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„Diese verdammten Tage im Dezember“, fluchte ich leise und stieß mich mit beiden Füßen vom
Boden ab, sodass der Schaukelstuhl auf der Veranda heftig schwankte. Ich blinzelte in die
Nachmittagssonne und hasste mich dafür, dass ich überhaupt an ihn dachte. Nicht zum ersten
Mal durchfuhr mich zunächst Scham, dann Mutlosigkeit und schließlich unendliche Wut. Heute
vor vier Jahren. Der zweitschlimmste Tag meines Lebens. Der schlimmste würde übermorgen
seinen Lauf nehmen. Übermorgen vor vier Jahren. In achtundvierzig Stunden würde ich mir den
Hass zurückwünschen, den ich gerade empfand. Denn dann war nur noch Platz für Trauer und
Verzweiflung. „Wenn es doch schon Januar wäre“, fügte ich laut genug hinzu, dass John, unser
Postbote aufsah und mich angrinste, als er eine Handvoll Briefe in meine Mailbox schob.
„Wem sagst du das, Lyn.“ Er sprang aus dem Postauto, zwei Kartons vor sich her
balancierend. „Nicht nur die ganze Weihnachtspost seit Wochen, nein, nun auch das noch.“ Er
hievte die Pakete auf die Veranda nebenan und drückte auf den Klingelknopf. Doch das übliche
Ding-Dong blieb heute aus.
„Die Klingel ist kaputt“, beeilte ich mich zu sagen, bevor John Fragen stellen konnte.
Tatsache war, dass ich sie abgestellt hatte, damit meine Nachbarin ungestört schlafen konnte.
„Pat ist …“ Ich hielt inne. Nein, unser Briefträger musste nicht wissen, dass meine
neunundachtzigjährige Freundin mit Husten und Fieber im Bett lag. „Pat ist nicht da. Ich nehme
solange ihre Post entgegen.“ Mit einem leisen Seufzer quälte ich mich aus dem Schaukelstuhl,
griff in die Jeanshosentasche und zog demonstrativ einen silbernen Schlüssel hervor. Dass ich
Pats Hausschlüssel ohnehin jederzeit bei mir trug, musste er ja nicht wissen.
Mit dem Handrücken wischte ich mir den Schweiß von der Stirn. „Puh ist das warm. Und das
fünf Tage vor Weihnachten.“
„Brooklyn. Du wohnst in Pine Mountain, siebzig Meilen südlich von Atlanta. In Georgia.
Schon vergessen?“ John lachte und lief zu seinem Postauto zurück. „Jedes Jahr dasselbe …
Irgendwann im Dezember kommt garantiert für kurze Zeit der Sommer zurück. So wie heute.“
Er pustete sich demonstrativ eine graue Strähne aus der Stirn.
John war eine der vielen guten Seelen Pine Mountains. Drahtig, athletisch, braun gebrannt …
und knapp siebzig. Er hatte das Pensionsalter längst überschritten und doch war er noch lange
nicht bereit, seinen heißgeliebten Job an den Nagel zu hängen. Ich war sicher, John kannte jeden
Menschen meines Heimatörtchens persönlich. Der tägliche Plausch mit seinen Kunden, wie er
uns nannte, gehörte genauso zu seinem Tagesablauf, wie die zuverlässige Postverteilung. Und
genau deshalb behielt ich die dumme Erkältung meiner Nachbarin auch für mich. Denn wusste
John erst mal Bescheid, würde binnen kürzester Zeit halb Pine Mountain hier vor der Tür stehen.
Und Doc Johnson hatte heute Morgen nach seinem Hausbesuch zunächst ihr und dann mir
eingeschärft, dass sie viel Ruhe brauchte, um sich schnell zu erholen. Zwar war der Grippetest
negativ ausgefallen, aber man wisse nie, hatte er hinzugefügt.
