht enden kannst,/ das macht dich groß« – irgendwann endet die
Berufung hierauf, irgendwann schlägt die Stunde der Wahrheit, auch Schubert
muß irgendwann schließen, Janáãek irgendwann abbrechen.
Wohin die Zeiten, da fürs Ende ein Orgelpunkt imVorfeld und auch bei einem
Stück in Moll ein Dur-Akkord ausreichten! Musik konnte in Konventionen des
Umgangs selbstverständlich genug gebettet sein, um Auftritt und Abgang kaum
eigens rechtfertigen zu müssen. Die koketten Schlußvolten in Haydns Finali
– jähe Aufenthalte oder Umsteuerungen, vorgetäuschte Ratlosigkeit, fehlgeleitete
Erwartungen, wie über die Musik hinweg dem Publikum zugezwingerte Einver-
ständnisse, daß man jetzt zum Schluß kommen müsse – mögen dieVorboten eines
kommenden Problems gewesen sein. Auch deshalb fanden sie, von der Herkunft
aus improvisatorischen Bräuchen abgesehen, viel Nachfolge – angefangen in
Beethovens erster und vierter Sinfonie.
Momentaufnahmen 271

Daß hinter der Frage, wie man zuende komme, allemal die steht, was zuende
kommt, macht den Schluß zum Testfall eines größeren Problems – der Finalität
insgesamt. Untergründig wirkt in der Sinfonie des 19. Jahrhunderts ein Jupiter-
Trauma fort: Wie sollen die Ansprüche eines rasanten Finale (wenn schon nicht
eines lieto fine) zusammenbleiben mit denen eines Schlußsatzes, welcher das zuvor
im Werk Angesprochene aufwiegt und auffängt, dessen Gewichtung nicht hinter
der der ersten Sätze zurückbleibt? Hierfür war und blieb Mozarts Jupiter-Finale
das kanonische Vorbild, welches, kaum übertreffbar, zu Umgehungen einlud, als
welche man fast alle Finalsätze bis hin zu Mahler beschreiben könnte. Beethoven
hat in seiner Fünften eine ganze Sinfonie lang Berechtigungen für die hochdo-
sierte Finalorgie akkumuliert, in der achten gleichfalls nicht gespart und zugleich
sich drüber lustig gemacht; in der sechsten braucht er einen Schluß nach dem
Schluß, weil nach einem Gebet nichts mehr kommen dürfte außer Nachhall oder
Geleitmusik zum Verlassen der Kirche. Brahms war am Ende des ersten Satzes
seiner Zweiten Sinfonie – auch dort ein »Gebet« – in ähnlichen Verlegenheiten
und schuf, ein wie von außen kommendes Liedzitat einschaltend, jenen Abstand
zum Vorangegangenen, der den letzten Takten schon per Konstellation die Aura
erinnernden Nachklingens sichert.
Wenn der Furor des »Durch Nacht zum Licht« das Problem nicht beiseite-
schiebt; wenn Musik nicht, wie mehrmals bei Tschaikowsky, in dunkler Tiefe
versinkt oder sich ins Nichts der nachfolgenden Stille zu verlängern sucht wie
u.a. am Ende von Mahlers Lied von der Erde; wenn nicht, wie bei Bruckner, die
feierlich-finale Einfahrt in eine summierende Überschichtung der wichtigen
Themen oder in den Hafen der Haupttonart, hier einer Vorstation der Trans-
zendenz, gelingt, stellt sich die grundsätzliche Frage, ob ein Medium überhaupt
innerhalb seiner selbst die Argumente für seine Selbstabschaffung finden kann,
ob nicht wer oder was von außen dazukommen muß. Denn am Ende eines
Musikstücks endet, weil danach keine Musik ist, nicht nur dieses Stück, sondern
stets auch, für hier und jetzt, die Musik. Sollten Tschaikowsky oder Mahler nicht
das Fürchten lehren mit Musik, die von sich aus nicht mehr sein will, verdanken
Schuberts »himmlische Längen« sich nicht auch der Angst vor dem musiklosen
Danach? Wenn jeder Werkbeginn ein Nachecho des göttlichen fiat gibt, entgeht
die Beendigung nicht dem Verdacht einer Zurücknahme.
»Die Schwierigkeiten der Beendigung«, notierte Kafka im Tagebuch, »liegen
nicht darin, daß unser Gefühl für das Ende des Stückes ein Feuer verlangt, das
der tatsächliche bisherige Inhalt aus sich selbst nicht hat erzeugen können, sie
entstehen vielmehr dadurch, daß selbst der kleinste Aufsatz vom Verfasser eine
Selbstzufriedenheit und eineVerlorenheit in sich selbst verlangt, aus der an die Luft
des gewöhnlichen Tages zu treten ohne starken Entschluß und äußern Ansporn
schwierig ist, so daß man eher, als der Aufsatz rund geschlossen wird und man still
abgleiten darf, vorher, von der Unruhe getrieben, ausreißt und dann der Schluß
von außenher geradezu mit Händen beendigt werden muß, die nicht nur arbeiten,
sondern sich auch festhalten müssen« – das gäbe fast eine Rechtfertigung her für
272 Momentaufnahmen

die törichte, Sport-Champions abgeschaute Gepflogenheit, den Schlußakkord


in Siegerpose mit triumphierend erhobenen Armen zu beenden, als habe man
den Kampf mit der Musik endgültig für sich entschieden.

✵✵✵

Künstliche Paradiese. »J’ai longtemps habité sous de vastes portiques« – Henri Du-
parc intoniert und Gérard Souzay deklamiert, man möchte sagen: buchstabiert es
mit so pastoser Feierlichkeit, daß die quantifizierende Metrik des Französischen,
die gleiche Gewichtung der Silben ebenso zum Zeremoniell gehörig erscheint
wie die dunkle Färbung der Stimme. Diese paßt zu den tiefen, wie von fernher
tönenden Trompeten am Beginn und der Solobratsche am Ende der Orchester-
fassung wie zu der poetisch beschworenen, archaischen, wie von Lorrain gemalten
Welt der Säulengänge und der in tausend Feuern leuchtenden Meeressonnen. Der
Sprechende hat dort zwar »lange gewohnt«, in einem Einst irgendwo zwischen
urvorgestern und übermorgen.Wenn er zum zweiten Mal beteuert, dort verweilt
zu haben, hebt die Beschreibung noch weiter ab – »inmitten des Himmelsblaus,
der Wellen und glänzenden Farben und nackten, duftenden Sklaven«: Wir be-
finden uns in einem von Baudelaires »paradis artificiels«, zu Gast bei dem, der
»so herzlich wenig Geschmack an der lebenden Welt« findet, daß er »am liebsten
nur für die Toten schreiben möchte«.
Weil das nicht geht, muß man so genau sein, als ginge es doch – bei der »vie
antérieure«, dem »früheren Leben« nicht anders als bei den Begründungen des
»repose« in Leconte de Lisles Phidylé, worin alle Enttäuschungen des ehemaligen
utopischen Sozialisten unterkommen müssen, ganz und gar bei Baudelaires
Einladung an die Geliebte, »zu leben, zu lieben und zu sterben im Lande, das
dir gleicht« (Invitation au voyage). Musik, hierum von diesen Dichtern und ihren
direkten Erben mehr beneidet als von anderen, begleitet uns auf dem Weg in
solche Paradiese länger als Worte, Duparcs Musik mit der besonderen Authentizität
der Zeitgenossenschaft. Nicht nur in den Nachspielen, als Verlängerungen jenes
Weges, wahrt sie eigene Reviere, nicht nur darin, daß der Singende, mehrmals
sich rezitativisch zurücknehmend, sie eher kommentiert als prägt, sondern auch,
indem sie, wie in Phidylé, die einprägsamste,vom Sänger nur angedeutete Melo-
die (»aux pentes des sources moussues«) für sich behält oder in der Vie antérieure
sie erst entfaltet, wenn der Sänger ausgesungen hat – die Orchesterversion mit
dem Englischhorn könnte Mahler bei »Ich bin der Welt abhanden gekommen«
inspiriert haben.
Mindestens ebensoviel eigenes Revier hütet die Musik, indem sie, wie immer
sie abweicht und expansiv ausholt, stets zu liedhaften, strophischen Strukturen,
Korrespondenzen, klaren Perioden etc. zurückkehrt. Die Herausforderung durch
Dichtung obersten Ranges zieht sie nicht von sich und den traditionellen Struk-
turen weg, sondern ermutigt sie, genau im Sinne der symbolistischen Ästhetik,
zu sich selbst. Wie hoch die Ansprüche immer liegen, die Musik ausgerechnet
Momentaufnahmen 273

des skrupulösen Duparc erscheint von ihnen weniger beunruhigt als bestätigt,
ihr eignet die Gelassenheit einer fälligen Rückerstattung – daher die Gefahr, sie
einseitig als stilistisch rückbezogen anzusehen.
Dem entspricht Souzays Singen u.a., indem es die Erwartung enttäuscht,
derart erlesene Dichtung müsse rhetorisch auf dem Silbertablett serviert werden.
Überstark detaillierende Deklamation müßte hier wie der Versuch einer unnö-
tigen Legitimation erscheinen. In der auf äußerste Gleichmäßigkeit gestellten
Exposition der Vie antérieure sind die »soleils« wichtiger als der voranstehende
Artikel »les«; ihm aber gehören Hochton und Takteins und eine entsprechende,
nicht auf »soleil« verlagerte Schwere. Von der archaisierenden Monotonie des
Beginns – 14 nahezu identische, auf Es ruhende Takte »lent et solennel« – hebt
sich die aus murmelnden Ansätzen rasch zu emphatischen Hitzegraden gesteigerte,
immer größere melodische Bögen spannende, sängerisch ein Äußerstes fordernde
Ausmalung der geträumten Welt ab, hinzielend auf »C’est là« als großer Ankunft,
welcher, als könne der Erzähler den Ruhepunkt nicht aushalten, sich sogleich
die zweite Schilderung anschließt. Sie greift noch höher und stürzt ab – in die
Wahrheit, den dunklen Baugrund des imaginierten Paradieses, »le secret doulou-
reux qui me faisait languir«, welches ausgerechnet die paradieseigenen duftenden
Sklaven »vertiefen« – Illusion und Desillusion miteinander verschwistert. Dunkler
kann ein »o« nicht sein als das in Souzays »approfondir«, pure Hoffnungslosigkeit,
aus der wie ein Letztmögliches das Englischhorn aufsteigt.
Ähnlich jäh hervorbrechende Erzählströme nach einer ähnlich »stehenden«
Einleitung prägen Phidylé, zweimal in ein »repose« einer Dimension ausmündend,
welche fragen läßt, welche Ruhe gemeint sei.Wie immer der Wartende belohnt
wird durch »ton plus beau sourire et ton meilleur baiser« und diese das »repose«
ersetzen – in der Musik hallt es wie knapp versäumt nach: Die vordem in müdem
Piano Ruhe artikulierende Melodie wird vom Orchester emphatisch ergriffen,
Souzay führt es mit großem Pathos herbei.
»Invitation« spricht – zu Leben, Lieben und Sterben – in gefährlichem, »lau-
erndem« Piano eine vergiftete Einladung aus, es weht eine Luft wie in Schumanns
»Zwielicht« – dennoch keine heuchlerische, eher eine sich selbst durchsichtige
Einladung. Wieder lockt ein Paradies – »là tout n’est qu’ordre et beauté, luxe,
calme et volupté« –, die Anrufung gerät noch pathetischer als in den anderen
Liedern, und wieder weiß es die Musik besser, weiß es wie die Sklaven der Vie
antérieure, die es nicht wissen dürften. Das erste »Là tout est ordre...« hatte sie auf
ruhende Akkorde gesetzt (für die Souzay viel Zeit nimmt), beim zweiten Mal,
am Ende werden Beschwörung und Beschworenes verflochten, da nun in die
Kalmenzone von »ordre, beauté...« melodische Zitate der »Einladung« hinein-
klingen und das Paradies fern jeder Befestigung al niente verweht.

