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schenkriegszeit befragten
Bönisch und Karen An-
dresen, die gemeinsam
mit Klaus Wiegrefe die-
ses Heft konzipierte, den
Augsburger Historiker
Andreas Wirsching (Seite
20). Wie Paris auf die
Weltwirtschaftskrise rea-
gierte, schildert Frank-
reich-Korrespondent Ste-
Wirsching, Bönisch, Andresen fan Simons (Seite 54).
Festgenommene jüdische
Männer in Baden-Baden nach
der Pogromnacht 1938
REPUBLIK
IN NOT Von Georg Bönisch
A
m Tag, als die Diktatur kam über Deutschland, war es durch-
gängig frostig – in der Hauptstadt des Reichs registrierten die
Meteorologen als höchste Temperatur minus 3,4 Grad, und
dass meist die Sonne schien, konnte an der Düsternis jener
Stunden nichts ändern.
Es war Montag, der 30. Januar 1933.
Die Berliner, die ihre Zeitungen aufschlugen, fanden auf der Seite „Ver-
mischtes“ je nach Geschmack interessante Nachrichten vor, etwa die Mel-
dung aus Köln, im Karneval sei nun „unser guter alter Walzer“ wieder zu
Hause, der von den Jecken ganz offenbar vermisst worden war. Oder die
Notiz, zwei lange gesuchte Postgeldräuber seien endlich gefasst worden.
Und vorn, im politischen Teil, lasen sie, was ihnen seit Jahren als Nor-
malität erschien, zwangsläufig wiederkehrend wie ein Geburtstag: Rück-
tritt der Reichsregierung am Wochenende. Kannte man doch längst,
Wahlen, Neuwahlen, eine Regierung nach der anderen, der Vorhof der
Republik flimmerte längst – und dann war er da, dieser Niemand aus
Österreich, der unbekannte Soldat, der „Bierkelleragitator“ (Hitler-
Biograf Ian Kershaw), Chef jener braunen Partei, die lange Zeit für vie-
SÜDDEUTSCHER VERLAG
27. April 1921 Die Alliierten fordern in einem 20. Juli 1932 Mit dem sogenannten Preußen-
Londoner Ultimatum 132 Milliarden Goldmark schlag setzt die Reichsregierung die geschäfts-
Reparationen. Im Dawes-Plan (1924) und im Young- führende preußische Regierung ab. Damit geht die
Plan (1929) wird die Reparationslast später modi- Staatsgewalt im größten Land der Weimarer
fiziert. 1932 wird auf der Konferenz von Lausanne Republik auf die Reichsregierung über, ein ent-
ein Ende der Reparationszahlungen ausgehandelt. scheidender Schritt in Richtung Zentralisierung
der Macht.
26. August 1921 Der Zentrumspolitiker
Matthias Erzberger wird von Rechtsradikalen er- 31. Juli 1932 Bei der Reichstagswahl wird die
mordet. NSDAP stärkste Partei.
24. Juni 1922 In Berlin erschießen Rechts- 6. November 1932 Erneut Wahl: Die NSDAP
extremisten Außenminister Walther Rathenau. Als verliert, bleibt aber stärkste Partei.
Reaktion auf den Mord wird am 21. Juli das Re-
publikschutzgesetz erlassen, das republikfeindliche 30. Januar 1933 Hindenburg ernennt Hitler zum
Bestrebungen mit schweren Strafen bedroht. Reichskanzler.
ULLSTEIN BILD
rechts standen oder links. an diesem Tag nicht zum Weltrevolution geschürt.
Einzigartige Bedingungen Reichskanzler ernannt wor-
herrschten damals, und ohne den, die „Welt, in der wir le-
sie wäre Hitler in der Versen- ben“, sagt Winkler, „sähe an-
kung geblieben. Da war ein ders aus“.
übermächtiger Reichspräsi- Der Zweite Weltkrieg, der
dent, der am Ende schwach nur 78 Monate nach dem 30.
wurde. Misstrauen in die De- Januar 1933 begann, kostete
spiegel special geschichte 1 | 2008 11
PARLAMENTSERÖFFNUNG 60 Millionen Menschen das Leben, Soldaten und verschiedenartige politische und soziale Inhalte zu-
Im Nationaltheater zu Zivilisten, Kinder, Frauen, Alte. Und Hitlers Hass grunde lagen. Voller Stolz bekannte dennoch Eberts
Weimar versammelte sich auf die Juden, der zum wichtigsten Punkt national- Parteifreund Eduard David, der Reichsinnenminister,
1919 die neugewählte sozialistischer Politik werden sollte, löste den Holo- nun sei Deutschland die „demokratischste Demo-
Nationalversammlung der caust aus mit fast sechs Millionen Ermordeten. kratie der Welt“. Ein Aufbruch, zweifelsohne.
Weimarer Republik. ™
Und noch jemand brach auf in jenem Jahr – Adolf
Hitler.
W
eimar, die Stadt im Thüringer Becken, um- Mit 16 hatte er die Schule geschmissen, Adolf sei,
geben von sanften Hügeln, ist gebaut auf sagte sein Lehrer, „widerborstig“ gewesen, „eigen-
geschichtsträchtigem Boden – und das Zen- mächtig, rechthaberisch und jähzornig“. Der Vater
trum der deutschen Klassik. Goethe und Schiller, will ihn zum Beamten machen, der Sohn aber glaubt,
die Dichterfürsten, lebten und arbeiteten hier, Kom- in seinen Adern fließe das Blut des Künstlers; bei
ponisten, Musiker, Architekten, Weimar steht für der Aufnahmeprüfung zur Akademie für Bildende
deutsche Kultur, für geistige Größe und Zivilisation, Künste in Wien rasselt er durch, sein Talent reicht nie
für Humanismus. und nimmer.
Und genau deshalb hatten sich hierhin, nach der Hitler malt, doch davon zu leben ist schwer, er
vierjährigen Barbarei des Ersten Weltkriegs und der entwickelt sich zu einem Außenseiter der Gesell-
sich anschließenden November-Revolution, Anfang schaft, der unter Obdachlosen schließlich den sozia-
1919 die gerade gewählten Volksvertreter zurückge- len Abstieg erlebt – eine gescheiterte Existenz auf der
zogen, um die Verfassung auszuarbeiten für einen Suche nach Sündenböcken für das eigene Versagen
demokratischen Bundesstaat, der eine Mischung sein und das Elend auf diesem Erdenball.
Hitler entwickelt sollte aus präsidialem und parlamentarischem Re-
gierungssystem.
Ob er schon in dieser Lebensphase zum besesse-
nen Rassisten wurde, ist historisch nicht gesichert.
sich zum Berlin, die Hauptstadt, war noch zu unruhig, der
Versammlungsort Weimar sollte also kenntlich ma-
Aber er las die Schriften obskurer antisemitischer
Autoren, und er verstand sich als „Großdeutscher“,
Außenseiter chen, dass das neue Deutschland sich rückbesinne ein Gegner also des Habsburgerreichs und Befür-
der Gesell- auf die Tradition der Klassiker – ein Signal für die
Siegermächte, die drei Wochen früher begannen, in
worter einer Vereinigung von Deutschland und
Österreich. Anhänger dieser Idee waren auch An-
schaft – eine Versailles bei Paris über einen endgültigen Friedens-
schluss zu beraten und zu verhandeln.
hänger eines extremen Nationalismus, der sich zu-
dem widerspiegelte in einem tiefen Hass gegen alles
gescheiterte Am 31. Juli nahm in Weimar die Nationalver-
sammlung die neue Verfassung an, mit 262 Jastim-
Jüdische.
Genau dieser Typ Bürger war auch ein gewisser
Existenz auf men gegen 75 Neinstimmen und einer Enthaltung,
wenige Tage später unterzeichnete sie der sozial-
Anton Drexler, Schlosser in der Münchner Eisen-
bahn-Hauptwerkstätte, der auf die Idee kam, man
der Suche nach demokratische Reichspräsident Friedrich Ebert.
Die Verfassung war zwar genuin demokratisch,
müsse endlich einmal eine „richtige“ Partei grün-
den, sollte heißen: eine nichtmarxistische Arbeiter-
Sündenböcken. aber dennoch ein Werk der Kompromisse, weil ihr partei. So entstand, am 5. Januar 1919, die Deutsche
AKG
D
ass die Republik von Beginn an auf schwa- Truppen und nach der
chen Füßen stand, zeigte sich bereits bei der Schließung von Zechen und
Reichstagswahl im Frühsommer 1920, nicht Kokereien durch die Be-
einmal ein Jahr nach Verabschiedung der Verfas- satzer geriet Deutschland
sung. Überraschend verlor die sogenannte Weimarer 1923 in eine schwere
Koalition aus SPD, dem konservativen Zentrum und Wirtschaftskrise. Die Folge
BPK (O.); AKG (U.)
I
nau – wohl der bedeutendste Politiker jener Zeit, ein m Jahr vier von Weimar versuchte ihr neuer
intellektueller Kopf, der gerade im italienischen Ra- Vorsitzender Hitler das erste Mal, die Macht in
pallo mit den Sowjets einen weitreichenden Vertrag Deutschland zu ergreifen, es war auch das Jahr,
(einschließlich des Verzichts auf Entschädigungen) in dem der rechtskonservative Schriftsteller Arthur
geschlossen hatte – und das erregte unbändigen Zorn. Moeller van den Bruck ein Buch veröffentlichte, des-
Ein auf fünf Jahre befristetes „Gesetz zum sen Titel als Schlagwort jedermann geläufig ist: „Das
Schutze der Republik“, verabschiedet wenige Wo- dritte Reich“. Nach dem ersten, dem Heiligen Römi-
chen nach dem Rathenau-Mord, sollte den demo- schen Reich Deutscher Nation, und dem zweiten,
kratischen Staat wehrhafter machen. Eine wirksame von Bismarck geschaffenen kleindeutschen Reich,
Waffe im Kampf gegen dessen Feinde konnte das das van den Bruck als unvollkommenes „Zwi-
Gesetz freilich schon deswegen nicht werden, weil schenreich“ einstufte, sollte das „Dritte Reich“ der
seine Anwendung einer Justiz anvertraut war, die Deutschen wieder großdeutsch sein – ein Reich mit
noch durchweg der wilhelminischen Zeit entstamm- Österreich.
te – und keinen Hehl machte aus ihrer Sympathie für Und als Heilslehre schloss die Sehnsucht nach ei-
die politische Rechte und ihrer Aversion gegen die nem solchen „Dritten Reich“ die völkische Idee eines
Demokratie. Großdeutschlands ebenso ein wie die Revision des
Die Statistik ist beeindruckend – und gleicher- Versailler Vertrags mit seiner Fixierung einer deut-
maßen ein Beweis der Verwerflichkeit: Bis 1924 schen Alleinschuld am Ersten Weltkrieg und milliar-
brachten rechtsradikale Attentäter mehr als 400 po- denschwerer Reparationszahlungen – die Revision
litische Gegner um, führt Zolling an. In nur 70 Fäl- war nicht nur ein Traum aller Nationalisten. Sie sei,
len gab es Verurteilungen, viele Angeklagte gingen urteilt der Mainzer Geschichtsforscher Andreas Röd-
straffrei aus, konnten rechtzeitig entkommen oder der, das entscheidende „Bewegungsgesetz der Au-
OPFER RECHTEN TERRORS wurden schon bald wieder aus der Haft entlassen. ßenpolitik in der Weimarer Republik“ gewesen.
Der Zentrumspolitiker Linke hingegen, vor allem Kommunisten, be- Hitler plante im November 1923 einen „Marsch
Matthias Erzberger wurde kamen die ganze Härte des Gesetzes zu spüren. Für auf Berlin“, um eben ein solches Reich zu errichten
am 26. August 1921 von 22 Morde ergingen zehn Todesurteile, dreimal ver- und Deutschland endlich zu befreien vom marxis-
Rechtsradikalen bei Bad hängten die Richter lebenslänglich, alle anderen An- tischen Chaos. Sein Vorbild war der italienische
Griesbach im Schwarzwald geklagten kamen für 15 Jahre hinter Gitter. Ermitt- Faschistenführer Benito Mussolini, der es mit dem
erschossen. Außenminister lungen, etwa die gegen die Mörder der KPD-Größen politischen Druckmittel eines „Marschs auf Rom“ ge-
Walther Rathenau ermor- Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, wurden stark schafft hatte, die Regierungsgewalt zu übernehmen.
deten Rechtsextremisten am behindert. Die Zeit schien Hitler deshalb reif, weil Deutsch-
24. Juni 1922 in Berlin. Auch die Justiz, das ist unzweifelhaft, trägt eine lands Wirtschaft immer mehr in der Krise versank.
große Verantwortung dafür, dass die Weimarer Re- Die Kriegslasten waren nun so drückend, dass der
publik letztendlich scheitern sollte – weil sie mithalf Wert des Geldes in rasender Geschwindigkeit verfiel
„an ihrer Überwältigung durch autoritäre und tota- und die Preise nach oben schossen; seither kennt
KOMFORTABLE HAFT litäre Bewegungen“, formuliert der Bonner Ge- die Ökonomie einen neuen Begriff: Hyperinflation.
In der Festungsanstalt schichtsforscher Karl Dietrich Bracher. Über Nacht waren Wohlhabende zu Fürsorge-
Landsberg bewohnte Hitler Bayern übrigens, Hitlers neue Heimat, hatte das empfängern geworden, der Staat, dem viele Bürger
1924 ein helles Zimmer, Republikschutzgesetz nicht anerkannt; inzwischen ihre Ersparnisse mündelsicher anvertraut hatten, hat-
und auch für die Zeitungs- steuerte die Landesregierung einen eindeutigen te seine Schulden gerade auf sie abgewälzt – diesen
lektüre war gesorgt. Rechtskurs, der allen extremistischen Organisatio- Vorgang brandmarkte ein Zeitgenosse als „eine der
größten Räubereien der Weltgeschichte“. Massen-
elend war die Folge, und der Alltag geriet zum
Kampf ums nackte Überleben.
Ironisch-nüchtern beschreibt eine Hauptfigur in
Erich Maria Remarques Roman „Drei Kameraden“
SÜDDEUTSCHER VERLAG (O.); KEYSTONE (M.); ULLSTEIN BILD (U. L.); GHS-ARCHIV (U. R.)
Besessenheit, das lange niemand ernst nahm. ein Labor immer Bes-
Schon im Dezember 1924 kam er wieder frei – und seres hervor. Die Bau-
schnell zu spüren, dass Führerautorität und martia- haus-Architekten, die
lische Sprüche allein die inzwischen in rivalisierende Expressionisten, freche
Gruppen auseinandergefallene NSDAP nur schwer- Chansons und Filme
lich in Schwung bringen konnten. Hitler erwirkte („Metropolis“), die Kult
die Wiederzulassung der Partei gegen das Verspre- wurden. Oder die groß-
chen, nie wieder zu putschen – bei der zweiten Par- artigen Romane eines
teitaufe am 27. Februar 1925 im Münchner „Bürger- Thomas Mann („Der
bräukeller“ schworen ihm 4000 jubelnde Genossen Zauberberg“), Alexan-
auf ewig Treue. der Döblin („Berlin
™
Alexanderplatz“) oder
Carl Zuckmayer („Der
Z
wischenzeitlich hatte sich die Jungrepublik fröhliche Weinberg“).
einigermaßen erholt, vor allem dank der klu- Frauen schnitten alte
gen Politik eines Außenministers, der schon Zöpfe ab – ihr Bubikopf
zuvor als kurzzeitiger Reichskanzler mit einer Neu- wurde zum Markenzei-
spiegel special geschichte 1 | 2008 15
WEIMARS ENDE
chen. In der Jazzoper Keine andere Aktion hat Hitler dem mittelständi-
„Jonny spielt auf“ sang schen Bürgertum so bekannt gemacht wie diese
der Chor: „Die neue Kampagne, die all die Gefühle von Angst, Ohnmacht
Zeit bricht an / Versäumt und Wut wieder aufpeitschte – eine Seelenlage, die
den Anschluss nicht / Die für einen Großteil der Deutschen verbunden war
Überfahrt beginnt / Ins mit dem Begriffspaar „Versailles“ und „Reparatio-
unbekannte Land der nen“, wobei freilich längst klar war, dass die im an-
Freiheit.“ stehenden Young-Plan festgelegten neuen Zahlungs-
Das Leben als Expe- verpflichtungen deutlich günstiger ausfielen als die
riment, als zu kurzes vorherigen.
freilich. Alle Unbeküm- Auch wenn das Plebiszit scheiterte – jetzt war
mertheit konnte nicht zum ersten Mal die „Nationale Opposition“ beisam-
darüber hinwegtäuschen, men, die Hitler später an die Macht bringen sollte.
dass dieser Aufschwung Der NSDAP-Chef hatte, auch erstmalig, sein takti-
weder mit politischer sches Konzept erprobt, mit dem er von nun an vor
Stabilität zu tun hatte die Wähler treten wollte: konservativ und zugleich
noch mit wirtschaftli- reformerisch zu sein, für Veränderung und für Kon-
chem Aufblühen, son- tinuität, antikapitalistisch und doch gegen Verprole-
dern ein Produkt „unge- tarisierung – raffinierte Antwort auf die restaurativen
heurer seelischer Span- und revolutionären Wunschvorstellungen so vieler
nungen und künstleri- autoritätsgläubiger Deutscher.
scher Schöpfungskraft“ Die Stimmung im Land war, fast durch alle ge-
war, analysiert der Ge- sellschaftlichen Schichten, pro rechts. In Scharen lie-
schichtsforscher Hagen fen Studenten über zur Hitler-Partei, und Bauern in
Schulze. Schleswig-Holstein bombten gegen Regierungsge-
Weil die extremen bäude; sie glaubten, ein Sieg der Nationalsozialisten
Linken und die extremen auf parlamentarischem Weg werde zu lange brau-
Rechten die große Mehr- chen, pure Gewalt war ihnen lieber. Alte Landfrau-
heit der Weimarer Sze- en trugen an ihren Schürzen plötzlich das Haken-
WARNUNG VOR DER nerie bildeten, wurde der sowieso aus scharfer Front- kreuzabzeichen, weil sie überzeugt seien, heißt es in
RECHTEN GEFAHR stellung erwachsene Grunddissens der Deutschen einem Polizeibericht, nur Hitlers Nationalsozialisten
Im Jahr 1932 brachte die noch verstärkt. Die Avantgarde-Kunst von Weimar könnten die „Retter“ aus dem Elend sein.
satirische Wochenzeit- fand weit mehr Gegner als Freunde, Goebbels’ Am 3. Oktober 1929 starb Stresemann, der viel-
schrift „Simplicissimus“ Angriffe auf die „Asphaltkultur“ hatten nicht nur leicht die Wende geschafft hätte, und drei Wochen
eine Karikatur von Adolf ein Echo bei seinen Nationalsozialisten, sondern später gingen vom Börsenplatz New York aus
Hitler und Alfred Hugen- auch in der soliden Bürgerschaft, die etwa auf Schockwellen um den Globus – die Aktienkurse wa-
berg, dem einflussreichen die „Amerikanisierung“ der Kultur mit Befremden ren erdrutschartig eingebrochen. Deutschland traf
rechten Medienmogul. reagierte. dieser Sturz auf viel brutalere Weise als andere eu-
Das Volk war gespalten: zwischen dem Willen zur ropäische Länder, weil es wegen kurzfristiger Kredi-
Modernität und der Angst davor, zwischen Radika- te vollkommen abhängig war vom amerikanischen
lismus und Resignation. Kapitalmarkt.
DER AUSGLEICHENDE Historiker haben die Zeit der Weimarer Republik Eine wieder einbrechende Wirtschaft und das
Gustav Stresemann war in drei Phasen eingeteilt – erst die Krisenjahre mit damit zwangsläufig verbundene Hochschnellen der
Mitbegründer der Deut- zahlreichen Umsturzversuchen, Unruhen und der Erwerbslosigkeit – Anfang 1930 waren gut drei
schen Volkspartei. Als Hyperinflation, dann die „Goldenen Zwanziger“, in- Millionen Personen arbeitslos, also etwa 15 Prozent
Außenminister gelang es nenpolitisch nahezu windstill, außenpolitisch erfolg- aller Arbeiter und Angestellten – radikalisierte die
ihm, die Isolation der reich und von gewisser ökonomischer Stabilität. Und Menschen entscheidend, und der Neid der Bedrück-
Republik aufzubrechen. jetzt begann Phase drei: mit der Weltwirtschaftskri- ten wuchs.
se, dem Aufstieg der Nazis und der Agonie und dem Gleichermaßen radikalisierte sich die Politik: Im-
Tod der Demokratie. mer mächtiger werdende Kreise in Industrie und
™
Landwirtschaft drängten den Reichspräsidenten Hin-
denburg, doch endlich die Richtung zu wechseln.
E
nde 1928 erließ Hitler neue Richtlinien für die Sie waren das ständige parlamentarische Kräfte-
Propagandaarbeit seiner Partei: Die üblichen spiel leid und machten sich deshalb für eine auto-
Angriffe auf Konservative wurden gestoppt, ritäre Regierung stark, die – unabhängig vom politi-
stattdessen aktivierte er den Kampf gegen Marxis- schen Flickenteppich Reichstag – den für die herr-
mus, die Internationale und das Judentum, es war ein schenden wirtschaftlichen Verhältnisse angeblich zu
Rechtsschwenk großen Ausmaßes. Wer das noch arbeitnehmerfreundlichen Sozialstaat überwinden
nicht verstanden hatte, der musste es begreifen im sollte.