Ich sprang die Verandatreppe hinunter, überquerte die Wiese zwischen Pats und meinem
Häuschen und lief auf der anderen Seite die Stufen wieder hoch. Beide Häuser hatten zwei
Schlafzimmer, Küche, Wohnzimmer, Bad. Meins war sandfarben, Patricias taubenblau. Ich hatte
gerade den Schlüssel ins Schloss geschoben, als John neben mir stand … zwei weitere Pakete in
den Händen.
„Da meint es aber jemand gut mit Pat.“ Ich sah erstaunt auf, geradewegs in Johns blassblaue
Augen, die zwischen unzähligen Fältchen übermütig funkelten.
„Von wegen. Return to sender.“ Er deutete auf die neongelben Aufkleber. „Unsere rüstige
Patricia hat sich wohl mit der Anschrift vertan. Es gibt keine Cedar Creek Road in Pine
Mountain. Und die Postleitzahl fehlt auch. Warte, Lyn. Ich habe noch sechs Pakete in meinem
Wagen.“
„Ach du meine Güte …“ Ich schielte auf die Adresse.

Mary Brown
Cedar Creek Road 19
Pine Mountain, GA

Wo war Patricia Farmer nur mit ihren Gedanken gewesen? Auch wenn sie nicht mehr ganz so
rüstig war, wie John gerade behauptet hatte, so funktionierte das Denken doch noch einwandfrei.
„Wenn das bis Weihnachten bei Mary Brown ankommen soll, muss sich Pat beeilen.“ John
warf einen letzten Blick auf die Pakete. „Heute ist der 20. Dezember und Weihnachten fällt
dieses Jahr auf einen Sonntag.“ Er legte eine bedeutungsschwere Pause ein. „Nun sag schon,
allerliebste Brooklyn. Wo ist sie denn?“
„John. Du kannst es zehnmal mit der allerliebsten Brooklyn versuchen …“
„Aber so heißt du doch … und meistens hilft das“, unterbrach er mich und grinste schief.
„Und wenn ich dir die Pakete ins Haus trage?“
„Du kannst mich noch so charmant anlächeln, mein allerliebster Postbote, aber wo Pat ist,
verrate ich dir trotzdem nicht“, antwortete ich und schob ihn mit sanfter Gewalt zur
Verandatreppe. „Nun sieh zu, dass auch der Rest von Pine Mountain heute noch seine Post
bekommt. Die Kartons schaffe ich auch ohne Hilfe.“
„Nichts für ungut.“ Auf der untersten Stufe drehte er sich um. „Irgendwie kriege ich das schon
raus.“
Das bezweifelte ich keine Sekunde. Ich wartete, bis Johns Postauto langsam anfuhr und hob
die oberste Box von dem Paketturm. Himmel! Was war da bloß drin? Steine? Was zum Teufel
schickte Pat zu Mary in der Cedar Creek Road?

***

Als ich die letzte Box leise neben Pats weißen Küchentisch gestellt hatte, stand mir der Schweiß
auf der Stirn. Ich ließ mich auf einen der Küchenstühle fallen und warf einen Blick auf die runde
Uhr über dem gewaltigen Ofen. Gleich vier Uhr. John war spät dran heute. Ob Pat schlief? Die
Schlafzimmertür war geschlossen, ebenso wie die Wohnzimmertür. Keine Weihnachtsmusik
schwebte wie sonst durchs Haus, wenn Pat es sich um diese Zeit irgendwo mit einem ihrer
unzähligen Bücher bequem machte.
Patricia Farmer war Eltern- und Großelternersatz in einem. Meine Mutter war bei meiner
Geburt gestorben, dafür hatte ich den weltbesten Dad … gehabt. Bis auch er mich verlassen
hatte.
Übermorgen vor vier Jahren war es fast so warm wie heute gewesen. Dad liebte die Natur
Georgias im Winter und war morgens zu einer Wanderung in den naheliegenden State Park
aufgebrochen. Während ich zu Hause Lebkuchenherzen backte, musste mein Vater unbedingt
den Helden spielen.
