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Bildung und Dichtung bei Dante

VON AUGUST BUCK

In der 1725 erschienenen ersten Fassung seiner „Neuen Wissen-


schaft" hat der große neapolitanische Philosoph Gian Battista Vico
die folgende Behauptung aufgestellt: „Wenn Dante überhaupt nichts
von Scholastik gewußt und kein Latein gekonnt hätte, wäre er ein grö-
ßerer Dichter geworden" und einem Homer gleichgekommen';
m.a.W. Dantes Wissen hat seine dichterische Schaffenskraft beein-
trächtigt, hat ihn nicht die Höhen erreichen lassen, wo er dem größten
Dichter der Antike begegnet wäre. Der hier behauptete Gegensatz zwi-
schen Bildung und Dichtung hat in der Dante-Kritik bis in unser Jahr-
hundert fortgelebt und gipfelte in Benedetto Croces anläßlich des Zen-
tenariums von 1921 veröffentlichten Studie „La poesia die Dante", wel-
che in der „Commedia" zwischen echter Dichtung und philosophisch-
theologischem Lehrgehalt unterschied und damit die Einheit des Wer-
kes preisgab.
In den sechs Jahrzehnten seit dem Erscheinen von Croces Studie hat
die Kritik die These der Unvereinbarkeit von „dottrina" und „poesia"
auf der Grundlage einer vertieften Kenntnis der mittelalterlichen Ästhe-
tik widerlegt. Unter dieser veränderten Perspektive gewinnt Dantes
Bildungswelt einen neuen Stellenwert; sie ist nicht nur der geistesge-
schichtliche Kontext der Dichtung, sondern deren integraler Bestand-
teil, da sie auf einer Synthesis „а priori" von Wissen und Poesie beruht.

' „se (Dante) non avesse saputo affatto né della scolastica né di latino, sa-
rebbe riuscito più grande poeta e forse la toscana favella avrebbe avuto da con-
trapporlo ad Omero, che la latina non ebbe" (G.B. V i c o , La Scienza Nuova
Prima, a cura di E N i c o l i n i , Bari 1968, 180^

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„Zwischen Poesie und Wissen - so hat kürzlich ein italienischer Kriti-
ker die Eigenart des „Commedia" charakterisiert - besteht eine Inter-
aktion . . sei es in dem Entwurf des Werkes, sei es in seiner Ausfüh-
rung"^. Da demnach Dantes Bildung eine zentrale Bedeutung für die
adäquate Interpretation seiner Dichtung erhält, ist es eine lohnende
Aufgabe, Dantes Bildungsgang zu verfolgen, d.h. einen sich über sein
ganzes Leben erstreckenden Lernprozeß, der sich in der „Commedia"
widerspiegelt.
Zunächst bedarf es der Klärung, was bei Dante unter Bildung zu ver-
stehen ist. Zweifellos ist unser im wesentlichen auf Wieland und Her-
der zurückgehender modernen Bildungsbegriff nur mit Vorbehalt auf
das Mittelalter anwendbar. Denn dieses kennt nicht die Selbstentfal-
tung der autonomen Persönlichkeit als Bildungsziel, sondern versteht
Bildung stets in Funktion des Religiösen als Annäherung an die göttli-
che Idee vom Menschen, der nach einem vorbildlichen Leben in dieser
Welt seine Erfüllung im Jenseits findet. Daher wird Bildung im Rah-
men aller Wertnormen des geistigen und sittlichen Lebens ausschließ-
lich durch die christliche Lehre bestimmt^ Jede Aneignung von Wis-
sen ist prinzipiell ein Fortschritt auf dem Wege zur Erkenntnis der gott-
gewollten heilsgeschichtlichen Seinsordnung. Dieses Bildungsziel
dürfte wohl durch keine andere Dichtung des Mittelalters eindringli-
cher veranschaulicht worden sein als durch Dantes „Commedia".
Aneignung von Wissen setzt Lernen voraus. Dante hat sich Zeit sei-
nes Lebens als Lernender verstanden, sei es in der Jugend als Besucher
der „scuole de Ii religiosi" und der „disputazioni dei filosofanti", sei es
als dankbarer Schüler Bruneto Latinis, sei es später als Autodidakt,
der trotz Verbannung und Exil sein Wissen ständig zu bereichern such-
te. In der „Commedia" tritt er in der Rolle des Fragenden auf, der sich
sowohl an seine Führer auf der Jenseitsreise als auch an viele der ihm
begegnenden Abgeschiedenen mit der Bitte um Belehrung wendet. Man

^ „Poesia e scienza interagiscono nella Commedia, sia nel piano, sia nel
suo sviluppo" (B. M a r t i η e 11 i. Poesia e scienza in Dante, in: Critica letteraria
9, 4 (1981), 656).
^ L. B o e h m , Das mittelalterliche Erziehungs- und Bildungswesen, in:
Propyläen Geschichte der Literatur, II, Berlin 1982, 143-181.

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hat mit Recht von einer besonderes im Paradies sich offenbarenden
„passione didattica" Dantes gesprochen, die oft in der überirdischen
Szenerie geradezu „die Atmosphäre eines Hörsaals zu evozieren
scheint"^
Erworbenes Wissen hilft der Vernunft, die Probleme des Lebens zu
lösen, und ist zugleich die Voraussetzung der Tugend. Daher soll die
„Commedia" soweit wie irgend möglich auf gesichertem Wissen beru-
hen. Ihre Geschichte - so bemerkt treffend Patrick Boyde - „ist die
Geschichte einer Reise zum Wissen" ^ Was der Dichter weiß, soll er an
andere, die weniger wissen, weitergeben, um diese zu belehren. Fast die
gesamte literarische Produktion Dantes ist gekennzeichnet durch einen
lehrhaften Zug. Diese didaktische Absicht verleiht der „Commedia"
den Charakter eines universalen Lehrgedichts, einer „Summa" alles
Wissens, das dem Menschen den rechten Weg im Diesseits weist und
ihm hilft, sich auf das Jenseits vorzubereiten.
Wie hat sich Dante dieses Wissen angeeignet und wie war es beschaf-
fen? Wenn er - nach dem kompetenten Urteil von Ernst Rober Curtius
- „auf der Höhe der lateinischen Bildung seiner Zeit" stand®, so ist
hier lateinische Bildung identisch mit Bildung schlechthin; denn die
Bildungsgüter, gleichviel welcher Herkunft, wurden im allgemeinen auf
lateinisch tradiert und vermittelt. Erst unmittelbar von Dante begann
in Frankreich mit der Abfassung popularisierender Enzyklopädien in
der Volkssprache die Vermittlung von Wissen an die des Lateins Un-
kundigen: die Anfänge einer Laienbildung, an denen Dante mit der
Abfassung des „Convivio" in Italien maßgebend beteiligt war. Dieses
„Gastmahl" des Wissens und ebenso die späteren Werke bis zu der kurz
vor seinen Tod verfaßten „Questio de aqua et terra" dokumentieren
Dantes umfassende Bildung, die schon die Bewunderung der Zeitge-
nossen erregt haben dürfte und vom Chronisten Giovanni Villani zum
Ausdruck gebracht worden ist: „Fu grande letterato in ogni scienza.

