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Medizin

Médecine
Medicina Fortbildung

Im Laufe der siebziger Jahre stieg die Zahl der ju-


«Jugoslawen» goslawischen Bevölkerung in der Schweiz auf 61000,
was aber immer noch wenig ins Gewicht fiel. Die An-

in der Schweiz gaben der Volkszählung von 1980 lassen aber bereits
eine allmähliche Veränderung der Zusammensetzung
erkennen. Die Katholiken bildeten mit 20719 Perso-
Soziale, kulturelle und ethnische Herkunft, Integrationsprobleme nen zwar immer noch die grösste Gruppe, aber nur
noch knapp. Die Orthodoxen waren nun fast gleich-
N. Bos̆kovska auf (18 707). Die Zahl der Muslime hatte sich beinahe
verzehnfacht auf 10 623 Personen, von denen knapp
4000 vermutlich Albaner waren. Der Anteil der Kin-
der war auf 15,6 % gestiegen.3
Die ersten jugoslawischen Fremdarbeiter kamen in Die Integration dieser ersten Fremdarbeitergene-
den sechziger Jahren in die Schweiz. Ihre Zahl blieb ration verlief insgesamt reibungslos. Der wachsende
aber zunächst gering. 1970 waren 54 % aller Auslän- Schweizer Arbeitsmarkt absorbierte die häufig gut
der Italiener, 11,2 % Spanier, 11% Deutsche, 5,2 % qualifizierten und motivierten Kräfte problemlos. Sie
Franzosen, 4,1% Österreicher und nur 2,3 % Jugosla- selbst wollten in erster Linie arbeiten, Geld verdienen
wen (knapp 25 000 Personen). Diese gehörten vor- und sparen und irgendwann zurückkehren. Die kleine
wiegend «höheren Berufskategorien» an. Rund die Zahl erlaubte es ihnen nicht, Ghettos zu bilden und
Hälfte waren Akademiker oder andere Angehörige in- sich als Gruppe abzukapseln. So lernten die meisten,
tellektueller Berufe. In den Spitälern arbeiteten neben anders als die Italiener, schnell Schweizerdeutsch. Für
Ärzten zahlreiche Krankenschwestern, Pflegerinnen die Kinder wünschten sie sich eine möglichst hoch-
und Pfleger. Ungelernte Arbeitskräfte aus Jugosla- stehende Ausbildung. Bildungsbewusstsein war ein
wien fanden damals in der Schweiz kaum Beschäfti- herausragender Zug dieser Emigrantengeneration.
gung, da diese Posten bereits durch Italiener besetzt Jugoslawische Eltern waren unglücklich, wenn ihr
waren. Die Arbeitgeber, so konnte man in der Zeitung Kind sich mit einer Lehre begnügen musste.
lesen, waren zufrieden mit den Leistungen und dem Noch Mitte der achtziger Jahre galten etwa für die
Verhalten der Jugoslawen.1 deutschen Behörden die Jugoslawen als vollintegrier-
Diese ersten Fremdarbeiter aus Jugoslawien bare und problemlose «Traumausländer». Sie ver-
stammten vor allem aus den nördlichen, stärker ent- suchten nicht aufzufallen und grenzten sich etwa von
wickelten Landesteilen, insbesondere aus Kroatien. den Türken ab, die – so eine junge Jugoslawin – «mit
Die Schweizer Volkszählungen unterschieden die Ju- ihrem grossen schwarzen Schnauzbart herumlaufen
goslawen zwar nicht nach nationaler Herkunft. Aus und mit Frau und einer Horde Kinder im Schlepptau
den Angaben über Religionszugehörigkeit und Mut- provozierend auf der Strasse gehen. Man darf nie ver-
tersprache kann man dennoch bis zu einem gewissen gessen, dass man hier Ausländer ist, und muss sich
Grad Rückschlüsse auf die Nationalität ziehen. möglichst ruhig verhalten.»