✵✵✵
274 Momentaufnahmen

Letzte Lieder. In der kleinen Ungenauigkeit, daß es nicht vier letzte Lieder geben
kann, sondern nur eines, steckt eine eigene Genauigkeit: Unwiderrufbar letzte,
aus der Erinnerung heraufgeholte Musik sind Strauss’ Letzte Lieder in jeder Note,
ihre Originalität besteht darin, daß sie konsequent nicht neu, nicht originell
sein sollten.
Das gilt selbst für das Verhältnis zum Text: Der Eindruck, daß er zu dieser und
keiner anderen Musik kommen mußte, rührt weniger daher, daß er inhaltlich
bis ins Letzte wahrgenommen wäre, als daher, daß in dieser Wahrnehmung alle
Erfahrungen eines langen Komponistenlebens mitarbeiten und genaue Koordi-
nierungen von Ton und Wort sich erübrigen, weil Ton und Gemütslage dieser
letzten Musik zu Eichendorffs und Hesses Texten von vornherein passen. Daß
man sie sich schlichter komponiert vorstellen kann und die diesseitige Opulenz
des orchestralen Aufwandes sich mit Nähe zum Jenseits schlecht verträgt, wäre
ein naheliegender Einwand; dennoch gibt es gute Gründe, die Opulenz nicht
gleichzusetzen mit der gleichmacherischen, wohlschmeckenden Ton-Soße, mit
der Strauss, das Unverhältnis überdeckend, Gegenstände – Heinrich Heine zum
Beispiel – überschwemmte, mit denen er nichts anfangen konnte.
Indes – wenn schon Abschied genommen wird, dann auch hiervon. Daß
die zähflüssige Klang-Lava am Beginn des letzten Liedes mehr mit Straussens
hymnischen Opernfinali als mit Eichendorff zu tun hat, taugt indes als Einwand
schlecht, weil u.a. auch jene Finali verabschiedet werden, mithin das Gedicht von
vornherein nur Vehikel wo nicht Katalysator eines anderen Abschieds ist. Dieser
tritt spätestens zutage, wenn das sechzig Jahre zurückliegende Thema aus Tod und
Verklärung aufklingt – am Ende, nachdem Strauss bei der Frage »ist dies etwa der
Tod?« den Abschied des Gedichts und seinen eigenen zusammengebracht hat.
Beim Wort »Tod« ruht die bis hierhin unablässig bewegte, vielfarbig oszillierende
Musik zum ersten und einzigen Mal, spätestens hier wird kenntlich, was der hohe
Ton des Liedbeginns halbwegs verdrängen konnte: Strauss zitiert den Beginn von
Brahms’ Deutschem Requiem und verbindet ihn kontrapunktisch mit dem Eigen-
zitat so ungezwungen, als hätten beide immer schon zusammengehört. Zugleich
genial neuartig – das Wort »Tod« auszusprechen zögert mit dem Sprechenden bzw.
Singenden auch die Musik, »immer langsamer« werdend, aus der diatonischen
Funktionalität herausfallend, und in der ersterbenden, nicht zu Ende gebrachten
Brahms-Melodie. Die beginnt auf ges (über es) und müßte auf Des landen, kommt
aber (»ist dies…«) auf D an; dort singt das Horn »Tod und Verklärung«, verfehlt
den Zielton und gerät statt aufs h aufs a, dies als Terz der »falschen«, obendrein
mit der Quint im Baß erklingenden Tonart F-Dur; dort setzt das Brahms-Zitat
abermals an, bleibt aber – nun sind wir knapp vor »der Tod« – auf halber Strecke
liegen. Denken wir sie in unfunktionalen Ganztonschritten weiter, so gelangen
wir zu jenem Ges, zu dem die Baßlinie in halben Noten abkippt, zum Wort »Tod«
abermals ein Quintton im Baß, nun zu einem wieder unfunktional erreichten,
enigmatisch tönenden Ces-Dur – H-Dur hatte Beethoven die »schwarze Tonart«
genannt.Wie »schwarz« und umwegig erreicht auch immer – Ces-Dur lag nicht
Momentaufnahmen 275

weit entfernt vom sieben Takte zuvor erklungenen es-Moll, war also nicht ganz
unbegründet; und die Quinten im Baß weisen die Harmonien über F und Ces
nicht nur als unstabile Durchgangsstationen aus – von der Quinte Ges aus steigt,
wie um die ungesicherte Harmonie zu stabilisieren, wie von selbst das Verklä-
rungsthema auf. Wenn irgendwo der wilhelminisch prahlende Selbstbezug von
Ein Heldenleben eingeholt und entsühnt ist, dann hier.
Der Alte unternimmt eine Reise ins Land der eigenen musikalischen Vergan-
genheit, ausführlich hält er sich bei seiner populärsten Abschied nehmenden Figur
auf, jener Marschallin, die den Onkel Greifenklau, »der alt und gelähmt ist«, dem
quengelnden Octavian vorzieht. Nicht aber nur die Prägungen, der Charakter, die
orchestrale Handhabung scheinen von filternder Erinnerung geschlagen, sondern
auch die Materialität der Musik. Die harmonischen Funktionen wirken seltsam
matt, Kraft und Schlüssigkeit der Verknüpfungen scheinen abhanden gekommen,
als sei der gewiefte Diatoniker zu einer postumen Tonalität nach dem Zeitalter
der Tonalität gezwungen – und das, obwohl er nicht anders verfährt als früher. Die
opulente Klanglichkeit des großen Orchesters übernimmt Legitimationen, für die
normalerweise Modulationen zuständig sind, bei so weicher Bettung ist fast alles
möglich. Im Übrigen ist dem, der jahrzehntelang gegen die Kakophonien der Jün-
geren gewettert hat, jeder reine Klang schon für sich eine Botschaft – demjenigen,
der auf der spätesten Filmaufnahme müde-andächtig die simplen Harmonien der
Danae-Musik durchklimpert.Wie beim alten Liszt hat man den Eindruck, es bedürfe
keiner zielgerichteten Intention mehr, um die Musik heraufzuholen – die kommt
von selbst, aus den über die Tastatur gleitenden Händen, aus der Erinnerung.
Daß mit dem Woher und Wozu dieser gegenwartverweigernden Musik das
Wohin fraglich wird, zeigt sich auch im gebremsten Espressivo: Wie immer alle
Mittel musikalischer Rhetorik aufgeboten sind, eine gewisse Wahllosigkeit der
Anwendung zeigt, daß sie nicht nur Instrument, sondern Gegenstand sind, und
wie sehr Strauss den Text als Anlaß ihrer Vergegenwärtigung begreift. Einerseits
illustriert er »Lüfte«, »Lerchen«, »Vogelgesang« und hebt »Wunder« oder »selige
Gegenwart« deklamatorisch genau so, wie man es erwartet; aber auch mancher
entweder banal-gegenständliche oder abstrakte Begriff wird rhetorisch gehöht,
wenn auch vom melodischen Duktus getragen und gerechtfertigt. Man könnte
von Pauschal-Pathos sprechen, böte nicht eben dieses die Folie, vor der sich
einzelne deklamatorische Inseln unvergeßlich abheben.
Zur abgehobenen Gegenwartsverweigerung der Musik gehört auch, daß
der erfahrenste, erfolgreichste Opernkomponist seiner Zeit den Sängern größte
Schwierigkeiten bereitet. Einerseits erfordern etliche Passagen leichte, entspann-
te Beweglichkeit und andere zur Behauptung gegen das Orchester Kraft und
angestrengtes Espressivo; wie Mahler beim Tenor im Lied von der Erde verlangt
Strauss unterschiedliche Stimmdispositionen, eine ebenso lyrisch-bewegliche
wie hochdramatische Meta-Ariadne. Andererseits erlaubt die zitierende, erinne-
rungshaft zurückgenommene Musik nicht, die geforderten Mittel auszufahren, sie
will weniger emotional beglaubigt – das tut die Aura von Abend und Abschied
276 Momentaufnahmen

von sich aus – als penibel durchbuchstabiert, singend im kleinsten Detail aus-
geleuchtet, noch in emphatischen Momenten auch referiert sein. Mit Aufgebot
aller Mittel eine Musik aus zweiter Hand – schon die Physiologie des Singens
hält da schwer mit.
Wenn die Bewältigung der Unmöglichkeit einen Namen hat, dann den von
Elisabeth Schwarzkopf.

✵✵✵

»Leben, ohne Angst zu haben«. Wie sich die Bilder gleichen: Die religiösen Tu-
gendwächter des Mittelalters bis hin zu Luther verdammten melancholische
Anwandlungen als »acedia«, weil sie Zweifel an der Gelungenheit von Gottes
Schöpfung einschließt; die ideologischen Tugendwächter des Sozialismus ver-
dammten sie, weil sie die Gewißheit des von der Partei angeführten Einmarsches
ins irdische Paradies untergruben.
Wer es miterlebt hat, kommt schwer umhin,Verpackungen melancholischer
Bekenntnisse so sehr als Strategien zu lesen, daß die Glaubwürdigkeit der Be-
kenntnisse in Mitleidenschaft gezogen wird. So zum Beispiel Hanns Eislers
letztes, zudem seit langem persönlichstes Wort, die Ernsten Gesänge. Hölderlin
muß für die gewagte Dialektik herhalten, dergemäß »das Freudigste … endlich
… in der Trauer sich« ausspreche. »Sei du, Gesang, mein freundlich Asyl« am
Ende des ersten Liedes wird so emphatisch vorgetragen, daß ein Verhör mit der
Frage fällig scheint, weshalb der auf jenen Einmarsch verpflichtete Verfasser das
Asyl brauche, und die »Traurigkeit« des folgenden Liedes wird abgefedert durch
Bezugnahme auf den Menschen »der besseren Zeiten«, an denen der Traurige
nicht zweifeln darf.Auf »Asyl« und »Traurigkeit« folgt die Weltbeschimpfung von
Leopardis Verzweiflung (»Nichts gibt’s, was würdig wäre deiner Bemühungen,
und keinen Seufzer verdient die Erde«), bei der es nicht bleiben darf. So schließt
sich Hölderlins Hoffnung an, fragmentiert und unfroh endend (»Und stille, den
Schatten gleich, bin ich schon hier«).
Das macht, nach wilden musikalischen Beschwörungen von »O Hoffnung«
und crescendo eingeführt, den »XX. Parteitag« notwendig. Der erscheint nicht
gerade als genuin lyrisch-musikalischer Gegenstand, so lange man nicht nachzu-
vollziehen versucht, was mit der Entlarvung des zweiten Jahrhundertverbrechers
für diejenigen zusammenbrach, die in ihm die einzig mögliche Alternative zum
ersten gesehen hatten. Eisler komponiert fast ein Wiegenlied und endet mit dem
wiederholten, kinderliedhaft intonierten »Leben, ohne Angst zu haben« – außer
dem ersten, 1939 in Mexiko entworfenen Gesang der einzige, der ein Datum
trägt (12. Juni 1962). Das beglaubigt ihn ebenso wie das kläglich-flehentliche
»ohne Angst zu haben«. Angst hatten sie alle – so sehr, daß sie kaum noch zu
klären versuchten, weshalb und wovor.
Die Aufforderung »Komm ins Offene, Freund!« schließt sich sinnfällig an, aber-
mals verkürzter Hölderlin, nicht jedoch auf Kosten der zweiflerischen Auskünfte
Momentaufnahmen 277