T. W l a s s i c s , Le „Postille" di Dante alla Commedia, in: Studi Danteschi


49 (1972), 115.
' „The story of the ,Comedy' is the story of a journey to knowledge" (P.
B o y d e , Philomythes and Philosopher, Man in the Cosmos, Cambridge 1981,
51).
® E.R. Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Zwei-
te, durchges. Aufl., Bern 1954, 357.

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tutto fosse laico, fu sommo poeta e filosofo, e rettorico perfetto". „Ob-
wohl ein Laie, war er in jeder Wissenschaft gebildet (das italienische
„letterato" gibt den lateinischen terminus technicus „litteratus" wie-
der), war ein sehr großer Dichter und Philosoph, ebenso wie ein voll-
kommener Rhetor"^.
Hinsichtlich Dantes Bildungsgangs ist man, abgesehen von den we-
nigen eigenen Angaben des Dichters, weitgehend auf Vermutungen an-
gewiesen; zuverlässige Rückschlüsse auf seine Bildung erlaubt nur eine
diesbezügliche Analyse der Werke, insbesondere der „Commedia". Zu-
nächst sind die kargen autobiographischen Belege zu befragen. Dante
schreibt im „Convivo", er habe, um nach Beatrices Tod Trost zu finden,
die „Consolatio philosophiae" des Boethius und Ciceros „De amicitia"
gelesen und zu ihrem Verständnis habe ihm seine Kenntnis der Gram-
matik (des Lateins), „quanto l'arte di grammatica ch'io avea", sowie
sein Geist, „un poco di mio ingegno" verholfen (Conv. II, XII, 4).
Man kann nur vermuten, daß Dante Grammatik-Unterricht zuerst
von einem der in Florenz tätigen „doctores puerorum" erhalten hat;
vielleicht von einem „Romanus doctor puerorum populi Sancti Mar-
tini", der in einer Urkunde von 1277 erwähnt wird und im gleichen
Stadtteil wie Dante wohntet Spuren einer Lektüre von drei der im
mittelalterlichen Schulbetrieb verwendeten „auctores octo" hat man in
Dantes Werk nachgewiesen: des „Liber Aesopi", der „Disticha Cato-
nis" und der „Ecloga Theoduli"'. Ob Dante die klassischen Autoren
im Rahmen des auch in Florenz eingebürgerten die Autoren Vergil,
Ovid, Lucan oder Statins umfassenden „Studium poeticum"'" ken-
nengelernt hat oder aufgrund eigener Lektüre, ist eine offene Frage, da

^G. V i l l a n i , Cronica IX, 136.


® S. B e n e d e t t i , Sui più antichi „doctores puerorum", in: Studi medievali
2 (1907), 327-351.
' G. P a d o a n , Il pio Enea, l'empio Ulisse, Tradizione classica e intendi-
mento medievale in Dante, Ravenna 1977, 151-169. Indizien für die Lektüre
der gleichfalls in den Schulen gelesenen „Elegia" des Arrigo da Settimello und
der „Formula vitae honestae" des Martino Bracara bei Ch.T. D a ν i s, La scuola
al tempo di Dante, in: Enciclopedia Dantesca V, 106-109.
H. W i e r u s z o w s k i , Rhetoric and Classics in Italian Education of the
Thirteenth Century, in: W., Politics and Culture in Medieval Spain and Italy,
Roma 1971, 5 8 9 - 6 2 7 .

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dazu keine expliziten Äußerungen Dantes vorliegen; lediglich der ge-
nannte Dichterkanon begegnet in seinen Werken".
Im Anschluß an seine Aussage über die Lektüre der beiden erwähn-
ten Autoren Boethius und Cicero erklärt Dante, er habe von 1290 ab
zweieinhalb Jahre die Stätten besucht, wo die Philosophie zu Hause
war: „cioè ne le scuole de li religiosi e a le disputazioni de li filosofanti'
(Conv. II, XII, 7). Damit dürften die Schule der Dominikaner in Santa
Maria Novella und die der Franziskaner in Santa Croce gemeint gewe-
sen sein. In ihrer Organisation ähnelten sie den Universitäten. Neben
den „lectiones", den regelmäßigen Vorlesungen, gab es „disputatio-
nes", in denen Thesen diskutiert wurden. Die als deren Teilnehmer von
Dante genannten „filosofanti" waren die Philosophie studierenden
Theologen des gelehrten Ordensnachwuchses. Zur Philosophie gehör-
ten die heidnischen, islamischen und jüdischen Philosophen. In erster
Linie Aristoteles, der Philosoph schlechthin, jedoch nicht die Kirchvä-
ter und die christlichen Denker, welche eine eigene Gruppe von „aucto-
ritates" darstellten.
Fragt man nach der Auswirkung dieser philosophischen Studien des
jungen Dante, begibt man sich auf den unsicheren Boden der Hypo-
thesen. Die Ansichten der Forschung über die in Dantes Werk konkret
nachweisbaren Einflüsse der beiden Schulen gehen weit auseinander.
Wo die einen unmittelbare Abhängigkeiten konstatieren zu können
glauben, wollen die anderen lediglich in der gleichen Ausgangssitua-
tion wurzelnde Gemeinsamkeiten sehen. Sicher ist, daß Dante durch
den Besuch der beiden Schulen in die philosophische und theologische
Problematik seiner Zeit eingeführt worden ist: Er lernte den franziska-
nischen Neo-Augustinismus ebenso kennen wie den christlichen Ari-
stotelismus der Dominikaner; er gewann Zugang sowohl zu den my-
stisch-asketischen Lehren eines Bonaventura als auch zu dem von der
Ratio durchdrungenen Gedankengebäude eines Thomas von Aquin.
Es kann ebenfalls als erwiesen gelten, daß Dante auch mit der dritten
der großen philosophischen Strömungen seiner Zeit, dem lateinischen
Averroismus oder radikalen Aristotelismus, in Berührung gekommen
ist. Auf welchem Wege freilich die averroistischen Lehren zu Dante ge-
langt sind, ist bisher unbekannt geblieben

" V.N. XXV, 9; VE. II, VI, 7; Inf. IV, 85 ff.; Purg. XXI, 82 ff.
M. C o r t i , Dante a nun nuovo crocevia, Firenze 1981.