1970 waren von den 24 971 Personen mit jugo- Diese Einstellung, dass man sich als Ausländer so
slawischer Staatsbürgerschaft 14143 römisch-katho- gut wie möglich anzupassen habe und nicht negativ
lisch (56 %), also mit grösster Wahrscheinlichkeit auffallen sollte, ist für kleine Gemeinschaften be-
Kroaten und Slowenen. Sie kamen aus einer Gegend, zeichnend. Je grösser und vor allem auch besser orga-
deren Kultur mitteleuropäisch geprägt ist. nisiert eine Gruppe ist, um so selbstbewusster tritt sie
6897 Personen waren orthodoxe Christen, also auf und fordert ihrerseits Anerkennung und Tolerie-
Serben, Makedonier, Montenegriner und damit Men- rung ihrer Eigenheiten.
schen, deren Heimat jahrhundertelang unter osmani- Die achtziger Jahre brachten den quantitativen
scher Herrschaft gestanden hatte. 1094 Personen und qualitativen Sprung bei der jugoslawischen Po-
waren Muslime, die meisten wohl Slawen, das sieht pulation in der Schweiz. Die Volkszählung von 1990
man an der Kategorie «Hauptsprache». Nur 10,7 % zeigt das deutlich. Zum einen ist die Zahl der Jugo-
waren Kinder unter 15 Jahren.2 slawen auf 172 777 gestiegen und hat sich somit in-
nerhalb von zehn Jahren fast verdreifacht. Auch die
1 TA, 19. 7.1969. Zusammensetzung ist eine gänzlich andere gewor-
2 Quelle: Bundesamt für Statistik. den: Das Verhältnis zwischen Männern und Frauen
3 Quelle: Bundesamt für Statistik. ist nun sehr einseitig geworden: Auf eine Frau kom-
men 1,54 Männer, 1970 waren es noch 1,16 gewesen.
Die Katholiken, also jene Gruppe, welche der
schweizerischen Kultur und Lebensweise am näch-
sten steht, ist anteilmässig von einem Drittel 1980 auf
weniger als einen Viertel geschrumpft (40 000 Perso-
Korrespondenz: nen, 22,7 % gegenüber 34 % 1980). Die orthodoxen
Dr. phil. Nada Bos̆kovska Christen sind nun in grösserer Zahl da (46 511 = 27 %).
Höfliweg 7 Mit 55 453 oder 32 % bilden neu die Muslime deut-
CH-8055 Zürich lich die stärkste Gruppe. Zehn Jahre zuvor, 1980,
E-mail: bonada@hist.unizh.ch hatte ihr Anteil noch 17,4 % betragen. Jene, die unter

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die Sprachgruppe «übrige» fallen und in erster Linie wischen Volkszählung 1991 nur 9,3 % der ganzen Be-
als albanischsprachig identifiziert werden können, völkerung ausmachten. Auch in bezug auf die Repu-
machen neu 21% aus gegenüber 6 % im Jahr 1980. blik Makedonien ist das Verhältnis hier auf den Kopf
1970 hatten sie noch gar keine statistische Relevanz. gestellt: Während die Albaner in Makedonien einen
Gleichzeitig bilden sie den grossen Teil der muslimi- Viertel der Bevölkerung bilden, leben in der Schweiz
schen Gruppe. über 40 000 in der Regel muslimische makedonische
Aus sozialer Sicht ist von Bedeutung, dass 54 % Albaner gegenüber vielleicht 8000 slawischen,
der Personen, die 1990 einer bezahlten Arbeit nach- christlichen Makedoniern. Der Makedonier in der
gingen, ungelernte Arbeiter und Angestellte waren, Schweiz ist damit in der Regel ein Albaner.
während, wie wir gesehen haben, in den sechziger Die Zahl von 200 000 Albanern aus Kosovo und
und siebziger Jahren vor allem qualifizierte Arbeits- Makedonien (davon ca. 50 000 Asylbewerber) heisst,
kräfte einwanderten. Und der Anteil der Kinder be- dass fast 10 % der Bevölkerung dieser beiden Gebiete
trug mittlerweile 22,7 %.4 hierher gekommen sind. Man findet dort kaum eine
Die Statistik widerspiegelt sehr klar die Charakte- Familie ohne Verbindung zur Schweiz.6 Charakteri-
ristika der Einwanderungsgeneration der achtziger stisch ist weiter, dass sich die Albaner hier gemäss
Jahre. Die sich nach Titos Tod (1980) stetig ver- ihren Herkunftsorten gruppieren.7 Dies alles bedeu-
schlechternde wirtschaftliche Lage in Jugoslawien tet, dass wir in der Schweiz gewissermassen eine
und die 1981 einsetzenden Spannungen im Kosovo Abbildung der albanischen Gesellschaft haben. Das
bewogen immer mehr Menschen, v.a. aus den ärm- hat einerseits zur Folge, dass die Beziehungen zur
sten Landesteilen, im Ausland Arbeit zu suchen. In Schweiz intensiv sind. Andererseits bringen aber die
die Schweiz kamen nun in erster Linie ungelernte albanischen Immigranten ihre eigene Gesellschafts-
Arbeitskräfte aus ländlichen Gebieten und somit form und ihre menschliche Umgebung mit, wenn
Menschen, die bei der Integration in eine urbane, auch, was nicht unwesentlich ist, in reduzierter Form.
