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dichtete Rainer Maria Rilke in der 1 . Duineser Elegie. Seit myth ischer Vorzeit sind dos
Schöne und dos Erhobene,
Faszination und Schrecken, Ordnung und Chaos, Not
wendigkeit und Zufall, Form und Formauflösung immer wieder in Nachbarschaft ge
rückt worden. Dos Haupt der Medusa ist anziehend und abstoßend, faszinierend und
schrecklich zugleich, weil mit dem sogenannten Schönen der Übergang bezeichnet
ist, der zwischen Ordnung und Chaos verläuft. Dos Schöne und dos Schreckliche, ja,
dos Schöne und dos Häßliche gehören im Grunde zusammen, und nur dos statisch
bürgerliche Kunstverständnis
des 19. Jahrhunderts hot dieses Paar auseinanderdivi
diert. Kunst ist dynamisch bewegt, und nur so kann sie jedesmol neu sein.
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holen. Es ist diese letztere Zeit- und Strukturform, in der die Produktion des Kunst
werkes durch den Künstler stattfindet.
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In Abb. 2 ist ein Fichtenzweig wiedergegeben, in dessen Musterung mon
schneckenförmige, helikale Figuren hineinlegen kann. Schon Goethe hot sich mit der
Spiraltendenz der Natur befaßt und dieses Phänomen beschrieben: >Dos Spiral
system ist dos fortbildende, vermehrende, ernährende, als solches vorübergehend,
sich vom Vertikalsystem gleichsam isolierend. Im Überfluß fortwirkend, ist es sehr
bald hinfällig, dem Verderben
ausgesetzt; on dos Vertikalsystem angeschlossen, er
wachsen beide zu einer Dauereinheit als Holz oder sonstiges Solide. Keins der bei
den Systeme kann allein gedacht werden. Sie sind immer und ewig beisammen; ober
im völligen Gleichgewicht bringen sie dos Vollkommenste der Vegetation hervor.<
Die Spiralen können ober auch in einer Ebene liegen wie zum Beispiel bei vielen
Korbblütlern. Abb. 3 zeigt den Blütenkorb einer Sonnenblume.
Seit langem ist bekannt, daß solche Spiralen eine auffallende, on pythagoräi
sche Zahlenmystik erinnernde Struktur besitzen. Es zeigt sich nämlich, daß die Zahl
der Knotenpunkte in einem bestimmten Satz von Spiralen dem Gesetz der Fibonacci
Reihe gehorcht, einer relativ einfachen Beziehung, in der dos folgende Glied immer
aus der Summe der beiden vorhergehenden gebildet wird: also 1, 1,2,3,5,8, 13,
21,34,55 usw. Also Fn = Fn_i + Fn- 2 , und diese hängt wiederum mit dem Goldenen
Schnitt zusammen, denn der Quotient zwischen benachbarten Gliedern nähert sich
dem Wert 1,618 ... [Goldener Schnittl.
Abb. 2: Fichlenzweig
Fibonacci-Reihe:
1,1,2,3,5,8,13,21,34,55.
Goldener Schnitt:
d: 1 = (l-d) : d
W=w o + _ I
W i +
w 2 +_1_
w3 + 1
w 4 +
ws·· .
Bekanntlich spielt der Goldene Schnitt in der Architektur und bildenden Kunst eine
große Rolle. Häufig wird dos Verhältnis des Goldenen Schnittes bewußt angewen
det, sehr oft sicherlich auch unbewußt.
Der Goldene Schnitt ist die irrationalste oller möglichen irrationalen Zahlen und
hot darum gleichzeitig
etwas mit Chaos zu tun. In bestimmten Bohnen und mathemati
schen oder graphischen
Beschreibungen von komplexen dynamischen Systemen brei
tet sich mit wachsender
Nichtlinearität dos Chaos immer stärker aus. Zum Schluß blei
ben als Trennlinien zwischen den Chaosbereichen nur wenige Kurven, und diese
schrumpfen schließlich auf eine allerletzte. Diese läßt sich mit dem Goldenen Schnitt Abb. 3: Sonnenblume
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in der oben beschriebenen Weise in Verbindung bringen: wiederum ein Hinweis auf
eine Harmonie an der Grenze von Ordnung und Chaos 2 Die irrationalsten Bahnen,
das heißt diejenigen, die nach dem Zahlenverhältnis der goldenen Zahl gebaut sind,
haben bei Störung die höchste Chance zu überleben. Sie können dem Einbruch des
Chaos am längsten standhalten.
Ist Schönheit eine
>Flucht nach vorne<? Entsteht Schönheit dann, wenn ein dyna
misches System gerade noch' vor dem Chaos ausweichen kann? Ist also Schönheit
eine >Gratwanderung<?
Zerfall und leben, der Teil und das Ganze sind über die lebendige Schönheit
miteinander verbunden, wenn Goethe sagt:
Ist >Schönheit< nicht nur eine Frage der Rezeption und Konvention, sondern eine den
Dingen und der Welt inhärente Eigenschaft 2 Hat die Welt am Rande des Chaos eine
g rundsätzl ich >schöne< Stru ktur?