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Worin auch immer der Ertrag von Dantes Studien in den beiden Or-
densschulen im einzelnen bestanden haben mag, hat die Beschäftigung
mit der Philosophie, die auch nach der Verbannung aus Florenz fort-
dauerte, wesentliche Züge der geistigen Physiognomie Dantes geprägt.
Das im „Convivio' ausgesprochene Urteil, „che la filosofia . . . fosse
somma cosa" (Conv. II, XII, 6), galt weiter, auch nachdem Dante die
vorweigend im Zeichen der Philosophie stehende Phase seines Bil-
dungsweges hinter sich gelassen hatte. „L'amore della filosofia, - so
Michele Barbi - cosa di capitale importanza nella vita die Dante tanto
ch'egli continuò poi a chiamarsi filosofo per tutta la vita" In seinem
Brief an einen Florentiner Freund nennt er sich „vir phylosophie dome-
sticus" (Ep. XII, 6), und am Beginn der „Questio de aqua et terra" „in-
ter vere phylosophantes minimus" (Questio 1). Die „Commedia"
schließlich gehörte nach Dantes Selbstauslegung als „opus doctrinale"
zur Ethik, „genus vero phylosophie sub quo hic in toto et in parte pro-
ceditur, est morale, sive ethica" (Ep. XIII, 16).
Was das von Dante insgesamt erworbene philosophische und theo-
logische Wissen anbelangt, so dürfte er - außer einer gewissen Kennt-
nis der patristischen Tradition''* - Aristoteles und Thomas, aber
auch Albertus Magnus, Bonaventura und Averroes gekannt haben,
dazu, hauptsächlich durch Albertus Magnus vermittelt, Avicenna, Al-
gazali, Alfarabi und Alpetragius, sowie den dem Aristoteles zuge-
schriebenen „Liber de causis" Es ist eine philosophische Bildung,
die sich im Rahmen der scholastischen Tradition des 12. Jahrhunderts
hält. Aus dieser konservativen Haltung darf man jedoch nicht schlie-
ßen, daß Dante die Lehren der „moderni" nicht gekannt hätte und er
deshalb in bezug auf die zeitgenössische Philosophie rückständig ge-
wesen wäre: Dante „si stanca dall'esasperato logicismo e scientismo
che andava affermandosi fra i ,moderni' . . . è volutamente ,antico'
. . . conosce anche le punte ardite del pensiero contemporaneo"'®.

'' Dante, Il Convivio, Ridotto a miglior lezione e commentato da G. B u s -


n e l l i e G . V a n d e l l i con introduzione di M. B a r b i , Firenze 1934,1, XXIII.
M. B a m b e c k , Studien zu Dantes Paradiso, Wiesbaden 1979.
" V. Ρ la ce И a, Filosofia, in: Enciclopedia Dantesca II, 883 ff.
E. G a r i n , Dante e la filosofia, in: Il Veltro 18 (1974) 289.

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Die Philosophie, die Dante in den „scuole die И religiosi" studierte,
verstand sich mit der Theologie fest verbunden, hatte ihr gegenüber
vorwiegend eine propädeutische Funktion. Eine aus diesem theologi-
schen Bezug weitgehend gelöste mehr praxisbezogene Philosophie
fand er bei Brunetto Latini, einer der herausragenden Gestalten des
geistigen und politischen Lebens von Florenz und Autor der „ersten
umfassenden Laienenzyklopädie" des M i t t e l a l t e r s W e n n Dante ihn
ausdrücklich als seinen Lehrer anerkannt hat (Inf. X V , 85), so ist dieses
Schüler-Lehrer-Verhältnis in der Forschung verschieden gedeutet wor-
den'®. Es hat sich wohl nicht um einen regulären Schulunterricht ge-
handelt, eventuell um private Lehrkurse für einen beschränkten Teil-
nehmerkreis. Darüber hinaus dürfte ein persönliches Vertrauensver-
hältnis zwischen Dante und Latini bestanden haben, der ihn nicht nur
in die Kunst der Rede einführte, sondern ihn - möglicherweise im pri-
vaten Gespräch - eine Lebenslehre auf der Basis der aristotelischen
Ethik vermittelte: „a esercitare le virtù morali nel campo dell'agire non
solo personale, ma pubblico, nella politica" Es sind die gottgefälli-
gen Werke der Tugend, die innerweltlichen Nachruhm verleihen:
„Schritt um Schritt im Leben habt ihr mich gelehrt, wie der Mensch
sich verewigen kann, „come l'uom s'etterna" (Inf. X V , 85).
Wenn Michele Barbi meint, Dante habe sein durch Latini geförder-
tes Studium der Rhetorik in Bologna fortgesetzt^", so ist diese Be-
hauptung ebenso umstritten wie die Frage, ob Dante in Bologna außer-
dem noch Jurisprudenz studiert hat. Obgleich nur ein kurzer Aufent-
halt Dantes in Bologna im Jahre 1287 als sicher anzusehen ist, spricht
doch aus den Reminiszenzen an Bologna in Dantes Werk eine große
Vertrautheit mit den Bologneser Verhältnissen, die schwerlich nur
während eines kurzen Besuchs der Stadt erworben worden sein
kann^'. Vielleicht ist Dante am Beginn des 14. Jahrhunderts noch-
mals in Bologna gewesen und hat bei dieser Gelegenheit Vorlesungen
an der berühmten juristischen Fakultät gehört.

" W. G o e t z , Die Enzyklopädien des 13. Jahrhunderts, in: G., Italien im


Mittelalter, Leipzig 1942, II, 93.
Zu den verschiedenen Deutungen vgl. A . P é z a r d , Dante sous la pluie
de feu, Paris 1950.
" и. Bosco, Dante vicino, Caltanisetta-Roma 1966, 119.
Dante, 11 Convivio, s. Anm. 13, X X I I .
A . Vasina, Bologna, in: Enciclopedia Dantesca 1, 661 f.