postmoderne Lebenswelt grössere Hürden überwin- Aber dennoch sind sie weitgehend nicht darauf
den müssen. angewiesen, sich mit ihrer Schweizer Umwelt zu be-
In den achtziger Jahren setzte somit eine Um- fassen. Sie bleiben eine sehr auf sich selbst bezogene
strukturierung der jugoslawischen Bevölkerungs- Bevölkerungsgruppe, die sich für die Schweiz nicht
gruppe in der Schweiz ein – eine Entwicklung, deren interessiert.8
Tempo sich dann seit dem Ende der achtziger Jahre
rasant beschleunigt hat. Und das aus folgenden Grün- In bezug auf Lebensweise und Wertvorstellungen un-
den: terscheiden sich die fast durchwegs muslimischen
Zwischen 1988 und 1990 wurde im Kosovo die und streng patriarchalischen Albaner weit stärker von
vorher stark ausgebaute Autonomie aufgehoben und der Schweizer Bevölkerung als die übrigen «Ex-Ju-
ein repressives Regime eingeführt. Zahllose Albane- goslawen», die in der Regel slawisch und christlich
rinnen und Albaner wurden zudem aus dem Staats- sind. Dabei ist die Religion aber eher von sekundärer
dienst entlassen. Dies hatte zur Folge, dass viele Bedeutung. Wichtiger ist, dass sich in den albanisch
Albaner aus politischen oder ökonomischen Gründen besiedelten, vorwiegend ruralen Gebieten eine Le-
in die Schweiz kamen und hier entweder legal oder bensform erhalten hat, in welcher die Grossfamilie
illegal arbeiteten oder ein Asylgesuch einreichten. und übergreifende Familienverbände, Clans, das
Von 1989 bis 1991 gingen 22115 Asylgesuche von massgebliche Bezugssystem sind. Die albanische Be-
Personen aus Jugoslawien ein. Die allermeisten Be- völkerung war daher in osmanischer Zeit genauso
werber stammten aus dem Kosovo. Und mehr als die wie in jugoslawischer antistaatlich eingestellt. Ihr so-
Hälfte der 40 000 aus Jugoslawien stammenden Sai- zialer Rahmen war und ist die Familie, das Dorf, der
sonniers waren 1991 Kosovo-Albaner.5 Clan. Dort spielt sich das Leben nach gewohnheits-
Mit dem Beginn des Krieges in Jugoslawien im rechtlichen Gesetzen ab. Es gibt klare Regeln dafür,
Jahre 1991 hat sich der Zustrom von – auch in der was in bestimmten Situationen zu tun ist. Der gröss-
Statistik so genannten – Ex-Jugoslawen noch weiter te Greuel war und ist den Albanern die Einmischung
verstärkt, insbesondere auch durch den Familien- von aussen.9 Chancen, welche der Staat bot, wurden
nachzug, so dass inzwischen diese Bevölkerungs- aber durchaus genutzt. So waren die Albaner im
gruppe an Zahlenstärke beinahe mit den Italienern Osmanischen Reich in Militär und Verwaltung über-
gleichgezogen hat. 1997 lebten 316 607 «Ex-Jugosla- proportional vertreten.
wen» gegenüber 344 591 Italienern in der Schweiz. Alle die genannten Eigenschaften, v. a. die Fami-
lien- und Clanstrukturen, in denen das Gesetz des
Im weiteren soll hier insbesondere von der grössten
Gruppe aus dem ehemaligen Jugoslawien die Rede
sein, von den Albanern. Mit einer Zahlenstärke von 4 Quelle: Bundesamt für Statistik.
mittlerweile gut 200 000 Personen, zu denen noch ei- 5 Weltwoche, 21. 3.1991.
nige Tausend Albaner aus Albanien hinzukommen, 6 Leuenberger U, Maillard A. Les damnés du troisième cercle.
