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Friedrich Cramer

Chaos und Ordnung, Zufall und Notwendigkeit­


die Gratwanderung der Künste

1. Das Schöne und das Häßliche

>...Denn dos Schöne ist nichts,

als des Schrecklichen Anfang, den wir noch grade ertragen,

und wir bewundern es so, weil es gelassen verschmäht,

uns zu zerstören ... (

dichtete Rainer Maria Rilke in der 1 . Duineser Elegie. Seit myth ischer Vorzeit sind dos
Schöne und dos Erhobene,
­ Faszination und Schrecken, Ordnung und Chaos, Not
wendigkeit und Zufall,­ Form und Formauflösung immer wieder in Nachbarschaft ge
rückt worden. Dos Haupt der Medusa ist anziehend und abstoßend, faszinierend und
schrecklich zugleich, weil mit dem sogenannten Schönen der Übergang bezeichnet
ist, der zwischen Ordnung und Chaos verläuft. Dos Schöne und dos Schreckliche, ja,
dos Schöne und dos Häßliche gehören im Grunde zusammen, und nur dos statisch
bürgerliche Kunstverständnis
­ des 19. Jahrhunderts hot dieses Paar auseinanderdivi
diert. Kunst ist dynamisch bewegt, und nur so kann sie jedesmol neu sein.

2. Die prozessuale Natur der Welt


Seit Darwin, seit der Theorie vom Urknall, seit wir Entwicklungsbiologie treiben und
erfahren hoben, daß energetische, materielle und psychische Prozesse irreversibel
verlaufen können, wissen wir: Die Welt ist ein Prozeß. Nicht: Die Welt ist, sondern:
Die Welt geschieht. Sie ist in ständiger Bewegung, und es gibt in Wahrheit nichts,
was sich nicht bewegte: der Flußlauf, die Atome mit ihren elektromagneti~chen
Wechselwirkungen, die Lebewesen, die Erdgeschichte, die Geschichte des Kosmos.
Alle Ruhe- oder Haltepunkte,
­ olle Strukturen sind in Wirklichkeit nur Stadien, Durch
gangsstadien; die zeitlichen Beobachtungsmaßstäbe, die wir on sie anlegen, sind
strenggenommen inadäquat. Unser Planetensystem, der Newtonsche Zeitgeber, der
den Menschen einst als ewig galt, ist in Wirklichkeit entstanden und wird eines
Tages, longe noch dem Ende der Menschheit, auch wieder vergehen.
Wir unterscheiden nun zwischen zwei Formen der Zeit-Struktur: Die zyklische, in
sich zurücklaufende, die planetarische Zeit, die Zeit unserer Uhren einerseits und die
irreversibel prozedierende
­ Zeit andererseits, in der sich die Ereign isse eben nicht wie
erholen. Geburt und­ Tod sind unwiederholbar, ein Kunstwerk ist einmalig, Natur
geschichte und Geschichte,
­ mögen sie auch gelegentlich scheinbar rückläufig er
scheinen, sind ihrem­ Prinzip noch irreversibel. Evolutionen können sich nicht wieder

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holen. Es ist diese letztere Zeit- und Strukturform, in der die Produktion des Kunst­
werkes durch den Künstler stattfindet.

3. Der Zeitbaum und die klassische Physik


Eine zyklische Struktur in Form eines Prozesses ist per definitionem ein iterativer Pro­
zeß. Poincare, Julia, Mandelbrot und andere hoben zeigen können, daß Iterations­
prozesse in chaotische Regime führen, wenn sie gestört werden. Keine noch so stabil
erscheinende zyklische Bewegung wird in der Realität völlig ungestört verlaufen.
Selbst ein Wasserstoffatom wird eines Tages in irgendeine Sonne fallen und dort
Kernfusionsprozessen unterworfen sei n. Die beka nnte Mandelbrotmenge wi rd in
einem solchen Iterationsprozeß erzeugt. Mandelbrot schreibt dazu: >Die Anzahl M
von Fehlern zwischen den Zeitpunkten 0 und r mißt die Zeit, indem sie solche Zeit­
punkte zählt, in denen etwas Bemerkenswertes, etwas Besonderes, etwas Außer­
gewöhnliches passiert<, etwas, dos nicht in der Routine liegt. Die mathematisch­
Abb. 1: Mandelbrot­
menge topologischen Überlegungen Mandelbrots zur Charakterisierung von fraktalen,
chaotischen Konstrukten lassen sich bequem auf die Beschreibung der beiden Zeit­
modi tr und tj bzw. ihrer Übergänge anwenden. Der in der Mandelbrot-Menge
[Abb. 1) abgebildete Prozeß ist eine Iteration, für die die relativ einfache Gleichung
gilt: xn + I = f(xnl = xn2 + c(i). Bei bestimmten Relationen von x und c entsteht durch
Periodenverdopplung in immer neuen Bifurkationsprozessen die Mandelbrot-Menge
mit ihren selbstähnlichen, fraktalen, chaotischen Rändern, die bei weiterer Fortset­
zung der Iteration immer neue Knospen treibt. Mon kann diesen Prozeß deshalb zur
exakten Beschreibung von verzweigten Strukturen, von Stammbäumen verwenden. Er
geht stets durch chaotische Regime, >fängt sich< dann wieder während einiger Itera­
tionen, um erneut >ins Taumeln zu geraten<. Genau dieses Modell paßt auf die Be­
schreibung einer Zeitstruktur, die - wie unser Modell- beide Bewegungsrichtungen
enthält, reversible, zyklische, strukturerhaltende Perioden (t r ) und irreversible, chaoti­
sche, kreative, >ins Neuland vorstoßende< Prozesse (tJ Wir nennen diese Zeitstruktur,
in der die Zeit selbst evolviert, den Zeitbaum.