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Wie Dantes Studienaufenthalt in Bologna durch Giovanni Villani^^
und Giovanni Boccaccio^^ bezeugt worden ist, so auch seine Studien
an der Pariser Universität^"*, über die sich Boccaccio ausführlich äu-
ßert: „se n'andò a Parigi e quivi ad udire filosofia naturale e teologia
si diede; nelle quali in poco tempo s'avanzò tanto che, fatti e una e altra
volta certi atti scolastici, sì come sermonare, leggere e disputare, meri-
tò grandissime laude da' valenti uomini"^'. Über den pariser Studien-
betrieb zeigt sich Dante wohl informiert: Er zitiert den Ort („Vico de
И Strami" = „Rue du Fouarre", Par. Χ, 137-138), wo die philosophi-
schen Vorlesungen stattfanden und kennt die Prozedur der Universi-
tätsexamina; Informationen, die allerdings auch aus zweiter Hand
stammen können^®. Ungeachtet gewisser Bedenken, bejaht die Mehr-
zahl der Forscher, vor allem gestützt auf das Zeugnis Villanis und Boc-
caccios, einen Aufenthalt Dantes in Paris^^. Daß Dante während die-
ses Aufenthaltes studiert hat, bleibt jedoch eine nicht beweisbare Ver-
mutung.
Über Dantes Bildungsweg nach 1302 außerhalb von Florenz gibt es,
abgesehen von den erwähnten Angaben über einen eventuellen Besuch
der Universitäten von Bologna und Paris, keinerlei Informationen. Man
weiß nicht, welche Hilfsmittel dem Dichter während der Jahre der Ver-
bannung an seinen verschiedenen Aufenthaltsorten zur Verfügung ge-
standen haben. Für die Konsultierung von Bilbiotheken, etwa der Kapi-
tularbibliothek von Verona, sind, wenigstens bisher, keine Belege gefun-
den worden. Aber auch wenn man Dante ein ungewöhnlich gutes Erin-
nerungsvermögen zugesteht, muß er doch von Zeit zu Zeit, wo auch im-
mer, die Möglichkeit gehabt haben, ihm bereits bekannte Quellen noch-
mals einzusehen und sich neue Quellen zu erschließen. Ohne unmittel-
baren Rückgriff auf die Quellen erscheint die Abfassung der „Questio

V i l l a n i , S. Anm. 7.
" G. B o c c a c c i o , Trattatello in laude di Dante §25, a cura di P.G. Ricci, in:
Tutte le opere di G.B. VI, Milano 1965, 8.
^ V i l l a n i , s. Anm. 7.
Esposizioni sopra la Comedia di Dante, Accessus 34, a cura di G. P a d o -
an, in: Tutte le opere di G.B. VI, Milano 1965, 8.
Weiter Belege für eine eventuelle unmittelbare Kenntnis von Paris bei S.
S a f f i o t t i B e r n a r d i , Parigi, in: Enciclopedia Dantesca IV, 305-306.
So auch G. P e t r o c c h i , Biografia, in: Enciclopedia Dantesca, Appendi-
ce, 36.

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de aqua et terra", die Dante am 20. Januar 1320 in einer Veroneser Kir-
che vortrug, so gut wie ausgeschlossen. Das gilt auch für viele Passagen
der „Commedia", in der Lehrgut aller Art in Dichtung umgesetzt wor-
den ist. Daher wird man mit Franceso Mazzoni sagen dürfen, daß Dante
„sein Leben lang nicht aufgehört hat, zu lesen, das Gedachte zu über-
prüfen und neue Gedanken zu fassen" ^^ Es ist ein nie abreißender
Lernprozeß, aus dem sich Dantes Dichtung nährt. Dank der kontinuier-
lichen Erweiterung seines geistigen Horizonts konnte er in der „Comme-
dia" das poetische Pendant zu den philosophisch-theologischen Sum-
men des Mittelalters schreiben.
Das universale Wissen, über das der Dichter Dante verfügt, erwirbt
sich der Wanderer Dante nach und nach, indem er auf dem Weg durch
die drei Jenseitsreiche als Fragender und Lernender sein Wissen über die
göttliche Seinsordnung laufend bereichert und vertieft; m.a.W. die
„Commedia" als Ganzes ist als ein Lernprozeß konzipiert, den der Wan-
derer stellvertretend für die Menschheit durchmacht. Wie dabei der Vor-
gang des Lernens dichterisch gestaltet worden ist, soll im folgenden ge-
zeigt werden.
Die Voraussetzung für ein fruchtbares Lernen ist der dem Menschen
angeborene Wissensdurst: „tutti li uomini naturalmente desiderano di
sapere", stellt Dante unter Berufung auf die aristotelische Metaphysik
am Anfang des „Convivio" fest (Conv. I, I, 1), also des Gastmahls des
Wissens, das er den des Lateins Unkundigen angerichtet hat, um sie mit
Hilfe von Wissen zur Tugend zu führen^'. Es ist die gleiche Konzeption
der moralischen Funktion des Wissens, die - allerdings auf einem un-
gleich breiteren Fundament - in der „Commedia" wiederkehrt. Wis-
sensdurst, „la sete del sapere" ist eine in ihr überaus häufig vorkommen-
de Metapher^".
Im Wanderer Dante wird der ihn antreibende Wissensdurst immer
stärker, je mehr er sich dem Ziel seiner Reise nähert, womit im „Para-
dies" im Vergleich zu den beiden anderen Teilen die Lehrgespräche einen
wachsenden Raum einnehmen. Dantes wissensdurstiger Geist ge-

„(Dante) non ha mai cessato, lungo l'arco della vita, di leggere, sperimen-
tare, innovare" (Questio de aqua et terra, a cura di F. M a z z o n i , in: Dante Ali-
ghieri, Opere minori, T. II, Milano/Napoli 1979, 732).
„inducere li uomini a scienza e a vertù" (Conv. I, IX, 7).
F. T o l l e m a c h e , Sete del sapere, in: Enciclopedia Dantesca V, 197 f.