Sommer 1929. Und Hindenburg reagierte, als am 27. März 1930
Alfred Hugenberg, Vorsitzender der Deutsch- die Große Koalition aus Sozialdemokraten und Li-
nationalen Volkspartei (DNVP), ein Medienmogul, beralen an einer scheinbaren Marginalie scheiterte –
hatte den „Reichsausschuss für das deutsche Volks- der Frage, ob der Beitrag eines jeden zur Arbeits-
INTERFOTO (O.); CINETEXT (U.)
begehren“ gegen die „Kriegsschuldlüge“ und den losenversicherung um einen halben Prozentpunkt
Young-Plan gegründet; Hitler holte er mit ins Boot, angehoben werden sollte. Für den zurückgetretenen
und auch einzelne Industriebosse wie etwa den Stahl- SPD-Kanzler Hermann Müller, er war der 11. Regie-
magnaten Fritz Thyssen, der gleich den Flicks oder rungschef seit 1919, installierte Hindenburg einen
den Borsigs die NSDAP finanziell unterstützte. Zentrumsmann der konservativsten Sorte – Hein-
war ein weiterer Tag im schwarzen Kalender deut- entlassen und ihn durch den westfälischen Guts-
scher Irrwege. besitzer Franz von Papen ersetzt, der wie kein Zwei-
™
ter den Geist der alten preußisch-deutschen Adels- HITLERS VIZE
kaste verkörperte – und der eigentlich den immer Der adelige Gutsbesitzer-
T
atsächlich hatte der Reichspräsident, und mit aggressiver auftretenden Nationalsozialisten den sohn Franz von Papen
ihm die Vertreter des „erstarkenden groß- Wind aus den Segeln nehmen sollte. trat 1933 als Hitlers
agrarisch-schwerindustriell-militärischen Kar- Papen tat erst einmal etwas anderes, um seine Stellvertreter ins Kabinett
tells außerparlamentarischer Opposition“ (Histori- Rechtsregierung zu stärken. Im Juni hatte in Lau- ein.
spiegel special geschichte 1 | 2008 17
WEIMARS ENDE
Hitlers „mächtigste Ver-
bündete“ (Heinrich Au-
gust Winkler).
Jetzt trat General
Kurt von Schleicher auf
den Plan, ein enger
Vertrauter Hindenburgs,
dessen Einflüsterungen
auch bisher schon den
Niedergang der Republik
beschleunigt hatten.
Schleicher hatte im vor-
letzten Umlauf des Re-
gierungskarussells Papen
beerbt. Ihm schwebte,
um Deutschland aus
der Krise zu führen, ein
breites Bündnis aus Mi-
litärs, Gewerkschaftern
und Teilen der NSDAP
vor.
Der entmachtete Pa-
pen konnte noch einmal
kontern, zumal er auch
die Unterstützung ein-
flussreicher Industrieller,
Banker und ostelbischer
HITLERS BRAUNE HORDEN sanne eine Konferenz der Siegermächte beschlos- Grundbesitzer hatte. Um Schleicher zu stürzen, war
SA-Männer fuhren im offe- sen, Deutschland von der Last der Reparationen, bis dem westfälischen Adligen jedes Mittel recht – auch
nen Pritschenwagen durch auf einen kleinen Rest, zu befreien. ein Kanzler Hitler.
Straubing. Die paramilitäri- Die Propaganda um das „Diktat von Versailles“ Weimars letzte Wochen waren eine grandiose
sche Kampforganisation wäre also obsolet geworden. Sein Kabinett brachte, Fehleinschätzung auf allen Seiten – Hitler ausge-
hatte als brutale Schläger- um abzulenken, ein anderes Thema auf den Weg. nommen.
truppe einen wesentlichen Es machte für die ausufernde Gewalt das seit 1918 Vielleicht wäre die Ausrufung des Staatsnotstands
Anteil am Aufstieg der fast ununterbrochen sozialdemokratisch regierte die letzte Rettung gewesen, vielleicht gar eine vor-
NSDAP. Ihr Anführer Ernst Preußen verantwortlich, das „rote“ Preußen – weil übergehende Militärdiktatur. Jedoch, die Schlüssel
Röhm wurde 1934 auf dessen Polizei angeblich zu lasch sei gegenüber den zur eigentlichen Macht schienen „sicher in den Hän-
Befehl Hitlers erschossen. Kommunisten. den der Repräsentanten konservativer Werte zu lie-
Preußen gehörte zu den wenigen Glücksfällen gen“, urteilt der Berliner Historiker Wolfgang Benz.
dieser Republik ohne Fortune, denn das moderne Vorrangig waren das Hugenbergs DNVP, die Reichs-
Preußen zu dieser Zeit war die Hauptbastion der wehr und der „Stahlhelm“, ein einflussreicher Bund
Demokratie, und wer gewillt war, Weimar hinter sich früherer Frontkämpfer.
zu lassen, der musste diese republikanische Bastion Wer, wie der auserkorene Vizekanzler Papen und
schleifen. auch ausländische Beobachter, geglaubt hatte, im
So kam es dann am 20. Juli, drei Tage nach Alto- Amt werde Hitler schon „gezähmt“ und sich sodann
na. Im Handstreich („Preußenschlag“) ließ Papen vom Demagogen zum Staatsmann entwickeln, der
die Regierung absetzen und sich selbst zum Reichs- irrte genauso wie der designierte Wirtschaftsminister
kommissar für Preußen ernennen; an die Stelle des Hugenberg. Der nämlich war überzeugt davon, der
Einige geschassten sozialdemokratischen Berliner Polizei-
präsidenten trat ein Offizier der Reichswehr – Preu-
„österreichische Gefreite“ (Hindenburg) werde nur
eine Nebenrolle spielen können: „Wir rahmen Hitler
glaubten, wenn ßens Polizei, die noch ein Gegner hätte sein kön-
nen, war so gut wie ausgeschaltet.
ein“, es könne „nichts passieren“.
Um 17 Uhr an jenem 30. Januar 1933 fand die
Hitler erst mal Glatter könnte ein Verfassungsbruch nicht vor
sich gehen, aber das, was sich die Strategen Hinden-
erste Sitzung des „Kabinetts der nationalen Kon-
zentration“ unter Hitlers Leitung statt. Hauptthe-
ein Amt habe, burgs und Papens wohl erhofft hatten, blieb aus. We-
der beruhigte sich zu ihren Gunsten das politische
men: Neuwahlen, „Unterdrückung der KPD“, ein
möglicher Generalstreik. Vizekanzler Papen mel-
werde er Klima, noch festigte sich die Stellung der Regierung, dete sich zu Wort. Das deutsche Volk brauche
gezähmt sein ganz im Gegenteil. Bei den Reichstagswahlen weni-
ge Tage später gab es nur einen Sieger – Hitlers
„jetzt Ruhe“, und deshalb sei es „am besten, zu-
nächst vom Reichstag ein Ermächtigungsgesetz zu
und sich vom NSDAP. Sie holte 37,4 Prozent der Stimmen, das
war mehr als eine Verdopplung gegenüber 1930.
verlangen“.
Ermächtigungsgesetz, das hieß im Klartext: Ge-
Demagogen
DEUTSCHES HISTORISCHES MUSEUM
Und die Hitler-Partei drängte weiter massiv an setzgeber sollte die Regierung sein, nicht das Parla-
die Spitze, woran auch ein großer Stimmenverlust bei ment. Und das bedeutete: Schlussoffensive. Mit Adolf
zum den gut drei Monate später angesetzten Neuwahlen
nichts änderte. Weil nämlich die Kommunisten
Hitler, der kein Politiker im herkömmlichen Sinne
war, sondern Revolutionär und Ideologe, mit einem
Staatsmann 600 000 Stimmen hinzugewannen und so die magi-
sche Zahl von 100 Reichstagssitzen erreichten, war
Ziel nur, so Historiker Schulze, die Weltherrschaft
einer überlegenen Rasse zu errichten, „auf den
entwickeln. die Angst des Volks vor einem Bürgerkrieg fortan Knochen der Unterlegenen“. ✦
Der katalanische Schriftsteller Josep Pla über eine Begegnung mit dem
NSDAP-Führer in München im November 1923
HITLERS MONOLOG
✦
Hitler empfing Pla (1897 bis 1981) und den Journalisten Vertreibung. Für Spanien war die Judenfrage eine religiöse
Eugeni Xammar wenige Stunden bevor die National- Frage, für uns ist sie eine rassische Frage. Hier in Bayern ist
sozialisten die Münchner Feldherrnhalle stürmten. In man schon dabei, die Juden auszuweisen, die keine bayeri-
der spanischen Heimat der beiden Besucher war kurz schen Staatsbürger sind. Das ist der erste Schritt zu einer
zuvor der Diktator Primo de Rivera an die Macht allgemeinen Ausweisung.“
gekommen. Plas Bericht erschien am 28. November „Für uns“, fährt Hitler fort, „handelt es sich also um
1923 in der Tageszeitung „La Publicitat“. Auszüge: eine Rassenfrage. Deutschland muss von Deutschen und
mit deutschen Methoden regiert werden. Der Marxismus ist
die Verneinung unseres Geistes, der vor allem anderen na-
E
tional und patriotisch ist. Wir sind Sozialisten, wir interes-
s ist schwierig, Hitler zu treffen. Als echter sieren uns für alle Probleme der Arbeiterklasse, weil sie
Revolutionär führt er ein unstetes, bewegtes und deutsche Probleme sind, aber wir glauben nicht, dass es für
wildes Leben. Aber für uns ist es jetzt einfach. diese Probleme eine andere Lösung geben kann als die an-
Die Tatsache, dass wir spanische Staatsbürger timarxistische, das heißt den Nationalismus. Unsere Partei
sind, verleiht uns derzeit in Bay- heißt Nationalsozialistische Par-
ern moralische Kraft und erweist tei, und dieser Name macht deut-
sich als hilfreich. Wir brauchen lich, wo wir stehen. Wir haben
nur zur Redaktion von Hitlers nichts gegen die Kommunisten
Tageszeitung zu gehen und gleich einzuwenden. Wir haben die
am Eingang vor dem Portier ei- besten Beziehungen zu dieser
ne Hymne auf unseren Diktator Partei. Die kommunistischen Ar-
anzustimmen. In jedem anderen beiter sind keine unreinen Deut-
Land würde man uns für ver- schen, weil der Kommunismus in
rückt erklären, in München wird Deutschland nichts Widernatür-
dies und alles andere geduldet, liches ist. Für den Sieg zählen wir
solange es nur reaktionär ist … auf die Kommunisten. Gleichzei-
„Die politische Situation in tig sind wir entschlossene Befür-
Deutschland“, beginnt Hitler, „ist worter einer Allianz mit Russ-
unter dem Gesichtspunkt der land. Russland wird heute von
Würde unserer Partei, unter dem marxistischen Elementen regiert.
Gesichtspunkt der Würde unse- Die Rolle Deutschlands wird
rer Rasse ganz und gar unerträg- sein, die Regierung dieses großen
lich. Wir sind zu allem bereit, Landes im Osten von diesen Ele-
außer dazu, in diesem schänd- menten zu säubern und dafür zu
lichen, erbärmlichen Zustand zu sorgen, dass in Russland die
verharren. Selbst der Krieg ist fremdrassigen Elemente von den
besser, tausendmal besser als die reinen Elementen beherrscht
Fortdauer dieser erbärmlichen werden. Dann wird die Stunde
Sklaverei. Überall auf der Welt gekommen sein, Seite an Seite
haben die Männer der Ordnung zu marschieren, der großartigen
triumphiert, die Männer der ei- Zukunft entgegen, die vor dem
sernen Faust, die Patrioten, die Hitler posiert in bayerischer Trachtenjacke und Lederhose. deutschen und dem russischen
wahren Freunde ihres Vaterlands. Eine Aufnahme aus dieser Serie war 1926 für ein Titelbild Volk liegt.“
Wir jedoch werden noch immer des „Völkischen Beobachters“ vorgesehen. Die Bilder „Die Politik, die heutzutage
von einer Gruppe unheilvoller wurden jedoch von der NS-Publizistik nie veröffentlicht. mit uns getrieben wird“, sagt Hit-
Experimentierer beherrscht, von ler mit einem Nachdruck, der in
Marxisten und Juden, die vom Ausland gekauft sind. All das direktem Verhältnis zu seinem entfesselten Überschwang
muss ausgetrieben werden. Vor allem müssen wir generell, steht, „hat die moralische und körperliche Verarmung des
mit einer Explosion an allen Ecken des Reiches, das Juden- deutschen Volkes zum Ziel. Man will uns vernichten. Am
problem lösen. Wir werden dieses Problem durch eine Mas- Ende dieser Politik kann natürlich nur der Krieg stehen ...
senvertreibung lösen. Unser Vorbild ist das, was in Spanien der das Erwachen unserer Rasse bedeutet.“
mit den Juden geschehen ist, aber wir werden die spanische
HEINRICH HOFFMANN / BPK
Lösung noch verbessern. Wir werden den Juden nicht die Zitiert nach Eugeni Xammar: „Das Schlangenei. Berich-
Wahl lassen zwischen Konversion und Vertreibung, wie te aus dem Deutschland der Inflationsjahre 1922–1924“.
Spanien es getan hat. Nein. Wir sind schlicht und einfach für Berenberg Verlag, Berlin; 180 Seiten; 21,50 Euro.
RUSSISCHE
REVOLUTIONÄRE
Nach dem Bürgerkrieg in
Russland (1918 bis 1921)
hatten die Bolschewiki ihre
Macht behauptet. Bei der
Demonstration zum 1. Mai
1925 in Leningrad, wie
St. Petersburg seit Lenins
Tod 1924 hieß, fuhren die
Arbeiter mit einer Lenin-
Büste durch die Straßen.
BULLA
ken, wurde von Hitler aufgenommen, er bediente bewegung ist einfach eine Grundtatsache, der man
gung tunlichst dieses Empfinden.
SPIEGEL: Gab es diesen religiösen Führerkult nur in
nicht entkommt.
SPIEGEL: Hat die Weimarer Republik als Sozialstaat
zu vermeiden.“ Deutschland? versagt?
Königsberg
Danzig
Kiel
Rostock
Schwerin
Hamburg Stettin
Neubrandenburg
Bremen Wahlplakate der NSDAP
Wittenberge
Hannover Berlin
Münster Bielefeld
Magdeburg
Halberstadt
Dortmund Cottbus
Düsseldorf Leipzig
Kassel
Köln Weimar Breslau
Siegen Dresden S Ü D D E UT S C H E R V E R L AG
Fulda Plauen
Koblenz
Frankfurt
Würz-
burg
Bamberg
Mann-
heim Braune Stimmenflut
Kaisers- Nürnberg Wähleranteil der NSDAP nach Kreisen
lautern Ansbach Regensburg
bei der Reichstagswahl vom
Saarland* 31. Juli 1932
Stuttgart
5% bis unter 19 %
Ulm 19% bis unter 28%
* bis
1935 unter Völker-
bundverwaltung 28% bis unter 36%
München
Freiburg Rosenheim 36 % bis unter 44%
Quelle: Falter/Lindenberger/
Schumann, „Wahlen und Ab- 44% bis unter 73%
stimmungen in der Weimarer
Republik“
Im Oktober 1929 riss die Finanzkrise an der Wall Street die Weltwirtschaft in den Abgrund.
Die Weimarer Republik traf der Schock schwer. Doch erst die Deflationspolitik der
Regierung Brüning wurde Deutschland zum Verhängnis – und ebnete Adolf Hitler den Weg.
SCHOCKIERTE BÖRSIANER
Der Kurssturz an der New
Yorker Börse Ende Oktober
1929 löste eine weltweite
Wirtschaftskrise aus. In
Europa, Japan, Australien,
überall waren die Aus-
wirkungen zu spüren. Rund
16,4 Millionen Aktien
wurden an einem Tag
verramscht.
Der Kleine
S
chon der Morgen war anders als alle Tage, die tig an Wert, dann schwoll die Bewegung zu einer
Mann, das ist Winston Churchill bisher erlebt hatte. Der Massenflucht an. Jeder Händler wollte nur noch raus
ein Mann, mit spätere Premierminister Seiner Majestät, der aus dem Markt, egal zu welchem Preis.
auf einer Amerika-Reise in New York Station Am Montag setzte sich der Verfall fort, am Diens-
dem man alles gemacht hatte, schaute von seinem Zimmer im Lu- tag sackten die Kurse ins Bodenlose: Rund 16,4 Mil-
machen kann. / xushotel Savoy-Plaza hinaus auf die Fifth Avenue. lionen Aktien wurden an diesem Tag verramscht,
Dort drängten sich die Passanten, Feuerwehrleute ein Rekord, der fast 40 Jahre hielt. Existenzen wur-
Er steht auf eilten herbei, doch sie waren zu spät gekommen. den vernichtet, Träume waren zerplatzt. Das meiste
allen vieren „Direkt unter meinem Fenster hatte sich ein dessen, was in den Jahren zuvor an Papiervermögen
stramm, / bela- Gentleman 15 Stockwerke in die Tiefe gestürzt“, be- aufgetürmt worden war, hatte der Sturm an der Wall
richtete Churchill von der Begebenheit in der Frühe Street fortgeweht.
den mit dem des 25. Oktober 1929. Der Mann, der an diesem „Wenige Menschen verloren jemals so rapide an
Notprogramm, / Freitag in den Tod sprang, gehörte zu den Unglück- Ansehen“, resümierte später der Ökonom John Ken-
lichen, die erst ihr Vermögen verloren hatten und neth Galbraith, „wie die Bankleute von New York in
und wartet auf dann die Nerven. den fünf Tagen vom 24. bis zum 29. Oktober.“
den Schinder. / Später folgte Churchill einer Einladung an die Wall Einen Tag später endete Churchills Besuch in den
Street. Er nahm auf der Besuchertribüne der Börse USA, der Staatsmann nahm das Schiff zurück nach
Er schleppt und Platz, dort machte er seine zweite Grenzerfahrung an England. Es war gleichsam der Aufbruch in eine an-
darbt und nennt diesem Tag. Er wurde Zeuge einer Finanzkrise, wie dere Zeit.
es Pflicht, / sie die Welt noch nicht gesehen hatte. Der Börsenkrach von 1929 war der Auftakt zur
Die Kurse fielen und fielen und fielen, der Ticker ersten Weltwirtschaftskrise, die tatsächlich diesen
denkt nicht an ratterte ohne Unterlass, das Papierband konnte die Namen verdient; ihre Ausläufer waren bis nach Japan
sich und denkt Notierungen gar nicht so schnell ausspucken, wie sie und Australien zu spüren. Sie hat nicht nur zahllose
sanken. Ratlos standen die Händler auf dem Parkett, Menschen und Unternehmen ruiniert, sie hat die
auch nicht / sie sahen aus „wie die Zeitlupenaufnahme eines auf- Weltläufte verändert – und ganz besonders das Ge-
einmal an seine geschreckten Ameisenhaufens“, beschrieb Churchill, schehen in Deutschland. Das „Dritte Reich“, der
Kinder. was er von der Empore beobachten konnte. Zweite Weltkrieg, die Teilung des Landes: All das
Am Tag zuvor war die Verkaufswelle ins Rollen wäre ohne die globale Wirtschaftskrise nicht denkbar
ERICH KÄSTNER, 1931 gekommen. Erst verloren nur einzelne Papiere kräf- gewesen.
DPA
Kursgewinne die Schulden tilgen. „Massenflucht aus und Angestellte, 1924 waren es schon 4765. Ein Jahr ein Staubsauger vorgestellt.
spiegel special geschichte 1 | 2008 25
heißt es im Vorstandsbericht der Vereinigten Stahl-
werke zum Geschäftsjahr 1929.
Zahlreiche Unternehmen bauten Personal ab. In
Hagen beschäftigte die Eisen- und Stahlindustrie statt
42 000 Mitte 1930 nur noch gut 21 000 Menschen. Die
Arbeitslosenversicherung, 1927 in einer vergleichs-
weise günstigen konjunkturellen Lage gegründet,
rutschte tief ins Defizit.
Je mehr Menschen aber arbeitslos wurden oder
kurzarbeiteten, desto stärker schrumpfte die Nach-
frage nach Waren und Dienstleistungen, die Umsät-
ze von Handelsfirmen sanken erheblich: Möbelhäu-
ser verloren zwischen 1929 und 1932 die Hälfte ihres
Geschäfts, der Textileinzelhandel verzeichnete ein
Umsatzminus von 43 Prozent, vor allem aufgrund der
Preissenkungen. Entsprechend drosselte die Indu-
strie ihre Produktion und deren Zulieferer wiederum
ihre Fertigung. Die deutsche Wirtschaft war gefangen
in einer Abwärtsspirale.