4. Chaos, Ordnung und die Entstehung des Neuen


Struktur, räumliche Struktur, ist d~mnach nichts anderes als gebremste, von einem
Attraktor eingefangene Zeit. Raum und Zeit sind zwei Aspekte ein und derselben
Sache, so wie noch Einstein Energie und Materie zwei Aspekte ein und derselben
Sache sind. So wie Energie und Materie in der Relativitätstheorie über den Faktor der
lichtgeschwindigkeit ineinander umgerechnet werden, so werden Raum und Zeit
über die Universalkonstanten 1t und 0 miteinander in Beziehung gesetzt.
Viele Erscheinungen, die die belebte Natur hervorbringt, empfinden wir spontan
als schön, hormon isch, symmetrisch. Es sind gewachsene Strukturen. Könnten sie sich
nicht genausogut chaotisch ausbreiten und unkontrolliert proliferieren wie Krebs­
zellen? Seit dem Altertum, beginnend mit Pythagoras, hoben sich Philosophen und
Naturforscher mit den natürlich vorkommenden Symmetrien und Proportionen be­
schäftigt. Und dabei ergab sich die erstaunliche Tatsache, daß natürliche Proportio­
nen sehr oft dem Goldenen Schnitt gehorchen.

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In Abb. 2 ist ein Fichtenzweig wiedergegeben, in dessen Musterung mon
schneckenförmige, helikale Figuren hineinlegen kann. Schon Goethe hot sich mit der
Spiraltendenz der ­ Natur befaßt und dieses Phänomen beschrieben: >Dos Spiral
system ist dos fortbildende, vermehrende, ernährende, als solches vorübergehend,
sich vom Vertikalsystem gleichsam isolierend. Im Überfluß fortwirkend, ist es sehr
bald hinfällig, dem Verderben
­ ausgesetzt; on dos Vertikalsystem angeschlossen, er
wachsen beide zu ­ einer Dauereinheit als Holz oder sonstiges Solide. Keins der bei
den Systeme kann allein gedacht werden. Sie sind immer und ewig beisammen; ober
im völligen Gleichgewicht bringen sie dos Vollkommenste der Vegetation hervor.<
Die Spiralen können ober auch in einer Ebene liegen wie zum Beispiel bei vielen
Korbblütlern. Abb. 3 zeigt den Blütenkorb einer Sonnenblume.
Seit langem ist­ bekannt, daß solche Spiralen eine auffallende, on pythagoräi
sche Zahlenmystik erinnernde Struktur besitzen. Es zeigt sich nämlich, daß die Zahl
der Knotenpunkte in­ einem bestimmten Satz von Spiralen dem Gesetz der Fibonacci
Reihe gehorcht, einer relativ einfachen Beziehung, in der dos folgende Glied immer
aus der Summe der beiden vorhergehenden gebildet wird: also 1, 1,2,3,5,8, 13,
21,34,55 usw. Also Fn = Fn_i + Fn- 2 , und diese hängt wiederum mit dem Goldenen
Schnitt zusammen, denn der Quotient zwischen benachbarten Gliedern nähert sich
dem Wert 1,618 ... [Goldener Schnittl.
Abb. 2: Fichlenzweig
Fibonacci-Reihe:

1,1,2,3,5,8,13,21,34,55.