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biert ständig neue Fragen: „(il) mio cupido ingegno, che già nuove que-
stioni avea davante" (Par. V, 89 f.). Wagt er es zunächst nicht, eine Frage
auszusprechen, hält ihn lediglich die Ehrfurcht vor Beatrice davon ab:
„Lo suo tacer e'l trasmutar sembiante puoser silenzio al mio cupido in-
gegno" (Par. V, 88 f).
Aber auf die Dauer läßt sich sein Wissensdurst nicht unterdrücken:
Io veggio ben che già mai non si sazia
nostro intelletto, se Ί ver non lo illustra
di fuor dal qual nessun vero si spazia. (Par. IV, 124-126)
Erst an der Quelle, aus der alle Wahrheit fließt, d.h. in Gott, wird der
Wissensdurst gestillt, kann der menschliche Geist ausruhen „come fera
in lustra" (Par. IV, 127) - wie ein Tier in seiner Zufluchtsstätte. Wenn
der Mensch nicht die Gewißheit hätte, dieses Ziel zu erreichen, wäre je-
des Streben nach Wissen vergeblich: „ciascun disio sarebbe frustra"
(Par. IV, 129). Es ist eine fast wörtliche Übertragung aus der „Summa
theologiae" des Thomas von Aquin: „Si intellectus rationalis creaturae
pertingere non possit ad primam causam rerum, remanebit insane desi-
derium naturae"^'.
Wie für das Mittelalter so auch für Dante ist die Wahrheit in ihrer
Gänze bereits vorgegeben. Daher kann der Mensch weder aufgrund phi-
losophischer Reflexion noch durch wissenschaftliche Forschung zu ob-
jektiv neuen Erkenntnissen gelangen, sondern nur bereits vorhandene
Wahrheiten auffinden dank der Übereinstimmung von Denken und
Sein. Als methodisches Instrument der Wahrheitsfindung entwickelte
die Scholastik die „quaestio", die im Zentrum des Lehrbetriebs an den
Universitäten stand und sich zum selbständigen literarischen Genus aus-
bildete. In den florentinischen Ordensschulen und eventuell auch an den
üniversitäten von Bologna und Paris hatte Dante Gelegenheit, die Met-
hode der „Quaestiones" zu studieren. Mit dieser Kenntnis ausgerüstet,
baute er die Frage als das wichtigste konstitutive Strukturelement in die
„Commedia" ein.
Die Frage ist Bestandteil der Gespräche, die den größeren Teil der
„Commedia" ausmachen, die fast zu zwei Dritteln aus Reden von Perso-
nen besteht: 9.291 Verse von 14.233 des gesamten Werkes^^. Die Ge-

" T h o m a s v o n A q u i n , Summa theol. I, q. XII, art. I.


" E . St a e d i e г, Das rhetorische Element in der Divina Commedia, in:
Deutsches Dante-Jahrbuch 13 (1940), 107-151.

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spräche in Form von Dialogen finden statt einerseits zwischen dem
Wanderer und seinen Führern im Rahmen von deren Mission, anderer-
seits anläßüch der Begegnung mit den Jenseitsbewohnern zwischen die-
sen und Dante, sowie seinen Führern. Im Dialog impliziert die Frage
grundsätzlich einen Zweifel des Fragenden entsprechend der in der
Scholastik geltenden Definition des Boethius „quaestio est dubitabilis
propositio""; eine Definition, die auch Dante übernimmt:
Nasce . . . a guisa di rampollo
a piè del vero il dubbio (Par. IV, 130 f.)

Zweifel stellen sich im allgemeinen dann ein, wenn es an den nötigen


Kenntnissen fehlt. So werden auch Dantes Fragen meist durch sein
Nichtwissen motiviert, das ihn daran hindert, bestimmte Phänomene,
Ereignisse oder Situationen zu erklären^''. Die Fragen beziehen sich
primär auf das, was der Wanderer sieht. Dazu kommen andere Fragen,
die er im Kontext der Gespräche entweder an die Seelen der Abgeschie-
denen richtet oder an seine Führer, an erstere, um Näheres über ihr
exemplarisches Schicksal zu erfahren und damit die Begründung für
den ihnen im Jenseits zugewiesenen Platz, an die letzteren, um weitere
zusätzliche Erklärungen zu erhalten, die sich meist auf das Ganze der
Reise beziehen.
Obwohl der Wanderer aus allen Antworten für sein Wissen profitiert,
sind doch die berufenen Adressaten seiner Fragen Vergil und Beatrice,
die von Gott ausersehenden Führer, die zugleich die Funktion von Leh-
rern ausüben. Was Vergil anbelangt, wird das Schüler-Lehrer-Verhältnis
schon dadurch gekennzeichnet, daß Dante ihn, angefangen mit der Be-
grüßung im Vorfeld der Hölle mit den Worten „tu se' lo mio maestro"
(Inf. I, 85), nahezu hundert Mal so genannt h a t " . Zum Lehrer qualifi-
ziert Vergil sein schier unbegrenztes Wissen: „un mar di tutto Ί senno"
(Inf. VIII, 7), weswegen ihm der Titel „dottore" gebührt. Wenn Dante

" B o e t h i u s , In Topica Ciceronis Comm., P.L. LXVI, 1048 d; vgl. F. Del


Punta, questione, in: Enciclopedia Dantesca IV, 795 ff.
Η. F e i t e n , Wissen und Poesie, Die Begriffswelt der Divina Commedia
im Vergleich mit theologischen Lateintexten, München 1972.
^^ S. L a n c i , maestro, in: Enciclopedia Dantesca III, 76 f.; vgl. zum folgen-
den A. Buck, Vergil als Dantes Lehrer, in: Italia Viva, Studien zur Sprache und
Literatur Italiens, Festschr. f. H.L. Scheel, Tübingen 1983, 137-144.