Les Kosovars en Suisse 1965–1999. Genève 1999, S. 21.
machen sie zwei Drittel der «ex-jugoslawischen» Be- 7 Leuenberger / Maillard, Les damnés, S. 22–23.
völkerung in der Schweiz aus und prägen das Bild 8 Leuenberger / Maillard, Les damnés, S. 28.
von den Jugoslawen stark. Dies ist insofern verzer- 9 Roux M. Les Albanais en Yougoslavie. Minorité nationale,
rend, als die Albaner bei der letzten gesamtjugosla- territoire et développement. Paris 1992, S. 245.

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Schweigens gegen aussen ohnehin gilt, sind eine gute Bezogen auf die Gesundheit bedeutet das, dass dem
Grundlage für die Entwicklung mafiöser Strukturen. Gesundheitssystem ebenfalls eine Erwartungshaltung
Deshalb verwundert es nicht, dass die Albaner die Ta- entgegengebracht wird: Die Ärzte sollen mich mit
milen und Türken aus dem Heroingeschäft gedrängt 10 ihrem Instrumentarium gesund machen, ein eigener
und damit aber auch deren schlechten Ruf übernom- Beitrag ist nicht vorgesehen. Die Patienten sind es
men haben. vom Gesundheitswesen in der Heimat gewohnt, dass
möglichst rasch mit möglichst starken Mitteln einge-
Die traditionelle Lebensweise und die überragende griffen wird.
Bedeutung der Familie kommen u. a. im grossen Kin- Was viele Menschen in Jugoslawien und im übri-
derreichtum zum Ausdruck. Nirgends in Europa ist gen Osteuropa ausser Eigenverantwortung ebenfalls
die Geburtenrate auch nur annähernd so hoch wie im wenig entwickelt haben, ist eine staatsbürgerliche
Kosovo: Im Durchschnitt bringt dort jede Frau zwi- Einstellung. Es galt vielmehr, dem Staat möglichst
schen 15 und 49 Jahren 6,6 Kinder zur Welt. Die Ge- wenig zu geben und möglichst viel von ihm zu neh-
burtenrate war in den sechziger Jahren sogar höher men. Es wird wohl eine Weile dauern, bis sich in den
als Ende der dreissiger Jahre. Diese enorme Natalität Nachfolgestaaten diese Mentalität ändert.
hat im Kosovo zu einer Bevölkerungsexplosion ge-
führt: Bei der Gründung des Staates Jugoslawien im Der Krieg in Jugoslawien hat das schlechte Bild der
Jahr 1918 war die Provinz etwas weniger dicht be- Jugoslawen nicht etwa produziert, sondern nur be-
siedelt als der jugoslawische Durchschnitt. In den stätigt und verschärft. Bereits zu Beginn der neunzi-
neunziger Jahren lebten dort 180 Einwohner/km2 ge- ger Jahre war der Ruf der Jugoslawen gründlich rui-
genüber 92 im gesamten Jugoslawien.11 Da die wirt- niert, das Schimpfwort «Jugo» etabliert. 1992 war die
schaftliche Entwicklung in keiner Weise mit diesem Abneigung gegen die Jugoslawen so gross, dass die
Wachstum Schritt hielt, war die Emigration die logi- sonst grosszügigen Schweizerinnen und Schweizer
sche Folge. kaum bereit waren, für die Kriegsopfer zu spenden.
Die Glückskette verzichtete deshalb darauf, einen ei-
Von überragender Bedeutung in der albanischen Ge- gentlichen Sammeltag durchzuführen.