Goldener Schnitt:

Der längere Teil (= d) verhält sich zum Ganzen (= 1)

wie der kürzere (= 1-d) zum längeren:

d: 1 = (l-d) : d

W=w o + _ I

W i +

w 2 +_1_

w3 + 1­

w 4 +

ws·· .

Näherungsformel: IW-Wnl const/qn 2

Bekanntlich spielt der Goldene Schnitt in der Architektur und bildenden Kunst eine
große Rolle. Häufig ­ wird dos Verhältnis des Goldenen Schnittes bewußt angewen
det, sehr oft sicherlich auch unbewußt.
Der Goldene Schnitt ist die irrationalste oller möglichen irrationalen Zahlen und
hot darum gleichzeitig
­ etwas mit Chaos zu tun. In bestimmten Bohnen und mathemati
schen oder graphischen
­ Beschreibungen von komplexen dynamischen Systemen brei
tet sich mit wachsender
­ Nichtlinearität dos Chaos immer stärker aus. Zum Schluß blei
ben als Trennlinien zwischen den Chaosbereichen nur wenige Kurven, und diese
schrumpfen schließlich auf eine allerletzte. Diese läßt sich mit dem Goldenen Schnitt Abb. 3: Sonnenblume

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in der oben beschriebenen Weise in Verbindung bringen: wiederum ein Hinweis auf
eine Harmonie an der Grenze von Ordnung und Chaos 2 Die irrationalsten Bahnen,
das heißt diejenigen, die nach dem Zahlenverhältnis der goldenen Zahl gebaut sind,
haben bei Störung die höchste Chance zu überleben. Sie können dem Einbruch des
Chaos am längsten standhalten.
Ist Schönheit eine
­ >Flucht nach vorne<? Entsteht Schönheit dann, wenn ein dyna
misches System gerade noch' vor dem Chaos ausweichen kann? Ist also Schönheit
eine >Gratwanderung<?
Zerfall und leben, der Teil und das Ganze sind über die lebendige Schönheit
miteinander verbunden, wenn Goethe sagt:

>Nun weiß man erst, was Rosenknospe sei,


Jetzt da die Rosenzeit vorbei;
Ein Spätling noch am Stocke glänzt,
Und ganz allein die Blumenwelt ergänzt.<

Ist >Schönheit< nicht nur eine Frage der Rezeption und Konvention, sondern eine den
Dingen und der Welt inhärente Eigenschaft 2 Hat die Welt am Rande des Chaos eine
g rundsätzl ich >schöne< Stru ktur?

5. Die Gratwanderung der Künste


Die oben besprochenen Fraktale ergeben Figuren von großem ästhetischen Reiz,
denen man eine bizarre
­ Schönheit nicht absprechen kann: Gerade in den Über
gangsgebieten zwischen Ordnung und Chaos, in den fraktalen Regionen, offenbart
sich diese ästhetische Kategorie. Ich möchte dafür noch einige weitere Beispiele aus
nichtphysikalischen Bereichen bringen.
Man kennt das ­ berühmte Selbstporträt von Albrecht Dürer, das in der Alten Pina
kothek in München ­ hängt: ein schöner junger Mann mit wallenden locken und ge
pflegtem Schnurrbart, gleichsam ein Idealbild an Schönheit. Ich habe mir erlaubt, ein
Foto des Porträts in der
­ Mitte zu halbieren und die bei den Hälften jeweils so zusam
menzusetzen, daß zwei­ Gesichter entstehen, eines mit gedoppelter linker, das ande
re mit gedoppelter rechter
­ Gesichtshälfte. Auffallenderweise sind sich die beiden Bil
der ganz unähnlich;­ denn nicht nur Dürers Gesicht, sondern alle menschlichen Ge
sichter sind unsymmetrisch. DarüBer hinaus sind die beiden künstlich entstandenen
Bilder furchtbar langweilig (s. Abb. 4, 4a, 4 bl.
Jede Spannung ist aus dem Gesicht verschwunden, und jedes Interesse an dem
Gesicht droht zu erlahmen.
­ Kunst ist eben nicht vollendete Harmonie, ist nicht Perfek
tion. Das wußten nicht
­ nur die abendländischen, sondern auch die klassischen islami
Abb. 4: Selbstportröt schen Künstler. Sie brachten in formschönen, hochstilisierten Kunstwerken absichtlich
von Albrecht Dürer.
Unsymmelrien an - weil die reine Symmetrie allein Allah vorbehalten sei!
Schönheit ist offenbar am ergreifendsten, am deutlichsten dort, wo sie an die
Grenze zum Chaos­ vorstößt, wo sie ihre Ordnung freiwillig aufs Spiel setzt. Schön
heit ist die schmale Gratwanderung zwischen dem Risiko zweier Abstürze: auf der
einen Seile die Auflösung aller Ordnung in Chaos, auf der anderen die Erstarrung in
Symmetrie und Ordnung. Nur auf diesem gefährlichen Grat entsteht Schönheit, wird
Gestalt, gedeiht Kunst. Das möchte ich an drei Beispielen erläutern.