In dieser Situation hätte es einer Person bedurft,
die mutig und entschlossen gegensteuert, die den
Markt mit Geld versorgt und so die Konjunktur auf
Touren bringt. Stattdessen ernannte Reichspräsident
Paul von Hindenburg einen Reichskanzler, der die
Spirale noch enger drehte.
Heinrich Brüning war bei Amtsantritt im März
1930 erst 44 Jahre alt, und doch fehlte ihm der Mo-
dernisierungswille, den ansonsten eine neue Gene-
ration auszeichnet. Mental war Brüning fest im Kai-
serreich verhaftet: ein glühender Nationalist, der im
Ersten Weltkrieg eine Maschinengewehreinheit ge-
führt und die Niederlage nur schwer verwunden hat-
te, privat ein Junggeselle, der als kontaktscheu galt
und asketisch lebte. Für den Historiker Golo Mann
war er „der katholische Bürger mit dem Geist eines
KANZLER BRÜNING später nahm die Stadt eine 15-Millionen-Dollar- Gelehrten, der Seele eines Mönchs zugleich und ei-
Heinrich Brüning war der Anleihe auf. Adenauer wollte Köln zur „Metropole nes Soldaten“.
falsche Mann für die des Westens“ machen: Er ließ den Festungsgürtel Seine wirtschaftspolitischen Vorstellungen waren
Bewältigung der Krise. Statt in eine Grünanlage umgestalten, erweiterte den gewissermaßen Ausdruck seiner Biografie. An obers-
dem wirtschaftlichen Rheinhafen, baute eine neue Rheinbrücke. Nach dem ter Stelle stand für ihn der Abbau der Reparations-
Abschwung gegenzusteuern, Börsenkollaps räumte er ein, dass er sich mit den forderungen. Unter allen Umständen wollte Brüning
bestand er auf einem kostspieligen Projekten übernommen hatte: „Wir Versailles revidieren und das Reich wenigstens von
harten Sparkurs. „Hunger- haben uns bei manchen, insbesondere außeror- dieser finanziellen Kriegsfolge befreien. Die Regie-
kanzler“ wurde er des- dentlichen Ausgaben die Grenzen der finanziellen rung habe dieses Ziel „jeden Tag, in jeder Stunde, in
halb im Volksmund genannt. Leistungsfähigkeit nicht genügend vor Augen ge- jedem Beschluss vor Augen“, versicherte er.
halten.“ Tatsächlich belasteten die Reparationsleistungen
Doch da war es zu spät. Die Amerikaner benötig- von Beginn an die Republik. 1929 machten die Zah-
ten nun jeden Dollar für sich selbst. Der Geldfluss lungen immerhin 17 Prozent des gesamten Werts der
stoppte abrupt, wie sich an der Entwicklung der deutschen Exporte aus. Unzumutbar freilich waren
Emissionen von Auslandsanleihen ablesen lässt: 1928 die Forderungen nicht. Brüning aber stilisierte sie
gewährten die USA dem Deutschen Reich noch Kre- zu einem Kardinalproblem hoch. Er nahm sogar die
dite im Wert von 277,1 Millionen Dollar, ein Jahr Verelendung weiter Teile der Bevölkerung in Kauf,
später waren es gerade noch 29,5 Millionen Dollar. bloß um den Siegermächten zu demonstrieren, dass
„Bei der Das ganze finanzielle Konstrukt, auf dem Weimars Deutschland viel zu arm sei, seinen Verpflichtungen
Wirtschaft ruhte, krachte in sich zusammen. nachzukommen.
großen wirt- Als Erste bekamen die deutsche Exportwirtschaft Wie besessen war Brüning von dieser Idee des Ge-
schaftlichen und die Bauindustrie leidvoll zu spüren, dass es sich sundschrumpfens, das in Wahrheit ein Kaputtsparen
beim Aufschwung nur um eine „Dollarscheinblüte“ war. Der „Hungerkanzler“, als der er bald bezeich-
Not muss jedes gehandelt hatte. Der Wert der ausgeführten Güter net wurde, schlug einen gnadenlosen Deflationskurs
Übermaß sank von 12,3 Milliarden Reichsmark im Jahr 1928 auf ein – und verschärfte die Krise damit noch.
5,7 Milliarden 1932, die Zahl der Beschäftigten in Gespart wurde an allem: an den Ausgaben für
an Feiern und der Bauwirtschaft ging um mehr als 60 Prozent den Wohnungsbau, an Krediten und Subventionen
Vergnügen zurück: von rund zwei Millionen auf 775 000. und vor allem an den Beamtengehältern. Die Staats-
vermieden Investoren stellten Bauprojekte zurück, Unter- bediensteten verzichteten in den Brüning-Jahren auf
nehmer kauften keine neuen Maschinen, weil die 19 bis 23 Prozent ihres Gehalts.
werden.“ Banken ihnen keinen Kredit mehr gaben. „Allent- Zuweilen nahmen die Anstrengungen groteske
ULLSTEIN BILD
halben macht sich der Kapitalmangel in Betriebsein- Züge an: „Bei der großen wirtschaftlichen Not, mit
Aus einer amtlichen Mitteilung
der Regierung Brüning schränkungen und Zahlungsstockungen bemerkbar“, der weiteste Kreise des deutschen Volkes zu kämp-
fälliges Gebilde zum Einsturz zu bringen“, so James. Lösung angeben können“. Der Reichskanzler habe
Ob die Banker wirklich die Hauptverantwortung vielmehr „wahrhaft heroisch“ die Bereinigung durch-
überwunden für die Kreditklemme trugen oder ob eher das leicht- gestanden.
werden könnte. fertige Finanzgebaren mancher Industrieller krisen-
verschärfend wirkte oder aber der von Brüning ver-
Sein Berliner Kollege Carl-Ludwig Holtfrerich wi-
derspricht vehement. Brüning habe durchaus Spiel-
plötzlich nachdenklich, ob die har- vom Mai 1932 lautete, von seiner Kanzler Brüning Reichs-
te Tour „diesmal nicht sowohl das Strategie abbringen lassen. Doch präsident Hindenburg
Kranke als vielmehr das Gesun- in Wahrheit war das Rennen zurufen.
de“ treffen könnte. In seiner Au- längst gelaufen.
tobiografie („Vor dem Abgrund“) Hindenburg ließ ihn fallen, das
überschrieb er später freilich das Kabinett Brüning trat am 30. Mai
Kapitel über Brünings Politik mit zurück.
der unmissverständlichen Feststel- Seine Nachfolger Franz von
lung: „Es gab keine Alternative!“ Papen und Kurt von Schleicher
Auch in der Politik wuchsen die blieben nur ein Zwischenspiel,
Zweifel an der Deflationsstrategie. der Weg war frei für Adolf
Nach der Bankenkrise tüftelte Hitler. ✦
spiegel special geschichte 1 | 2008 29
WEIMARS ENDE
Carl Schmitt, Staatsrechtler in der Weimarer Republik und im „Dritten Reich“, war der
Prototyp des gewissenlosen Wissenschaftlers, der jeder Regierung dient, wenn es der eigenen
Karriere nutzt. Wann immer die Nationalsozialisten Menschen beiseiteräumen wollten,
der eitle Professor aus dem Sauerland lieferte ihnen die passende rechtliche Begründung.
G
WORTE ALS WAFFEN anz am Ende, als alles vorbei war, haben Schmitt begann als sehr kleiner Teufel. 1915, im
Die Reden Carl Schmitts die amerikanischen Besatzer den Mann Ersten Weltkrieg, hatte er einen Posten bei der Zen-
waren Frontalangriffe verhaftet und ins Nürnberger Kriegsver- surbehörde in der Münchner Maxburg, Zimmer
auf Demokratie und Rechts- brechergefängnis gesteckt. Da haben sie Nummer 156, Telefonnebenstelle 45. Die Zensur-
staat. Die Nazis beriefen den Gelehrten, der von Anfang an dabei war, immer behörde war eine subalterne Schnittstelle zwischen
sich gern auf den Staats- wieder verhört. Ohne Ergebnis. Schließlich schickten Geist und Gewalt. Genau richtig für einen, der einen
rechtsprofessor. sie ihn nach Hause. „Wegen was hätte ich den Mann Hass auf alles hat. Einen Antrag von Thomas Mann,
anklagen sollen?“, begründete der US-Ankläger Einsicht in ein verbotenes Buch nehmen zu dürfen,
ULLSTEIN BILD
Robert Kempner den überraschenden Schritt: „Er lehnt er ab. Aus Sicherheitsgründen. Dann besorgt er
hat keine Verbrechen gegen die Menschlichkeit be- sich das Buch und liest es heimlich.
B
erlin, November 1932, zwei Tage vor der nisten dominierte Streikleitung aufgenommen. Ge-
Reichstagswahl. Hunderte Nationalsozialis- meinsam besprach man Maßnahmen gegen Streik-
ten und Kommunisten marschieren an der brecher und Polizei.
Schöneberger Hauptstraße auf. Aber an- Die Berliner konnten auf den Straßen Nazis und
statt aufeinander loszugehen, unterstützen sie Seite Kommunisten beobachten, die in friedlicher Ein-
an Seite einen wilden Streik bei der Berliner Ver- tracht mit ihren Klapperbüchsen für die Streikkassen
kehrsgesellschaft (BVG). ihrer Organisationen sammelten.
Einige Schaffner, Zugführer und Depotarbeiter So ganz überraschend kam die Kooperation zwi-
halten den Dienstbetrieb aufrecht. Als ein Wagen schen Braun und Rot für die meisten Zeitgenossen al-
der Straßenbahnlinie 40 lerdings nicht. Immer mal wieder hatten die Anhän-
sich nähert, brüllt die ger Adolf Hitlers und Josef Stalins gemeinsam agiert,
Menge „Streikbrecher“ bei kleinen Streiks etwa oder dem Volksentscheid in
und „Herunter mit den Preußen 1931.
Bluthunden“. Die Schutz- „Bolschewismus und Faschismus haben ein ge-
polizisten, die auf dem meinsames Ziel: die Zertrümmerung des Kapitalis-
Vorder- und dem Hin- mus und der Sozialdemokratischen Partei“, erklärte
terperron mitfahren, feu- ganz offen der KPD-Abgeordnete im sächsischen
ern erst in die Luft, Landtag Kurt Alfred Sindermann.
dann – als die Radikalen Die Wähler störten sich erstaunlicherweise nicht
angreifen – auch in die an dieser Mischung aus mörderischen Straßen-
Masse. schlachten und gelegentlicher Kooperation gegen die
So wie in Schöneberg Sozialdemokraten, die große Stütze der ausgezehrten
attackieren an diesem Weimarer Republik. Bei den Reichstagswahlen im
Freitag in vielen Teilen Juli 1932 erhielten die Demokratiefeinde aus NSDAP
Berlins Aktivisten von (37,4 Prozent) und KPD (14,5 Prozent) zusammen
NSDAP und KPD ge- mehr als die Hälfte der Stimmen.
meinsam die Polizei, die „Jetzt müssen wir an die Macht und den Marxis-
DUBIOSE ALLIANZ Streikbrecher zu schützen versucht. Der sogenannte mus ausrotten. So oder so!“, notierte Goebbels kurz
Kommunist Walter Ulbricht rote Freitag markiert den blutigen Höhepunkt des darauf in seinem Tagebuch. Doch Reichspräsident
redete auf einer gemein- fünf Tage dauernden Ausstands, bei dem vier Men- Paul von Hindenburg wollte Wahlsieger Hitler nicht
samen Veranstaltung von schen sterben. zum Reichskanzler ernennen. Im September zeich-
Nazis und Kommunisten im Gemessen an den bürgerkriegsähnlichen Verhält- nete sich ab, dass Anfang November erneut ein Ur-
Berliner Stadtteil Prenzlauer nissen gegen Ende der Weimarer Republik, ist diese nengang bevorstand.
Berg am 22. Januar 1931; Bilanz eines verlängerten Wahlwochenendes nicht Für Hitler wie den deutschen KP-Chef Ernst Thäl-
vorn links saß als Zuhörer ungewöhnlich. Hunderte kamen 1932 bei Straßen- mann stellte sich damit die Frage, in welchem Wäh-
Joseph Goebbels. schlachten ums Leben. Doch während sonst Nazis lerspektrum zusätzlich Stimmen zu gewinnen seien.
und Kommunisten einander mit Pistolen, Messern Beide Parteiführungen kamen, so Experte Röhl, zum
oder Totschlägern nach dem Leben trachten, steht gleichen Ergebnis: „unter den Anhängern des jewei-
der Verkehrsarbeiterstreik für einen anderen, viel- ligen Gegners“. Ein Sieg der proletarischen Revolu-
fach vergessenen Strang der Geschichte: das de- tion, behauptete Thälmann, sei „ohne den Einbruch
struktive Zusammenwirken von „Nazis und Kozis“ in die Front der Hitler-Bewegung“ unmöglich. Schon
(SPD-Jargon), das zum Untergang der ersten deut- im Mai hatte er die Devise ausgegeben, „bei der Aus-
In Berlin schen Demokratie beitrug. Und der BVG-Streik ist
dafür ein „Paradebeispiel“ (Historiker Heinrich
lösung von Streiks“ Nationalsozialisten in die Streik-
komitees hineinzunehmen.
sammelten August Winkler). Gründe zum Streiken gab es im Herbst 1932 ge-
Kommunisten Denn organisiert hatten den Ausstand die Arbei-
terorganisationen von KPD und NSDAP. Dahinter
nug. Der damalige Kanzler Franz von Papen wollte
mit Lohnkürzungen zumindest einem Teil der mehr
und Nazis zogen Walter Ulbricht, der KPD-Chef Berlins und
spätere DDR-Gründer, sowie Joseph Goebbels, der
als fünf Millionen Arbeitslosen einen Job verschaffen.
Papen beseitigte weitgehend das geltende Tarifrecht
in friedlicher Berliner Gauleiter der NSDAP, die Strippen.
Das Resultat dieser Zusammenarbeit hat der Pu-
und löste damit eine Welle von Ausständen aus, auch
in der Berliner Verkehrsgesellschaft, dem drittgröß-
Eintracht blizist Klaus Rainer Röhl in seinem Buch „Nähe zum
Gegner. Kommunisten und Nationalsozialisten im
ten Betrieb in Deutschland.
Das ehemalige Vorzeigeprojekt sozialdemokrati-
für ihre Berliner BVG-Streik von 1932“ aufgearbeitet. Ver- scher Kommunalpolitik hatte unter der Wirtschafts-
ULLSTEIN BILD
treter der „Nationalsozialistischen Betriebszellen- krise schwer gelitten. Knapp 6500 der einst 28400 Be-
Streikkassen. Organisation“ (NSBO) wurden in die von Kommu- schäftigten waren entlassen worden; gleich sechsmal
SA-Sturms sei aus ehemaligen Kommunisten gebildet Obwohl der Ausstand am Ende den Streikenden
worden. Doch dafür haben sich keine Belege finden außer Toten und Verletzten nichts eingebracht hatte,
lassen. War es also nur die Parteidisziplin, der brau- schienen die Kommunisten profitiert zu haben. Die
ne und rote Genossen folgten? KPD gewann jedenfalls am Wahlsonntag 2,4 Prozent
Am Morgen des Freitags spitzte sich die Situation der Stimmen hinzu, während die Nationalsozialisten
zu. Vor dem Depot in der Belzigerstraße, dann auch deutlich verloren.
am Rudolf-Wilde-Platz und in der Martin-Luther- Und dennoch hat sich für die Kommunisten die AGITATOR GOEBBELS
Straße bedrängten Hunderte Kommunisten und punktuelle Allianz mit Hitler, für die der BVG-Streik Um die Arbeiter für die
Nationalsozialisten die anrückende Schutzpolizei. das Paradebeispiel ist, nicht ausgezahlt. Die verhasste NSDAP zu gewinnen, befür-
Mehrfach feuerten Polizisten, die sich auf Notwehr Weimarer Republik ging zwar im Januar 1933 end- wortete der spätere Pro-
beriefen, in die Menge. gültig zugrunde. Doch an ihre Stelle trat das braune pagandaminister die
In den Hochburgen der SA wie der KPD blockier- Reich, in dem KPD-Mitglieder verfolgt und ermordet gemeinsame Streikfront
ten Streikende die Fahrbahnen, warfen die Schei- wurden. ✦ mit den Kommunisten.
spiegel special geschichte 1 | 2008 37
In der Weimarer Republik tobte ein Kampf in der Jugend um ihren Platz in der Gesellschaft.
Die Nationalsozialisten machten sich den Frust der nachwachsenden Generation zunutze.
W
JUNGE PARTEI eil wir die echten, wahren und uner- ten Stimmen der völkischen Jugendbewegung, die
1925 gründete sich nach bittlichen Feinde des Bürgers sind, während der Weimarer Republik maßgeblich den
Hitlers Festungshaft die macht uns seine Verwesung Spaß“, Weg in die Diktatur ebnete.
NSDAP in München neu. höhnte der Rebell und Jugendführer. Wie schon die Turner und Burschenschafter im 19.
Neben Hitler (Jahrgang Was wie eine Parole von 1968 anmutet, ist ein Satz Jahrhundert und später die 68er fühlte sich die männ-
1889) sitzen am Tisch: von Ernst Jünger über sich selbst und seine Alters- liche Jugend von Weimar dazu berufen, das Land zu
Alfred Rosenberg (1893), genossen aus dem Jahr 1929. retten. Doch im Unterschied zu allen Vorgängern
Walter Buch (1883), Franz „Wir sind Söhne von Kriegen und Bürgerkrie- und Nachfolgern konnten diese Radikalen nach 1933
Xaver Schwarz (1875), gen“, fuhr der Rechtsintellektuelle in seinem Gene- ihre utopistischen Pläne ungebremst in Taten um-
Gregor Strasser (1892) und rationenporträt fort. Eines Tages werde es gelingen, setzen. Mit ihrem geschlossen antiliberalen und
Heinrich Himmler (1900). die bestehende „krustige, schmutzige Decke wegzu- antisemitischen Weltbild marschierten sie durch die
sprengen“ und darunter eine „stolzere, kühnere und Institutionen. Das macht die jungen Völkischen zur
noblere Jugend“ zum Vorschein zu bringen, die „Aris- wirkungsmächtigsten Jugendbewegung in der deut-
tokratie von morgen und übermorgen“. schen Geschichte.
Dem Schriftsteller, Studienabbrecher und Frei- In keinem anderen Jahrzehnt prallten die Gene-
BETTMANN/CORBIS
schärler war die bürgerliche Demokratie genauso rationen so heftig aufeinander wie in den zwanziger
verhasst wie vielen Menschen seiner Generation. Jahren. „Macht Platz, ihr Alten!“, schleuderte der
Jünger, Jahrgang 1895, wurde eine der prominentes- Reichspropagandaleiter der NSDAP, Gregor Strasser,
bensgerechte Jugend die Achseln zuckt“. kämpften Freikorps; die Fehde gegen den radikalisiert.
Ihre Ideale von Kameradschaft, soldatischer politischen Gegner im Innern wurde mit At-
Männlichkeit und freiwilliger Unterordnung fand tentaten, Putschversuchen und Fememorden
die Jugend in den zahlreichen paramilitärischen ausgetragen. Während des Ruhrkampfes, der
Verbänden und bündischen Organisationen. Alle französisch-belgischen Besetzung des Ruhrgebiets
spiegel special geschichte 1 | 2008 39
KÄMPFERISCHE im Jahr 1923, verzeichneten die paramilitärischen die modische Anregung mit, auch zu Friedenszeiten
COOLNESS Organisationen großen Zulauf. Der Stahlhelm grün- auf der Straße den „Trenchcoat“ („Schützengraben-
Der „großartig kalte Stil“ dete eine Jugendkämpfertruppe für 17- bis 21-Jähri- mantel“) zu tragen. Dieser Chic stand für den er-
(Gottfried Benn) galt vielen ge, den Jungstahlhelm. strebten „großartig kalten Stil“ (Gottfried Benn).
jungen Männern als erstre- Eine gewisse messianische Kraft wurde der Jugend Der Anspruch, gestaltende Avantgarde zu sein,
benswert. Die in der Armee seit Beginn des 20. Jahrhunderts zugeschrieben. Der geriet nach dem Ersten Weltkrieg in scharfen Wi-
erlernten Prinzipien, etwa Begriff wurde zum Wert an sich, zur Chiffre für Auf- derspruch zur Realität: Denn tatsächlich gab es sehr
hier bei der Infanterie- bruch und Fortschrittsglaube. Wer jugendlich war, viel Jugend, zu viel. Seit Ende des 19. Jahrhunderts
ausbildung, wurden stand auf der richtigen Seite, denn Jugend verkörper- war der Anteil der jungen Bevölkerung im Reich
auf die Zivilgesellschaft te Dynamik statt Dekadenz, Zukunft statt Zerfall, Op- stark angestiegen; Mitte der zwanziger Jahre war
übertragen. position gegen die Verkrustungen in Politik, Religion mehr als die Hälfte der Bevölkerung zwischen 15
und Gesellschaft. „Jugend ist Leben, Jugend ist Farbe, und 45 Jahren alt.
ist Form und Licht“, schrieb die in München erschei- Die Wirtschaftskrisen und die Hyper-Inflation tra-
nende Zeitschrift „Jugend“ 1895 in ihrer Erstausgabe. fen vor allem junge Erwachsene. Sie verloren ihre
Jugend war nun nicht mehr an Jobs, ihre marginalen Ersparnisse
RECHTER VORDENKER eine Lebensphase gebunden. Sie und zugleich den Glauben, dass
Ernst Jünger posiert 1913 stand, verkörpert in so unter- die Gesellschaft sie brauche. Al-
in der Uniform der schiedlichen Strömungen wie lein im Rechnungsjahr 1931/32
Fremdenlegion. Wie kein dem deutschen Wandervogel, der durchliefen über 300 000 junge
anderer fing der Frei- britischen Pfadfinderbewegung Arbeitslose Schulungskurse der
schärler und radikale und dem italienischen Futuris- Reichsanstalt für Arbeitsvermitt-
Schriftsteller das Denken mus, für neue Erziehung, den lung und Arbeitslosenversiche-
seiner Generation ein. neuen Menschen. Der moderne rung, ohne Illusionen, jemals in
ERNST KLETT-VERLAG (U.); SIEGFRIED LAUTERWASSER / BPK (O.)
ten waren repräsentativ für die politische Einstel- rungsräte geworden sind oder Richter oder Univer-
lung der Studenten – die Wahlbeteiligung lag meist sitätsprofessoren?“ Der Soziologe HELMUT
bei 70 Prozent. Kommunistische Gruppen konnten Die Studenten fühlten sich als Elite der jungen Ge- SCHELSKY 1957 im Rückblick
dagegen an den Unis keinen Einfluss erringen, selbst neration – und doch war ihr soziale Lage noch prekä- auf die Jugend von Weimar
SCHLEICHENDES GIFT
Von Christoph Jahr
S
eit dem Mittelalter gab es überall im christli-
chen Europa eine latente, bisweilen eruptiv-
gewalttätige Judenfeindschaft. Als moderne
politische Bewegung trat sie während der
Kanzlerschaft Otto von Bismarcks erstmals in
Deutschland auf. Sie hatte das Ziel, die Gleichbe-
rechtigung der deutschen Juden rückgängig zu ma-
chen. Die Judengegner bezeichneten sich bald selbst
als „Antisemiten“ und ihre Ideologie als „Antisemi-
tismus“.