sellschaft ist das Konzept der Ehre eines Mannes, die Zunächst war es die Entwicklung der Kriminalität,
– wie in extrem patriarchalischen Kulturen üblich – die am meisten zum Hass gegen die Jugoslawen
zu einem guten Teil davon abhängt, ob er die Sexua- beitrug. Die ersten Fremdarbeiter, gleich welcher Her-
lität der Frauen seiner Familie unter Kontrolle halten kunft, begingen weniger Straftaten als die einheimi-
kann und bei Verfehlungen gemäss Tradition und Er- sche Bevölkerung. Sie waren gekommen, um zu ar-
wartung eingreift. Das kann so weit gehen, dass er beiten und zu verdienen und hatten kein Interesse
die eigene Schwester oder Tochter töten muss. Die Be- daran, ihre Aufenthaltsbewilligung aufs Spiel zu set-
reitschaft, die eigene Ehre – in welcher Situation auch zen. Zudem war der Staat damals weit weniger zim-
immer – selbst mit Waffengewalt zu verteidigen, führt perlich und griff bei abweichendem Verhalten hart
in einer nichtalbanischen Umwelt unweigerlich zu durch, nicht nur gegen Erwachsene, sondern selbst
Spannungen, Konflikten mit dem Gesetz und gegen- gegen Kinder. Auch die albanischen Fremdarbeiter
seitiger Verachtung. Die Albaner sind in den Augen der siebziger Jahre fielen nicht weiter auf. Sie waren
der anderen gewalttätig und unzivilisiert; den Alba- fleissig und diskret und duldeten Normabweichungen
nern erscheinen die einheimischen Männer als Feig- ihrer Landsleute nicht. Wer sich nicht konform ver-
linge. hielt, wurde aus der Gemeinschaft ausgeschlossen.
Für Mediziner ist die Tatsache von Interesse, dass Allerdings integrierten sich die Albaner auch nicht,
traditionell lebende und das Kollektive betonende sondern praktizierten eine gewollte Isolation ge-
Gesellschaften in der Regel keine Formen der Aus- genüber der schweizerischen Bevölkerung.12 Und sehr
einandersetzung und Beschäftigung mit sich selbst selten liessen sie ihre Familie nachkommen.
kennen, wie sie sich im Westen entwickelt haben. Die Seit Mitte der achtziger Jahre nahmen in der
Menschen orientieren sich vielmehr an tradierten Schweiz die schweren Formen der Kriminalität – Ein-
Werten und vorgegebenen Verhaltensweisen. Wenn brüche und physische Gewalt – stark zu. Gleichzeitig
sie dann in eine Umgebung kommen, die diese Werte wurde der Prozentsatz der ausländischen Straftäter
mit ihnen nicht teilt und die Einhaltung ihrer Ver- immer grösser. Einer der Gründe: Der Anteil der
haltensnormen nicht kontrolliert, geraten sie in Orien- Schweizer an der besonders involvierten Gruppe der
tierungsschwierigkeiten. Sie sind dann auf sich ge- 18- bis 40jährigen Männer ist rückläufig, während er
stellt, sollten für ihre Probleme individuelle Lösun- bei den Ausländern stetig steigt. Zudem waren die
gen finden. Sie haben jedoch nicht gelernt, sich mit Immigranten von den Krisenerscheinungen wie Ar-
sich selbst als Person zu befassen, vielmehr sind sie beitslosigkeit und Lehrstellenmangel besonders be-
in eine Rolle hineingewachsen – in die Rolle der Ehe- troffen. Und hier sind an erster Stelle die schlecht aus-
frau, Mutter, des Ehemannes, ältesten Bruders, des gebildeten und wenig integrationswilligen und -fähi-
Familienoberhauptes usw. gen Jugoslawen der neuen Fremdarbeitergeneration,
Aber auch die Menschen aus den eher urbanen
Gebieten des ehemaligen Jugoslawien waren in so- 10 Leuenberger / Maillard, Les damnés, S. 69.
zialistischer Zeit gewohnt, für viele Probleme eine Lö- 11 Roux, Les Albanais, S. 144–146, 149.
sung von oben zu erwarten, von der Partei, vom Staat. 12 Leuenberger / Maillard, Les damnés, S. 59 – 60.

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in erster Linie ethnische Albaner, zu nennen, die auch – Frau und Kinder, die zu Hause traditionell lebten
ein anderes Verhältnis zur Gewaltanwendung an den und der Autorität des Grossvaters unterworfen
Tag legten. Sie hätten «zugegebenermassen die grös- waren, sind nun in einer völlig anderen, aus der
sere Gewaltbereitschaft als jede Ausländergruppe Sicht der Albaner verderblichen Umgebung. Kon-
zuvor», meint ein Berner Ethnologieprofessor.13 flikte sind deshalb unvermeidlich, v. a. mit den
Ein weiterer Grund, warum gerade so viele junge Kindern. Insbesondere die Vater-Tochter-Bezie-
Albaner in vielerlei Hinsicht auffällig und über- hung ist grössten Spannungen ausgesetzt. Wäh-
durchschnittlich straffällig werden und wurden, ist in rend das Mädchen sich integrieren und zaghaft
ihrer Trennung von der Grossfamilie zu suchen. Zu emanzipieren will, versucht der Vater verzweifelt
Hause unterstehen die jungen Leute der strengen und nicht selten mit Gewalt, ein Regime aufrecht-
Kontrolle durch männliche Autoritäten. Wenn sie in zuerhalten, wie es in der Heimat üblich ist. Er ist
die Schweiz kommen, fallen sie einerseits aus den dabei auf sich allein gestellt, ihm fehlt die Gross-
Kontrollinstanzen heraus, andererseits müssen sie familie, die ihn in seinem Tun unterstützen würde.