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EI Greco, der Flüchtling aus Kreta noch der türkischen Eroberung, noch ganz der
erstarrten byzantinischen Ikonenmalerei verpflichtet, hot unter dem Eindruck seiner
neuen Heimat Spanien die Formen in unerhörter Weise gesprengt. Ein Beispiel hierfür
ist dos Bild >Gewitter über Toledo<, dos im Metropolitan Museum in New York hängt.
­
Eine Explosion on Farben und Formen, ober gerade noch vor dem Chaos zurück
schreckend. Nicht von ungefähr hotte EI Greco Schwierigkeiten mit der Inquisition!
Ein anderes Beispiel ist Wassily Kandinsky, besonders in der Periode von 1908
bis 1910, die im Münchner Lenbach-Haus so wundervoll dokumentierl ist. Vor dieser
Zeit hot Kondinsky ­ konventionell dekorativ in Jugendstilmanier gemalt, hübsch, an
sprechend. 1908 beginnt er, den gegenständlichen Stil zu verlassen, hält ober noch
on erkennbaren Gegenständen fest. Eine unglaubliche Folge von Komplexitäten,
farblichen Explosionen
­ entwickelt sich. 1910/11 ist dann diese fantastische Über
gongsphase beendet. Dos Gegenständliche wird vollends verlassen, eine abstrakte,
konstruktivistische Malerei
­ beginnt, von der mon nicht sogen kann, ob sie noch chao
tische Elemente enthält oder schon neue, von Erstarrung bedrohte Ordnung ist.
Es ist geradezu die genuine Aufgabe des Künstlers, die Grenze zwischen Chaos
Abb. 4a: Atbrecht
und Ordnung, zwischen Zufall und Notwendigkeit auszuloten, ständig gegen die
Dürer, Selbstporträt
Schranken eines statischen Weltbildes anzurennen, um der jederzeit vom Erstarren, (zusammengesetzt aus
von einer inneren Eiszeit, von bürgerlicher Kälte, von sattem Schlagfluß, von ­ dumpfer zwei rechten Gesichts
hälftenl
Selbstzufriedenheit ­ bedrohten Welt ihre Dynamik wiederzugeben. Aus diesem Grun
de sind Künstler häufig in der Loge, Entwicklungen umJahrzehnte vorauszuahnen und
darzustellen: Thomas ­ Mann in seinem >Zauberberg<, Musil im >Mann ohne Eigen
schaften<, Kafka im ­>Prozeß<, Picasso in >Guern ica<, Max Ernst in vielen sei ner surrea
listischen Bilder. Auch die
­ Dadaisten hoben auf eine freilich etwas verspielte und hu
moreske Art den dynamischen Weltprozeß unterstützt. Überhaupt scheint mir Ironie,
Spott und Verulkung ein legitimes Mittel, on dieser gefährlichen Grenze noch >den
Kopf über Wasser zu holten< Denn Kunst on der Grenze zum Chaos zu schaffen
kann Überforderung und Gefährdung für Kunstwerk und Künstler bedeuten. Hölderlin
geriet on diese unheimliche
­ und gefährliche Grenze, von der er sich in die Geistes
krankheit zurückgezogen hot. Ich möchte dos on seinem Gedicht >In lieblicher Bläue<
erläutern, dos, wie es in den Literaturgeschichten heißt, aus der >Zeit der geistigen
Umnachtung< stammt und entstanden ist, nachdem Hölderlin schon etwa 15 Jahre im
Tübinger Turm am Neckar zugebracht holle. Dos Gedicht beginnt einfach, schlicht,
verholten, >ordentlich<.
­ Dann unversehens, in der Mitte, bricht dos alte Feuer, dos dro
hende, unerträgliche Chaos noch einmal durch, um alsbald wieder zu verlöschen.
Dos Gedicht hot nur diese eine aufbrechende Stelle, dann fällt es in beschauliche
Ordnung zurück.

In lieblicher Bläue ..