(»Zwar glänzt ein Weniges heute nur herunter … Trüb ist’s heut … bleierne Zeit
… Denn nicht Mächtiges ist unser Singen«). Kaum zufällig zwingt Eisler den
Schluß auf eine hymnische Höhe, die zum vorsorglich relativierenden »Wir, so
gut es gelang, haben das Unsre getan« schlecht paßt. Und im letzten Lied bleibt
er mittelbar bei Hölderlin, bei dessen durch Stefan Hermlin entliehenen hohen
Ton: »Was auch ohne ihn blüht, preist er, preist er, künftigen Glückes gewiß,
gewiß, gewiß« – wieder am Schluß mit einer Emphase, in der, so scheint es, der
Singende sich die Gewißheit ersingen muß. Das Folgende stützt den Eindruck
– Sturz in mahlerisch-sonores, hymnisch-liedhaft intoniertes, epilogisches Des-
Dur, worin man auch den Sturz in willkommene Wortlosigkeit vernehmen
kann, in jene multiple Deutbarkeit der Musik, die Eisler so gern geißelte. Doch
selbst dem gönnt er den in Harmonie, Melodie und Metrik zunächst anvisier-
ten geradlinigen Auslauf nicht, nimmt die Musik nach einem um sein Ergebnis
gebrachten Crescendo »sub ppp« zurück und komponiert mit einem trockenen,
versetzten Pizzikato ihre Unabschließbarkeit.
Die Radikalität, mit der Eisler Musik von Zwecken und Anwendungen her
dachte, erschwert die Beantwortung der ihm fernliegenden, dennoch dringlichen
Frage, welche Musik als ganz eigene, nicht sogleich pragmatisch beschlagnahmte
bzw. durch ihre Anwendbarkeit legitimierte er hat schreiben müssen – die Ernsten
Gesänge gewiß.Wie traurig, wenn der Umgang mit groß erlittenen Traurigkeiten
strategischen Verdachten ausgesetzt bleibt!

✵✵✵

Komponierte Improvisation, vollendetes Fragment. »Chopin’s form is generally con-


sidered to be his weakest point. It was also the weakest point of all his contem-
poraries. And, of course ... his sense of form is primitive, being limited almost
exclusively to the possibilities of more or less modified ternary forms.« Sancta
simplicitas! – sofern uns nicht Mitleid überkommt mit den armen Musikern und
Musikwissenschaftlern, die zum Umgang mit Primitiven verurteilt sind, fragen
wir besser nach der Nähe des hier zugrundegelegten Formbegriffs zu Kom-
moden, deren leere Schubladen gefüllt sein wollen. Die richtige Antwort hatte
Schumann mehr als 120 Jahre zuvor in seiner Besprechung der Préludes gegeben:
»... und bleibe nur der Philister weg.« Immerhin will der Verfasser uns trösten:
»But, admitting the primitive nature of Chopin’s basic conception of form, one
can have nothing but praise for the skill with which he so often modifies, adapts,
or even completely conceals this naive basis.«
Damit freilich gerät er nur noch tiefer in den Kategorien-Schlamassel hinein,
denn er postuliert einen Chopin, welcher komponierend eo ipso am Über-Ich
der Form anrennt, sie verändert, hintergeht, verbirgt, gegensteuert. Wenngleich
Formen immer auch Zurichten heißt – der grenzenlos positive Umstand, daß
schöpferisch Tätige ergreifen, bejahen, wichtig finden, behaupten, daß da et-
was legitimationsfrei aus sich heraus wächst, hat in der einordnungssüchtigen
278 Momentaufnahmen

Schubladen-Ästhetik keinen Platz. Die Auskunft über den, wenigstens oft wi-
derwillig, auf dreiteilige Strukturen fixierten Chopin sagt ungefähr so viel wie
die, er käme selten von Viertaktperioden und bei Schlüssen von dominantischen
Kadenzierungen los.
Im Hinblick auf große Musik ist es gerade problematisch genug, daß wir
sie mit anderer Musik oft nur mithilfe jener Schubladen in Vergleich setzen,
ihre jeweilige Singularität anvisieren können. Wenn wir nur feststellen, daß sie
»primitiven« dreiteiligen oder strophischen Reglements anheimfällt, und nicht
fragen, weshalb das so sei, ob die Reglements von kreativer Phantasie weniger
negiert als je neu hervorgebracht würden, vertun wir wichtige Chancen ange-
messenen Begreifens.
In bezug auf musikalische Formen hat das u. a. zu übersehen helfen, in
welchem Maße und auf welche Weise die großen Improvisatoren der 1830er
Jahre, vorab Chopin, Liszt und Schumann, die Stunde Null nach dem Ende
der »Kunstperiode«, der Einschüchterung durch die Klassizität der jüngst
Verstorbenen zu entgehen suchten, indem sie möglichst viel improvisations-
geprägte Unmittelbarkeit ins Komponierte hineinretteten – Schumann, indem
er, handstreichartig rasch komponierend, den improvisatorischen Furor in den
Akt des Niederschreibens mitnimmt, Chopin, indem er sorgsam feilend der
Musik den Anschein vorgeplanter Strukturierung austreibt. So oder so läuft es
darauf hinaus, mit jener Direktheit der Mitteilung den Augenblick der kreativen
Zündung festzuhalten.
Das jedoch treibt zum Paradox, weil Musik, je länger und hartnäckiger sie
festhält, desto schroffer am Ende aus der versuchten Kontinuität herausfallen,
desto offener gestehen muß, daß sie nicht festhalten kann. Nicht weitab hiervon
pflegt das in der eindimensionalen Horizontale befangene Hören die Übersicht
über die Fülle des Erlebten zu verlieren, nach Vergleichspunkten zu suchen und
oberhalb der den unmittelbaren Eindrücken ausgelieferten Wahrnehmungsebe-
ne eine zweite zu eröffnen, auf der es zeitlich auseinanderliegende Eindrücke
aufeinander zu beziehen und zu ordnen versucht. Eben dort und damit wird
die Musik architektonisch.
Chopin versucht in seinem a-Moll-Prélude (Nr. 2 im Opus 28) zweierlei
festzuhalten – in der linken Hand im vorgeschriebenen »Lento« nahezu quälend
gleichmäßige Achtel, innerhalb derer halbtönige Verschiebungen die harmonische
Zuordnung ostinat im Schweben halten; in der rechten Hand, nicht weniger
ostinat, siebenmal kaum variiert die dreitönige Geste einer fallenden, von einer
aufwärtsgehenden Terz bzw. Sekund aufgefangenen Quart (e-h-d, d-a-h, h-fis-a,
a-e-fis; a-e-f, f-c-d, d-a-h). Nur einmal ist der Anfangston einer nachfolgenden
Dreitongruppe nicht identisch mit dem letzten der vorangehenden, ebendort
wird er am längsten gehalten, und die Achtel sprechen eben hier (Takte 11 bis
14) harmonisch ganz und gar in Rätseln. Wie als Zugeständnis an die zeitver-
haftet vorangehende Musik erklingt die ornamentierende zweimalige Folge von
punktiertem Viertel und Achtel, welche im ersten Abschnitt zweimal die zweite
Momentaufnahmen 279

Position besetzt (Takte 5 bzw. 10), im zweiten nach dem überlangen ersten Ton
zweimal hintereinander (Takte 17 bzw. 20).
Dort indessen stockt die Musik bereits, sie kann die Momentaneität, das
Bei-sich-Bleiben der melodischen Geste und der pendelnden Achtel nicht
aufrechterhalten. Diese verstummen, kehren noch einmal, den Schatten einer
dominantischen Septnonen-Konstellation werfend, kurz zurück, um die Melodie
danach endgültig allein zu lassen. Bleiben noch »sostenuto« kadenzierende Akkorde,
welche nicht nur die vorangegangene, sondern auch irgendeine andere Musik
beendigen könnten, immerhin sie über die doppelte Dominante knapp nach
a-Moll heimbringen, wo sie zuvor nie war.
Glanz und Elend improvisierter Musik, welche, sich zu Verklingen und Ver-
gänglichkeit bekennend, die allerabsoluteste darstellt:Weil sie nicht gebaut, nicht
Architektur sein will, kann sie keine Argumente für die eigene Beendigung orga-
nisieren, sie muß abbrechen und im Abbruch aufheben, daß es weitergehen müßte
und sie nicht weiß, wie. Schließen ist hier mindestens so schwer wie Einsteigen.
Am ehesten gelingt es, wo Zuschnitt und Charakter, wie im Des-Dur- und im
As-Dur-Prélude, ein Verebben erlauben; angehängte Schlüsse, welche kaum oder
gar nicht sagen, was, sondern nur, daß beendigt wird, finden sich außer im zwei-
ten auch in den Préludes 4, 8, 12, 18, 19, 21 und 22; das sechste weist in den vier
Schlußtakten darauf hin, daß die eingangs inkriminierte Dreiteiligkeit eingelöst
werden müsse, aber nicht eingelöst wird, und das siebente erscheint mit seinen
viermal vier Takten wie der übriggebliebene A-Teil eines Stückes, dessen B und
A’ abhanden gekommen sind, ein Aphorismus, der zum Weiterspinnen einlädt.
Mit dem von Chopin in Delfina Potockas Album eingetragenen a-Moll-
Prélude befinden wir uns nahe bei einer klavieristischen Übersetzung von Pans
mythischer Flöte: Syrinx, von ihm verfolgt, sieht sich durch einen Fluß gehemmt
und fleht die Wellen an, sie zu verwandeln; Pan greift nach ihr – und hält Schilf-
rohr in Händen, welches er in abgestuften Längen bündelt; die vom Wind im
Rohr erzeugten Töne verbinden sich mit der Klage um die Geliebte, fast sind
sie die Geliebte.
Wenn sich die gute George Sand mal nicht täuschte, als sie Chopins Elend
auf Mallorca den miesen Wohnverhältnissen im Kloster und nicht dem jähen
Herausgerissensein aus seinen ästhetischen Paradiesen zuschrieb! »Bei der Rück-
kehr von unseren nächtlichen Streifzügen durch die Ruinen mit den Kindern
fand ich ihn … bleich, mit verstörten Augen und gesträubten Haaren an seinem
Klavier vor.«
Vom Protest gegen die Arbeitsteilung zwischen Komponieren und Spielen,
von der emphatischen Direktheit der Mitteilung abgesehen – obwohl zu einem
Ende gebracht, reflektieren die Préludes mindestens soviel Fragment-Ästhetik
wie fragmentarisch liegengelassene Entwürfe.