nun selbst Entscheidungen treffen, für die zu Hause Und eventuell auch die Erfahrung, denn zu Hause
andere zuständig waren und auf die sie somit nicht stand er selbst unter der Autorität seines Vaters.
vorbereitet sind. Zudem unterscheidet sich seine jetzige Lage der-
Der Krieg liess den Zustrom von Asylbewerbern, massen von der Situation in der Heimat, dass für
die ebenfalls meistens aus dem Kosovo stammen, an- viele Situationen keine Verhaltensmuster vorhan-
schwellen. Somit wuchs auch das Potential an der den sind. Tag für Tag muss der Patriarch Ent-
strafrechtlich überall besonders auffälligen Gruppe scheidungen treffen, für die er nicht vorbereitet
der jungen Männer, die sich in diesem Fall ausserdem ist, die uns als nichtig erscheinen können, von
in einer schwierigen Lebenssituation befinden. Ver- denen aber seine Ehre abhängt. Private Einladun-
schärfend kommt noch hinzu, dass sich die Asyl- gen und Ausgang kann er verbieten, doch die
bewerber erklärtermassen nicht integrieren sollen, Schule bringt ihn in die Zwickmühle. Die Tochter
damit die Rückkehrbereitschaft erhalten bleibt.14 sollte schwimmen, an einem OL oder einem Klas-
senlager teilnehmen. Und was tut man gegen
Der Krieg in Jugoslawien veränderte die Zusammen- einen Lehrer, der die Tochter gegen den Vater
setzung der albanischen Bevölkerung in der Schweiz unterstützt?
nicht nur durch den Zufluss junger Männer. Viele – Während es früher möglich war, ein weitgehend
klassische Fremdarbeiter liessen nun ihre kinderrei- isoliertes und selbstgenügsames Leben zu führen,
chen Familien nachkommen, so dass sich die ausge- von niemand so richtig bemerkt, steigt durch das
sprochene Männergesellschaft wandelte. Ungünsti- Familienleben die Kontaktfläche mit der umge-
gerweise fiel dieser grosse zahlenmässige Zuwachs benden Schweizer Gesellschaft enorm. Man muss
mit der wirtschaftlichen Krise und Arbeitslosigkeit in sich nun mit der Schule auseinandersetzen, al-
der Schweiz zusammen. lenfalls mit anderen Eltern, mit Hauswarten und
Für die Schweiz hatte und hat das zur Folge, dass Nachbarn, die sich am Treiben der Kinder stören.
Zehntausende von Kindern aus einer sehr fremdarti- – Da fällt es zunächst einmal anscheinend leichter,
gen Kultur in den Schulen absorbiert werden müssen, die Ehefrau unter Kontrolle zu halten, indem sie
wobei von den Eltern keine Unterstützung erwartet zu Hause bleiben muss. Doch auf die Dauer kann
werden kann. das nicht gut gehen. In den ländlichen, traditio-
Für die Männer, die z.T. schon seit längerer Zeit nell lebenden Gegenden, woher die meisten Al-
alleine hier leben und arbeiten, bedeutet der Fami- baner kommen, wird kein Familienleben nach
liennachzug zum einen eine Erleichterung und einen schweizerischer Art geführt, in welchem die Frau
emotionalen Gewinn. Sie wissen ihre Familie nun in v. a. für das Wohl ihrer Kernfamilie sorgt. Dort
Sicherheit und haben ihre Frau und die Kinder um leben vielmehr in der Grossfamilie drei Gesell-
sich. Zum andern hat der Familiennachzug für sie schaftsschichten nebeneinander, nämlich Män-
aber auch extrem erhöhten Stress zur Folge, und dies ner, Frauen und Kinder. Diese drei Gruppen gehen
aus verschiedenen Gründen: je getrennte Wege, wobei sich die grösseren Kin-
– Mit demselben tiefen Lohn oder schlimmstenfalls der um die kleineren kümmern. Nur zu bestimm-
mit dem Arbeitslosengeld oder der Sozialhilfe ten Tageszeiten vermischen sich die drei Grup-
muss nun eine vielköpfige Familie in der teuren pen.16 Die Albanerin in der Fremde ist somit aus
Schweiz unterhalten werden. Der an sich mögli- ihrer Frauengemeinschaft herausgerissen und
che Familiennachzug wurde aus diesen finanziel- muss einen neuen Lebensmittelpunkt finden.