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diesen Titel sechs Mal in Verbindung mit dem Possessivpronomen
„mio" gebraucht, nimmt er damit ausdrücklich Vergil als seinen Lehrer
in Anspruch.
Beatrice löst Vergil ab und übernimmt dessen didaktische Funktion
auf einer höheren Ebene. Während Vergil als Verkörperung der „Ratio"
Dante die Erkenntnis der natürlichen Vernunft, des „lumen naturale",
vermittelt, führt ihn Beatrice, die personifizierte Gottesweisheit, in die
Glaubenswahrheiten ein, die teils noch mit der Vernunft als „praeambu-
lum fidei" begriffen werden können, teils überhaupt nicht rational zu
ergründen und nur dank göttlicher Gnade intuitiv zu erfassen sind. Bea-
trices Lehrautorität beruht auf Dantes Glauben an ihre, die irdische Exi-
stens transzendierende himmlische Verklärung. Mit seinen beiden Leh-
rern fühlt sich Dante persönlich eng verbunden; ein Gefühl der Abhän-
gigkeit, ausgedrückt mit den Begriffen der intimsten natürlichen
Bindung des Menschen, der Bindung an die Eltern. Dante liebt Vergil
wie seinen Vater - „Virgilio dolcissimo patre" (Purg. XVIH, 13) - ,und
die Jugendliebe Beatrice wandelt sich in die Atmosphäre des Irdischen
Paradieses zur Mutter, bei der das verängstigte Kind Schutz sucht (Purg.
XXX, 43-45) und deren Tadel nur Ausdruck der Fürsorge ist (Purg.
XXX, 79-82).
Auf welche Weise üben nun Vergil und Beatrice ihr Lehramt aus? In
Lehrgesprächen, bei denen die Lehrer es weder an Tadel und Ermahnun-
gen zu erhöhter Aufmerksamkeit noch an Ermutigungen des Schülers
fehlen lassen und erwarten, daß er das vom Lehrer Gesagte weiter-
denkt'®. Diese Gespräche mit seinen Lehrern eröffnet Dante unmittel-
bar vor dem Antritt der Jenseitswanderung mit der an Vergil gerichteten
Frage nach der Bedeutung der Inschrift über dem Höllentor. Es ist die
erste in einer die ganze „Commedia" durchziehende Kette von Fragen,
zu denen ihn sein Lehrer immer wieder ermuntert: „In tutte tue question
certo mi piaci", erklärt Vergil (Inf. XIV, 133).
Die Fragen des Wanderers an seine Führer sind das immer wieder ge-
brauchte Stilmittel, um die Lehrgespräche zu verlebendigen, indem die
Frage das Gespräch auslöst oder es unterbricht und zu seiner Fortfüh-
rung Anlaß gibt. Die Frage selbst kann im Gespräch zwischen Schüler

Inf. XII, 76 f; Purg. XVII, 88 f.; XVIII, 16 f.; Par. II, 124; Purg. XVII,
125; Par II, 126.

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und Lehrer problematisiert werden: Als Dante nach den versammelten
Seelen am Ufer des Acherons fragt, vertröstet ihn Vergil auf eine späte-
re Antwort: „Le cose ti fien conte" (Inf. III, 76), - worauf der Schüler
beschämt schweigt. Eingedenk dieser Mahnung wagt er es später nicht,
eine Frage zu stellen:
. . . Buon duca, non legno riposto
a te mio cuor se non per dicer poco,
e tu m' hai non pur mo a ciò disposto. (Inf. X, 19-21)

Wenn Vergil Dantes unausgesprochene Frage errät, so begegnet hier


bereits ein in den Gesprächen mit Beatrice häufig wiederkehrendes
Motiv. Sie weiß Dantes Fragen im voraus, liest sie an Dantes Gesicht
ab:
Io mi tacca, ma Ί mio disir dipinto
m'era nel viso, e Ί dimandar con elio,
più caldo assai che per parlar distinto. (Par. IV, 10-12)

Wie einst der Prophet Daniel den Traum des Nebukadnezar deutete, so
kennt Beatrice die ihren Schützling bewegenden beiden Fragen, die
sich überlagern und ihn dadurch hindern, sie auszusprechen: „le que-
stion che nel tuo ,velle' pontano igualmente" (Par. IV, 25). Letzten En-
des sieht sie Dantes Fragen dort widergespiegelt, „wo ein jedes wo und
wann sich findet", in Gott (Par. XXIX, 12).
Wie ein erfahrener Lehrer knüpft Vergil bei der Beantwortung einer
Frage an das Wissen des Schülers an, bzw. ruft es ihm in Erinnerung,
so die Quelle, die der Einteilung der Hölle zugrunde liegt, nämlich die
aristotehsche Ethik:
Non ti rimembra di quelle parole
con le quai la tua Etica pertratta
le tre disposizion che Ί ciel non vole,
incontinenza, malizia e la matta
bestialitade e come incontinenza
men Deo offende e men biasimo accatta? (Inf. XI, 7 9 - 8 4 )
Mit seinem Dank für die ihm zuteil gewordene Belehrung verbindet
Dante eine ergänzende Frage über die theologische Begründung für die
Bestrafung der Wucherer im Kreise der Gewalttätigen gegen Gott. In
seiner Antwort nennt der Lehrer dem Schüler wiederum jeweils die
Quelle, auf die er sich stützt, die aristotelische Physik und die Genesis.

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Die dabei von Vergil gebrauchte Formulierung „la tua Fisica" (Inf. XI,
101) wie schon vorher „la tua Etica" (Inf. XI, 80) bezeugt die Vertraut-
heit des Schülers mit diesen grundlegenden Texten des philosophischen
Lehrbetriebs.
In einem anderen Fall bezieht sich Dante mit seiner Frage auf die
„Aeneis", und bittet Vergil um die authentische Interpretation eines
Passus aus dem 6. Buch, dem großen Vorbild für den Abstieg in die
Hölle.
. . . El par che tu mi rileghi,
о luce mia, espresso in alcun testo
che decreto del ciel orazion pieghi;
e questa gente prega pur di questo: (Purg. VI, 2 8 - 3 1 )

Es geht um die Lehre von der Fürbitte der Lebenden für die Büßer
im Purgatorio, die im Gegensatz zu stehen scheint zu einem Wort aus
der Palinurus-Episode: „Desine fata deum ñecti sperare precando"
(Aen. VI, 376), d.h. Gottes Ratschluß kann nicht durch Gebete geän-
dert werden.
Vergil löst den scheinbaren Widerspruch auf:
. . . La mia scrittura è piana;
e la speranza di costor non falla
se ben si guarda con la mente sana; (Purg. VI, 3 4 - 3 6 )

Für die Christen ändert die Fürbitte nicht die Art der von Gott ver-
hängten Buße, nur deren Dauer; und die Gebete der Heiden konnten
Gott nicht erreichen. Zu einer eingehenderen Klärung des Problems im
Zusammenhang mit dem Geheimnis des göttlichen Gnadenschatzes
fühlt sich Vergil nicht berufen und verweist Dante dafür auf Beatrice,
die ihn in die Glaubenswahrheiten einführen wird; ein Hinweis, mit
dem er zugleich - wie auch an anderen Stellen der Reise - den Wan-
derer zu größerer Eile anspornt: „Segnore, andiamo a maggior fretta"
(Purg. VI, 49).
In einer ähnlichen Situation, wo Vergils Ausführungen über das We-
sen der Liebe in Dante neue Zweifel erwecken, grenzt Vergil sein Lehr-
amt grundsätzlich gegen die spätere Unterweisung durch Beatrice ab:
Ed elli a me: „Quanto ragion qui vede,
dir ti poss' io; da indi in là t'aspetta
pur a Beatrice ch'è opra di fede" (Purg. XVIII, 4 6 - 4 8 )