Von Deutschland ausgehend fand dieser Begriff
Eingang in viele andere europäische Sprachen, denn
er signalisierte, dass es um mehr als die religiös
motivierte, durch das Christentum tradierte Juden-
feindschaft vergangener Jahrhunderte ging. Nicht
mehr nur, weil sie einer anderen Religion anhingen,
sondern weil sie angeblich einer fremden, nicht assi-
milierbaren „Rasse“ angehörten, wurden die Juden
nunmehr verachtet und verfolgt.
Die radikalsten Judengegner forderten daher be-
reits zu dieser Zeit, alle Juden aus Deutschland zu
vertreiben, doch politisch blieb ihr Geschrei zunächst
folgenlos. Es vergiftete allerdings langfristig das geis-
tige Klima, wie sich in der Krisensituation des Ersten eröffnete, sich frei von staatlicher Diskriminierung als VOLKSVERHETZUNG
Weltkriegs zeigte. Ungeachtet des offiziell verkün- gleichberechtigte Bürger zu entfalten. Werbeplakat für die anti-
deten „Burgfriedens“ radikalisierte sich die Juden- Dass einige Protagonisten der Novemberrevolu- semitische Wochenzeitung
feindschaft, wurden doch Schuldige für die unge- tion wie Rosa Luxemburg oder Bayerns Minister- „Der Stürmer“ in Wien
heuren sozialen Lasten des Kriegsalltags gesucht. präsident Kurt Eisner Juden waren, kam der radika- im Sommer 1938 nach
Als das Kaiserreich schließlich der alliierten Über- len Rechten sehr gelegen. Dem im Februar 1919 dem sogenannten
macht erlag und die Monarchie stürzte, brach, wie gegründeten „Deutschvölkischen Schutz- und Trutz- Anschluss Österreichs
Alfred Wiener, ein führender Vertreter des „Cen- bund“ gelang, woran die Antisemiten im Kaiserreich (Ausschnitt aus einem
tralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glau- gescheitert waren, nämlich zahlreiche der rivalisie- Dokumentarfilm).
bens“ (C.V.), 1919 schrieb, eine „gewaltige antisemi- renden Antisemitenverbände zusammenzuschließen
tische Sturmflut“ über Deutschland herein. und einen im Stillen wirkenden Unterstützerkreis
Im Oktober 1918 hatte Heinrich Claß, Vorsitzen- aufzubauen.
der des antisemitischen und ultranationalistischen 1922 bekannten sich rund 200 000 Deutsche zu
„Alldeutschen Verbandes“, dazu aufgerufen, die ab- diesem Verband und damit zum radikalen, völki-
sehbare Niederlage Deutschlands „zu Fanfaren gegen schen Antisemitismus. Mit Millionen von Plakaten,
das Judentum“ zu benutzen. Dadurch wurden die Handzetteln und Broschüren erreichte die antisemi-
gut 500 000 Juden – ganze 0,9 Prozent der deutschen tische Agitation eine Breitenwirkung wie nie zuvor.
Bevölkerung – zu Sündenböcken der Niederlage. „Die Juden“, giftete etwa die völkische „Ostdeut-
Seit der russischen Oktoberrevolution von 1917 sche Rundschau“ aus Bromberg im Juni 1919, „haben
und unter Hinweis auf Leo Trotzki und andere uns um die Früchte unserer Siege betrogen … unse-
führende Revolutionäre jüdischer Herkunft gewann ren Mittelstand zermürbt … uns die Revolution ge-
auch die Behauptung, Bolschewismus, Revolution bracht“. Selbst Carl Bürger, Sekretär des „Vereins
und Judentum seien identisch, für das zur Abwehr des Antisemitismus“, äußer-
verängstigte Bürgertum eine scheinbare CHRISTOPH JAHR, te im Dezember 1918, es seien „zu viele
Plausibilität. Daher fiel es der deutsch- Jahrgang 1963, ist Juden in der Regierung“. ULTRANATIONALIST
nationalen Propaganda leicht, die No- Privatdozent am Der ehemalige sozialdemokratische Heinrich Claß, Vorsitzender
vemberrevolution von 1918 als einen Institut für Reichsjustizminister Otto Landsberg da- des „Alldeutschen
durch Juden und für Juden inszenierten Geschichtswissen- gegen meinte: „Die politische Abstinenz Verbandes“, wollte die
ULLSTEIN BILD (U.)
Umsturz darzustellen. Richtig daran war schaften der hilft den Juden gar nichts. Wenn unter deutsche Niederlage 1918
nur, dass die Weimarer Republik den Humboldt-Univer- den Spartakisten und unter den Unab- „zu Fanfaren gegen das
deutschen Juden erstmals die Chance sität in Berlin. hängigen Sozialisten sich kein Jude be- Judentum“ nutzen.
spiegel special geschichte 1 | 2008 43
NS-IDEOLOGIE IM ALLTAG fände, so würde das am Antisemitismus absolut „Kreuz-Zeitung“ wärmte das antisemitische Klischee
Während eines Volksfestes nichts ändern; er soll eben Mittel zum Zweck sein.“ von der „jüdischen Übermacht“ und Sonderstellung
in Leißling an der Saale Tatsächlich fasste der Begriff „Judenrepublik“ für im Rechtswesen auf, weil die Juden angeblich „für
im Juni 1936 machen die politische Rechte alles zusammen, was sie verab- unantastbar“ erklärt worden seien und die „antise-
sich gemäß antisemitischen scheuungswürdig fand. Schon 1920 hatte der SPD- mitische Gesinnung mit dem Bannfluch des Staates“
Klischees verkleidete Politiker Carlo Mierendorff festgestellt, dass die „rein- belegt worden sei.
Teilnehmer über die rassigen schwarz-weiß-roten Sprücheklopfer“ verbal Es war eine alte Gepflogenheit der Antisemiten,
Vertreibung jüdischer zwar „auf den Juden“ einprügelten, „aber den Re- die Justiz als angeblich „verjudet“ darzustellen, doch
Bürger lustig. publikaner meinen“. Doch bei Beschimpfungen blieb mit der Wirklichkeit hatte das nichts zu tun. Der
es oft nicht mehr, es wuchs die Zahl der Antisemiten, Rechtsanwalt und Aktivist des C.V., Ludwig Foerder,
denen der Judenhass nicht nur Propagandamittel war, lag näher an der Wahrheit, als er die deutschen Ju-
sondern die ihn auch blutig ernst meinten. den 1921 als „Stiefkinder der Gerechtigkeit“ be-
Das zeigte sich nicht zuletzt in den vielen politisch zeichnete. Foerder konnte sein Urteil auf seine Er-
motivierten Morden der revolutionären Anfangszeit fahrungen aus zahlreichen Prozessen stützen, in de-
der Republik, denen auch Rosa Luxemburg und Kurt nen er – meist vergebens – versucht hatte, gerichtli-
Eisner zum Opfer fielen. Den negativen Höhepunkt che Strafen gegen antisemitische Hetzer zu erwirken.
bildete die Ermordung des Außenministers Walther Die Gerichte ließen allzu oft auch derbste, direkt
Rathenau am 24. Juni 1922 durch Angehörige der zur Gewalt aufrufende Äußerungen wie „Schmiert
rechtsradikalen „Organisation Consul“. die Guillotine ein mit Judenfett, Blut muss fließen,
Immerhin ging jetzt ein Aufschrei der Empörung Judenblut!“ ungesühnt. Manche Richter sympathi-
durch Deutschland, den Reichskanzler Joseph Wirth sierten mit den rechtsradikalen Hetzern. Sehr viele
im Reichstag auf die bis heute immer wieder zitier- standen Republik und Demokratie zumindest distan-
te Formel brachte: „Dieser Feind steht rechts!“ ziert gegenüber, denn nach 1918 war es auch in der
Den Worten folgten nun endlich Taten. Das „Ge- Justiz versäumt worden, die konservativen und mon-
setz zum Schutz der Republik“ wurde erlassen, der archietreuen Eliten auszutauschen.
„Deutschvölkische Schutz- und Trutzbund“ in weiten Besonderen Hass zogen in den Anfangsjahren der
Teilen des Reiches verboten. Im September 1922 wies Republik die sogenannten Ostjuden auf sich, die ins-
der Preußische Justizminister die Generalstaats- besondere in Bayern als Sündenböcke herhalten
GEGEN DEN HASS anwälte an, antisemitische Ausschreitungen nach- mussten, in Internierungslager gesteckt und im
Reichskanzler und Zen- drücklich zu verfolgen und dazu auch mit den jüdi- Herbst 1923 ausgewiesen wurden. Etwa zur gleichen
FOTOS: ULLSTEIN BILD
trumspolitiker Konstantin schen Organisationen zusammenzuarbeiten. Zeit kam es auch im Berliner Scheunenviertel zu
Fehrenbach verurteilte in Prompt hatten die Antisemiten eine neue Hetz- pogromartigen Unruhen.
der Weimarer Republik den parole. Die Juden, verbreiteten sie, seien „Staats- Seit 1919 geisterte darüber hinaus mit den „Pro-
Antisemitismus. bürger erster Klasse“. Auch die rechtskonservative tokollen der Weisen von Zion“ die international viel-
„unauffälliges Verhalten“ oder betont „nationale seltener war die Partei bereit, jüdische Abgeordnete
Haltung“ antisemitischen Vorurteilen keinen Anlass in den Reichstag oder die Länderparlamente zu
zu geben. entsenden.
semitischen Dreyfus-Affäre mit seinem berühmten dass erstmals in einem modernen europäischen Staat
Zeitungsartikel „J’accuse“ protestierte, fand sich in eine politische Bewegung die Macht übernahm, für
Deutschland kein prominenter Intellektueller, der die der Antisemitismus nicht nebensächlich, sondern JUDENHASS IM KINO
sich unter Aufbietung seines ganzen Prestiges für zentral war. Plakat zum antisemitischen
die Juden einsetzte. „Deutschland hat keinen Dadurch wurde der Antisemitismus vom opposi- Film „Jud Süss“ von Veit
Zola“, stellte das „Berliner Tageblatt“ 1932 ernüch- tionellen Kampfinstrument zur Herrschaftsideologie Harlan aus dem Jahr 1940:
tert fest. eines totalitären Systems. Ihre Macht nutzten die Durch die gezielt negative
Ab 1933 passten sich zu viele Bürger dem NS- Nationalsozialisten gegenüber den Juden in Deutsch- Darstellung der jüdischen
Ungeist in atemberaubenden Tempo an. Zu viele land und Europa mit einer Unerbittlichkeit, die vor Hauptfigur sollte das Juden-
waren gleichgültig gegenüber dem, was den jüdi- 1933 für kaum jemanden vorstellbar war – am we- tum in der Bevölkerung
schen Mitmenschen widerfuhr. Zu viele weigerten nigsten für die Juden selbst. ✦ diskreditiert werden.
spiegel special geschichte 1 | 2008 47
WEIMARS ENDE
WEIMARS TOTENGRÄBER
Von Norbert F. Pötzl
A
ls sich Adolf Hitlers designiertes Kabinett fie*, habe dem Reichspräsidenten in dessen Ent-
am Mittag des 30. Januar 1933 zur Ver- scheidung hineingeredet: „Hindenburg besaß ein
eidigung beim Reichspräsidenten versam- starkes herrscherliches Selbstverständnis, mit dem
melte, konnte Paul von Hindenburg, 85, es sich nicht vereinbaren ließ, ausgerechnet die Ent-
seine Rührung nicht verbergen. Mit feuchten Augen scheidung über die Ernennung Hitlers zum Reichs-
äußerte der alte Herr seine „Genugtuung über die kanzler und damit eine politische Weichenstellung
endlich erzielte Einigung der nationalen Rechten“. von größter Tragweite aus der Hand zu geben.“
Hindenburgs Lebenstraum war in Erfüllung ge- Pyta räumt, faktenreich untermauert, mit der Mär
gangen. Der Generalfeldmarschall des Ersten Welt- auf, der Reichspräsident sei Wachs in den Händen
kriegs, der kurz zuvor noch versichert hatte, er den- einer reaktionären Kamarilla, etwa seines Staats-
ke „gar nicht daran, den österreichischen Gefreiten sekretärs Otto Meißner oder seines Sohnes Oskar
DOLCHSTOSSLEGENDE zum Wehrminister oder Reichskanzler zu machen“, von Hindenburg, gewesen. Und die Behauptung, das
Schon kurz nach dem Ende sah nun in Hitler den Vollstrecker seiner politischen Drängen ostelbischer Großgrundbesitzer habe letzt-
des Ersten Weltkriegs stell- Grundüberzeugung, dass nur eine Regierung der lich den Ausschlag für Hitlers Berufung gegeben, sei,
ten Ludendorff und Hinden- „nationalen Konzentration“ die von ihm ersehnte so Pyta, „pure Spekulation“. Vielmehr habe sich
burg die wahrheitswidrige „Volksgemeinschaft“ verwirklichen könne. Hindenburg in maßloser Selbstüberschätzung immer
Behauptung auf, linke Zu den Patrioten zählte Hindenburg freilich nur dazu berufen gefühlt, in der Nachfolge Otto von Bis-
Politiker seien der „im extrem rechte Kräfte. Neben dem neuen Regierungs- marcks die „Reichseinigung“ zu vollenden.
Felde unbesiegten“ deut- chef waren zwei weitere Nationalsozialisten – Wil- Der 1847 in Posen geborene Sohn eines preußi-
schen Armee in den Rücken helm Frick und Hermann Göring – Mitglieder des schen Offiziers und Gutsbesitzers hatte eine respek-
gefallen. Mit dieser perfiden Kabinetts, drei Minister gehörten der Deutsch- table Militärlaufbahn hinter sich, als er 1911 im Rang
Lüge warben die Deutsch- nationalen Volkspartei (DNVP) beziehungsweise eines Kommandierenden Generals in Pension ging.
nationalen 1924 auf einem dem Frontsoldatenbund „Stahlhelm“ an, die übri- Seinen Lebensabend gedachte er in Hannover zu
Wahlplakat. gen fünf waren parteilose Rechtskonservative. verbringen, wo er als junger Leutnant knapp sieben
Damit besiegelte der Jahre gedient hatte.
Reichspräsident das En- Doch dann begann im August 1914 der Erste Welt-
de der ersten deut- krieg, und der damals fast 67-jährige Ruheständler
schen Demokratie. „Oh- suchte nach der Mobilmachung händeringend („Ich
ne Hindenburgs Ent- bin körperlich und geistig durchaus frisch“) um sei-
scheidung, Hitler den ne Reaktivierung nach. Schließlich wurde ihm die
Weg in das Berliner Führung der 8. Armee im Osten anvertraut, geknüpft
Herrschaftszentrum frei- freilich an die Bedingung, dass der Oberbefehlshaber
zugeben, wäre die deut- die operativen Angelegenheiten seinem General-
sche, ja die globale Ge- stabschef Erich Ludendorff überließ. General Wil-
schichte nach mensch- helm Groener, der bei der förmlichen Nominierung
lichem Ermessen anders Hindenburgs durch Kaiser Wilhelm II. zugegen war,
verlaufen“, konstatiert notierte, der einzige Grund für Hindenburgs Beru-
der Bielefelder Ge- fung sei „der Umstand“ gewesen, „dass man von
schichtswissenschaftler seinem Phlegma absolute Untätigkeit erwartete, um
Hans-Ulrich Wehler. Ludendorff völlig freie Hand zu lassen“.
Hitlers „Machtergrei- Die Erwartung erfüllte Hindenburg perfekt. Auch
fung“ war, entgegen an der Front genoss er den Lebensstil eines Rentners:
verbreiteter historischer Pünktlich um 13 Uhr aß er zu Mittag, danach legte er
Legendenbildung, kei- sich aufs Ohr, anschließend ging er spazieren oder
neswegs das Werk ei- unternahm eine Ausfahrt mit dem Automobil. Vor al-
nes senilen Greises, der lem pflegte er ausgiebig zu ruhen – sogar die seinen
die Folgen seines Tuns Feldherrnruhm begründende Schlacht von Tannen-
nicht mehr überblickte. berg, bei der Ende August 1914 die Russen einge-
Und niemand, unter- kesselt und geschlagen wurden, habe Hindenburg
streicht der Stuttgarter verschlafen, kolportierten böse Zungen. Die strate-
Historiker Wolfram Pyta, gischen Planungen überließ er ohnehin Ludendorff.
47, in seiner kürzlich er-
ULLSTEIN BILD
OSTFRONT-KOMMANDO
Hindenburg (l.), nominell
Oberbefehlshaber der
8. Armee, blickt während
der Schlacht bei Tannen-
berg auf seinem Gefechts-
stand durch ein Scheren-
fernrohr, neben ihm
Generalstabschef Luden-
dorff (2. v. r.) und Oberst-
leutnant Max Hoffmann (r.),
die eigentlichen Urheber
des Operationsplans.
„Hindenburg
bekümmert
sich um das
Militärische
überhaupt
nicht mehr.
Er ist viel auf
Dennoch reklamierte er nach dem Sieg von Tannen- Mit seinem angemaßten Renommee als Kriegs- Jagd und
berg gegenüber Kaiser und Öffentlichkeit das Haupt- held mischte sich Hindenburg seit Anfang 1915 zu- kommt im
verdienst für sich. nehmend auch in die Politik ein. Er gewann Einfluss
Genau genommen stand das Örtchen Tannenberg auf den Kaiser und den Reichskanzler Theobald von Übrigen
nicht einmal im Zentrum des Geschehens. Aber
Hindenburg, mit Sinn für Symbolik, verwendete
Bethmann Hollweg. Gegen Erich von Falkenhayn,
den Chef der Obersten Heeresleitung, intrigierte er
morgens und
den Ortsnamen im Gedenken an jene Schlacht, in so lange, bis er im August 1916 selbst dessen Position abends fünf
der 1410 das Heer des Deutschen Ordens eine einnehmen konnte. Minuten,
vernichtende Niederlage durch polnische und li- Auch die Kriegsniederlage beschädigte Hinden-
INTERFOTO (O.); ULLSTEIN BILD (U.)
tauische Verbände hatte hinnehmen müssen. „Jetzt, burgs öffentliches Ansehen nicht. Soweit die Oberste um sich zu
nach 504 Jahren“, schrieb Hindenburg an seine Heeresleitung für das Debakel verantwortlich ge- erkundigen,
Frau, „kam die Revanche.“ Und er sah sich schon in macht wurde, schob man die Schuld vor allem Lu-
den Geschichtsbüchern verewigt: „Ich glaube, Dein dendorff zu – in Militärkreisen war die tatsächliche was los ist.“
Alter wird womöglich noch mal ein berühmter Rollenverteilung zwischen dem Oberbefehlshaber MAX HOFFMANN, rechte Hand
Mann.“ und seinem Stabschef ja bekannt. Und die konser- Ludendorffs, im Oktober 1915
hielt“. Innerlich habe der Präsident „nie auf dem in der Hoffnung, dass Hindenburg dann seine Be-
Boden des demokratischen Verfassungsstaates“ ge- werbung zurückziehen würde. Tatsächlich war Kron-
standen, „auch wenn er sich in formaler Hinsicht prinz Wilhelm fest entschlossen, über das Amt des
lange Zeit durchaus an die geltenden Verfahrenregeln Reichspräsidenten die Wiederherstellung der Mo-
hielt, ohne allerdings ihren Geist zu erfassen“. narchie anzusteuern. Er bat Hitler dafür um Unter-
Symptomatisch für Hindenburgs rückwärtsge- stützung und sicherte ihm im Gegenzug zu, dass er
wandte Haltung war seine Fahnenverordnung im ihn nach gewonnener Wahl zum Reichskanzler er-
ENTTÄUSCHTER GEFÄHRTE Jahr 1926. Der Präsident dekretierte, dass die Han- nennen werde. Allerdings machte der Kronprinz sei-
Wilhelm Groener, viele delsflagge mit den alten Kaiserfarben Schwarz-Weiß- ne Kandidatur von der Zustimmung seines Vaters
Jahre ein wichtiger Helfer Rot an den deutschen Gesandtschaften und Konsu- abhängig – doch der Ex-Kaiser legte aus den Nie-
Hindenburgs, wurde am laten im Ausland gleichberechtigt neben der schwarz- derlanden sein Veto ein.