len Überlegungen früher gar nicht in Anspruch
genommen. Zuwendungen an den Rest der Gross- Mit einem Wort: Alle Familienmitglieder sind ge-
familie in der Heimat werden zudem weiterhin zwungen, sich an eine neue Lebenssituation anzu-
erwartet. Der Druck des Clans ist diesbezüglich passen und sich somit zu ändern. Gleichzeitig wird
gross. Als bester Sohn gilt jener, der am meisten
Geld schickt.15 Diesen Anforderungen nur unge- 13 Der Bund, 16.1.1999.
nügend nachkommen zu können, beeinträchtigt 14 Der Bund, 16.1.1999.
das Selbstwertgefühl der Männer und ihr Anse- 15 Leuenberger / Maillard, Les damnés, S. 58.
hen bei den anderen. 16 Leuenberger / Maillard, Les damnés, S. 30.

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das aber von vielen nicht gewünscht, die das vielfach ziell und interessant war, aber nicht zum bösen kom-
virtuelle Ziel haben, in die Heimat zurückzukehren. munistischen Osten gehörte und als Ferienland be-
Denn mehr noch als andere Emigranten sind die Al- liebt war. Heute ist einerseits die Heimat erledigt, an-
baner mit Kopf und Herz in der Heimat. Sie lebten dererseits das Bild der «Jugos» in der Schweiz auf
hier zwanzig und mehr Jahre wie im Wartesaal. Wenn einem absoluten Tiefpunkt. Dies alles wirkt sich auf
jedoch die Familie da ist, ist das nicht mehr möglich, das Selbstwertgefühl und somit auch auf die Gesund-
eine Auseinandersetzung mit der Umgebung wird heit der Menschen negativ aus.
unumgänglich. Dass die aus einfachen Verhältnissen
stammenden, wenig gebildeten und das isolierte Es kann nicht verwundern, dass diese Immigranten,
Kleinfamilienleben ungewohnten Menschen, ob die in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen
Männer, Frauen oder Kinder, diese mannigfaltigen Integrationsprobleme haben, im Gesundheitssystem
Probleme häufig nicht meistern, kann nicht weiter ebenfalls auffallen. Denn, wie die amerikanische
verwundern. Anthropologin Nancy Scheper-Hughes 17 sagt:
Der Krieg hat die ohnehin beträchtlichen Pro- «Krankheit ist kein isoliertes Ereignis, und auch
bleme der albanischen wie auch der anderen jugo- nicht ein unglückliches Scharmützel mit der
slawischen Migranten in grossem Ausmass verschärft. Natur. Sie ist eine Form der Kommunikation – die
Auch jene Menschen, die schon lange in der Schweiz Sprache der Organe –, durch welche sich Natur,
leben, haben das Geschehen in der Heimat als trau- Gesellschaft und Kultur gleichzeitig äussern. Der
matisierend erlebt, sei es, dass Angehörige oder sie individuelle Körper muss sowohl als das unmit-
selbst bei einer Heimreise in Mitleidenschaft gezogen telbarste Terrain betrachtet werden, wo soziale
wurden, sei es, dass ihr Haus zerstört wurde, für das Wahrheiten und soziale Widersprüche ausgetra-
sie hier gearbeitet hatten, oder weil sie den Zerfall gen werden, als auch als der Ort von persönlichem
ihrer Heimat beklagen. und sozialem Widerstand, Kampf und Kreativität.»
Der Imageverlust, der schon vorher eingetreten
war, beschleunigte sich durch den Krieg noch mehr. 17 Scheper-Hughes N. The Mindful Body. Prolegomena to
Früher waren die Menschen aus Jugoslawien stolz auf Future Work in Medical Anthropology. Med Anthropol Q
ihre schöne und vielfältige Heimat, die politisch spe- 1987;1:6-41, hier S. 31.

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