Zornig fegte ich die Tränen aus meinen Augenwinkeln. So war er schon immer gewesen. War
jemand in Not, war er zur Stelle. Wie an diesem Tag, als sich ein siebenjähriger Junge das
Ruderboot seines Vaters ausgeliehen hatte und mitten auf dem See im Park hinausfiel. Dad hatte
nicht lange gezögert, war ins Wasser gestürmt, hatte den Knirps zurück ins Boot gesetzt … und
beim Zurückschwimmen einen Wadenkrampf bekommen.
Ohne Pat hätte ich die Zeit direkt nach Dads Tod vermutlich nicht überlebt. Wir hatten uns
schon immer gut verstanden, schließlich waren wir Nachbarn, seit ich denken konnte, aber seit
diesem schlimmen Tag war sie meine beste Freundin. Selbst wenn sie über sechzig Jahre älter
war als ich. Ich lachte unter Tränen. Als ob Alter, wenn es um Freundschaft ging, eine Rolle
spielte. Nein, ich konnte mir keine bessere Freundin als Patricia Farmer wünschen. Eine
Freundin, die kurz vor Weihnachten mit einer fetten Erkältung im Bett lag.
Nachdenklich stand ich auf, lief zum Bad, trat ans Waschbecken und kühlte mein Gesicht mit
einer Handvoll Wasser. Pat musste nicht wissen, dass ich – schon wieder - geweint hatte.
Ich warf einen raschen Blick in den Spiegel, fuhr mir mit der rechten Hand durch die
schwarzen kurzen Haare und zupfte zurecht, was noch zurechtzuzupfen war. Nach der
Paketschleppaktion bei Dezembersommerwetter und der Sorge um Pat waren meine Wangen von
einer kräftigen Röte überzogen. Vielleicht sollte ich doch erst duschen, bevor ich sie fragte, was
es mit all den Kartons auf sich hatte? Oder das moosgrüne T-Shirt und die Jeans gegen ein
luftiges Sommerkleid tauschen? Entschieden kehrte ich dem Spiegel den Rücken. Die Neugierde
hatte gewonnen.
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Ich trat vor die Schlafzimmertür und klopfte leise.
„Brooklyn.“ Pat nannte mich nicht Lyn. Nie. Genauso wenig wie Dad. Damals. „Komm doch
rein.“
Ich drückte die Klinke hinunter und schob die Tür auf. Die untergehende Dezembersonne
tauchte den Raum in ein warmes Licht.
Außer einem Nachttisch neben dem dunkelbraunen Bett gab es nur noch eine Kommode in
dem schlichten Zimmer. Das Schlafzimmer ist zum Schlafen da, war Pats Antwort auf meine
Frage, warum sie es sich nicht gemütlicher machte.
„Wie fühlst du dich?“
Ein lautes Husten war die Antwort. Ich schob das ungute Gefühl beiseite und setzte mich auf
die Bettkante.
„Schon viel besser“, behauptete sie und grinste.
„Naja, du bellst aber noch ganz schön.“
„Ein paar Tage noch und ich bin wieder topfit.“ Zur Bestätigung klopften ihre sehnigen Finger
auf meine Hand. „Und, bist du gekommen um dich zu vergewissern, ob ich noch unter den
Lebenden weile?“
„Patricia Farmer!“ Ich verdrehte die Augen. Aber so war sie nun einmal. Offen, fröhlich …
mit einem Hang zum schwarzen Humor. Ich zuckte mit den Schultern und warf ihr einen
strafenden Blick zu … bevor ich schmunzeln musste.