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Nachdem Vergil als Verkörperung der „ratio" dem Wanderer zur ver-
nünftigen Einsicht in die moralische Weltordnung verholfen und da-
mit seinem Willen die Kraft zur freien sittlichen Entscheidung gegeben
hat, ist sein Lehramt beendet. Rückblickend umschreibt er das mit sei-
nem Schüler bewältigte Pensum und spricht dann diesen mündig:
. . . „II temporal foco e l'etterno
veduto hai, figlio; e se' venuto in parte
dov'io per me più oltre non discerno.

Non aspettar mio dir più né mio cenno;


libero, dritto e sano è tuo arbitrio" (Purg. XXVII, 127-129;
139-140)-
Im Anschluß an den mit der Mündigkeitserklärung beendeten Prozeß
der sittlichen Läuterung folgt die intellektuelle Erleuchtung des Wande-
rers durch Beatrice, der Aufstieg des Schülers von Wahrheiten niederen
Grades zu solchen höheren Grades. Es versteht sich, daß es für Dante
keinen Gegensatz zwischen Wissen und Glauben gibt und dieses in der
mittelalterlichen Philosophie und Theologie so lebhaft diskutierte Pro-
blem für ihn definitiv gelöst war. Nach dem Prinzip „fides quaerens in-
tellectum" soll die „ratio" den Glauben einsichtig machen, soweit er sich
dem vernünftigen Erkennen erschließt. So sind denn in Beatrices Beleh-
rungen „ratio" und „fides" zwei Stufen des gleichen Erkenntnisvor-
gangs, dessen letztes Ziel Gott ist. Aus ihm strömt sowohl das natürliche
Licht der Vernunft als auch das übernatürliche Lichte des Glaubens.
Wenn Dante durch Beatrices Mund in erster Linie „alle wichtigen
Punkte der Glaubenslehre . . . theologisch behandelt (hat)"", so folgte
er dabei im allgemeinen der kirchlich anerkannten theologischen Tradi-
tion, ohne von ihr abweichende Meinungen zu äußern. Daher liegt die
Bedeutung der Lehrgespräche mit Beatrice weniger in ihrem Inhalt als
in der Form, wie das philosophisch-theologische Gedankengut im Rah-
men der Dialoge zwischen Schüler und Lehrer dichterisch verarbeitet
worden ist. Das Zwiegespräch wird wie mit Vergil meist durch eine Frage
Dantes eröffnet, nimmt jedoch entsprechend der zunehmenden Schwie-
rigkeit der zu behandelnden Materie einen größeren Umfang an als die
Gespräche mit Vergil. Der 7., der 28. und der 29. Gesang des Paradiso
werden fast ganz durch Beatrices Reden ausgefüllt.

" K. V o s s l e r , Die Göttliche Komödie, Zweite umgearbeitete Aufl., Hei-


delberg 1925,1, 54.

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Wie Vergil setzt auch Beatrice bei ihrem Schüler bestimmte Kennt-
nisse voraus, auf die sie Bezug nimmt. Im Zusammenhang mit der Er-
klärung der Mondflecken im 2. Paradies-Gesang, einem die zeitgenös-
sische Kosmologie bewegenden und kontrovers diskutierten Thema,
knüpft Beatrice an die von Dante im „Convivio" (Conv. II, XIII, 9) ver-
tretene averroistische These an, welche die Mondflecken physisch aus
der verschiedenen Dichte der Mondsubstanz erklärt. Nachdem Dante,
Beatrice Aufforderung folgend, diese materialistisch-mechanistische
These in zwei Versen resümiert hat, widerlegt Beatrice deren beide
Hauptargumente und bietet die richtige Erklärung, wonach metaphy-
sisch begründete Unterschiede in der Leuchtkraft der Gestirne beste-
hen. Ein dreiteiliges Gespräch, strukturiert nach dem Beispiel der
scholastischen Argumentationsweise, wie Dante am Beginn des fol-
genden Gesanges feststellt: „provando e riprovando" habe ihm Beatri-
ce die „schöne Wahrheit" offenbart (Par. III, 2 f), d.h. indem sie die
richtige Meinung bewiesen und die falsche widerlegt hat. „Die Dürre
der straffen syllogistischen Gedankenführung - so bemerkt treffend
Herman Gmelin - wird ausgeglichen durch eine besondere Dichte der
metaphorischen Sprache"
Mit jedem weiteren Lehrgespräch wächst die Erkenntnis des Wande-
rers und vertieft sich sein religiöses Bewußtsein. In dem Maße, wie die
Erleuchtung seiner Vernunft zunimmt, steigert sich seine Sehkraft und
damit ein Vermögen, den während des Himmelsflugs kontinuierlichen
Zuwachs an Licht zu ertragen. Der gleiche Vorgang vollzieht sich im
Zusammenwirken von Dante und Beatrice. Indem beide zu immer hö-
heren Himmelsphären aufsteigen, gewinnt Dante nach und nach die
Fähigkeit, die Leuchtkraft von Beatrice Augen aufzunehmen, in denen
sich die göttliche Liebe widerspiegelt. Im Spiel der Augen, das einst
den jungen Dante in Liebe zu Beatrice hatte entbrennen lassen, wird
sich der Jenseitswanderer des geistigen Reifeprozesses bewußt, der ihm
den „iter ad Deum" eröffnet.
Da der Weg zu Gott - wie Dante im Einklang mit Thomas von
Aquin glaubt - über die intellektuelle Einsicht führt, gibt der Wande-

Dante Alighieri, Die Göttliche Komödie, Übersetzt v. H. G m e l i n ,


Kommentar, IIL Teil, Das Paradies, Stuttgart 1957, 56.