In lieblicher Bläue blühet mit dem

Metallenen Dache der Kirchturm. Den

Umschwebet Geschrei von Schwalben, den

Umgiebt die rührendste Bläue. Die Sonne


Abb. 4b: Atbrecht
Gehet hoch darüber und färbet dos Blech,
Dürer, Selbstporträt
(zusammengesetzt aus
Im Winde ober oben stille

­zwei linken Gesichts


Krähet die Fahne.
hälften)

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Und so ruhig geht es eine ganze Weile weiter. Plötzlich bricht es auf:

Gibt es auf Erden ein Maß? Es gibt


Keines. Nämlich es hemmen den Donnergong nie die Welten
Des Schöpfers. Auch eine Blume ist schön, weil
Sie blühet unter der Sonne. Es findet
Dos Aug' oft im Leben Wesen, die
Viel schöner noch zu nennen wären
Als die Blumen. O! Ich weiß dos wohl! Denn
Zu bluten on Gestalt und Herz und ganz
Nicht mehr zu sein, gefällt dos Gott?

Und hier ist die unerträglich gewordene Gratwanderung beendet. Der Abstieg, ja
Absturz beginnt, ins­Abstrakte weisende Ordnung und gedankliche Ermüdung brei
ten sich aus.

Die Seele ober, wie ich glaube, muß

Rein bleiben, sonst reicht on dos Mächtige

Mit Fittichen der Adler mit lobendem Gesange

Und der Stimme so vieler Vögel. Es ist

Die Wesenheit, die Gestalt ists.

Du schönes Bächlein, du scheinst rührend,

Indem du rollest so klar, wie dos

Auge der Gottheit, durch die Milchstraße.

6. Ein neuer Laokoon


Ein Kunstwerk ist neu. Neues entsteht beim Durchgang durch chaotische Zonen.
Kunstschöpfung ist ein Akt in größtmöglicher Nähe zum >Gerade-noch-nicht-Chaos<.
Wenden wir uns einen Augenblick einem Kunstwerk zu, z. B. einem Gemälde von
Kandinsky. Dos Werk ­ ruht doch? Hängt es nicht seit SOJahren on der Wand? Repe
tiert es nicht in einem
­ tr-Modus die immer gleiche Aussage? Nein! Dos in einer Grat
wanderung erzeugte und im Zeitmodus tj entstandene Kunstwerk enthält im wahrsten
Sinne den Augen-Blick ­ des Künstlers, und eben dos macht es zum Kunstwerk, daß die
ser Augenblick vollendet festgeh~lten wurde, ober seinen nur mit tj beschreibbaren
Schöpfungsprozeß nie­ mehr verleugnen kann. Und so fallen der Augen-Blick des Be
trachters und des Künstlers zusammen. Lessing hot darüber bekanntlich im Laokoon
geschrieben:
>Kann der Künstler
­ von der immer veränderlichen Natur nie mehr als einen einzi
gen Augenblick, und der Maler insbesondere diesen einzigen Augenblick auch nur
aus einem einzigen Gesichtspunkte, brauchen; sind ober ihre Werke gemocht, nicht
bloß erblickt, sondern­ betrachtet zu werden, longe und wiederholtermaßen betrach
tet zu werden: so ist­ es gewiß, daß jener einzige Augenblick und einzige Gesichts
punkt dieses einzigen Augenblickes, nicht fruchtbar genug gewählet werden kann ...
Ferner erhält dieser einzige Augenblick durch die Kunst eine unveränderliche Dauer:
so muß er nichts ausdrücken, was sich nicht anders als transitorisch denken läßt.<

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Und ein besonders schönes Beispiel für die Beschreibung des kreativen Raum­
Zeit-Sprunges hat uns Wolfgang Amodeus Mozart in einem Brief über seine Kompo­
sitionsweise überliefert. Ich zitiere nach Wo!fgong Hildesheimer:
>Da wird es immer größer und ich breite es immer weiter und heller aus, und das
Ding wird im Kopf wahrlich fast fertig, wenn es auch lang ist, sodaß ich's hernach mit
einem Blick gleichsam wie ein schönes Bild oder einen hübschen Menschen im Geist
übersehe, und es auch gar nicht nacheinander, wie es hernach kommen muß, in der
Einbildung höre, sondern wie gleich alles zusammen. Das ist ein Schmaus! Alles, das
Finden und Machen geht in mir nun nur in einem schönen starken Traum vor. Aber das
Überhören, so alles zusammen, ist doch das Beste<
Das ist der Augenblick der Kunst, der Zusammenbruch der reversiblen Raum­
Zeit-Struktur im schöpferischen Moment, der Ordnung-Chaos-Ordnung-Übergang:
Das ist der Schnittpunkt zwischen der Zeit und den Künsten.

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