✵✵✵
280 Momentaufnahmen

Zweimal Selbstanzeige: Zu viel, zu lang? Im einleitenden Andante von Schuberts


großer C-Dur-Sinfonie wird die quadratische Metrik nur einmal gestört; gibt es
da – es beträfe den 57. oder 58. Takt – einen Takt zuviel? Auffällig lang hat die
Musik sich zuvor im As-Dur-Bereich aufgehalten, was leicht erklärbar scheint
als Exposition einer Gegentonart, die in den Ecksätzen eine so wichtige Rolle
spielt, daß Schubert mit a-Moll im Andante und A-Dur im Trio ein Widerlager
schaffen mußte.
Das ist nicht alles. Zweimal schaukelt die As-Dur-Passage (Takte 48 ff.)
zwischen »Tonika« und »Dominante«, so daß man danach die »Subdominante«
Des erwartet. Stattdessen tritt überraschend, gestützt durch dreiklängig aufge-
fächerte Posaunen, des-Moll ein, und dort, das Abwarten durch weiter pulsie-
rende Rhythmen betonend, bleibt die Musik hängen. Noch überraschender
der nächste, wieder vom Posaunenklang bestimmte harmonische Wechsel nach
f-Moll; abermals steigert sich die Erwartung – die Punktierungen gehen an die
am Sinfoniebeginn als Bedeutungsträger exponierten Hörner über, ein vom
Paukenwirbel unterlegtes Crescendo treibt weiter, und der überzählige Takt
verlängert die Frist. Dann endlich, nahezu wie in Lichtblick, erreichen wir die
plagale Öffnung zur Quart-Sext-Konstellation von C-Dur (zuvor hatte der Ton
As den Klang elf Takte lang getragen), zu den hinführenden, für eine ordentlich
dominantische Rückkehr zum Thema zuständigen Takten 59 und 60.
Was dort anklingt und in der Sinfonie immer wieder anklingen wird, pfiffen
in Wien, als das Projekt für Schubert brandaktuell wurde, die Spatzen von den
Dächern: Beethovens »Freude«-Thema. Seit Jahren – wir befinden uns im Früh-
jahr 1824 – hatte Schubert sich mit der Rückkehr zur großen Form gequält, im
März in einem Brief den Umweg über die Komposition von Streichquartetten
erläutert; nun war, nachdem in Kammermusik etliches gelungen war, die Sinfonie
dran. In diese Situation fiel – am 4. Mai – die Uraufführung von Beethovens
Neunter. In den Zeugnissen der Freunde, die teilweise im Chor mitsangen, ist von
ihr vor der Aufführung mehrmals die Rede, danach nicht mehr; daß Schubert sie
gehört hat, können wir sicher annehmen, doch nirgends positiv belegt finden.
Schämten die Freunde sich, da sie als bejahrte Männer in den 50er und 60er
Jahren Auskunft gaben, Schubert durch die Mitteilung zu blamieren, er habe es
mit dem alsbald kanonisch gewordenen Werk schwer gehabt, sei vielleicht gar
schockiert gewesen?
Wir können nur vermuten, weil die Gespräche zuvor und das Schweigen
danach es nahelegen, und weil Schubert bei seinem Ringen um die große Form
Werke zumVorbild nahm, deren Lösungen durch die neue Sinfonie überwunden,
historisch geworden wo nicht desavouiert erschienen. Am Tage nach der ersten
Aufführung der Neunten Sinfonie verließ er Wien, um den Esterházy-Töchtern
Musikunterricht zu erteilen; daß ihn die Eindrücke verfolgten, können wir
sicher vermuten; für ein reichliches Jahr später, als er mit dem Sängerfreunde
Vogl u.a. in Gmunden und Gastein unterwegs war, ist die Arbeit an der Sinfonie
sicher bezeugt. Allenthalben in der Sinfonie – verdeckt in der Themenbildung,
Momentaufnahmen 281

unzweideutig bei Höhepunkten wie den Takten 228 ff. und 545 ff. im ersten
Satz –, scheint Beethovens Thema durch, wie um zu signalisieren, daß man das
Material, mit dem der Alte die Sinfonie zur Kantate hinbog, sehr wohl auch
zu einer Sinfonie etwa nach Maßgabe von dessen Siebenter brauchen könne.
Mit dem überzähligen Takt und anderen Vorkehrungen beim ersten Erklingen
des Fast-Zitates gibt Schubert den Eingeweihten zu verstehen, daß er auf die
Herausforderung ausging – in einer Situation, da jede groß gewollte Sinfonie
als Herausforderung Beethovens erscheinen mußte. –
Im Andante con moto der Sinfonie wird es nach mehr als 330 Takten, mehreren
Wiederholungen großer Themenblöcke, nach dem Marsch in eine Katastrophe,
welche ein Fortsingen kaum noch zu erlauben scheint (Takte 232 ff.), und zwei
wie aus halber Bewußtlosigkeit herkommenden Rückführungen (Takte 148 ff.
und 322 ff.) höchste Zeit, zum Ende zu kommen. Eben diese Dringlichkeit dient
Schubert dazu, das Zeitwesen der Musik herauszukehren, wie um zu zeigen, daß
die innere Unendlichkeit dieser Musik eine Beendigung eigentlich nicht erlaubt
– nicht erst im ausgebreiteten a-Moll der fünf letzten Takte, worin nachklingt, wie
Beethoven das Allegretto seiner Siebenten Sinfonie in den Grundklang zurückholt,
von dem es ausgegangen war, sondern schon zuvor.
Bereits der erste Auftritt des ersten Themas signalisierte, daß die punktierte
Drehfigur des Nachsatzes (erstmals Takte 13 ff.) zum Verweilen einlädt, bereits
hier wird die zentrifugale Strebung angemeldet, welche erst unter dem Druck
der erwarteten Beendigung zum Austrag kommt. Nachdem Oboe und Flöte die
Figur in den Takten 336 und 337 einander zugeworfen haben, übernimmt die
Klarinette – und bleibt, achtmal sie spielend, auf ihr hängen; allerdings bewegt sich
der Untergrund und verweilt u.a. auf einem Klang, der der nunmehr harmonisch
querständigen Figur besondere Eindringlichkeit verschafft.Würde die Klarinette
statt acht- nur viermal spielen und sechs Takte überspringen, würde keiner etwas
dabei finden, obwohl es immer noch mehr wäre als konventionell. Aber sie mag
sich nicht trennen, und aus dem Nichttrennenkönnen erwächst Neues: Die Figur
wird genau dort kantabilisiert, wo – wieder durch Hörner angekündigt – Licht
am Ende des Tunnels erscheint, der Ausblick ins C-Dur geöffnet wird.
Sogleich, wie um an der neu erworbenen, am Crescendo sich bestätigenden
Unendlichkeit des Singens teilzunehmen, steigen auch Oboe und Flöte wieder
ein und veranstalten ein Separatkonzert fast wie Kuckuck, Nachtigall und Wachtel
am Ende von Beethovens Szene am Bach, eine Enklave selbstvergessenen Singens,
an deren Ende Harmonie und ein Decrescendo zur Ordnung rufen, d.h. daran
erinnern, daß man zum Thema und der Grundtonart zurückmüsse. Der Ein-
druck »ich möchte so gerne noch bleiben« indessen haftet, und mit ihm auch,
daß die Singenden nahe daran gewesen seien, in ihrer Drehfigur den Faden der
verrinnenden Zeit einzurollen

✵✵✵
282 Momentaufnahmen

Hommage à Laurence Dale et René Jacobs. Monteverdis Orfeo befindet sich vor
Caronte, einer animalisch blökenden, entschuldbar pflichtvergessenen Vorübung
zu Kafkas Türhüter, und will sich Eintritt in Plutos Reich verschaffen. Man
erwartet etwas wie das »Lasciate mi morire« der Arianna – einmal gehört und
gleich unvergeßlich. Aber es kommt anders – keine schlagende Prägung der
Art, der der Mega-Osmin und die Tore der Unterwelt erliegen, keine, deren
Unwiderstehlichkeit bewiese, daß Musik tatsächlich vermag, was die Legende
ihr andichtet. Welche Anforderung an einen Komponierenden wäre größer als
Töne, die die Barriere zwischen Lebenden und Toten überwinden? Unvor-
stellbar, daß einer, der mit seinem Librettisten Striggio über sensible Fragen im
Verhältnis von Wort und Ton korrespondierte und an einem Madrigal oft eine
Woche lang arbeitete, dies nicht reflektiert hätte. »Man sagt kaum zuviel mit
dem Satz, alle Oper sei Orpheus«, formulierte Adorno, nachdem er den Eingriff
der »Musik in den blinden ausweglosen Naturzusammenhang des Schicksals«
als Grund- bzw. Hintergrundthema aller Oper benannt hat. »Der Eingriff ist in
einem der großen griechischen Mythen selber vorgedacht, dem von Orpheus,
der die furchtbare Herrschaft des Zyklos, an den Eurydike verlor, durch Musik
erweicht.«
Monteverdi macht sich mit seinem Helden identisch, er komponiert in
wiederholten, zuweilen schüchtern anmutenden Ansätzen Zögern wo nicht
Versagensängste, er meidet die Selbstsicherheit kohärenter Musik. Die der Partitur
beigegebene einfache Fassung der Melodie kann er nur als Ausgangspunkt für
improvisierte Verzierungen gedacht haben, Orfeo ergeht sich exzessiv im cantar
di garbo.Theaterpraktisch könnte es damit zusammenhängen, daß derselbe Sänger
für die Partien des Orfeo und des Apollon vorgesehen war, deren Zuschnitt sich
also nicht zu sehr unterscheiden durfte; psychologisierend könnte man es mit
seiner Verlegenheit in Verbindung sehen oder mit sängerischem Imponiergehabe
vor Caronte – dieses läge nahe bei dem Zwang, angesichts dessen, was Orfeo
will, alle Mittel aufzubieten.
Allerdings fühlen wir uns vorschnell zu solchen Erklärungen gedrängt, weil
dem cantar di garbo alle Selbstverständlichkeit, damals anhand vielbenutzter
Anleitungen (Bovicelli, Conforto) eingeübt, verlorengegangen ist; repetierend
nachgeschobene Töne etwa, welche hier immerfort begegnen, bereiten mit
jüngerem Repertoire umgehenden Sängern oft Schwierigkeiten, technisch wie
vom Verständnis her.
Im übrigen bleiben es Zusatzerklärungen im Hinblick auf Orfeos Absichten,
auf die singuläre Situation und die Zentralstellung innerhalb eines fünfaktigen
Ganzen, dessen strenge Organisation innerhalb der Gattung ihresgleichen sucht,
nicht weniger angesichts der wohlüberlegten Koordination der Textabschnitte
mit Instrumenten – »normale«Violinen, wenn Orfeo am Beginn Caronte anredet;
oft mit Plutos Reich assoziierte Cornetti, da Orfeo von der dorthin geratenen
Euridice sagt, sie habe sein Herz, sein Leben mitgenommen (»non viv’io no...«);
die mit Himmel und Engeln verbundenen Harfen, wo Orfeo, weil Euridice dort
Momentaufnahmen 283