Ende „kurz und ohne Scham- rot-goldenen Nationalflagge gehisst werden sollte. Hindenburg, glaubt Biograf Pyta, hätte wohl oh-
gefühl“ fallen gelassen. Der oberste Repräsentant der neuen Republik bie- nehin keinen Rückzieher gemacht, auch wenn der
und „Stahlhelm“-Verbände in einem kilometerlangen Fackel- Es gab nach dem Ersten Weltkrieg Tausende regelrecht arbeits-
zug auf der Wilhelmstraße erst an Hindenburg (in der alten lose preußische Adlige, die auf nichts anderes vorbereitet worden
Reichskanzlei, seinem provisorischen Amtssitz) und dann an waren als eine Karriere beim Militär – traditionell Absicherung
dem etwa hundert Meter entfernt auf dem Balkon der neu- für nachgeborene Söhne, die keinen Grundbesitz erbten.
en Reichskanzlei stehenden Hitler vorbei. Auch Zehntau- SPIEGEL: Und die Aufrüstung der Nazis öffnete dieses Tor dann
sende Zivilisten brachten beiden Ovationen dar. wieder.
Das imponierte Hindenburg, der sich darin bestärkt fühl- Malinowski: Richtig. Die Anzahl der adligen Offiziere schnellte
te, an diesem Tag die richtige Entscheidung getroffen zu ha- nach 1933 innerhalb von zwei Jahren von 900 auf rund 2300
ben: „Patriotischer Aufschwung sehr erfreulich“, schrieb er
seiner Tochter. ✦
hoch. Dazu kamen Karrierechancen als Folge politischer Säu- definiert. Dass auch die Nazis in Kategorien wie Blut und Rasse
berungen im höheren Verwaltungsdienst und in der Diplomatie. dachten, hat nachweislich viele Adlige angesprochen.
Nicht zu vergessen auch die Posten bei der SS – fast jeder fünf- SPIEGEL: Wie weit spielte der Adel den Nazis in die Hände?
te SS-Obergruppenführer, also die zweithöchste Rangstufe, Malinowski: Es gibt ab etwa 1930 eine nachweisbare Bewegung
stammte aus dem Adel. Es begegneten sich in der SS viele im gesamten deutschen Adel in die NSDAP hinein. Das fängt
klangvolle Namen: Alvensleben, Bülow, Pückler, Steuben, Us- mit August Wilhelm Prinz von Preußen an, dem vierten Sohn
lar, Westphalen oder Henckel-Donnersmarck. des letzten Kaisers, der in Bierzelten für die Nazis auftrat,
SPIEGEL: Und andere und gilt für viele andere
hofften auf Beuteland Geschlechter. Es gibt in-
aus Hitlers Feldzügen? nerhalb des preußischen
Malinowski: Die Nazis Adels praktisch keine der
hatten ja große Schwie- berühmten Familien, die
rigkeiten, für ihre Ost- nicht dabei ist.
siedlungspolitik das viel- SPIEGEL: Können Sie
beschworene „Volk ohne Zahlen nennen?
Raum“ zu finden. Aus Malinowski: In der win-
Arbeitern wollte Hitler zig kleinen Gruppe des
Wehrbauern machen, Hochadels werden rund
aber die mochten nicht. 70 Fürsten, Prinzen und
Ganz anders der Adel: Prinzessinnen noch vor
Der Großherzog von Ol- 1933 Parteigenossen. Bis
denburg etwa schrieb 1941 sind es etwa 270.
schon Anfang Juni 1941 Beim niederen Adel sieht
an SS-Chef Heinrich es nicht anders aus. Man
Himmler, dass einige sei- findet in den Mitglieds-
ner sechs Söhne gern im karteien der NSDAP 34
Osten siedeln würden, ob Bismarcks, 41 Schulen-
man sich nicht schon mal burgs, 43 Bredows, 40
eine Option für den Kauf Bülows, 43 Kleists, 53
„größerer Güter“ sichern Arnims, 78 Wedels – ins-
könne. Es gibt weitere gesamt allein aus einer
Beispiele. Hält man sich Stichprobe von 350 Fa-
den materiellen Aspekt milien fast 3600 Adlige.
vor Augen, ist es weniger Und jeder Vierte trat vor
erstaunlich, dass viele 1933 ein.
Adlige so lange mitge- SPIEGEL: Es gab unter
macht haben. den Edelleuten aber auch
SPIEGEL: Aber vor 1933 Demokraten. Wie ging
hatten die adligen Her- der Adel mit Standes-
ren doch allen Grund, genossen um, die sich
sich vor den Nazis eher zur Weimarer Republik
zu fürchten. In der bekannten?
NSDAP gab es einen Malinowski: Sie wurden
starken sozialistischen nicht mehr zur Jagd oder
Flügel, und unter Hitlers zu Bällen eingeladen,
SA-Schlägern fanden sich BRAUNER KAISERSOHN ihre Offizierskameraden
viele Proletarier und August Wilhelm Prinz von Preußen (M.), vierter Sohn Wilhelms II., in SA-Uniform schnitten sie, sie wurden
Landarbeiter. 1933 bei der Einführung des ehemals kaiserlichen Generalfeldmarschalls August von nicht mehr geheiratet,
Malinowski: Das Verhält- Mackensen (l.) als Preußischer Staatsrat, mit dem Reichsbischof der „Deutschen ihre Töchter wurden
nis zwischen Adel und Christen“, Ludwig Müller (r.). nicht mehr zum Tanz
Nationalsozialismus ist aufgefordert. Unter Um-
die Geschichte eines Missverständnisses. Was die Adligen in ständen wurden sie aus ihren Familienverbänden ausgeschlos-
der braunen Partei sahen, war nicht das, was sie dann bekamen. sen. Der schlesische Baron Kurt Freiherr von Reibnitz etwa, als
Als Kampfbewegung stand sie radikal gegen alles, wogegen sozialdemokratischer Staatsminister nach 1918 eine adlige Aus-
auch der Adel stand: Demokratie, Republik, Parlamentarismus, nahmegestalt, wurde von seinen Standesgenossen als „zucker-
Parteienstaat, Sozialdemokratie. Aus seiner Sicht war das also süßer Reibnitz“ verhöhnt und gesellschaftlich geschnitten.
eine Organisation, mit der man etwas anfangen konnte, die SPIEGEL: Immerhin waren es dann nicht zuletzt Adlige, die den
man reiten konnte wie ein Pferd – und es dauerte lange, bis der Mut aufbrachten, mit Hitler zu brechen und sich sogar aktiv ge-
Adel merkte, dass sich das Verhältnis von Ross und Reiter ver- gen ihn zu stellen.
kehrt hatte. Malinowski: Ohne Adel hätte es keinen 20. Juli 1944 gegeben –
SPIEGEL: Welchen Anteil hat der Antisemitismus? aber eben auch keinen 30. Januar 1933. Das Attentat ist der
Malinowski: Der größte deutsche Adelsverband, die Deutsche zweite Teil, zu dem ein erster Teil gehört. Und der scheint mir
Adelsgenossenschaft, führte bereits 1920 einen Arierpara- der wichtigere Part zu sein. Geschichte verläuft von hinten nach
graphen ein. Als Gruppe hat sich der Adel ja immer über Blut vorn. Interview: Hans Michael Kloth, Klaus Wiegrefe
AUFRUHR IN PARIS
Von Stefan Simons
D
ie Losung klingt nicht gerade nach Staats- Unter dem Druck der Öffentlichkeit und von sei-
Während sich streich: „Nieder mit den Räubern“, heißt ner eigenen Partei im Stich gelassen, tritt Edouard
die Parole, die am 6. Februar 1934 im Zen- Daladier, der gerade bestätigte Regierungschef, am
Kommunisten trum von Paris mehrere tausend Demon- Tag danach zurück; Präsident Albert Lebrun betraut
und Sozial- stranten mobilisiert. Während im Parlament die Ver-
trauensabstimmung über die gerade berufene Regie-
einen seiner Amtsvorgänger, Gaston Doumergue,
mit der Bildung einer breiten „Burgfrieden“-Koali-
demokraten in rung von Edouard Daladier ansteht, sammeln sich
vor der Oper die Anhänger rechter Organisationen –
tion – die Staatskrise ist abgewendet.
Der Anlass? Angesichts anderer kapitaler Finanz-
Deutschland „Action française“, „Jeunesses patriotes“, „Croix-
de-feu“ oder der Nationalen Union der Kriegsteil-
affären eine beinahe banale Serie von Betrügereien,
die schließlich in der sogenannten Stavisky-Affäre
bekämpften, nehmer. Aber auch Kommunisten und linke Vetera-
nen folgen dem Aufruf der KP-Zeitung „L’Huma-
kulminiert. Dahinter verbirgt sich die Karriere eines
gewieften Hochstaplers, der mit Charme und be-
stärkte in nité“ zum Kampf gegen Korruption und unsaubere
Machenschaften der Abgeordneten.
trächtlicher krimineller Energie ein Vermögen er-
schwindelt hat und – dank guter Beziehungen zu ho-
Frankreich eine Die Regierung hat Vorsichtsmaßnahmen getrof- hen Pariser Politikern – lange der Justiz entkommt.
vereinigte fen: Polizeikräfte und sogar Militär ziehen an den
Boulevards der Hauptstadt auf, die Seine-Brücke am
Während sich eine parlamentarische Untersu-
chungskommission mit den Hintergründen befasst,
Linke die Palais Bourbon, dem Sitz der Nationalversammlung,
wird von Gendarmen abgeriegelt. Am Nachmittag
streiten Linke wie Rechte über die historische Inter-
pretation der Vorfälle: Nationalisten und rechtsex-
Republik. kommt es vor der Oper zu ersten Zusammenstößen;
als der Marsch auf die Place de la Concorde mündet,
treme Randgruppen sprechen von einem Aufbegeh-
ren der Volksseele gegen eine verkommene Politi-
eskaliert die Kundgebung zur Straßenschlacht. Be- kerkaste – wenn nicht gar von der Abwehr einer
dräuenden bolschewistischen Revolution. Für Sozia-
listen und Kommunisten ist der Aufruhr nichts we-
niger als ein „faschistischer Putschversuch“.
Stand Frankreichs Demokratie damals vor dem
Zusammenbruch? Drohte, ein Jahr nach der Macht-
ergreifung der deutschen Nationalsozialisten, in Pa-
ris ein Umsturz durch rechtsextreme Kräfte?
„Autoritäre Entwicklungen waren durchaus vor-
handen, es gab eine Bandbreite nationalistischer Ver-
bände und Gruppierungen mit faschistisch geprägter
Ideologie und Praxis“, sagt der Augsburger Histori-
ker Andreas Wirsching, „doch die vielbeschworene
Putschgefahr gehört zum Gründungsmythos des fran-
zösischen Antifaschismus.“ Der Professor für Neue-
re und Neueste Geschichte, der in Paris die Polizei-
akten der Vorfälle einsah, ist überzeugt: „Keine der
politischen Organisationen besaß die Kraft, per Auf-
stand die Macht an sich zu reißen.“
Es fehlte aber nicht nur der „Wille zur Macht“
(Wirsching). Die ideologischen Grundlagen waren
ebenfalls andere als in Deutschland. Gewiss existierte
BITTERER SIEG rittene Garden treiben die Menschen auseinander, auch in Frankreich ein antisemitischer Reflex. Selbst
Am Arc de Triomphe in Paris dann, bei Einbruch der Dunkelheit, fallen Schüsse. bürgerliche Schichten, so Wirsching, seien „bisweilen
LÉON GIMPEL / GALERIE BILDERWELT
feiern die Franzosen 1919 Die Bilanz der Zusammenstöße: mindestens 15 von einem christlich-religiösen Antisemitismus er-
ihren Sieg über Deutsch- tote Demonstranten, ein getöteter Polizist, rund 1500 fasst“ worden.
land. Doch die Kriegsbilanz Verletzte. „Bürgerkrieg“, „Aufruhr von Faschisten Doch die Mixtur aus antikapitalistischen und an-
ist verheerend: 1,35 Millio- und Kommunisten“ und „Paris bedeckt von Blut“, tikommunistischen Feindbildern entlud sich nur sel-
nen eigene Soldaten sind schreiben die Zeitungen über die schlimmste Kon- ten in einem wirklich virulenten Judenhass. Selbst
gefallen oder werden vemisst, frontation in der Hauptstadt seit dem Aufstand der bei den Nationalisten und Faschisten nahestehenden
das Land ist praktisch pleite. Pariser Kommune 1871. Verbänden führte dumpf völkischer Antisemitismus
Eine Selbsttäuschung angesichts der verheeren- Drehbühne – wobei die immer gleichen Protago-
den Kriegsbilanz: 1,35 Millionen Soldaten (10,5 Pro- nisten des politischen Schauspiels nur die Rollen
zent der männlichen Bevölkerung) sind gefallen wechseln.
oder werden vermisst. Die demografische Lücke wird Der Ruf nach Stabilität und Ordnung beschert
Frankreich lange belasten; 1931 erreicht die Zahl der der Republik 1919 ein Mitte-rechts-Bündnis, dem vie-
Erwerbstätigen 20,8 Millionen – etwa die Höhe von le ehemalige Militärs angehören. Während der „Bloc
1906 (20,4 Millionen). Der industrialisierte Norden national“ mit brachialer Härte Streiks gegen die
und der Osten sind verwüstet, 20 000 Fabriken sind Teuerung oder Ausstände für die Verstaatlichung der
spiegel special geschichte 1 | 2008 55
WEIMARS ENDE
Eisenbahn unterdrückt, spaltet sich die linke Bewe- duktion, dann brechen die Preise ein, bevor sich die
Zunächst sinkt gung 1920. Eine Minderheit versammelt sich hinter Abwärtsspirale in Bankrotten und Massenentlassun-
dem Sozialisten Léon Blum, die Mehrheit bildet die gen fortsetzt.
die Produktion, Moskau-nahe SFIC (Section française de l’interna- Die hereinbrechende Krise beschert den Linken
dann brechen tionale communiste), die spätere Kommunistische
Partei Frankreichs.
1932 einen erneuten Wahlsieg. Wie 1924 wird
Edouard Herriot vom „Parti radical“, der wichtigsten
die Preise ein, Das regierende Mitte-rechts-Bündnis wird vor al-
lem durch das wachsende Misstrauen gegenüber den
bürgerlich-linksrepublikanischen Formation, Regie-
rungschef, doch er bildet überraschend kein neues
bevor sich die USA und Großbritannien zusammengehalten – und
durch die Feindschaft zu Deutschland. Als Berlin
Linkskartell. Sein Versuch, die Ansprüche von Ka-
pital und Arbeit zu versöhnen, kann den wirtschaft-
Abwärtsspirale sich im Frühjahr 1921 weigert, die ultimativ auf 132
Milliarden Goldmark angesetzten Reparationen hin-
lichen Niedergang nicht aufhalten und endet im zer-
mürbenden Konflikt mit dem Parlament: In 18 Mo-
in Bankrotten zunehmen, marschieren alliierte Truppen in Duis-
burg-Ruhrort und in Düsseldorf ein; zwei Jahre spä-
naten wechseln sechsmal die Regierungen.
Der Frust über die verschlissenen politischen Al-
und Massen- ter besetzen Franzosen und Belgier nach neuem ternativen von Rechts bis Links, die Desillusionie-
entlassungen Streit das Ruhrgebiet. Das Vorgehen isoliert Paris
gegenüber Briten und Amerikanern; außerdem wird
rung über das herkömmliche demokratische System,
lässt Vereine und Verbände am rechten Rand des
fortsetzt. die Besatzung zum wirtschaftlichen Desaster. 1924
verordnet Regierungschef Raymond Poincaré eine
Parteienspektrums entstehen. Die sogenannten Ligen
mobilisieren die Verlierer der damaligen Globalisie-
drakonische Steuererhöhung – und verhilft damit rungskrise – allesamt beseelt von der Rückkehr der
den Linken zum Wahlsieg. Nation zu Autorität, Ordnung und Stabilität.
Als Poincaré-Nachfolger steht fortan Edouard Rechte wie rechtsextreme Bewegungen orientie-
Herriot einem wackligen Bündnis vor, das unter ren sich auch am faschistischen Vorbild Italiens:
dem Namen „Linkskartell“ firmiert. Außenpolitisch Gruppen wie „Faisceau“, „Francisme“ oder „Jeu-
setzt Herriot auf die Wiederannäherung an Groß- nesses patriotes“ sind straff organisiert, mit eigenen
britannien, die Anerkennung der Sowjetunion und Milizen und Sicherheitsdiensten, und verstehen sich
ein System kollektiver Sicherheit: Aristide Briand, vor allem als „Bewahrer der Nation“. Die „Solidarité
zwischen 1925 und 1932 fast ununterbrochen Frank- française“, gegründet vom Parfumhersteller François
reichs Außenminister, verständigt sich mit seinem Coty, verfolgt das Ziel einer plebiszitären Volks-
Kollegen Gustav Stresemann auf eine Reduzierung demokratie und tritt auch äußerlich auf wie die rech-
der Reparationen, die gegenseitige Anerkennung der ten Kameraden in den Nachbarländern: Uniformiert
Grenzen und Deutschlands Aufnahme in blauen Hemden, den gallischen Hahn als Emblem,
in den Völkerbund. Die Männer- verschafft sich der Verband vor allem dank seiner Ta-
freundschaft, für die beide 1926 mit geszeitung („L’Ami du peuple“) unter den Arbeitern
dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet großen Einfluss.
werden, sorgt für Annäherung, aber Intellektuell bedeutsamer ist die „Action fran-
mit ihrem Traum einer europäischen çaise“, ein zunächst monarchistischer Verband des
Aussöhnung sind die beiden Politiker Schriftstellers Charles Maurras. Zugleich nationalis-
ihrer Zeit weit voraus. tisch, militant katholisch und antisemitisch, versucht
Wirtschaftlich erleidet das Links- Maurras einen ideologischen Brückenschlag zwi-
kartell jedoch Schiffbruch. Saftige Ka- schen Traditionalisten und modernen Gegnern des
pitalsteuern und die Ausgabe von kurz- Parlamentarismus. Mit den „Camelots du roi“ ver-
fristigen Schuldverschreibungen er- fügt die Organisation zudem über eine mehrheitlich
schüttern das Vertrauen der Unterneh- studentische Einsatztruppe, die wegen ihrer aggres-
mer und beschleunigen die Kapital- siven Rauflust berüchtigt ist.
flucht. Unter dem Druck der Finanz- Straff organisiert tritt auch die Organisation
krise bricht im Juli 1926 das Kartell „Croix-de-feu“ auf den Plan: Einst ausschließlich
auseinander. Orden tragenden Frontkämpfern vorbehalten, wird
Poincaré, als Feuerwehrmann in der Verband unter Oberst François de La Rocque ab
wirtschaftlich schwierigen Zeiten be- 1931 zur militanten Organisation umgeformt. Unter
währt, wird Regierungschef einer Führung des Weltkriegsoffiziers und strammen Pa-
„Union nationale“. Mit einer drasti- trioten wandelt sich der Veteranenverein zu einer Mas-
schen Abwertung stoppt er den Verfall senorganisation. Ihre Gliederungen wie etwa der Ju-
AUSSÖHNUNG des Franc. Mit der Konsolidierung kehrt das abge- gendverband „Volontaires nationaux“ (späteres Mit-
Der französische Außen- wanderte Kapital zurück, innerhalb eines Jahres glied: François Mitterrand) verstehen sich als Stützen
minister Aristide Briand erreicht der notorisch defizitäre Haushalt schwarze der Nation – auch vor der „deutschen Gefahr“.
verständigte sich mit Zahlen. Der Aufschwung lässt die Zahl der Indu- Ihrer zahlenmäßigen Stärke zum Trotz addieren
seinem deutschen Kollegen striearbeiter bis 1931 auf sieben Millionen ansteigen, sich die rechtsradikalen und antiparlamentarischen
Gustav Stresemann darauf, und vor allem die Großunternehmen profitieren von Widersacher der Regierung aber nicht zur existenti-
die Reparationen zu redu- einem wahren Innovationsschub. Soziale Neuerun- ellen Bedrohung für die Dritte Republik. „Die Rech-
zieren und die Grenzen gen folgen: Sozialversicherung, freie höhere Schul- ten Frankreichs haben nicht die Organisationstiefe
gegenseitig anzuerkennen. bildung, eine Pension für Kriegsteilnehmer. der deutschen NSDAP“, erklärt Wirsching, „und bei
Der Aufwärtstrend hält sogar noch an, als nach vielen der Nationalisten verbirgt sich hinter virulen-
dem New Yorker Börsenkrach am Schwarzen Freitag tem Anti-Parlamentarismus ein tiefsitzender Respekt
1929 der Absturz der Weltwirtschaft ganz Europa er- vor der Institution der Republik.“
fasst. Doch die „größte Krise des modernen Kapita- Die ist daher nicht einmal am 6. Februar 1934 in
ULLSTEIN BILD
lismus“, so Historiker Martens, erreicht die Franzo- Gefahr, als sich der propagandistisch entfachte Volks-
sen nur mit Verzögerung: Zunächst sinkt die Pro- zorn gegen die Abgeordneten der Nationalver-
det Léon Blum im Februar 1937 eine „Pause“ bei den Es ist das Ende der Dritten Republik.