Ihre blauen Augen blitzten übermütig. Sie saß aufrecht im Bett, fuhr sich mit der knorrigen
rechten Hand durch die kurzen weißen Haare und seufzte. „Ich möchte nicht wissen, wie ich
aussehe.“ Sie strich über ihr hellgelbes Shirt. „Ich glaube, ich habe mindestens drei Stunden
geschlafen.“
„Du siehst prima aus, Pat“, versuchte ich es so überzeugend wie möglich. Etwas stimmte
nicht, dafür kannte ich sie zu gut. Die Fröhlichkeit war aufgesetzt. Etwas belastete sie. Doch ich
tat ihr den Gefallen und spielte das Spiel mit … und war sicher, dass sie wusste, dass ich sie
durchschaut hatte.
„Die Pakete sind also zurückgekommen … auf den Tag genau“, fügte sie zufrieden hinzu.
„Das hast du gehört?“ Ich stutzte. „Auf den Tag genau zurückgekommen?", wiederholte ich
und musterte sie verwirrt.
„Auf John ist eben Verlass.“ Nun schmunzelte sie. „Genau heute sollten die Pakete hier sein
… und eigentlich wären wir morgen zusammen aufgebrochen, doch jetzt …“ Sie legte eine
kunstvolle Pause ein und versuchte es mit einem schuldbewussten Blick.
„Pat, du hast zehn Pakete zurückgeschickt bekommen! Ich verstehe kein Wort. Und was hat
John damit zu tun? Und wer ist Mary?“
Sie griff nach der Wasserflasche auf dem Nachtschränkchen und trank einige Schlucke.
„Möchtest du auch etwas?“
„Nein.“ Ich hob die Hände zu einer Geste der Hilflosigkeit. „Wer ist Mary?“, wiederholte ich.
Pat stellte die Flasche zurück und fasste mich ins Auge. „Mary ist eine ehemalige Schülerin.
Wir telefonieren einmal die Woche. Eine ganz besondere Schülerin aus meiner New York Zeit.“
Ich nickte nachdenklich. Mein Vater und Pat waren beide Lehrer in Pine Mountain gewesen
und auch für mich stand schon zu Grundschulzeiten fest, dass ich Lehrerin werden wollte.
Während Pat bis zu ihrer Pensionierung an der Highschool tätig gewesen war, hatte Dad die
Erstklässler betreut. Ich hingegen hatte mich für die Tweens in der fünften und sechsten Klasse
entschieden und unterrichtete in der örtlichen Middle School Mathematik. Doch bis zu ihrem
vierzigsten Lebensjahr hatte Pat in Upstate New York in der Nähe von Buffalo gewohnt und
gearbeitet. Solange bis Richard, ihr vor zehn Jahren verstorbener Mann, einen Job bei einer
Zeitung in Atlanta angeboten bekommen hatte. Pat hatte schweren Herzens gekündigt, sich aber
mit Händen und Füßen gewehrt, in die Großstadt zu ziehen und so waren sie hier in Pine
Mountain gelandet. Schülerinnen und Schüler waren für Pat schon immer Ersatz für eigene
Kinder gewesen, die ihr nicht gegönnt sein sollten. So überraschte es mich nicht, dass sie noch
Kontakt zu ihren Kids, wie sie sie liebevoll nannte, in New York hatte. Schließlich bekam sie
auch hier oft genug Besuch von ehemaligen Schülern.
Trotzdem verstand ich nicht, was Mary mit den Kartons in der Küche zu tun hatte. Oder John

„Und …? Pat! Nun sag schon. Was zum Teufel hat es mit den Paketen auf sich?“
„Brooklyn, hier wird nicht geflucht.“ Sie hob den Zeigefinger und wedelte ihn vor meiner
Nase hin und her.
„Sorry, Pat. Aber nun mach es doch nicht so spannend.“
„Also gut.“ Sie holte tief Luft. „Ich habe Mary … meine ehemalige Schülerin …
kennengelernt, als sie vierzehn war. Es war ihr erstes Highschooljahr, ich war dreißig und schon
ein paar Jahre Lehrerin.“ Sie unterbrach sich erneut und blickte aus dem Fenster.