weilt, die Unterwelt zum Paradies werden sieht (»A lei volt’ho il cammin...«); wenn
er sich selbst nennt (»Orfeo son io«), wieder Violinen.
Nicht um irgendeine bestimmte Musik muß es hier gegangen sein, sondern
um die Musik, Musik als solche, um den unwiderstehlichen Inbegriff, eine
Quintessenz aller denkbaren Musik, welche im antiken wie mittelalterlichen
Verständnis den Kosmos erfüllt und strukturiert, so daß auch Pluto sich nicht
verweigern kann. Platonisch-konsequent gedacht schließt das jede Spezifikation
aus; alles, was klingt, ist jedoch bereits Spezifikation. Also versucht Monteverdi es
mit Annäherungen, die jede fixierende Prägung meiden. Da er jenen Inbegriff
nicht komponieren kann, komponiert er in Umkreisungen die Unmöglichkeit,
ihn zu komponieren.
In mehrfacher Weise zögernd beginnt es: Sehr allmählich und mühsam er-
klimmt Orfeo die ersten Tonstufen und bleibt mit Ausnahme der Terzinenschlüsse
auf offenen Dominanten hängen; größere syntaktische Zusammenhänge bringt er
kaum zustande, weil er bei etlichen Worten lange verweilt und die Instrumente
ihn unterbrechen. Das heißt aber auch, daß er mit seinem Singen nicht allein ist:
Woher, außer aus ihren symbolischen Bedeutungen, kommen die Instrumente,
die die Tonreviere so viel schneller durchmessen als er? Mindestens öffnen sie,
multipliziert durch Echos, einen Raum um ihn; irgendwer antwortet, irgend-
wohin dringt seine Klage, irgendwoher klingt sie zurück, irgendwer vernimmt
sie gar?
Die Qualität des Librettos zeigt sich auch darin, daß es – u.a. dank vieler An-
rufungen – Verweilen auf einzelnen Worten und Unterbrechungen ermöglicht,
ohne daß der rote Faden reißt. Dergestalt kann Orfeo immer neu wie zum ersten
Mal ansetzen und der perennierenden Anfänglichkeit unvergleichliche Eindring-
lichkeit abgewinnen – in jeden Neuansatz die Erfahrung hineingenommen,
bisher sei alles Singen und Flehen vergeblich gewesen, in jedem neuen Anlauf
die Inständigkeit des Anrennens gegen die unerreichbare Musik oberhalb aller
Musiken wie gegen die Tore der Unterwelt.
Bei beidem indessen, wie immer zur Anfänglichkeit verurteilt, kommt Orfeo
voran. In bezug auf die Unterwelt wissen wir es nachträglich, wenn er Caronte
in Schlaf gesungen, eigenmächtig die Barke bestiegen haben wird und wir
erfahren, daß auch Proserpina und Pluto ihn gehört haben; in bezug auf sein
Singen zeigt es sich bei »Non viv’io no, che poi di vita è priva«, wenn konzisere
melodische Gestalten auftauchen, als lerne er neu zu singen und gewänne den
verlorenen gestalterischen Mut zurück. So kann er die zweite Terzine (»E senza
cor...«) pathetisch ausgreifend beenden und das bisher kompakteste Zwischenspiel
auslösen. Dies steigert sich in der dritten Terzine, da die Unterwelt, weil Euri-
dice dort weilt, zum Paradies erklärt wird; die sängerische Kulmination »Tanta
bellezza il Paradiso ha seco« verlängert die »paradiesische« Harfe ins Wortlose wie
ein Schumannsches Klaviernachspiel.
Wenn Orfeo sich am Beginn der vierten Terzine nennt – nun kehren die Vio-
linen zurück –, ist er wieder aufs cantar di garbo zurückgeworfen, gewinnt aber
284 Momentaufnahmen

rasch wieder sängerische Bahn, damit auch verdeutlichend, daß er auf finsteren
Wegen Euridices Schritten folgt (»d’Euridice i passi/ Seguo«). Erstmals hier singt
er bis zum Schluß der Terzine zwei Verse durch, am Ende gar sekundiert, nicht
unterbrochen, von den Violinen. Endlich ist aus dem Nacheinander ein Mitein-
ander geworden, und so, wie als Ergebnis, kann aus der folgenden, fünften Terzine
(»O de le luci mie...«) die von allen liedhafteste werden, gar mit Wiederholung
der letzten Zeile, der Frage, auf die es zulief: »Ahi, chi nega il conforto a le mie pene?
– wer verweigert meinen Qualen den Trost?«
Das richtet sich zunächst an Caronte; dem widerfährt die Ehre der innig in-
tonierten Zuwendung »Sol tu, nobile Dio, puoi darmi aita«, wohin Orfeos großer
Gesang in einer Weise mündet, welche man der Substanz nach, spätere einschlä-
gige Formalien beiseitegelassen, dem Wechsel vom explizierenden Rezitativ
zur fokussierenden Arie vergleichen könnte. Hier, in der Paradoxie einer an den
harthörigen Wachhund gerichteten, zärtlich intonierten Bitte, ist Orfeo, wenn
auch längst nicht bei platonischer Meta-Musik, so doch bei der Redeweise bzw.
Tonlage angekommen, welche, wenn schon nicht die Diensthabenden, so doch
Proserpina erreicht. Das jedoch wissen wir erst später. Vorerst, wie wunderbar
Orfeo immer sang, flehte, schmeichelte, bat und bettelte, hat er nicht einmal das
Nahziel erreicht, den Fährmann außer Gefecht zu setzen.
Dies dient Monteverdi als Negativ-Beweis, daß jene Meta-Musik anvisiert
war – gesungene ist dank der Worte und der Nähe zur Körperlichkeit des Sin-
genden zu speziell. Noch nämlich ist die mythische Wunderwaffe nicht zum
Einsatz gekommen, die Leier, die Orfeo, da er Caronte direkt anspricht, eben
dort nennt, wo »die süßen Saiten auf der goldenen Leier« durch den Streichersatz
vorweggenommen erscheinen. Erst später spielt er sie, ohne zu singen – in einer
durch tiefe Lage und dunkle Sonorität ausgezeichneten Sinfonia »pian piano, con
Viole da braccio, un Org. di leg. & un contrabasse de Viola da gamba«. Dies bringt den
Fährmann zu Strecke, nun kann Orfeo auf eigene Faust übersetzen.
Apologeten absoluter Musik könnten es als frühen Beleg dafür nehmen, daß
wortlose Musik absoluter, »unmittelbarer zu Gott« sei.

✵✵✵

Integrationsarbeit. Wenn die Posaunen in Brahms’ Zweiter Sinfonie zum ersten Mal
intervenieren, sollte es uns kalt den Rücken herunterlaufen – ein unzeitiges Me-
mento mori, nachdem es so lyrisch-entspannt, so lieblich pastoral begonnen hat.
Brahms könnte sie allein schon aufgeboten haben, um einer vom Beginn abgezo-
genen Pauschal-Charakterisierung vorzubeugen (was nicht gelungen ist), hätte er
nicht gewichtigere Gründe gehabt, das heitere Bild auf dunklen Grund zu setzen.
Daß er die Partitur gern »mit Trauerrand« gedruckt gesehen hätte, ist nur teilweise
der allemal ironischen Redeweise in bezug auf eigene Werke geschuldet.
Nicht nur dank seines historischen Bewußtseins handelte er sich mit der Ex-
position als Instrumentalcharaktere ein Problem für das Werkganze ein. Nunmehr
Momentaufnahmen 285

sind die Posaunen als Sinnträger, als semantischer Kontrapunkt zur pastoralen
Idyllik ausgewiesen, entsprechend schwer wird es sein, hinter die Exposition
zurückzugehen. Nun ist ihre tranditionelle Zuständigkeit für Orakelsprüche,
Sarastro, Komtur und alle Formen ernster Mahnung angesprochen, damit auch,
daß sie spät zu normalen, gegebenenfalls im Tutti anonymen Orchesterinstru-
menten geworden sind. Immerfort gemahnt zu werden, hält jedoch niemand
aus, auch eine Sinfonie nicht.
Also ist Brahms auf Kompromisse angewiesen bzw. darauf, die Widersprüch-
lichkeit produktiv zu wenden. Nicht wenig spricht dafür, daß er sich hiervon
inspirieren ließ. Bei ihrem zweiten Auftritt helfen die Posaunen, innerhalb eines
furiosen Tutti eine Zwischenbarriere zu errichten (Takte 134 ff.), sonst findet
Brahms für sie in der Exposition nichts zu tun. Mehr schon in der Durchführung,
wenn sie in enggeführten Überschichtungen zweimal große Tutti-Abstürze ab-
fangen (Takte 224 ff.) und danach, viertaktig zwischen stehenden Harmonien und
solistischen Kontrapunktierungen wechselnd, zur aktivsten Blechbläsergruppe
werden, viermal die Abgänge der Holzbläser bzw.Violinen (Takte 254 ff., 266 ff.,
274 ff.) solistisch kontrapunktieren – der abgeblendete, dem dritten, größten
Abgang voranstehende pp-fis-Moll-Klang der Takte 270 ff. allein klanglich eine
Trouvaille sondergleichen.
Damit sind sie von der rahmengebenden Außenposition des Beginns aus ins
Orchester hineingekommen, prägen klanglich das Tutti der Takte 294 ff., und vor
dem gemeinsamen Repriseneintritt (Takte 302 ff.) der in der Exposition ausein-
andergelegten Themen gibt Brahms als einzigem dem Solo-Posaunisten das die
gesamte Sinfonie grundierende Wechseltonmotiv d-cis-d. Erst recht bestätigt er
jenes Hineinkommen, indem er das anfangs dem Eintritt des offiziellen ersten
Themas vorangestellte Memento mori vor denjenigen des zweiten setzt (Takte
346 ff.), nun nur einmal erklingend und in die Reprise hereingeholt: Was der
Erzählung am Beginn Rahmen und Hintergrund gab, ist nun Teil der Erzählung
selbst. Das bestätigen am Codabeginn ein bedrohliches Piano und die Wiederkehr
der gleichen Harmonie wie beim allerersten Auftritt der Posaunen, sie auch geben
dem Hornisten das erste Geleit bei seinem Solo-Spaziergang (Takte 455 ff.).
Ähnlichen Anschub besorgen sie dreimal zu Beginn des Adagio non troppo,
hier fast bei einem Choral als einem eigensten Revier angekommen. Wenn
auch Holzbläser sekundieren, distanziert Brahms die Posaunen dennoch von
den anderen Instrumenten durch »pp« – Streicher, Hörner und Fagotte spielen
»poco forte«. Wieder also kommen sie von außen, überlassen anderen Bläsern die
Fortsetzung, sind bei den polyphonen Anstrengungen der Takte 49 ff. zur Stelle
und nach deren dramatischen Zusammenbrüchen (Takte 55 ff. und 60 ff.) mah-
nend mit dem Wechseltonmotiv. Und ähnlich wie im ersten Satz holt Brahms
sie heran: Wenn sie in den Takten 67 ff. die von Violinen triolierte Variante des
Hauptthemas begleiten, mutet diese stärker wie ein Überbau zum »Choral« an
denn dieser wie anfangs als Hintergrund der Hauptmelodie. Das verstärkt sich im
großen Tutti der Takte 87, Kulmination des Satzes auch insofern, als die Posaunen
286 Momentaufnahmen