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EI Greco, der Flüchtling aus Kreta noch der türkischen Eroberung, noch ganz der
erstarrten byzantinischen Ikonenmalerei verpflichtet, hot unter dem Eindruck seiner
neuen Heimat Spanien die Formen in unerhörter Weise gesprengt. Ein Beispiel hierfür
ist dos Bild >Gewitter über Toledo<, dos im Metropolitan Museum in New York hängt.
Eine Explosion on Farben und Formen, ober gerade noch vor dem Chaos zurück
schreckend. Nicht von ungefähr hotte EI Greco Schwierigkeiten mit der Inquisition!
Ein anderes Beispiel ist Wassily Kandinsky, besonders in der Periode von 1908
bis 1910, die im Münchner Lenbach-Haus so wundervoll dokumentierl ist. Vor dieser
Zeit hot Kondinsky konventionell dekorativ in Jugendstilmanier gemalt, hübsch, an
sprechend. 1908 beginnt er, den gegenständlichen Stil zu verlassen, hält ober noch
on erkennbaren Gegenständen fest. Eine unglaubliche Folge von Komplexitäten,
farblichen Explosionen
entwickelt sich. 1910/11 ist dann diese fantastische Über
gongsphase beendet. Dos Gegenständliche wird vollends verlassen, eine abstrakte,
konstruktivistische Malerei
beginnt, von der mon nicht sogen kann, ob sie noch chao
tische Elemente enthält oder schon neue, von Erstarrung bedrohte Ordnung ist.
Es ist geradezu die genuine Aufgabe des Künstlers, die Grenze zwischen Chaos
Abb. 4a: Atbrecht
und Ordnung, zwischen Zufall und Notwendigkeit auszuloten, ständig gegen die
Dürer, Selbstporträt
Schranken eines statischen Weltbildes anzurennen, um der jederzeit vom Erstarren, (zusammengesetzt aus
von einer inneren Eiszeit, von bürgerlicher Kälte, von sattem Schlagfluß, von dumpfer zwei rechten Gesichts
hälftenl
Selbstzufriedenheit bedrohten Welt ihre Dynamik wiederzugeben. Aus diesem Grun
de sind Künstler häufig in der Loge, Entwicklungen umJahrzehnte vorauszuahnen und
darzustellen: Thomas Mann in seinem >Zauberberg<, Musil im >Mann ohne Eigen
schaften<, Kafka im >Prozeß<, Picasso in >Guern ica<, Max Ernst in vielen sei ner surrea
listischen Bilder. Auch die
Dadaisten hoben auf eine freilich etwas verspielte und hu
moreske Art den dynamischen Weltprozeß unterstützt. Überhaupt scheint mir Ironie,
Spott und Verulkung ein legitimes Mittel, on dieser gefährlichen Grenze noch >den
Kopf über Wasser zu holten< Denn Kunst on der Grenze zum Chaos zu schaffen
kann Überforderung und Gefährdung für Kunstwerk und Künstler bedeuten. Hölderlin
geriet on diese unheimliche
und gefährliche Grenze, von der er sich in die Geistes
krankheit zurückgezogen hot. Ich möchte dos on seinem Gedicht >In lieblicher Bläue<
erläutern, dos, wie es in den Literaturgeschichten heißt, aus der >Zeit der geistigen
Umnachtung< stammt und entstanden ist, nachdem Hölderlin schon etwa 15 Jahre im
Tübinger Turm am Neckar zugebracht holle. Dos Gedicht beginnt einfach, schlicht,
verholten, >ordentlich<.
Dann unversehens, in der Mitte, bricht dos alte Feuer, dos dro
hende, unerträgliche Chaos noch einmal durch, um alsbald wieder zu verlöschen.
Dos Gedicht hot nur diese eine aufbrechende Stelle, dann fällt es in beschauliche
Ordnung zurück.
In lieblicher Bläue ..
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Und so ruhig geht es eine ganze Weile weiter. Plötzlich bricht es auf:
Und hier ist die unerträglich gewordene Gratwanderung beendet. Der Abstieg, ja
Absturz beginnt, insAbstrakte weisende Ordnung und gedankliche Ermüdung brei
ten sich aus.
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Und ein besonders schönes Beispiel für die Beschreibung des kreativen Raum
Zeit-Sprunges hat uns Wolfgang Amodeus Mozart in einem Brief über seine Kompo
sitionsweise überliefert. Ich zitiere nach Wo!fgong Hildesheimer:
>Da wird es immer größer und ich breite es immer weiter und heller aus, und das
Ding wird im Kopf wahrlich fast fertig, wenn es auch lang ist, sodaß ich's hernach mit
einem Blick gleichsam wie ein schönes Bild oder einen hübschen Menschen im Geist
übersehe, und es auch gar nicht nacheinander, wie es hernach kommen muß, in der
Einbildung höre, sondern wie gleich alles zusammen. Das ist ein Schmaus! Alles, das
Finden und Machen geht in mir nun nur in einem schönen starken Traum vor. Aber das
Überhören, so alles zusammen, ist doch das Beste<
Das ist der Augenblick der Kunst, der Zusammenbruch der reversiblen Raum
Zeit-Struktur im schöpferischen Moment, der Ordnung-Chaos-Ordnung-Übergang:
Das ist der Schnittpunkt zwischen der Zeit und den Künsten.
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