Draußen hatte die Dämmerung Einzug gehalten. Ich stand auf, knipste das Deckenlicht an und
setzte mich wieder an ihre Seite.
„Sie hat mich an mich erinnert in diesem Alter“, fuhr Pat fort. „Furchtbar dünn, furchtbar
schüchtern, furchtbar blass. Vor allem war sie traurig.“
„An dich?“ Ich sah verwundert auf. „Du bist nicht schüchtern, nicht blass und vor allem nicht
traurig. Dünn … naja. Das passt schon.“
„Als Teenager war ich all das.“
So ernst kannte ich meine Freundin gar nicht. Ich senkte den Blick. „Du … du redest nie über
deine Kindheit. Oder deine Eltern.“
Vor Jahren hatte ich Pat auf ihre Mutter angesprochen – und keine Antwort bekommen.
Danach hatte ich nicht mehr gefragt.
„Das stimmt. Es war keine schöne Zeit, die ich lieber für mich behalte. Aber heute, Brooklyn,
sollst du ein wenig erfahren.“ Sie massierte ihre Schläfen. „Meine Eltern waren Alkoholiker.
Beide. Sie hätten nie Kinder haben dürfen. Ihnen war egal, wie wir uns fühlten. Wie es uns ging.
Ob wir etwas zu essen bekamen, oder nicht.“
„Wir?“ Meine Finger kribbelten unangenehm. „Du hast Geschwister?“
„Hatte“, antwortete sie traurig. „Mein Bruder ist mit zwölf Jahren davongelaufen. Einen
Monat später hat man ihn gefunden. Man ging damals von Selbstmord aus.“ Sie hielt inne und
schloss für einen Moment die Augen. „Mit sechszehn bin ich … nun ja … habe ich es nicht mehr
ausgehalten. Ich bin aus dem Fenster geklettert und nie wieder richtig eingezogen.“ Pat
unterbrach sich erneut und suchte meinen Blick. „Ich hatte unverschämtes Glück. Grace, meine
damalige Lehrerin, hat mir Unterschlupf gewährt – und mich später adoptiert. Ich glaube, meine
Eltern waren froh, mich … uns endlich los zu sein. Im Gegensatz zu meiner leiblichen Mutter
hatte Grace den Namen Mom verdient. Sie war es auch, die meine Liebe zum Lesen geweckt hat.
Bei ihr bin ich zur fröhlichen, optimistischen Patricia geworden. Eigentlich habe ich Grace mein
ganzes Leben zu verdanken. Leider ist sie viel zu früh gestorben. Krebs. Ich war gerade
dreiundzwanzig. Kurz darauf habe ich Richard kennen und lieben gelernt.“
„Warum, Pat …?“ Ich kam ins Stocken, räusperte mich und schüttelte traurig den Kopf.
„Warum hast du mir nie davon erzählt? Ich dachte, wir wären Freundinnen.“
„Es gibt für alles eine Zeit, meine Liebe. Eine Zeit zum Lachen, eine zum Weinen, eine zum
Singen, zum Tanzen … und eine zum Beichten. Und diese Zeit ist jetzt gekommen.“ Ihre Stimme
klang ein wenig belegt. Mit wenigen Zügen leerte sie die Wasserflasche, bevor sie fortfuhr. „Ich
hatte alles so wunderbar geplant. Diesen Dezember wollte ich dir alles erzählen. Ich wollte, dass
du Mary kennenlernst. Ich wollte, dass du diese Tage vor Weihnachten nicht so traurig bist und
vor allem nicht an ihn denkst.“ Sie griff nach meiner Hand und drückte sie.
Es war nicht der feste Griff, den ich gewohnt war. Und an ihn wollte ich sowieso nicht
denken. Alex. Herzensbrecher und Exverlobter.