und ihr Choral nunmehr groß angekommen sind; folgerichtig läßt Brahms sie
im Schlußakkord heraus.
Im Allegretto grazioso selbstverständlich, aber auch in den ersten 200 Tak-
ten des Finale hat er für sie nichts zu tun, führt sie inmitten der Durchführung
unauffällig im Tutti ein (Takte 202 ff.), offenbar, weil sie vor der Reprise, wieder
mit ganz ihnen gehörigem, mahnendem Gestus – wenig später, in der Tragischen
Ouvertüre, wird er sich seiner erinnern – nicht jäh und unvermittelt eintreten
sollen (Takte 234 ff.). Da sie nun angekommen sind, läßt er sie in der Reprise in
Takten (275 ff.) spielen, bei deren Ensprechung am Satzbeginn (Takte 32 ff.) sie
nicht beteiligt waren. Und wie im ersten Satz gibt er ihnen den Eintritt in die
Coda, einem von ihnen angeführten Kanon, der das zweite, verdächtig eingängige
Thema bis zur Unkenntlichkeit rhythmisch und metrisch verschiebt – wieder
eine Trouvaille ebenso wie eine Primärerfindung, zu der ihn auch gedrängt ha-
ben könnte, daß die Posaunen in dem Satz bisher wenig Wohnrecht hatten. Nun
dürfen sie sich auch an der Stretta beteiligen und als einzige das triumphierende
D-Dur des Schlusses durchhalten.
In solchen Behandlungen erscheint das Orchester weniger als offener Fundus,
in dem man sich freihändig bedienen kann, denn als Instanz, die von der Komposi-
tion Rechtfertigungen verlangt und im Ergebnis jeweils neu konstituiert wird.

✵✵✵

Kindstod und Kammersinfonie. Wenn Solistin oder Solist das Orchester nicht
mindestens ebenso sehr begleiten wie das Orchester sie, haben sie bei Mahlers
Kindertotenliedern versungen und vertan. Seine Sorge, nach den einzelnen Lie-
dern könnte applaudiert werden (nach einzelnen Sätzen von Sinfonien war das
noch vielerorts üblich), hatte gute Gründe: »Diese fünf Gesänge sind als ein
einheitliches, untrennbares Ganzes gedacht.« Neben, hinter, über dem in Er-
zählanspruch, poetischer Suggestivität und als Lebenszeugnis unwiderstehlichen
Text etabliert er eine eigenwüchsig musikalische, für sich stimmige Form. Als
solche wahrgenommen zu werden hat sie noch weniger Chancen als ohnehin
bei textgebundener Musik. Das größte denkbare Unglück als ästhetisches Sujet
– angesichts solcher Hybris (schon der Gedanke ein Stück Wirklichkeit) durfte
Mahler, der nur zu oft den Tod jüngerer Geschwister erleben mußte, sich nicht
wundern über Almas späteren, objektiv albernen, die Lieder ins Biographische
herüberziehenden Vorwurf, er habe den Tod ihrer Tochter herbeikomponiert.
Dem wäre als erstes entgegenzuhalten, daß er wie Schubert in der Winterreise bei
Wahl und Anordnung der Lieder – fünf von etwa 500, die Rückert auf den Tod
seiner Kinder verfaßt hat – die Fabel gemieden hat. Der Zyklus reflektiert knapp
zurückliegendes Unglück; was hieran Geschichte ist, ist schon geschehen.
Dennoch kommt man von ihr nicht los. Die zur strengen Konzeption gehörige
Aufforderung, Rückerts Texte auch als kommentierenden Überbau, als der Musik
zugeordnete »poetische Idee«, als Exempel eines existentiellen Themas, den Zyklus
Momentaufnahmen 287

als radikalisierte Wiederholung der Lieder eines fahrenden Gesellen wahrzunehmen,


erscheint als utopische Zumutung. Erklärbar erschiene die Textwahl auch als
typisch Mahlerscher Versuch, sich des Gegendrucks eines unlösbaren Problems
zu versichern, wenn eine durchaus mystische Identifizierung von Sphären nicht
mitbedacht werden müßte, die wir auseinanderzudenken gewohnt sind.
Nicht nur sind Lied und Sinfonie bei ihm auf eine Weise verflochten, angesichts
deren vielzitierte Belege nur wie ins positiv Greifbare aufragende Spitzen erschei-
nen – bei den Kindertotenliedern betrifft es u.a. die Parallelität der Rückführung
in den A-Teil (vor Ziffer 9) im ersten Lied zur Rückleitung in die Reprise des
ersten Satzes der Vierten Sinfonie, dortselbst des Adagios an »Nun seh ich wohl«
im zweiten Liede und die Anklänge ans vierte im Andante der Sechsten. Jene
Identifizierung betrifft auch – und erscheint hier vollends mystisch – Kunst und
Leben; die Trauerfeier für Hans von Bülow hilft die lange gesuchte Lösung für
das Finale der Zweiten Sinfonie finden, die Begegnung mit Alma erzwingt das
unerlaubt private Adagietto für die Fünfte und dessen Einarbeitung ins Finale.
Und sie läßt sich unschwer in textlichen Details der Kindertotenlieder wieder-
finden, welche den Singenden anhalten, sich instrumental, als eine von vielen
Stimmen zu verhalten, und die Musiker, mitzusingen, zu deklamieren, als fehlten
Worte nur zufällig; mehr als anderswo dominieren individuell artikulierende In-
strumentalsoli. Dergestalt könnte der uneinholbareVorsprung verringert werden,
den dem Singenden die allein ihm gehörige verbale Mitteilungsebene sichert,
könnte verhindert werden, daß der Hörer das Orchester lediglich als, gewiß
hochdifferenzierte, Begleitung wahrnimmt.
Immerfort reden die Instrumente mit, nehmen mit Ausnahme des letz-
ten Liedes die Melodie des Sängers variativ vorweg, umschreiben, zieren aus,
kommentieren, verkleinern oder vergrößern die Tonschritte davor, danach und
gleichzeitig; dem kleinschrittigen ersten Abgang »Nun will die Welt so hell
aufgehn«, einer für den gesamten Zyklus verbindlichen Grundformel, stellen sie
insistierend aufwärtsgehende kleine Sekunden entgegen, die Oboe zieht die Linie
des Sängers als rasch resümierendes Echo nach; in der dritten Strophe des ersten
Liedes vertauscht Mahler die Rollen – nun haben die Hörner den anfangs dem
Sänger gehörigen Abstieg, und dieser kontrapunktiert das vormalige Echo der
Oboe, nun aufwärtsgehend mit ins »Licht« weisenden Worten (»Du mußt nicht
die Nacht in dir verschränken, mußt sie ins ewge Licht versenken«). Indem die
Instrumente wortnah, wortbedürftig mitsingen, rücken sie heran an den, der Worte
hat, und etablieren eine Vielfalt,Vielstimmigkeit der Charaktere, Artikulationen,
Farben etc. weit über allen regulierten Kontrapunkt hinaus. So erscheint die
musikalische Strukturierung dem Wortbezug weniger entgegen- oder zur Seite
gestellt als von ihm inspiriert. Die Parallelisierung der vier Strophen des ersten
Liedes mit Exposition, wiederholter Exposition, Durchführung und Reprise plus
Coda eines kleinen Sonatensatzes ergibt mehr als nur vage Analogien.
Überdies hat Mahler die Gedichte den zentralsymmetrischen Erfordernissen
der Fünfteiligkeit gemäß gewählt und angeordnet. Das erste und fünfte Lied,
288 Momentaufnahmen

beide in d-Moll stehend und nach D-Dur ausmündend, rahmen drei in c-Moll
bzw. Es-Dur stehende, mindestens von dort ausgehende und dorthin zurückkeh-
rende Lieder ein. Jedes Lied hat einen eigenen Ton, ein eigenes Orchester, das
zentral stehende dritte das kleinste, das letzte das größte. Als einzigem fehlt dem
dritten der, zwar mehrmals ins poetische Vokabular zurückgezogene, tröstende
Ausblick, der das erste Lied im Bild der hell aufgehenden Sonne eröffnet und
das vierte hymnisch beschließt (»Der Tag ist schön auf jenen Höh’n!«), das fünfte
in stiller Glaubensgewißheit (»...von Gottes Hand bedecket, sie ruh’n als wie
in der Mutter Haus«). Nachdem am Ende des ersten Liedes mit »Ein Lämplein
verlosch in meinem Zelt! Heil sei dem Freudenlicht der Welt!« die Spannweite
zwischen verzweifelter Trauer und Gottvertrauen im Wechsel von Moll zu Dur
musikalisch reflektiert war, bewähren sichVerbindlichkeit und Suggestivität dieser
Grunddisposition im folgenden Liede: In c-Moll stehend, wird es bei »Ihr wolltet
mir mit eurem Leuchten sagen...« zum nun eindeutig semantisierten D-Dur
herübergezogen, zudem mit einem fast chromatischen Aufgang ähnlich dem,
der zuvor das erste D-Dur beschworen hatte. Durch und gegen das statische
Moment symmetriebedingter Entsprechungen setzt Mahler von vornherein den
dynamischen Zug zur Erlösung am Ende.
Welcher Erlösung? Der Text – »von Gottes Hand bedecket« – duldet wenig
Zweifel, aber am Schluß bleibt der Text zurück. Im großen Dur, auf das der Zyklus
zuläuft, sind Singstimme und erste Violinen zunächst heterophon am gleichen
melodischen Verlauf beteiligt; bei »sie ruh’n als wie in der Mutter Haus« indessen
trennen sie sich, dieViolinen führen, und die Singstimme »begleitet«, teilweise fast
in bassierenden Grundschritten. Bei »von keinem Sturm erschrecket« laufen sie
gleichberechtigt nebeneinander her und finden sich beim letzten »sie ruh’n« (6
Takte vor Ziffer10) in der ersten Konstellation wieder. Dann endet der Gesang,
nicht aber die Musik. Das Horn singt die letzte Phrase nach, und die Celli fahren
als Nachsatz mit einer Melodie fort wie mit einer jäh von woanders, nicht vom
Wort hergekommenen Musik – wir haben sie noch nicht gehört.
Wie wichtig dürfen wir den in einen viertaktigen Nachsatz verpackten Deus
ex machina finden, der doch mindestens sagt, daß noch nicht alles gesagt war?
Wird hier, nicht anders als am Schluß der Gesellenlieder oder von Schuberts
Schöner Müllerin, nicht auch in den Himmel der Musik hinein erlöst? War der
Kindstod nicht ebenso für die Kammersinfonie da wie die Kammersinfonie für
den Kindstod?