Wirtschaftsreformen und gibt im Juni ganz auf. Auch Die Vorfälle vom 6. Februar 1934 werden unter
eine zweite Regierung unter Blum scheitert ein Jahr deutscher Besatzung noch einmal propagandistisch
darauf. Nachfolger Edouard Daladier profitiert von aufbereitet: In der Wochenschau vom Februar 1944
einer kurzfristigen Konjunkturverbesserung, doch verkehrt das Vichy-Regime den antiparlamentari-
nun gerät Frankreich in den Strudel außenpolitischer schen Aufruhr an der Place de la Concorde zum Mas-
Konflikte: Das Münchner Abkommen, der deutsche senprotest aufrechter Franzosen gegen die „Fahrläs-
Einmarsch in der Tschechoslowakei, der Hitler-Sta- sigkeit eines Regimes“, das unter „jüdischem Einfluss
lin-Pakt polarisieren Parteien und Öffentlichkeit. Am den Krieg und die Niederlage“ herbeigeführt habe.✦
spiegel special geschichte 1 | 2008 57
WEIMARS ENDE
Die Demokratie hatte zwischen den beiden Weltkriegen in vielen europäischen Ländern
einen schweren Stand: Vom Baltikum bis zum Mittelmeer übernahmen
fast überall Diktatoren die Macht – doch keiner war so brutal wie Adolf Hitler.
P
uni∆a Ra‡i‡ trug einen Revolver unter sei- in Polen und Litauen, 1934 in Estland und Lettland.
Der Erste nem Jackett, als er am 20. Juni 1928 das Red- Auch in Albanien (1928), in Jugoslawien (1929), in
nerpult in der „Skup∆tina“, dem Parlament Bulgarien (1934), in Griechenland (1936) und in Ru-
Weltkrieg hatte des Königreichs der Serben, Kroaten und mänien (1938) entledigten sich Monarchen der Mit-
die Landkarte Slowenen, erklomm. Hass lag in der Luft zwischen
den Abgeordneten der verschiedenen Volksgruppen.
bestimmung durch Parlamente und regierten fortan
allein, setzten die Rechte der Bürger außer Kraft und
Europas Als der serbische Radikale Ra‡i‡ sprach, pöbelte ein
kroatischer Abgeordneter dazwischen. Da zog der
nahmen Oppositionelle nicht selten gefangen.
Doch war keines dieser Regime so brutal wie das
verändert, von Redner seine Waffe und gab den ersten Schuss in
Richtung der Parlamentarierreihen der Kroaten ab.
der Nationalsozialisten in Deutschland. Weder über-
fielen die Herrscher Polens, Ungarns oder der balti-
der Ostsee bis Zwar warf sich ihm der in der Nähe sitzende Jus-
tizminister in den Arm. „Blut wird fließen“, schrie je-
schen Staaten ihre Nachbarn, noch ließen die Königs-
Diktatoren des Balkan Juden in industriellem Maß-
zum Mittelmeer mand. Aber der vor Wut rasende Serbe war nicht zu
stoppen. Nacheinander schoss er drei Abgeordnete
stab ermorden. Nirgends stand hinter den autoritären
Herrschern eine Massenbewegung wie die NSDAP.
waren zwölf nieder, darunter den Führer der Kroaten, Stjepan Und nirgends wurden Regimegegner zu Tausenden in
neue Staaten Radic. Radic starb nach wochenlangem Siechtum an
seinen Verletzungen.
Konzentrationslager gesteckt oder gleich ermordet.
Das ist wohl auch einer der Gründe, warum heu-
entstanden. Alexander I., König der Serben, Kroaten und Slo-
wenen, kam das Blutbad in der Volksvertretung sehr
te in Osteuropa der Diktatoren der Zwischenkriegs-
zeit keineswegs mit Abscheu gedacht wird. „Wie die
gelegen, lieferte es ihm doch den Vorwand, 1929 die strahlende Baby-face-Sonne am Himmel der Tele-
ohnehin mageren demokratischen Rechte seiner Völ- tubbies schwebt sein Geist über der Erinnerung“,
ker zu kassieren und sein Reich, nun offiziell Jugo- schwärmt die estnische Zeitung „Eesti Päevaleht“
slawien genannt, in eine Diktatur zu verwandeln. über Konstantin Päts, der 1934 die Macht im Land
BALTISCHE DIKTATOREN Damit lag der Monarch voll im Trend seiner Zeit: übernommen hatte. Der Diktator verkörpere „für
Antanas Smetona, Der Erste Weltkrieg hatte Europas Landkarte verän- viele die vergangenen Tage des Glücks“.
Alleinherrscher in Litauen, dert. Aus der Konkursmasse des alten Deutschland, Auch in Polen wird Marschall Józef Pilsudski, der
behauptete ebenso wie die Österreich-Ungarns, des zaristischen Russland und sein Land 1918 in die Unabhängigkeit geführt hatte
Diktatoren Konstantin Päts des Osmanischen Reiches waren in einem Streifen und sich 1926 zum Alleinherrscher aufschwang, noch
aus Estland und Karlis von der Ostsee bis zum Mittelmeer zwölf neue Staa- heute kultisch verehrt. Täglich brennen vor seiner Sta-
Ulmanis aus Lettland, die ten entstanden. Sie alle experimentierten mit der De- tue an der Warschauer Ujazdowski-Straße rote Kerzen.
Demokratie sei für die mokratie, doch nur in der Tschechoslowakei und in Der autoritäre Herrscher wird in Polen vor allem
wirtschaftlichen Probleme Finnland überlebte die Volksherrschaft. Ansonsten über- als Staatsgründer nach rund 150 Jahren unter
verantwortlich. nahmen Diktatoren die Macht: 1919 in Ungarn, 1926 preußisch-deutscher, russischer und österreichischer
Herrschaft hoch geachtet. Und er gilt als Garant für Besonders glühte der Hass dort, wo politische
Ruhe und Ordnung. und soziale Gegensätze entlang ethnischer Grenzen
Eine „Sanacja“, eine Heilung, versprach der Mar- verliefen, wie in Jugoslawien. Dort warfen sich Ser-
schall nach seinem Putsch den Polen. Er trat an, um ben und Kroaten gegenseitig vor, die Vorherrschaft
mit dem Hader der Parteien aufzuräumen. Den em- über das jeweils andere Volk errichten oder sich ab-
pfanden auch viele von Pilsudskis Landsleuten als spalten zu wollen.
unfruchtbar. Wie in vielen europäischen Ländern Im Baltikum, aber auch anderswo musste zudem
glaubten auch die Polen, dass die Demokratie schuld die angebliche Gefahr einer kommunistischen Macht-
sei an den gewaltigen wirtschaftlichen Problemen, an ergreifung als Begründung für das Ende der Demo-
der hohen Arbeitslosigkeit und an der außenpoliti- kratie herhalten. Im Schatten der gewaltigen So-
schen Machtlosigkeit ihres Landes. Ganz ähnlich tön- wjetunion mit ihrem Anspruch, die Revolution in
te es aus Estland, wo Konstantin Päts diktatorisch die ganze Welt zu tragen, könne man sich keine lan-
herrschte, aus dem Litauen des Diktators Antanas gen demokratischen Debatten leisten, lautete das Ar-
Smetona und von Karlis Ulmanis in Lettland: Die gument der neuen Alleinherrscher.
Demokratie gefährde die Nation, nur ein starker In Ungarn kämpfte Miklós Horthy zunächst eine
Führer bringe die Rettung. Er allein könne einen Räterepublik nieder, bevor er am 16. November 1919
notwendigen „Heilungs- und Gesundungsprozess“ an der Spitze seiner siegreichen Truppen auf dem
ins Werk setzen, an dessen Ende in ferner Zukunft Rücken eines weißen Pferdes in Budapest einritt.
das politische Erwachsensein und – vielleicht – die Die Angst vor den Roten, vor der Arbeiterrevolte,
Rückkehr zur Demokratie stehen werde. ließ Horthy kräftig schüren. Sich selbst präsentierte
In der Tat waren viele Parlamente der Zwi- er stets als Beschützer Ungarns vor revolutionärem
schenkriegszeit kaum handlungsfähig, die Regierun- Ungemach.
gen wechselten im Jahrestakt. Nach Jahrhunderten Wichtigstes Anliegen aller Zwischenkriegsherr-
unter der Knute des Zaren oder anderer reaktionä- scher war der „starke und effiziente nationale Staat“.
rer Monarchen hatte sich kaum irgendwo eine de- Um ihn zu erreichen, wählten die meisten eine ver- UNGARNS HERRSCHER
mokratische Kultur herausbilden können. Politische gleichsweise milde Form der Diktatur. In Lettland, Li- Miklós Horthy ließ zu,
Gegner standen sich hasserfüllt gegenüber, radikales tauen, Estland und Polen blieben die Parlamente we- dass Freischärler und
Freund-Feind-Denken beherrschte die Köpfe, und nigstens formell bestehen und die Parteien erlaubt. In bewaffnete Offizierskorps
der Kompromiss galt als Niederlage. Polen ging Pilsudski erst 1930 zur offenen Diktatur Jagd auf Kommunisten
Verschärft wurden die politischen Konflikte noch über. Etwa tausend Oppositionspolitiker kamen in und Juden machten.
durch gewaltige soziale Ungleichheiten. Nirgends in Haft. Die meisten wurden im Militärgefängnis Brest- Etwa 5000 Menschen
Ostmitteleuropa war die Industrialisierung so weit Litowsk festgesetzt und schikaniert. fielen dem Terror des
fortgeschritten, dass sich – außer in den großen Städ- Admiral Horthy griff zu brutaleren Mitteln. Er Diktators zum Opfer.
ten – ein stabiles, politisch selbstbewusstes Bürger- ließ zu, dass bewaffnete Offizierskorps und Freischär-
tum gebildet hatte. Stattdessen gaben vielerorts noch ler Jagd auf Kommunisten und Juden machten. Der
feudale Grundbesitzer den politischen Ton an, denen Kommunismus war in den Augen Horthys die von
eine zunehmend verarmende Bauernschicht ge- den Juden angestrebte Form der Weltherrschaft.
genüberstand. Etwa 5000 Menschen fielen dem „weißen Terror“ –
AKG
2 DER WEG
IN DIE
DIKTATUR
Vom 30. Januar 1933 an baute Hitler die Nazi-Herrschaft aus.
Das Land wurde gleichgeschaltet. Sozialdemokraten und
Kommunisten wurden verfolgt, missliebige Künstler verfemt.
Im März entstanden die ersten Konzentrationslager.
Die Reichswehr unterwarf sich dem Diktator freiwillig.
BPK
DIE
UNTER-
WERFUNG
Einmal an der Regierung, machte sich Adolf
Hitler das Land in kurzer Zeit
untertan. Mit Terror und Notverordnungen,
unterzeichnet vom Reichspräsidenten.
Und mit Hilfe der vielen Deutschen, die
freiwillig kollaborierten.
Von Georg Bönisch
S
eit dem 30. Januar 1933 war Adolf Hitler nun also Reichs-
kanzler – ein Traum für seine Parteigänger, ein Alptraum für
seine Gegner. Die meisten anderen aber schienen davon
anfangs eher unberührt zu bleiben. Schulterzucken bei denen,
für die Hitler nicht der große Heilsbringer war. Und wer sich nicht als
Aktivist gegen die braune Partei verstand, lebte erst einmal sein Leben
weiter – die bösen Erfahrungen der letzten Jahre, die große Wirt-
schaftskrise, ließen die meisten Menschen zweifeln, dass es zu Ände-
rungen, also Verbesserungen, kommen könnte.
Manchen schien es einfach belanglos zu sein, dass es nun diesen Hit-
ler in der Reichskanzlei gab. Londons Botschafter Horace Rumbold
etwa beobachtete, dass die Ernennung des obersten Nationalsozialis-
ten vielerorts „phlegmatisch“ aufgenommen worden sei, und Karl
Barth, ein führender evangelischer Theologe, wollte nicht glauben,
dass jener Tag „in irgendeiner Richtung den Anbruch großer Neuig-
keiten bedeuten“ werde.
Andere wiederum waren überzeugt davon, der Ex-Gefreite Hitler
werde nicht länger Kanzler sein als sein Vorgänger Kurt von Schlei-
cher, der General: 57 Tage. Franz von Papen, Hitlers Stellvertreter im
Amt, legte sich sogar fest: „In zwei Monaten haben wir Hitler in die
Ecke gedrückt, dass er quietscht.“
Irrtümer, wie sie größer nicht hätten sein können.
Ein Irrtum war es auch, sich vorzustellen, Hitler im Kabinett auf die
Rolle des Juniorpartners festlegen zu können. In dieser Phantasie aber
GETTY IMAGES
DIE GLEICHSCHALTUNG
27. Februar 1933 Reichstagsbrand. Kommunis- Juni/Juli 1933 Auflösung aller Parteien mit
ten, Sozialdemokraten und andere Linke, darunter Ausnahme der NSDAP.
auch der spätere Friedensnobelpreisträger Carl von
Ossietzky, werden kurz darauf verhaftet. 14. Juli 1933 Die Neubildung von Parteien wird
per Gesetz verboten, das „Gesetz zur Verhütung
28. Februar 1933 Mit der „Notverordnung zum erbkranken Nachwuchses“ wird verabschiedet.
Schutz von Volk und Staat“, auch „Reichstags- Per Gesetz wird eingebürgerten Juden, vor allem
brandverordnung“ genannt, werden die wichtigsten aus Osteuropa, die deutsche Staatsangehörigkeit
Grundrechte der Weimarer Verfassung außer Kraft aberkannt.
gesetzt.
20. Juli 1933 Konkordat zwischen Deutschland
23. März 1933 Der Reichstag verabschiedet das und dem Vatikan.
sogenannte Ermächtigungsgesetz. Danach kann
die Reichsregierung Gesetze ohne Zustimmung des 26. Juli 1933 Juden werden zur Auswanderung
Reichstags erlassen. Nur die Sozialdemokraten gedrängt und sollen eine „Reichsfluchtsteuer“
stimmen gegen das Gesetz. zahlen.
wichtigsten Landes, kontrollierte Vizekanzler Papen, Innerhalb von nur 14 Wochen wurden die Ge- ANDRANG ZUR WAHL
und Alfred Hugenberg, der Medienzar und Vorsit- werkschaften, die zu den mächtigsten der Welt ge- Vor einem Berliner Wahl-
zende der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP), hört hatten, aufgelöst. Innerhalb von nur 23 Wochen lokal steht Alfred Hugen-
genoss als Superminister – zuständig für Wirtschaft, waren die Oppositionsparteien verboten – oder sie berg (M.) in der Schlange,
Ernährung, Landwirtschaft – seinen vermeintlich hatten sich selbst aufgelöst. Übrig blieb nur noch um am 5. März 1933 seine
großen Einfluss. eine Partei: die NSDAP. Stimme abzugeben. Trotz
Doch Hitler war nicht der Mann, der sich mit der Wie ein böses Geschwür hatte sich der totalitäre aller Manipulationen schaff-
Rolle eines Juniorpartners begnügte. Der skrupellose Staat in fast sämtliche Lebensbereiche hineingefres- te die NSDAP nur zusam-
Machtmensch war getrieben von einem so brennen- sen. Am Ende, nach Hindenburgs Tod, hatten auch men mit Hugenbergs DNVP
den Ehrgeiz, und seine konservativen Steigbügelhal- die Streitkräfte nichts Eiligeres zu tun, als Hitler ewi- und dem „Stahlhelm“ den
ter waren ihm so wenig gewachsen, dass es systema- ge Treue zu schwören und „unbedingten Gehorsam“ Sprung über die 50-Prozent-
tischer Diktaturpläne gar nicht bedurfte. An Hitlers – zuvor waren Soldaten auf die Verfassung vereidigt Marke.
Griff zur Alleinherrschaft erscheint es Zeitgeschicht- worden.
lern deshalb heute nicht bemerkenswert, wie viel der Nur wenige erkannten offenbar die Bedeutung
Reichskanzler unternehmen musste, um die Auswei- dieses letzten Schritts, einer war der jüdische Ge-
tung und Festigung seiner Macht zu erreichen, lehrte Victor Klemperer. Nach Hindenburgs Tod „Der vollkom-
sondern wie wenig. „Die Diktatur Hitlers“, sagt der
britische Historiker Ian Kershaw, „kam ebenso sehr
schrieb er in sein Tagebuch: „Der vollkommene
Staatsstreich wird vom Volk kaum gemerkt. Ich
mene Staats-
durch andere zustande wie durch ihn selbst.“ möchte schwören, dass Millionen gar nicht ahnen, streich wird
Dieser Marsch in den totalitären Staat, Start am was für Ungeheures geschehen ist.“ vom Volk
30. Januar 1933, Ziel am 2. August 1934 mit dem To-
de Hindenburgs, war möglich durch eine, so Kershaw,
™ kaum bemerkt.
Ich möchte
H
„Mischung aus pseudogesetzlichen Maßnahmen, mas- itler hatte die Verfassung quasi außer Kraft
siver Propaganda, Terror, Manipulation und – be- gesetzt, aber er bediente sich ihrer eiskalt,
reitwilliger Kollaboration“. Für die praktische Um- wenn sie ihm Vorteile verschaffte – durch schwören, dass
setzung dieser braunen Revolution war schnell ein Notverordnungen, die der Reichspräsident in einsa- Millionen gar
Begriff gefunden, der aus dem Fachwortschatz der mer Entscheidung erließ, in den ersten 53 Tagen seit
Elektrotechnik stammt: Gleichschaltung. dem 30. Januar waren es glatte 20. Sie schufen, gleich
nicht ahnen,
Innerhalb von nur vier Wochen existierten die in zu Beginn, die „machtpolitischen Voraussetzungen was für
der Weimarer Verfassung geschützten Bürgerrechte
nicht mehr. Innerhalb von nur acht Wochen war
für die pseudoparlamentarische Legalisierung der
Diktatur“, analysierte der Geschichtsforscher Karl
Ungeheures
nicht mehr das Parlament Herr der Gesetzgebung, Dietrich Bracher. geschehen ist.“
sondern Hitler – viele seiner politischen Widerparts Thema Nummer eins war sofort nach Hitlers Re- VICTOR KLEMPERER,
auf sozialdemokratischer und kommunistischer Sei- gierungsantritt die Auflösung des Reichstags, waren Tagebucheintrag
te waren geflüchtet, inhaftiert oder ermordet. die Neuwahlen. Der neue Regierungschef hoffte, auf am 4. August 1934
BPK
diese Weise hinter die Reichsregierung die absolute Tage entgegenschwebt“. Eine Hoffnung, die trog; der
Mehrheit zu bekommen. In der pazifistischen Zeit- jüdische Journalist Wolff, heute Namensgeber eines
schrift „Weltbühne“ schrieb Herausgeber Carl von der renommiertesten Auszeichnungen seines Be-
Ossietzky: „Der Acheron schäumt.“ Acheron ist in rufsstandes, starb 1943 nach KZ-Haft in einem jüdi-
der griechischen Mythologie der Fluss der Unter- schen Krankenhaus in Berlin.
welt. Ossietzkys Bild passte genau. Auch die Sozialdemokraten glaubten noch, die
Im Kabinett machte Hitler keinen Hehl daraus, Braunen niederringen zu können. Die Arbeiter-
welche Absichten er verfolgte. In „bindenden Ver- schaft stehe bereit, hieß es aus der SPD-Führung,
sprechungen“ gab er, so ein Protokoll, die Marsch- „um den Abwehrkampf gegen alle reaktionären Be-
„Wir Männer richtung vor: „a) Der Ausgang einer Neuwahl zum strebungen mit allen zur Verfügung stehenden Mit-
Reichstag solle keinen Einfluss auf die Zusammen- teln zu führen“. Und die KPD rief auf zum General-
dieser Regie- setzung der jetzigen Reichsregierung haben, b) die streik in Berlin, in anderen Großstädten und im
rung fühlen nun bevorstehende Wahl zum Reichstag solle die Ruhrgebiet.
uns vor der letzte Neuwahl sein. Die Rückkehr zum parlamen-
tarischen System sei unbedingt zu vermeiden.“
Doch der Kampf der Arbeiterbewegung gegen
das braune Regime blieb aus. Warum? Sicher ist,
deutschen Neuwahlen, das hieß Wahlkampf, und Wahlkampf dass Hitler einen solchen Ausstand fürchtete, doch
Geschichte hieß in dieser Zeit: Auseinandersetzung bis zum
Bürgerkrieg, Angriff auf das demokratische System,
angesichts der Massenarbeitslosigkeit war von vorn-
herein fraglich, ob genügend Beschäftigte die Arbeit
verantwortlich Hetze gegen Sozialdemokraten und Kommunisten. niederlegen und ihren Job riskieren würden. Hinzu
für die Dazu: Verhöhnung auch der deutschnationalen Hu- kam, dass die Kommunisten die Sozialdemokraten
genberg-Partei, die zusammen mit Hitler regierte seit Jahren als „Sozialfaschisten“ erbittert bekämpf-
Wiederher- und deren parlamentarische Basis mit 52 von 584 ten, was eine gemeinsame Front gegen Hitler ver-
stellung eines Mandaten ohnehin ziemlich schwach war. hinderte.