„Du hast das extra gemacht!“ Ich schlug mir mit der Hand vor die Stirn. Natürlich! „Wusste
ich doch, dass dir so ein Fehler mit dem Beschriften der Pakete nicht passieren würde. Du
wolltest, dass sie zurückkommen, damit wir sie persönlich zu deiner Freundin bringen. Damit ich
an etwas … anderes denke.“ Ich hielt inne. „Das kommt gar nicht infrage. Ich lasse dich doch
nicht einfach so … so krank hier zurück. Wir hatten doch einen gemütlichen Netflix
Weihnachtstag geplant, und Raclette“, fügte ich schwach hinzu. „Und jetzt soll ich … alleine
fahren? Ich bringe die Pakete zur Post. Direkt morgen.“
Weiter kam ich nicht.
„Zu spät!“ Pat ließ meine Hand los und schnaubte entrüstet. „Schaffst du es, mir einige
Minuten zuzuhören, ohne mich zu unterbrechen?“
Ich drückte den Rücken durch und spitzte die Lippen. „Natürlich.“
„Also gut … Wie gesagt, Mary war so wie ich.“
„Blass, schüchtern, traurig … Haben ihre Eltern sie auch vernachlässigt?“
Pat verdrehte die Augen und grinste. „Selbstverständlich klappt das nicht mit dem Zuhören,
ohne zu unterbrechen.“
Ich versuchte es mit einem möglichst zerknirschten Lächeln. „Sorry …“
„Aber du hast recht. Nur waren Marys Eltern keine Alkoholiker, sondern haben Drogen
genommen. Die Menschen, die in ihrem Elternhaus ein- und ausgingen, waren … nun ja … nicht
gerade ungefährlich.“ Sie lachte sarkastisch auf. „Es war Dezember, furchtbar kalt. Sie hatte
keine Jacke an und fror schrecklich, als sie vor meiner Tür stand. Mary war stundenlang durch
die Straßen gelaufen und hatte sich irgendwann an ihre Lehrerin erinnert. Ich habe ihr einen
Kakao gekocht, ihre Eltern angerufen und gefragt, ob Mary die Nacht bei mir verbringen durfte.
Sie hatten noch nicht einmal bemerkt, dass ihre Tochter fort war.“
„Ist sie … hast du …“
„Nein, Brooklyn. Ich habe Mary nicht adoptiert. Sie wollte das nicht. Sie war schon immer
sehr … selbständig. Dickköpfig. Sie sagt, dass sie Angst hat, mich zu verlieren, wenn ich erst
mal ihre richtige Mom bin. Aber sie ist bei mir eingezogen in dieser Nacht. Drei Jahre hat sie bei
mir gewohnt. So wie mich und meine Adoptivmom hat auch uns die Liebe zu Büchern
zusammengeschweißt. Nach der Highschool ist sie zum College gegangen und hat Jura studiert.
In Harvard“, fügte Patricia nicht ganz ohne Stolz hinzu.
„Wahnsinn! Echt?“
„Echt“, bestätigte meine Freundin. „Sie hat jahrelang eine Anwaltspraxis in Buffalo betrieben.
Inzwischen ist sie dreiundsiebzig und genießt den Ruhestand. Wobei … und jetzt kommen wir zu
den Paketen … still sitzen und das Nichtstun genießen konnte sie noch nie. Deshalb hat sie sich
eine neue Aufgabe gesucht. In Colden …“
„Dein Geburtsort“, rief ich triumphierend dazwischen. Zumindest das wusste ich.
„In Colden“, fuhr Pat fort, „gibt es immer noch keine Bücherei. Das soll sich nun ändern, sagt
Mary. Sie hat ein kleines Haus gekauft und sammelt eifrig Lesematerial.“
„Für eine Bücherei?“ Ich überlegte. „In den Paketen sind Bücher! Deshalb sind die so
schwer.“
„Genau. Meine Bücher. Und du bringst sie zu Mary, denn die Eröffnung ist am 24. Dezember.
Mit der Post wird das nie und nimmer was.“

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