✵✵✵

Nachhilfe in Gadamer. »Angesichts des Mangels an wirklich origineller Melodik


(abgesehen von dem Eröffnungsmotiv)« entstehe »insgesamt der Eindruck, das
Werk sei die Arbeit eines begabten Kompositionsschülers« – so die Auskunft eines
jüngst erschienenen Kompendiums zum ersten Satz der Zwickauer Sinfonie des
jungen Schumann. Kein noch so emphatisch beschworenes De-gustibus-non-
Momentaufnahmen 289

est-disputandum wiegt die Objektivität von Kriterien auf, nach denen das ein
Fehlurteil ist, erklärbar, jedoch nicht entschuldbar. Wer diese Musik musiziert,
wenigstens intensiv mitvollziehend angehört hat, wird auf diese Weise nicht reden.
Falsche Noten tun immer weh, falsche theoretische Auskünfte zu selten.
Hätte es sich um das Werk eines Genies von Beethovenschem Zuschnitt ge-
handelt, wäre vermutlich von der Pranke des jungen Löwen die Rede gewesen
und reflektiert worden, ob offenkundige Schwachstellen – die Brücken zwischen
Exposition und Durchführung, Durchführung und Reprise, der Satzschluß – als
solche hervorträten, weil die Meßlatte der Musik von vornherein hoch liegt.
Indes paßt der kühne Hechtsprung ins gefährliche Wasser sinfonischer Ansprü-
che schlecht ins Bild des romantischen Musensohns, der sich einen »tapfren
Epigonen« nennt, fast zehn Jahre auf Klaviermusik und Musikschriftstellerei
beschränkt und viel später erst wieder eine Sinfonie wagt – zumal er auch in
der Wahl der Richtpunkte nicht kleinlich ist – Mozarts große g-Moll-Sinfonie,
Beethovens Eroica.
Die Hintergründe solcher Urteile überlagern und bestätigen einander in fataler
Weise. Weil man die Musik selten spielt bzw. hört, ist der Kommentar stärker als
sonst auf frühere Kommentare angewiesen, sofern es sie gibt; etliche Schumann-
Monographien haben für das Fragment wenig oder keine Worte übrig. So bildet
sich der Leumund, dessentwegen man die Musik selten spielt. Kommt hinzu,
daß wir Jugendwerke vorab als Trittstufen, im Hinblick auf das betrachten, was
noch nicht ist, meist also im Vorhinein zu wissen glauben, was wichtig und was
unwichtig, reif und unreif sei, und daß wir uns von denen einschüchtern lassen,
die genau wissen, wo und warum etwas fadenscheinig ist. Das ist bequem und
verführt zur ungeprüften Weitergabe hergebrachter Verurteilungen, deren Ge-
genstände genauere Kenntnisnahme nicht lohnen. Auch bei Musikgeschichtlern
gibt es Meinungshoheiten über Stammtischen.
»Es gehört zur Eigenart hermeneutischer Reflexion, daß sie des ständigen
Rückhalts an der Praxis hermeneutischer Erfahrung bedarf«, schrieb Hans-Georg
Gadamer 1992 und ließ es sich vom Amtsvorgänger Schleiermacher bestätigen:
»Ich hasse alle Theorie, die nicht aus der Praxis erwächst.« Dem Rechnung zu
tragen fällt bei Musik besonders schwer. Schließlich können wir Mahlers maxi-
malistische Forderung, nur Komponierende sollten dirigieren, nicht als Analogie
für diejenige mißbrauchen, nur wer Musik mache, dürfe über sie reden. Gelesene
Musik ist nicht die Musik, und klingende nur die jeweils klingende.Wenn schon
die von Gadamer nobilitierten Vorurteile – »Voreingenommenheiten unserer
Weltoffenheit, die geradezu Bedingungen dafür sind, daß wir etwas erfahren,
daß uns das, was uns begegnet, etwas sagt« – in Urteile zu überführen schwer ist,
wieviel schwerer und dringlicher erst, wenn die Divergenz der Erfahrungsweisen
beim Musizieren, Hören bzw. Lesen mitreflektiert werden muß!

✵✵✵
290 Momentaufnahmen

Konjunktive. Wäre in London für Händel Platz gewesen, wenn dort ein allseits
verehrter Orpheus britannicus, Henry Purcell, noch gelebt hätte? Wenn Schubert
so lang gelebt hätte wie der acht Wochen nach ihm geborene alte Kaiser Wilhelm,
hätte er Wagner überlebt; wenn Wagner so jung gestorben wäre wie Schubert,
hätten wir ihn als mittelbegabten, großmäuligen Meyerbeerianer in Erinnerung,
welcher gerade eigene Wege zu suchen begann; wenn Mozart so alt geworden
wäre wie Brahms, hätte er Beethovens Rasumowsky-Quartette oder alle Sinfonien
bis zur Achten hören oder Goethe in den böhmischen Bädern begegnen können;
wenn Bruckner so jung gestorben wäre wie Mozart, würden wir den Namen nicht
kennen.Welche Wege hätte die Musikgeschichte genommen, wenn von den fünf
großen um 1810 Geborenen – Mendelssohn, Schumann, Chopin, Liszt,Wagner
– die beiden Neudeutschen die anderen nicht um 30 Jahre überlebt hätten?
Es war nicht so, aber es war möglich. Anstatt die Spekulation von der gesi-
cherten Faktizität aus zu belächeln, ließe sich vielleicht einiges Licht von dem,
was hätte sein können, auf das lenken, was war. Derlei Konjunktive ziehen
unweigerlich andere nach sich: Neben Mozart (hätte er, wie Goethe wünschte,
Faust komponiert?) wäre der junge Beethoven in Wien schwerlich als der »Groß-
mogul« aufgetreten, der er noch nicht war – Haydn war alt und allem Vergleich
entzogen; und mit Mozart hätte es zwischen der Musik des 18. und beginnenden
19. Jahrhunderts noch andere, in den Werken der letzten Jahre sich andeutende
Kontinuitäten gegeben. Schubert, der eben im Begriff war, Beethoven, auch den
letzten, zu beerben, hätte Brahms und Bruckner, die erst 40 Jahren später den
Anschluß riskierten, viel Arbeit abgenommen, Beethoven wäre weniger zum
Übervater wo nicht Trauma, Brahms’ Erste Sinfonie wäre nicht so geworden,
wie wir sie kennen, und dem Tristan-Akkord hätte man nicht soviel – ohnedies
überzogene – Singularität zusprechen können.
Versäumen wir nicht wichtige Einsichten, wenn wir nicht zu ermessen
versuchen, wie sehr und auf welche Weise Purcells, Mozarts, Schuberts Tode
musikgeschichtliche Katastrophen waren? Wie sehr widersprechen einander
der seidene Faden, an dem künstlerische Wirklichkeiten oft hängen, den Draht-
seilen von Folgerichtigkeit, die wir ihnen nachträglich einziehen, weil uns die
Suche nach Sinn in der Geschichte zu beweisen auffordert, daß es so kommen
mußte, wie es gekommen ist! Notwendig und unvermeidlich waren sie alle
nicht – Purcell, Händel, Mozart, Beethoven und wer immer. Zu der mit besten
Gründen unermüdlichen Suche nach Erklärungen sollte immer das Wissen um
ihre Grenzen gehören, um das mit den großen Namen verbundene pure, als
»Zufall« unzulänglich benannte Geschenk.

✵✵✵

Konjunktiv hoch Drei.Als der Alte Fritz noch der Größte war und einer im Lexikon
herausgefunden hatte, was Lichtgeschwindigkeit ist, versuchten wir auszurechnen,
in welcher Entfernung von der Erde, vermutlich in der drittnächsten Galaxie, sich
Momentaufnahmen 291

jetzt, rasend schnell davonfliegend, die Bilder der Schlacht bei Leuthen befinden
müßten – vorausgesetzt, daß sie anno 1757 nicht wegen schlechten Wetters von
Wolken verschluckt worden sind. Wenngleich unendlich verkleinert und uner-
reichbar für einen, der, mit Fernrohr bewaffnet, sie einzuholen versuchte, müßten
sie doch irgendwie, irgendwo noch vorhanden sein.
Und wie steht’s mit Tönen? So hart, wie harte Steine sich anfühlten, wußte
wieder der Lexikonbenutzer, seien sie in Wirklichkeit nicht, bestünden auch
nur aus Atomen, in denen Neutronen um Kerne kreisen und man nicht genau
wisse, ob es sich um Energiequanten oder Masseteilchen handele.Also müsse sich
doch, wenn die Schwingung eines Tons darauf träfe, etwas ändern, wenigstens
ein bewegtes Teilchen abgelenkt sein, müsse Musik sich in Wände und Mauern
eingraben können und dort aufbewahrt sein.
Pennälerspinnerei? Was für eine Vorstellung – daß Perotins Organa in den
Mauern von Notre-Dame zu Paris noch vorhanden seien, Du Fays Messen in
den Steinen, die sich die Bürger von Cambrai aus den Trümmern der geschleiften
Kathedrale für ihre Häuser herausklaubten, Bachs Kantaten in der Thomaskirche,
Wagner im Bayreuther Festspielhaus, Brahms, Bruckner und Mahler im Wiener
Musikverein!
In bezug auf Instrumente erscheint die Vorstellung nicht so verstiegen. Klingt
in einer Stradivari nicht noch mit, was und wie auf ihr gespielt wurde; wieviel
Casals ist in seinem Goffriller aufbewahrt; ist »Patina des Klangs« vielleicht mehr als
eine Frucht unseres Bedürfnisses, etwas hineinzuhören? Geigenbauer sind besorgt,
Instrumente könnten kaputtgespielt werden; und gute, mit ihren Instrumenten
eheähnlich verbundene Musiker wissen, weshalb kostbare Instrumente, in Safes
verbannt, zum Tode verurteilt sind. Von hier ist es nicht weit zur Vermutung,
Konzertsäle klängen mit den Jahren besser, weil in den Wänden immer mehr
Mitschwingen sedimentiert, immer mehr Musik eingegraben sei.