Schon diese Zahl zeigte, wie wenig die konserva- So wurde am Ende nur an wenigen Orten wirk-
geordneten tiven Partner Hitlers in der Lage waren, den politi- lich gestreikt, etwa im 4200-Seelen-Städtchen Mös-
Volkskörpers.“ schen Aufsteiger im Zaum zu halten. Hugenberg soll- singen am nördlichen Rand der Schwäbischen Alb.
te recht behalten, als er nur kurz nach Antritt des Einige hundert Textilarbeiter riefen Parolen wie
ADOLF HITLER Hitler-Kabinetts mit sich selbst haderte: „Ich habe die „Hitler verrecke“ oder „Hitler bedeutet Krieg“, als
in seiner ersten Rundfunk-
ansprache am 1. Februar 1933 größte Dummheit meines Lebens begangen. Ich habe aber ein kleiner Trupp Polizisten aufkreuzte, wurde
mich mit dem größten Demagogen der Weltgeschich- die Erhebung abgeblasen.
te verbündet.“ ™
Am selben Tag, dem 31. Januar 1933, leitartikelte
A
im „Berliner Tageblatt“ der große Publizist Theodor m 1. Februar ordnete Hindenburg die Auf-
Wolff über Hitlers, über Deutschlands Zukunft. Ja, lösung des Parlaments an, „damit das deut-
man habe viel erreicht, ja, man werde „gewiss noch sche Volk durch Wahl eines neuen Reichs-
mehr“ erreichen. Aber: Man werde „nicht verhin- tages zu der neu gebildeten Regierung des natio-
ULLSTEIN BILD
dern, dass in einem großen Volke seelischer und geis- nalen Zusammenschlusses Stellung nimmt“. Als
tiger Widerstand wächst und wartet, seinem eigenen Termin für die Neuwahl wurde der 5. März festge-
ihrer Rüstungen eine Vermehrung unserer eige- wässerte keineswegs die Gewalt seiner Worte. End-
nen Waffen niemals mehr erforderlich machen lich müsse der „Krebsschaden der Demokratie“ be-
spiegel special geschichte 1 | 2008 67
SCHRECKENS- seitigt und müssten die innenpolitischen Zustände sarischer Leiter des preußischen Innenministeriums,
HERRSCHAFT völlig umgekehrt werden, kündigte er an, eine Op- verhehlte nicht, wie er die Durchsetzung dieser von
In einem der SA-Folterkeller, position sei nicht zu tolerieren. Kurzum: „Wer sich Hindenburg unterzeichneten Bestimmung umsetzen
die von den Nazis überall nicht bekehren lässt, muss gebeugt werden. Aus- wollte: „Hier habe ich keine Gerechtigkeit zu üben,
im Land eingerichtet rottung des Marxismus mit Stumpf und Stiel.“ hier habe ich nur zu vernichten und auszurotten.“
wurden, bewacht ein SA- Auch darüber, welche Rolle das Militär künftig zu Martialische Worte, die die Menschen im Wahlkampf
Mann gefangengenommene spielen habe, ließ er seine Zuhörer nicht im Unkla- noch öfter zu hören bekommen sollten.
Regimegegner. Nach dem ren: Weil der „Lebensraum“ für das deutsche „Volk Bald darauf ordnete Göring an, jedwede nationa-
Reichstagsbrand am 27. zu klein“ sei, müsse in anderen Kategorien gedacht le Propaganda zu unterstützen, jedwede feindselige
Februar 1933 wurden bis werden. Sein Vorschlag: „Eroberung neuen Le- Haltung gegen nationale Verbände wie den „Stahl-
April 1933 allein in Preu- bensraumes im Osten und dessen rücksichtslose helm“ strikt zu unterbinden, „wenn nötig“, mit der
ßen über 25 000 Menschen Germanisierung“. Schusswaffe.
festgesetzt. Deshalb sei der Ausbau der Streitkräfte vorran- Und er machte den Kommunisten klar, wen er in
giges Ziel, und dazu müsse die allgemeine Wehr- den „Todeskampf“ gegen sie führen werde – die
pflicht wieder eingeführt werden – was nach den „Braunhemden“ nämlich, 25000 Mitglieder der bru-
Bestimmungen des Versailler Vertrags verboten talen Eingreiftruppe SA, die in einem wahnwitzigen,
war. Und dann sagte er einen Satz, der den Herren aber für die Zeit nach Hitlers Machtantritt typischen
besonders gut tun musste: Die Wehrmacht sei die Verwaltungsakt zu preußischen Hilfspolizisten auf-
wichtigste Institution im Staate. gestiegen waren. Noch einmal so viele Schläger ka-
Lebensraum, Eroberung, Germanisierung, Rück- men vom „Stahlhelm“ und aus den Reihen von Hit-
sichtslosigkeit. Krieg? lers persönlichem Schutzkommando, der SS – alle
„Die Republik Hitler hatte der Generalität keinen konkreten trugen weiße Armbinden, eine Farbe, die diesmal
hat die Bataille Kriegsplan vorgelegt, aber wer nur ein bisschen mitnichten die Farbe der Kapitulation war.
verloren, weil Vorstellungskraft besaß, der wusste: „Lebensraum“ Da stand nun also eine Bürgerkriegsarmee.
im Osten konnte nur durch Krieg erreicht werden. Schlagkräftig im Sinne des Wortes, hörig, hasserfüllt
es ihr an dem Nach außen aber ließ Hitler weiter Schalmeien- – und schon deswegen allzeit bereit, weil die Nazis
notwendigen töne erklingen. Britischen, italienischen und ame-
rikanischen Journalisten diktierte er in den Block:
eine regelrechte antikommunistische Paranoia er-
zeugt hatten. Eine Terrorwelle überrollte das Land
Lebenswillen „Niemand wünscht den Frieden mehr als ich.“ – deutliches Zeichen für den Zivilisationsbruch, der
fehlte, über ™
dem „Dritten Reich“ seinen besonderen histori-
schen Charakter geben sollte.
den die Rechte
T
ags darauf, am 4. Februar, trat reichsweit eine Derweil gerierte sich Hitler ganz als konventio-
in hohem „Verordnung zum Schutze des deutschen Vol- neller Staatsmann. Die Parteiuniform hatte er ab-
SÜDDEUTSCHER VERLAG
kes“ in Kraft, euphemistischer hätte eine Titu- gelegt, seit er als Kanzler eines „Kabinetts der Na-
Maße verfügt.“ latur nicht sein können. Kommunistische und sozial- tionalen Konzentration“ in die traditionsreiche Wil-
CARL VON OSSIETZKY, demokratische Zeitungen wurden nach und nach helmstraße 71 gezogen war, an jenem historischen
Herausgeber der „Weltbühne“ verboten. Hitlers Adlatus Hermann Göring, kommis- Arbeitsplatz den würdigen Nachfolger Bismarcks
S
schalten und bei den anstehenden Wahlen mit Will- onntag, 5. März 1933, Wahltag. Historiker
kür und Terror die absolute Mehrheit zu organisie- haben diese Wahl, die ja die letzte sein sollte,
ren. „Das ist ein gottgebenes Zeichen, Herr Vize- als „halbfrei“ bezeichnet. An den Urnen
kanzler!“, behauptete Hitler Papen gegenüber. herrschte beträchtlicher Andrang: 88,8 Prozent
„Wenn dieser Brand, wie ich glaube, das Werk der aller Wahlberechtigten stimmten ab, also knapp
Kommunisten ist, dann müssen wir diese Mörder- 40 Millionen Menschen, ein Rekord.
pest mit eiserner Faust vernichten.“ Hitlers NSDAP, im Wahlkampf inzwischen von
Noch in der Brandnacht begannen Polizei und der gesamten Großindustrie massiv gefördert, er-
SA, Kommunisten und andere Linke wie den spä- reichte bei weitem nicht die angestrebte absolute
teren Friedensnobelpreisträger Carl von Ossietzky Mehrheit, sie kam auf 43,9 Prozent – was im 647-
zu verhaften. SA-Männer schlugen ihre Opfer zu- köpfigen Reichstag 288 Sitze ausmachte. Erst die gut
sammen, folterten manche zu Tode. 8 Prozent von DNVP und „Stahlhelm“ verhalfen
ULLSTEIN BILD (O.); BPK (R.)
Und wieder war Hindenburg zur Stelle, der der Regierung zum Sprung über die 50-Prozent-
Reichspräsident, und spielte den Nationalsozialisten Marke und versetzten Hitler in die Lage, endgültig
in die Hände – mit der „Verordnung zum Schutz die Macht zu ergreifen. Denn nun riss der Regie-
von Volk und Staat“, der sogenannten Reichstags- rungschef, der den ihn enttäuschenden Wahlaus-
brand-Verordnung, die am Tag nach Entdecken des gang kurzerhand in eine „Revolution“ umdeutete,
spiegel special geschichte 1 | 2008 69
DER WEG IN DIE DIKTATUR
REICHSTAGSBRAND handstreichartig auch jene Länder des Reichs an Polizisten, eigentlich die Hüter der Ordnung, Kritik
Am 27. Februar 1933 schlu- sich, die noch nicht in seiner Gewalt waren: Ham- übten. Haft- und Folterstätten schossen wie Pilze
gen Flammen aus dem burg etwa oder Hessen, Baden und Bayern, Würt- aus dem Boden, und schon bald gehörte ein böser
Reichstag in Berlin. Als temberg oder Sachsen. Satz zum allgemeinen Sprachgebrauch: „Sei still,
Brandstifter wurde dem Die Selbständigkeit der Länder war ein prägendes sonst kommst du nach Dachau!“
holländischen Anarchokom- Erbe der deutschen Geschichte. Jetzt marschierten Jetzt schlug die Stunde des Joseph Goebbels, der
munisten Marinus van der SA- und SS-Truppen auf, umlagerten Amtsgebäude, nach den Wahlen aufgestiegen war zum Reichs-
Lubbe (stehend) vor dem Hakenkreuzfahnen wurden aufgezogen, Bürger- minister für Volksaufklärung und Propaganda –
Reichsgericht in Leipzig der meister, Polizeipräsidenten, ganze Regierungen ga- einer weltweit einzigartigen Behörde zur Kontrol-
Prozess gemacht. Er wurde ben nahezu widerstandslos auf, innerhalb von fünf le der öffentlichen Meinung und zur fast religiösen
am 10. Januar 1934 durch Tagen wurden die Länder linientreu gemacht – wo Überhöhung des NS-Regimes. Goebbels organi-
das Fallbeil hingerichtet. Im es sein musste, auch mit brachialer Gewalt. sierte am 21. März in Potsdam einen Staatsakt, den
Dezember vorigen Jahres „Wir sagen nicht: Aug’ um Auge, Zahn um „Tag von Potsdam“, der eines beweisen sollte: dass
wurde das Todesurteil als Zahn“, deklamierte der württembergische Gauleiter die Hitler-Bewegung in der Tradition des Bismarck-
unrechtmäßig aufgehoben. Wilhelm Murr. „Nein, wer uns ein Auge einschlägt, Reiches stand. Das neue Deutschland, aufgebaut
dem werden wir den Kopf abschlagen, wer uns ei- auf dem Ruhm der preußischen Vergangenheit.
nen Zahn ausschlägt, dem werden wir den Kiefer In der Garnisonkirche, wo Friedrich der Große
einschlagen.“ und sein Vater, der „Soldatenkönig“, ihre letzte
Mit der Reichstagsbrand-Verordnung waren alle Ruhestätte gefunden hatten, ging die Hauptzere-
Machtmittel direkt an den Reichskanzler und des- monie vonstatten, der Rundfunk übertrug live, die
sen Parteifreund, Innenminister Wilhelm Frick, ge- Kinder hatten schulfrei. Hindenburg erschien in
bunden – und nicht etwa an den Reichspräsidenten, der Uniform des preußischen Generalfeldmar-
dessen Unterschrift die Bestimmung nur trug. Auch schalls, vor dem leeren Thron des letzten Kaisers,
Hitlers Vize Papen und DNVP-Chef Hugenberg der im niederländischen Exil lebte, hob er grüßend
waren von diesem Zeitpunkt an nur noch Mehr- seinen Marschallstab. Hitler trug, ganz Staatsmann,
SÜDDEUTSCHER VERLAG (L.); AKG (R.)
heitsbeschaffer, und das auch nur für kurze Zeit. einen dunklen Cutaway.
Am 21. März brachte Hindenburg die Verord- An den Gräbern der Könige wurden Kränze nie-
nung „zur Abwehr heimtückischer Angriffe gegen dergelegt, Soldaten schossen Salut. „Dank Ihrem
die Regierung der nationalen Erhebung“ auf den Verstehen, Herr Reichspräsident“, predigte Hitler,
Weg – „unwahre“ Kritik an der Hitler-Regierung sei die „Vermählung vollzogen“ worden „zwischen
wurde formell unter Strafe gestellt. Die Zahl der den Symbolen der alten Größe und der jungen
Denunziationen stieg daraufhin so massiv an, dass Kraft“. Er, lobte Hitler den alten Herrn, habe die-
D
er Propaganda- ist. „Sie“, wandte er sich an die NSDAP-Abgeord-
coup von Pots- neten, „wollen vorerst den Reichstag ausschalten,
dam diente nicht um Ihre Revolution fortzusetzen. Zerstörung von
nur dazu, die Symbiose Bestehendem“ aber, betonte Wels, sei längst „kei-
der revolutionär-natio- ne Revolution“.
nalsozialistischen Bewe- Bevor Hitlers Parteigänger „stürmische Heil-
gung (in der Figur Hit- Rufe“ (Protokoll) brüllten, bekannte sich der SPD-
lers) und des bürgerlich- Chef „in dieser geschichtlichen Stunde feierlich zu
konservativen Patriotis- den Grundsätzen der Menschlichkeit und der Ge-
mus (in der Figur Hin- rechtigkeit, der Freiheit und des Sozialismus“. Und
denburgs) vor den Au- er ging den Regierungschef an: „Kein Ermächti-
gen aller darzustellen. gungsgesetz gibt Ihnen die Macht, Ideen, die ewig
Er war darüber hinaus und unzerstörbar sind, zu vernichten.“
die emotionale Vorbe- Hitler schäumte vor Wut, auf dem Weg zum Red-
reitung auf ein Ereignis nerpult stieß er seinen Vize Papen, der ihn zu be-
zwei Tage später, das die sänftigen suchte, heftig beiseite. „Ich will auch gar
Selbstentmachtung der nicht, dass Sie dafür stimmen“, schrie er in Rich-
Parteien bedeutete – die tung Sozialdemokraten. „Deutschland soll frei wer-
Verabschiedung des Er- den, aber nicht durch Sie!“
mächtigungsgesetzes, dessen offizielle Bezeichnung, 444 Abgeordnete stimmten schließlich für das
„Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Ermächtigungsgesetz, eine ganz breite Mehrheit.
Reich“, viel dramatischer klingt. Der Zentrumsvorsitzende Ludwig Kaas, ein Theo-
Seit November 1932 schon stand ein solches Ge- loge, argumentierte mit der „brennenden Not, in
setz auf der Wunschliste Hitlers und seiner Entou- der Volk und Staat gegenwärtig stehen“. Die Libe-
rage. Seine Ziele: Ausschaltung des Parlaments, ralen – auch der Abgeordnete Theodor Heuss, spä-
Gesetzgeber sollte die Regierung sein. Ausschal- ter erster Bundespräsident – hatten ihre „ernsten
tung der Verfassung, Hitler wollte nicht mehr ab- Bedenken“ zurückgestellt „in der Erwartung einer
hängig sein von Hindenburgs Notverordnungen. gesetzmäßigen Entwicklung“.
Neue Gesetze brauchten nicht mehr verfassungs- Schon am nächsten Tag trat das Gesetz, das Hit-
konform zu sein. ler eine „Entscheidung über Frieden oder Krieg“
Die Reichstagssitzung am 23. März begann um genannt hatte, in Kraft. Der „Völkische Beobach- GAULEITER
14.05 Uhr. Ein riesiges Hakenkreuz prangte ein- ter“, das Zentralorgan der NSDAP, kommentierte, Wilhelm Murr war Statthal-
schüchternd an der Wand hinter der Rednertribü- Hitler könne nun „alles tun, was notwendig ist für ter Hitlers in Württemberg.
ne in der Berliner Kroll-Oper, die nach dem Reichs- die Rettung Deutschlands“. Gegnern drohte er mit der
tagsbrand als Ausweichquartier diente. Männer der Im Klartext hieß dies: Die Illusion, Hitlers Bewe- Anwendung brachialer
SA, der SS und des „Stahlhelm“ bewachten die gung nutzen zu können zur Errichtung eines auto- Gewalt. „Wer uns ein Auge
Eingänge, etliche brüllten: „Wir fordern das Er- ritären Staates im Sinne Papens und Hugenbergs, einschlägt“, deklamierte er,
mächtigungsgesetz, sonst gibt’s Zunder!“ hatte sich nach kürzester Zeit aufgelöst. Der Mann „dem werden wir den Kopf
Das Plenum war nicht vollzählig. 107 Abgeordne- war auf dem Weg zur Diktatur, endgültig. abschlagen.“
te der SPD und der KPD fehlten – sie saßen in Haft ™
oder hatten aus Angst um ihr Leben die Flucht er-
B
griffen. Hitler brauchte eine Zweidrittelmehrheit, ald schon war auch keine Rede mehr von der
und deshalb tricksten Innenminister Frick und „nationalen Revolution“ – sondern von der
Reichstagspräsident Göring. Unentschuldigt feh- nationalsozialistischen. Die Gleichschaltung,
lende Abgeordnete galten als „anwesend“, ein der Begriff tauchte erstmals auf in einem Gesetz
Boykott der Sitzung hätte also nichts genützt; die vom 31. März 1933, erfasste alle Bereiche der Poli-
KPD-Mandate wurden als nicht existent deklariert, tik und des sozialen Lebens, und mit Hitlers Macht-
so dass sich die „gesetzliche Mitgliederzahl“ des antritt war der Antisemitismus, die rassistisch be-
Reichstags um 81 verminderte. gründete Feindschaft den Juden gegenüber, Staats-
Dennoch, trotz dieser Manipulationen blieb die doktrin geworden. Am 1. April 1933 organisierte
Koalition aus NSDAP und Konservativen abhängig die NSDAP eine reichsweite Boykottaktion gegen
BPK
W
Regel ein späteres Todesurteil. ar Hitler unmittelbar nach seiner Inthroni-
Die Zerschlagung der Gewerkschaften bedeute- sierung vielen noch gleichgültig, so nahm
te die zwangsweise Eingliederung ihrer Mitglieder der Hype um seine Person nun Formen
in die „Deutsche Arbeitsfront“, die unter der Füh- an, die, so Kershaw, „selbst den Kult um die Person
rung des Exzentrikers und NS-Organisationsleiters des Reichsgründers Bismarck bei weitem“ über-
Robert Ley zur Einheitsorganisation „aller schaf- traf. Etliche Bürgermeister beeilten sich, dem Kanz-
fenden Deutschen“ wurde und schon bald mit ler die Ehrenbürgerschaft anzutragen, Straßen und
23 Millionen Mitgliedern die größte NS-Massen- Plätze wurden nach ihm benannt, der historische
organisation war. Die Tarifhoheit, Kernstück ge- Nürnberger Hauptmarkt hieß bald schon „Adolf-
werkschaftlichen Handelns, war abgeschafft, staat- Hitler-Platz“, ein See bei Oppeln „Hitlersee“ und
„Das war ein liche „Treuhänder der Arbeit“ bestimmten Jobs ein ganzer Ort – nämlich Sutzken in Ostpreußen –
und Verträge. „Hitlershöhe“.