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rer vor seinem Eintritt in den letzten Himmel, den Kristallhimmel, von
dem aus er das Empyreum, den Sitz Gottes, schaut, Rechenschaft über
die Fundamente der christlichen Lehre in Form eine theologischen
Examens. Damit erreicht der die ganze „ C o m m e d i a " tragende Lern-
prozeß seinen Höhepunkt. Die Prüfung, die der Wanderer im A n g e -
sicht der Seligen über die drei theologischen Tugenden Glaube, Liebe
und H o f f n u n g , vor den Aposteln Petrus, Jakobus und Johannes ab-
legt, ist Dantes theologische Mündigkeitserklärung in A n a l o g i e zu sei-
ner moralischen Freisprechung durch Vergil auf dem Gipfel des Läute-
rungsberges.
Während der Wanderer bis dahin die ganze Jenseitsreise hindurch
als Fragender um Belehrung gebeten hat, werden nun von ihm in der
Rolle des Prüflings Antworten erwartet. Er soll sein Wissen präsentie-
ren, nicht um seine Prüfer zu überzeugen, die in Gott lesen, was er
weiß, sondern zum Ruhm des christlichen Glaubens, wie Beatrice dem
ersten der drei Prüfer, dem Apostel Petrus, erklärt: „per la verace fede,
a gloriarla/ di lei parlare è ben ch'a lui arrivi" (Par. X X I V , 44 f ) . Dieses
Glaubensbekenntnis ist - entsprechend Dantes Vorliebe für die A u f -
nahme von Riten und Zeremonien in die Dichtung - den Examina des
mittelalterlichen Universitätsbetriebes nachgestaltet, zugleich eine
willkommene Möglichkeit, lehrhafte Inhalte im Wechsel von Frage
und Antwort, von Rede und Gegenrede zu dramatisieren und dadurch
für den Leser attraktiv zu machen.
Die Examenssituation „wird mit bemerkenswerter Einfühlung in
den Seelenzustand eines Prüflings geschildert"^' Der Wanderer als
„baccialier", d.h. als Bakkalaureus, der bereits den ersten akademi-
schen Grad erworben hat, schickt sich an, in einer Diskussion mit sei-
nen Lehrern sein parates Wissen vorzuführen und rekapituliert im
Geist seine Kenntnisse, um sofort die an ihn gestellten Fragen beant-
worten zu können:

Sì come il baccialier s'arma e non parla


sin che Ί maestro la question propone

così m'armav' io d'ogni ragione (Par. XXIV, 46 f., 49)

' ' G. L e d i g , Dantes Göttliche Komödie in den einzelnen Gesängen aus


mittelalterlichem Denken erläutert, Jena 1943, 414.

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Dabei löst er nicht selbständig die Probleme, sondern trägt die von an-
deren bereits gefunden Lösungen vor (Par. XXIV, 48).
Bei seinen Antworten auf die Fragen der drei Prüfer hält sich der
Prüfling eng an die Quellen, aus denen er auch vorher sein Wissen ge-
schöpft hat: die „filosofici argumenti" (Par. XXVI, 25) einerseits und
die göttliche Offenbarung in der Bibel andererseits, „la larga ploia /
dello Spirito Santo ch'è diffusa / in su le vecchie e 'η su le nuove carte"
(Par. XXIV, 91 -93). Da es bei der Beantwortung der an die Grundla-
gen der christlichen Lehre rührenden Fragen auf höchste Genauigkeit
ankommt, zitiert der Prüfling die entscheidenden Aussagen wörtlich
auf Italienisch, so die Definition des Glaubens aus dem Brief des Pau-
lus an die Hebräer''® und so auch die Begriffsbestimmung der Hoff-
nung nach den „Sentenzen" des Petrus Lombardus'". Zitate, welche
- ebenso wie die anderen Antworten an die drei Apostel - Dantes
gründhche philosophisch-theologische Bildung bezeugen. Sie feiert
ihren Triumph in dieser Glaubensprüfung an der Schwelle des höch-
sten Himmels.
Dante war sich jedoch sowohl der Gefahr als auch der Grenzen einer
solchen Bildung bewußt. Unmittelbar vor dem Abschluß ihres letzten
Lehrgesprächs hält es Beatrice für angebracht, in den Höhen des Kri-
stallhimmels vor den geistigen Verirrungen der Menschen zu warnen.
Sie maßen sich in beiden Erkenntnisbereichen, dem philosophischen
wie dem theologischen, Urteile an, sogar wider besseres Wissen, und
scheuen sich nicht, die wichtigste Wahrheitsquelle, die Bibel, zu ver-
schweigen:

„Est fides sperandarum substantia rerum, argumentum non apparenti-


um" (Hebr. XI, 1) übersetzt als „fede è sustanza dl cose sperate / e argomemo
de le non parventi" (Par. XIV, 64 f).
„Est enim spes certa expectatio futurae beatitudinis, veniens ex Dei gra-
tia et meritis praecedentibus" (Sententiae III, 26, 1) übersetzt als „Spene . . .
è uno attender certo / de la gloria futura, il qual produce / grazia divina e pre-
cedente merto" (Par. XXV, 6 7 - 6 9 ) .

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Per apparer ciascun s'ingegna e face
sue i n v e n z i o n i . . . .
e'I Vangelio si tace. (Par. XXIV, 94-96)
Nicht nur das falsche Wissen ist zu verurteilen, auch das eitle Wis-
sen, das sich selbst genügen zu können meint"^. Da einer ungezügel-
ten Wahrheitssuche durch Gott unüberschreitbare Grenzen gesetzt
sind, muß sich der Mensch in seinem Wissensdurst zu bescheiden ler-
nen. Trotz seines Wissensenthusiasmus ist sich Dante stets bewußt ge-
wesen, daß die letzten Geheimnisse der christlichen Lehre dem nach
Erkenntnis strebenden Geist verschlossen bleiben.
Es ist daher ein unlösbares wissenschaftlichen Problem, nämlich die
Quadratur des Zirkels, die Dante als Vergleich heranzieht, um am Ziel
der Jensseitsreise das Versagen alles menschlichen Wissens gegenüber
der Vision des sich in drei konzentrischen Kreisen offenbarenden drei-
faltigen Gottes zu veranschaulichen:
Qual è Ί geomètra che tutto s' affige
per misurar Io cerchio, e non ritrova,
pensando, quel principio ond'elli indige,

tal era io a quella vista nova:


veder voleva come si convenne
l'imago al cerchio e come vi s'indova;

ma non eran da ciò le proprie penne:


se non che la mia mente fu percossa
da un fulgore in che sua voglia venne. (Par. XXXIII, 133-141)

Par. XIII, 114 ff.

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