✵✵✵

Cantus non firmus. Die meistzitierte Auskunft des prominentesten Theoretikers in


der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts, des in Neapel tätigen Johannes Tinctoris,
klingt in unseren Ohren arrogant: Erst seit 40 Jahren, schrieb er 1477, gebe es
hörenswerte Musik.
Wie konnte einer, der zu Füßen Guillaume Du Fays, des bedeutendsten Mu-
sikers seiner Zeit, gesessen und selbst vorzüglich komponiert, möglicherweise
den bis dahin ambitioniertesten Zyklus polyphoner Messen angelegt hat, so
abfällig über die Altvorderen reden, obendrein zu Zeiten, da man auch in der
Musik zu dokumentieren begann? Im vorangehenden Jahrhundert hatte das der
Dichtermusiker Guillaume de Machaut für sich selbst besorgt; im Besitz eines
Zeitgenossen von Tinctoris, des Florentiner Organisten Antonio Squarcialupi,
befand sich eine um 1420 als Dokumentation angelegte Sammlung der Musik
des italienischen Trecento; und genau in dem Jahr, da Tinctoris die Musik der
292 Momentaufnahmen

Alten abservierte, brachte die hochfahrende Realitätsblindheit des burgundischen


Herzogs sein Reich zu Fall – vermutlich deshalb ging ein Corpus von sieben
Folianten mit Du Fays kompositorischem Vermächtnis verloren, welches nach
seinem Tod dem Herzog überbracht worden war.
Dennoch hatte Tinctoris für das Lob der heutigen und der jüngsten Musik gute
Gründe – einen allgemeinen im zukunftsoffenen »nisus vorwärts« seiner Zeit, der
die jüngere Vergangenheit schon zwecks eigener Legitimierung schwarz malte;
einen aktuell-musikbezogenen in der Prosperität der Meßkomposition, die er seit
reichlich zwanzig Jahren erlebte und mittrug; und einen speziellen, welcher die
Präzision der Auskunft belegt – die spektakulär öffentliche, mit Du Fays »Nuper
rosarum flores«-Motette verbundene Anerkennung des neuen Komponierens
anläßlich der Einweihung des Florentiner Doms im Frühjahr 1436.
Das ist nicht alles. Die dokumentierenden Aktivitäten erscheinen wie Aus-
nahmen von der Regel eines Begriffs von Musik, der diese vorab als realiter
Klingendes, als dem Hier und Jetzt und den Musizierenden anheimgegeben
versteht, erst in zweiter Linie werkhaft vergegenständlicht und in schriftlicher
Fixierung bewahrbar bzw. bewahrenswert. Kaum je galt sie als singuläres Zeug-
nis einer schöpferischen Individualität, der Komponierende eher als Sachwalter
eines Mediums, welches als hörbarer Vordergrund einer den Kosmos unhörbar
durchtönenden musica mundana theologisch beglaubigt ist, insofern weniger freier
Künstler in unseremVerständnis als die Kollegen der anderen Sparten – er konnte,
durfte, brauchte es nicht zu sein.Weil allemal transzendental verbürgt, kam Mu-
sik eher unfreiwillig zu eigener Individualität und Geschichte. Der Protagonist
der endlich »hörenswerten« Musik wurde von einem Medici »Zierde unseres
Jahrhunderts« genannt, dennoch bald nach seinem Tode nur noch als legendäre
Größe in Traktaten zitiert und selten aufgeführt. Mit Geringschätzung hat das
nichts zu tun, vielmehr damit, daß man nun jüngere Musik hatte und die ältere
als in ihr aufgehoben verstand. Ein Grabmal auch nur halb so groß und prominent
wie das von Raffael ist keinem Musiker gesetzt worden.
Wie immer wir neu fragen müssen, wo und was die Musik, das Werk seien
– irgendwo zwischen festgeschriebenem Text und je einmaligem Erklingen
–, deren Funktionsteilung erscheint zu selbstverständlich, um das Verständnis
andersartiger Verhältnisse nicht zu versperren. Daß Schrift und Klang näher bei-
einander, stärker aufeinander angewiesen waren, weil jene weniger festlegte, dem
Musiker also ein größerer Anteil an der Kom-Position zufiel, ist sehr allgemein
und arg arbeitsteilig formuliert.Von heute aus mag z.B. als Mangel erscheinen,
daß Tonhöhen bei Alterationen oder Tondauern in bestimmten Konstellationen
nicht eindeutig fixiert waren; der Musiker mußte sie aus dem Zusammenhang
erschließen, mußte diesen also mitvollziehen. Daß ihm die heutige Notation
– jüngste Musik abgerechnet – dies erspart, er also richtig spielen kann, ohne
aufs Ganze zu achten, ist nicht nur ein Fortschritt.
Darüberhinaus war die Musik in ihrer Strukturierung in unterschiedlichen
Graden festgelegt und interpretierbar. Die motettische Hierarchie der Stimmen
Momentaufnahmen 293

bestimmte den gemeinhin im Tenor liegenden Cantus firmus als Rückgrat, zu


dem die anderen Stimmen möglichst »perfekte«, gegebenenfalls für sich musizier-
bare Duos bilden sollen. »Cantus firmus« besagt auch, daß die übrigen Stimmen
weniger »firm« sind, hinzugetan, auswechselbar; sie kommentieren musikalisch
und textlich und sind den Ausführenden anheimgegeben, je weiter vom Cantus
entfernt – auch habituell, desto mehr.
Damit sind sie dem Verklingen in besonderer Weise ausgeliefert – der Cantus
am wenigsten, weil er, zumeist Segment einer Melodie aus dem gregorianischen
Repertoire, selten vollständig und meist in gedehnten Notenwerten erscheint,
so daß er als musikalische Gestalt kaum erfaßt werden kann – das »Firmste«
mithin als klingende Musik nicht voll realisiert! Was nicht erklingt, kann auch
nicht verklingen. Indem die Musiker des 14. und 15. Jahrhunderts die Mensuren
der Abschnitte im Verlaufe der Motette zunehmend verkleinerten, dem Cantus
gestufte Beschleunigungen vorschrieben und also den Abstand zwischen dessen
zunächst langsamer Bewegung und der rascheren der anderen Stimmen verringer-
ten, machten sie die Differenz von Hörbarem (=Verklingendem) und kaum oder
nicht Hörbarem (= Bleibendem) zum kompositorischen Gegenstand. Dergestalt
erscheint das Moment der Vergänglichkeit in der motettischen Strukturierung
verankert, »le dur desir de durer« ist ihr fremd; aus Substanzen gefügt, welche
dem erodierenden Zeitfluß in unterschiedlichen Graden widerstehen bzw. er-
liegen, will sie nicht als werkhaftes Ganzes überdauern. So gehört musikalisch
zur Sache, was in bildenden Künsten die Ausnahme ist, etwa, wenn Leonardo
für das Mailänder Abendmahl Farben benutzt, von denen er weiß, daß sie bald
verblassen werden.
Von Vergänglichkeit redend machen wir uns verdächtig, vorschnell in den
heiteren Himmel verallgemeinernder Kategorien heraufzuziehen, was »unten«,
in bezug auf die Momentaneität der im Hier und Jetzt vollzogenen klingenden
Realisierung, größere Probleme macht. Sie liegen nahe bei denen, die das Ver-
ständnis der sokratischen Unterscheidung von Mündlichkeit und Schriftlichkeit
bereitet, solange wir beide als unterschiedliche Verpackungen ein und desselben
Inhalts verstehen, das Gesprochene bzw. Musizierte als Reproduktion eines zuvor
Produzierten und nicht als tätigeVermittlung, deren Konstellation auf den »Inhalt«
zurückwirkt und ihn im Sinne einer Bewährungsprobe zu ihrem Bestandteil, das
als Begriff Fixierte zum Agens macht.
Niederschrift, hierin ungefährlich, trennt das Gemeinte bzw. seine Form
weitgehend von möglichen Handlungskonsequenzen, die direkte – gesprochene
oder musizierte – Mitteilung bringt sie zusammen. Ein als gesprochenes Wort
tätiger Begriff indessen ist nicht nur qualitativ ein anderer als der abstrakte, eine
gesungene Melodie qualitativ eine andere als die niedergeschriebene, sie werden
durch den Sprechenden bzw. Musizierenden und die Konstellation der Mitteilung
»existentiell« beglaubigt. Tun ist riskanter als Denken, wir können gar nicht ein
und dasselbe schreiben und sprechen bzw. musizieren. Deshalb, so Platon im Phai-
dros, hindere schriftliche Fixierung die Menschen am eigenen Nachdenken, »weil
294 Momentaufnahmen

sie im Vertrauen auf die Schrift sich nur von außen vermittels fremder Zeichen,
nicht aber innerlich sich selbst und unmittelbar erinnern werden«.
Auch dies ist, weitab von späteren Vorstellungen des vollendeten Werkes als
eines Integrals, bei dem kein Detail ohne Schaden fürs Ganze verändert werden
kann, in der motettischen Stufung des mehr oder weniger Wichtigen, mehr
oder weniger Beweglichen aufgehoben, der Musizierende von vornherein stär-
ker einbezogen. Daß Tinctoris die weit zurückliegende Musik sich als hier und
heute gespielt hätte vorstellen müssen und das nicht konnte, entschuldigt seine
Arroganz.

✵✵✵

Coda in Dur. Das bunteste Orchester, das ich je hatte: SANYO – South African
Youth Orchestra. Eine wuselig-fröhliche Enzyklopädie aller Menschenarten,
die der Globus trägt, schauen sie andächtig nach vorn, akzeptieren gläubig, was
man sagt, und spielen zunächst, viele zum ersten Mal in einem Orchester, mit
chaotischem Furor. Etliche kommen aus Familien und Umständen, in denen
man vor 20 Jahren kaum wußte, was eine Violine ist und wer Beethoven war
– am ehesten Markenzeichen der versperrten, wo nicht verhaßten Kultur der
Privilegierten. Gäbe es nicht furchtbare Geschichten in den Familien, brauchten
sie jetzt kaum noch zu wissen, wie sehr sie Kinder, Erben, Schuldner einer, wie
immer noch nicht zu Ende gebrachten,Versöhnung sind, des hellsten Lichts der
letzten Jahrzehnte, dessen humanitäre Dimension den Umbruch von 1989 weit
überstrahlt.
Ganz und gar beim Musizieren dürfen sie es vergessen: Nicht anders, als die
Gruppenpsychologie das Idealobjekt Orchester lange versäumt hat, versäumten
Sozial- und Politikwissenschaften es als Experimentalstudio, als vorwegnehmende
Enklave der Integration. Seit Jahrzehnten sind in Orchestern proportional mehr
Menschen unterschiedlicher Herkunft beisammen als anderswo, und unver-
meidliche Gruppenkonflikte haben mit jenen Unterschieden selten zu tun.
Stellt ihnen – so die Quintessenz, die nur Verzagte wirklichkeitsfremd finden
– gemeinsame Aufgaben, an deren Bewältigung sie gleichberechtigt bzw. je auf
ihre Weise beteiligt sind, und ihr werdet sehen!
Von Freude an der Musik, vom Glück der Gemeinsamkeit beflügelt und
durch den sensationellen Anstieg der Spielqualität bestätigt, war SANYO ein
aus den Himmeln des schrankenlos Wünschbaren auf die Erde heruntergeholtes
Utopicum.

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