Vorspiel nur. Den Geist der neuen Zeit verkündeten auch Aka- Eine Kitschindustrie entstand – mit Büsten und
Dort wo demiker und solche, die es werden wollten. Am
10. Mai brannten in den deutschen Universitäts-
Reliefs, Hitler auf Postkarten, Hitler auf Taschen-
messern, Hitler auf Zinntellern. Das war selbst
man Bücher städten auf großen Scheiterhaufen die Bücher miss- einem Regime zu viel, das auf Gefühle setzte und
verbrennt, liebiger deutscher Dichter, Philosophen, Schrift- fast religiöse Hingabe: Kurzerhand verbot Goeb-
steller und Wissenschaftler – ein Akt der Barbarei bels, den Hitler-Kopf gewerblich zu nutzen.
verbrennt man wider den angeblich „undeutschen Geist“, organi- Gängigstes Zeichen der Anpassung wurde der
auch am Ende siert von Studenten und tatkräftig unterstützt von zum Hitlergruß ausgestreckte rechte Arm (über-
Professoren und Rektoren. nommen von Italiens Faschisten). Für alle Beamten
Menschen.“ Allein in Berlin warf die Meute 20 000 Bücher in war er seit Mitte Juli Pflicht, wer wegen einer kör-
GETTY IMAGES
HEINRICH HEINE die Flammen. „Hier sinkt“, jubelte Goebbels, „die perlichen Behinderung nicht den rechten Arm zum
in der Tragödie „Almansor“ geistige Grundlage der Novemberrepublik zu Bo- „Deutschen Gruß“ heben konnte, der musste es
steller; Hitlers Vorgänger Kurt von Schleicher: war er alles: höchster Soldat, höchster Richter, Chef
erschossen ebenso wie seine Frau und sein Ver- der Regierung. Oberhaupt des Staates, totalitärer
trau-ter, der Generalmajor Ferdinand von Bredow. Diktator – und fast auch Herrscher über die Köpfe
Erschossen auch Gregor Strasser, Hitlers ärgster von Millionen Menschen. ✦
spiegel special geschichte 1 | 2008 73
Begeisterte Nazi-Anhänger säumen vor dem NSDAP-Parteitag 1938 in Nürnberg die Straßen
Bei den letzten freien Wahlen der Weimarer Republik erhielt Hitler Stimmen
aus allen Schichten. Die NSDAP war die erste deutsche Volkspartei.
E
s gehört zu den historischen Binsenweishei- aufräumte. Der einem breiten Fernsehpublikum als
ten, dass Adolf Hitler 1933 nicht an die Parteienforscher bekannte Professor relativierte auch
Macht gewählt wurde. In keiner Reichstags- die Annahme, dass viele KPD-Wähler zur NSDAP
wahl erreichten die Nationalsozialisten übergelaufen wären und dass die Jugend besonders
während der Weimarer Republik eine absolute Mehr- anfällig für die Nazis gewesen war. Da die NSDAP
heit. Aber die enormen Erfolge der NSDAP bei den ihre Stimmen aus allen Schichten und aus allen
Urnengängen 1930 und 1932 waren eine Vorausset- politischen Lagern erhielt, sei sie, so Falter, die
zung, dass Reichspräsident Paul von Hindenburg Hit- erste deutsche Volkspartei gewesen. Mit diesem
ler im Januar 1933 zum Reichskanzler ernannte. Begriff war seit dem 19. Jahrhundert der Anspruch
Denn hinter Hitler standen nicht nur die braunen verbunden, nicht für einzelne Interessengruppen
Schläger der SA und der gutorganisierte Apparat sei- oder Schichten, sondern für das ganze Volk zu
ner Partei, sondern auch jene Millionen Deutsche, sprechen.
die ihm ihre Stimmen gegeben hatten. Ihre Zahl Gelungen war den Nazis dieser Aufstieg zu der
überstieg die der NSDAP-Mitglieder stets bei weitem. mit Abstand stärksten Partei der Weimarer Republik
HITLER-PLAKAT Lange hieß es, die NSDAP verdanke ihre Erfolge in nur wenigen Jahren. Noch 1928 war die NSDAP
Bei der Reichspräsidenten- vor allem den Frauen, die Arbeiter dagegen seien eine unbedeutende rechte Splitterpartei, die, hätte
GETTY IMAGES (O.); INTERFOTO (U.)
wahl im März 1932 trat weitgehend immun gewesen gegen die braune Pro- es eine Fünfprozenthürde gegeben, mit nur 2,6 Pro-
Hitler mit diesem Porträt paganda. Alles falsch: Die Nazis wurden von allen zent nicht ins Parlament gekommen wäre. Aber
gegen Amtsinhaber Paul Schichten der Gesellschaft gewählt. schon bei der Reichstagswahl am 14. September 1930
von Hindenburg an – und Es war der Mainzer Politikwissenschaftler Jürgen stiegen die Nationalsozialisten zur zweitstärksten
verlor mit 37 zu 53 Prozent. Falter, der 1991 in seiner Studie „Hitlers Wähler“, die Fraktion auf und waren klarer Sieger des Urnen-
inzwischen als Klassiker gilt, mit vielen Irrtümern gangs. Für den britischen Historiker Ian Kershaw
Schon bald nach Hitlers Regierungsantritt überzogen SS, SA und Gestapo das Land mit
einem Zwangssystem, zu dem ab März 1933 auch Konzentrationslager gehörten.
HIMMLERS TERRORSYSTEM
Von Christian Habbe
K
rawalle gegen Professoren, Machtapparat aus der Gestapa formen. Dafür such-
Schläge für Kommilitonen – te er Gleichgesinnte, für die – wie für ihn selbst –
in den Hörsälen der späten „der Krieg, der Zusammenbruch und die Besetzung
Weimarer Republik randa- der Heimat durch fremde Truppen das bestimmende
lierten die Braunhemden und die Na- Erlebnis“ der Jugend waren.
tionalen. Besonders gewalttätig ging Schwer zu finden war dieses Personal nicht. Bei
es bei den Juristen zu. Wenn die „ein- den Juristen herrschte ein Mangel an Arbeitsplät-
mal ihre Talare anziehen, werden un- zen, allein in Preußen war von 4000 Gerichtsasses-
sere Kinder etwas erleben“, schrieb soren die Hälfte arbeitslos. Unter all den Enttäusch-
Kurt Tucholsky, führender Chronist ten und Radikalen konnte Best schon bald genügend
des zerrissenen Landes und selbst Kandidaten rekrutieren, die, statt in die Talare zu
Jurist. schlüpfen, lieber in den Kampf gegen „Reichsschäd-
Es ging alles viel schneller, als linge“ ziehen wollten. Die „innere Wehrmacht“, die
Tucholsky befürchtet hatte. Nach ih- Best sich erträumte, nahm Gestalt an.
HERBERT KRAFT / BPK (O.); WALTER FRENTZ COLLECTION, BERLIN (U.)
rer Machtübernahme begannen die Und so zog in das neue Amt eine „undoktrinäre
Nazis sogleich, die „Gefühlskalten Elite karrierebewusster neusachlicher Jungakademi-
und Erbarmungslosen“ (Tucholsky) ker“ ein, so der Flensburger Historiker Gerhard Paul.
zu umwerben. Das Preußische Gehei- Im Nu eroberte Bests Nachwuchstruppe, alle um die
me Staatspolizeiamt (Gestapa) sollte 30 Jahre alt („mein Assessorenkindergarten“), die
„HERRENMENSCHEN“ umgebaut werden, radikalisierte Universitätsabsol- Führungsstellen. Aus der ehemaligen preußischen
SS-Chef Heinrich Himmler venten waren da gefragt. Polit-Polizei wurde ein Horrorinstrument, das nach
(hier 1943 mit dem Verantwortlich für den Umbau war Werner Best, dem Ende der Nazi-Zeit vom Nürnberger Tribunal
Hitler-Vertrauten Martin ein Polizeirechtler, der zuvor für den Münchner Po- als „verbrecherische Organisation“ eingestuft werden
Bormann, r.) kultivierte lizeipräsidenten Heinrich Himmler den Sicherheits- sollte. Ob Totalkontrolle der Deutschen, Terror in
krude Phantasien über einen dienst organisiert hatte. Ab 1935 sollte der Mann, den besetzten Ländern, Massenmord an den Juden
„soldatisch bestimmten Jahrgang 1903, mit frischen Kräften – jung, schlau – immer stand die Geheime Staatspolizei, die Ge-
Orden nordischer Männer“. und skrupellos wie er selbst – einen linientreuen stapo, im Mittelpunkt.
seln der Gefangenen. Immer wieder wurden Häft- einander wurde die Spezialstellung der Geheimpoli- POLIZEIKONTROLLEUR HANS
linge totgeschlagen oder in den Selbstmord getrieben. zei abgesichert. Am Ende war sie als „selbständiger MITTELBACH
in einem Bericht über seinen
Eine weithin berüchtigte „Folterhölle“, so der Augs- Verwaltungszweig“ ausgewiesen, gänzlich von den Besuch bei Gefangenen im
burger Historiker Ludwig Eiber, war das Lager Fuhls- Einschränkungen des Polizeirechts frei. Vorsichts- Lager Sonnenberg
SCHERL/SÜDD. VERLAG (L. O.); NESTOR BACHMAN/DPA (R. O:); CINETEXT/HENSCHEL THEATER-ARCHIV (U.)
lungen“. Ein Wildwuchs, der einige in der NS- an der Mütze. Von ihnen forderte die Führung bru-
Führung störte – in München ließ Polizeipräsident tale Rücksichtslosigkeit – sie stünden als „einzige
Heinrich Himmler im März 1933 ein „Musterlager“ Soldaten auch in Friedenszeiten Tag und Nacht am
für 5000 Inhaftierte einrichten: Dachau. Feind, am Feind hinter dem Draht“. Die Aufseher
Das Konzentrationslager 20 Kilometer nördlich gehörten zu einer Untergruppe der SS, den „Toten-
von München hatte – erstmals – eine formale Lager- kopf-Verbänden“. Diese „innenpolitische Knochen-
VON NAZIS GEFOLTERT ordnung, allerdings war die unmenschlicher als alles brechergarde“ (Kogon) war eines der ganz alten
Der Schriftsteller und bisher Gekannte. Beispielsweise konnten „Aufwieg- Machtinstrumente der SS.
Nobelpreisträger Carl von ler“ und „Meuterer“ hingerichtet werden. Dafür war Hitler hatte die „Schutzstaffel“, kurz SS genannt,
Ossietzky, der in seiner Zeit- in den Paragrafen 11 und 12 der Lagerordnung ein 1925 aus Angehörigen seiner ersten Leibwachen bil-
schrift „Die Weltbühne“ für wahrer „Dschungel von Strafanlässen“ aufgeführt, den lassen und jahrelang der SA unterstellt. Seit 1929
Demokratie und Pazifismus wie Eugen Kogon, Verfasser des ersten Standard- war Heinrich Himmler „Reichsführer SS“ (RFSS).
stritt, erlitt in der KZ-Haft werks über den „SS-Staat“ beschrieb. „Erhängt“, Mit elitärem Selbstverständnis suchten die
so schwere Misshandlun- „auf der Stelle erschossen“ oder „nachträglich schwarzuniformierten Gruppen innerhalb der SA
gen, dass er 1938 an den gehängt“ werden konnte, wer nach Meinung der NS- Selbständigkeit zu demonstrieren. Lange Zeit mit
Folgen starb. Schergen politisiert hatte, Cliquen gebildet, bei der mäßigem Erfolg. Denn auch wenn der Chef wie ein
Arbeit gejohlt, Kassiber geschmuggelt oder Flucht- grotesker Führerverschnitt – mit Uniform, Bärtchen
tipps verbreitet hatte. „Jede Aktion im Lager konn- und Schaftstiefeln – durch Parteiveranstaltungen stol-
te den unmittelbaren Tod nach sich ziehen“, sagt der zierte – die braune Mutterorganisation SA blieb NS-
Historiker Johannes Tuchel, Leiter der Gedenkstät- Gewaltinstrument Nummer eins und beherrschte die
te Deutscher Widerstand. Knüppelszene nach innen und außen.
Hass auf die alte Ordnung. Heydrich hatte den SS-Si- einen der blutigsten Schreibtischtäter. Best wurde in
cherheitsdienst und die Politische Polizei in Bayern der Bundesrepublik nie verurteilt. Heinrich Müller
geleitet. Binnen ein paar Monaten bekam das Duo BKA-Regierungskriminalrat Theodor Saevecke,
faktisch reichsweit den Befehl über die Politische Po- der 1962 die Durchsuchungen und Verhaftungen in
lizei, ab Juni 1936 dann war Himmler formal Chef der der Hamburger SPIEGEL-Redaktion leiten durfte,
gesamten Polizei im Reich. Eine beispiellose Macht- passte da gut ins Bild. Der RSHA-Ehemalige war
entfaltung war vollendet, der Polizeistaat stand. im Krieg bei der Judenverfolgung in Tunesien aktiv
Dessen Rückgrat, die nun ebenfalls Himmler un- gewesen und war später in Italien, wegen Verant-
terstellte Gestapo, hatte inzwischen öffentlich sicht- wortlichkeit für Deportationen und Erschießungen,
bar zugelegt. Dass der „Völkische Beobachter“ den zu lebenslanger Haft verurteilt worden, in Abwe-
Deutschen einbleute, wie effizient Himmlers Greifer senheit.
den „Vernichtungskampf gegen die Volksschädlinge“ Derart vielseitig verwendbare Effizienz war eine
führten, ließ die Menschen die auf über 2300 Be- Grundbedingung in Himmlers Zwangssystem. Ohne
schäftigte angeschwollene Behörde mit mythischem die Durchschlagskraft des allumfassenden Polizeiap-
Schauder betrachten, denn man wusste auch: Heere parats hätte es, so folgerte Terror-Forscher Eugen
von Denunzianten arbeiteten zu. Kogon, „nicht zu funktionieren vermocht“. ✦ Theodor Saevecke
spiegel special geschichte 1 | 2008 79
DER WEG IN DIE DIKTATUR
Schneller, als selbst Pessimisten fürchteten, unterwarf Hitlers Regime auch Kultur
und Kunst einer umfassenden Gleichschaltung. Wer sich der Gängelung nicht unterwarf,
musste emigrieren – oder im „inneren Exil“ zu überdauern versuchen.
RESIGNATION IN RATEN
Von Johannes Saltzwedel
I
KUNST UNTER ZENSUR n den Festsälen am Berliner Zoo herrschte am tiker Carl Zuckmayer. In „einer Mischung von be-
Mit Hass-Ausstellungen wie Abend des 28. Januar 1933 eine Stimmung zwi- klommenem Ernst und hektischer Lustigkeit“ habe
dieser in München 1937 schen Feiertrubel und Weltuntergang. Alle, die das Publikum den Abend begangen. Manch einer
stellten die nationalsozia- glaubten, in Kunst, Kultur und Politik etwas zu hatte vorsichtshalber seine Kriegsorden angelegt.
listischen Geschmackshüter sagen zu haben, waren zum Presseball gekommen. „Wer weiß, wann Sie wieder in einer Ullstein-Loge
alles an den Pranger, was Die Herren trugen meist Frack und Lackschuhe, die Champagner trinken werden!“, rief der Leiter des re-
der parteilich verordneten Damen edle Roben, Kellner schwirrten im hell- nommierten Verlags, Emil Herz, während er seinen
Ästhetik zuwiderlief. erleuchteten Saal herum. Nur eine Loge blieb leer: Gästen ein Glas nach dem anderen servieren ließ. Als
Dank ständiger Propaganda die des Reichskanzlers und seiner Minister. Der Re- zu vorgerückter Stunde dann die Nachricht umlief,
hatten die Verfemungs- gierungschef Kurt von Schleicher war am Nachmit- der neue Kanzler werde Adolf Hitler heißen, ver-
aktionen gegen die tag zurückgetreten, noch wusste niemand, wen der suchte sich die Gesellschaft mit „gezwungenen
Malerei der Avantgarde greise Präsident Paul von Hindenburg zu seinem Scherzen“ und „optimistischen Illusionen“ (Zuck-
großen Zulauf. Nachfolger berufen würde. mayer) krampfhaft bei Laune zu halten.
„Jeder spürte, was in der Luft lag, keiner wollte es Bei vielen sollte die Stimmung bald umschlagen.
ganz wahrhaben“, erinnerte sich später der Drama- Schon am Abend des 30. Januar „wälzte sich“, so
SS-Formationen zur Reichskanzlei, von deren Balkon aus der renommierten Institution zu bewegen. Bilder wie diese hatten bei
der neue Führer des deutschen Volkes seine Mannen „Das Wohl und Bestehen des Ganzen“ sei wichti- NS-Kunstwächtern keine
grüßte“. Auf den Straßen Berlins herrschte „reine Fa- ger, und er wolle der Akademie „aus einer schweren Chance: Max Beckmanns
schingsstimmung“, wie der Kulturmäzen und Poli- Lage“ heraushelfen, zitierte der Akademie-Präsident „Geschwister“ (l., 1933),
tikbeobachter Harry Graf Kessler in seinem Tage- Heinrich Mann anschließend auf der Vollversamm- Paul Klees „Kreuze und
buch notierte. lung des illustren Instituts. Nur ein Einziger aus der Säulen“ (o., 1931), George
Aber nicht einmal erfahrene Zeitzeugen wie Kess- verstörten Runde meldete sich mit Protest zu Wort. Grosz’ „Sonnenfinsternis“
ler vermochten vorauszusehen, wie rasch und brutal Alfred Döblin, Autor des großen Montage-Romans (1926).
sich die neuen Machthaber Presse, Kunst und Kultur „Berlin Alexanderplatz“, klagte, dieser Rücktritt sei
unterwerfen würden. Bereits am 14. Februar atta- hinter verschlossenen Türen abgekartet worden.
ckierte Bernhard Rust, der knapp zwei Wochen Berlins Zeitungen hingegen, schon unter natio-
zuvor kommissarischer preußischer Kultusminister nalsozialistische Kuratel gestellt, begrüßten andern-
geworden war, in einer Rede über den „national- tags nahezu einhellig die „Säuberung“. Unterwürfig
sozialistischen Kulturwillen“ Heinrich Mann. Der konnte Schillings dem Minister „unter Bezugnahme
Romancier, damals Vorsitzender der Dichtersektion
in der Preußischen Akademie der Künste, hatte
auf die mir gestern gewährte Unterredung“ Vollzug
melden. Am 21. Februar verließ Heinrich Mann, der
Für Joseph
zusammen mit anderen Kulturschaffenden einen mit seinen historischen und zeitkritischen Romanen Goebbels war
„dringenden Appell“ unterzeichnet, in dem zur
Zusammenarbeit zwischen SPD und KPD aufgerufen
zu den geachtetsten Literaten der Weimarer Republik
gezählt hatte, Deutschland; im August 1933 entzog die Presse
worden war, da das Land sonst „in die Barbarei
versinken“ müsse. Diesen Aufruf nahm Rust zum
das Hitlerregime dem nach Südfrankreich Exilierten
auch die deutsche Staatsbürgerschaft, 1940 musste er „sozusagen ein
Anlass, um über Heinrich Mann die Preußische Aka-
demie zu drangsalieren.
über Spanien und Portugal weiter in die USA fliehen.
Ähnlich wie seinem Bruder Thomas, der im Fe-
Klavier, auf
Anfangs hatte der Reichskommissar sogar gleich
die ganze Akademie schließen wollen oder doch zu-
bruar 1933 eine Auslandsreise antrat und nicht nach
München zurückkehrte, blieb Heinrich Mann damit
dem die
mindest die „Dichterakademie“. Um dies abzuwen-
den, entschied sich Akademie-Präsident Max von
wenigstens erspart, was vielen der Zurückgebliebe-
nen nun drohte: moralische Demütigung durch im-
Regierung
Schillings, ein Komponist, seinen Kollegen Mann mer neue Schikanen der braunen Reglementierer. spielen kann“.
spiegel special geschichte 1 | 2008 81
halber waren seine jun-
ge Frau und er deswe-
gen im Januar 1933 nach
Berlin gezogen. Dort-
hin also, wo nun Alfred
Flechtheim, ein wich-
tiger Wegbereiter von
Pablo Picasso, George
Grosz oder Paul Klee,
die Schließung seiner re-
nommierten Galerie vor-
bereitete, um nach Lon-
don zu emigrieren; dort-
hin, wo der 85-jährige
Maler Max Liebermann
auf die Frage, wie es ihm
gehe, berlinerisch direkt
erwiderte: „Ick kann jar-
nich so viel fressen, wie
ick kotzen möchte.“
Auch nachdem er im
April 1933 als Dozent
BÜCHERVERBRENNUNG Zeitungen, die den neuen Kurs nicht bejubeln der Frankfurter Städel-Kunstschule unter die „Ju-
„Wider den undeutschen mochten, waren schon von Mitte Februar 1933 an zu- denknechte“ gezählt und fristlos entlassen worden
Geist“ lautete die Parole, mindest zeitweise verboten oder unter massive Vor- war, vermochte sich Beckmann noch nicht zur
mit der am 10. Mai 1933 zensur durch SA-Kommandos gestellt worden. Nach Emigration durchzuringen. So musste er mitanse-
auf dem Berliner Opern- dem Reichstagsbrand am 27. Februar 1933 und nach hen, wie seine Werke vielerorts nicht nur abgehängt,
platz Tausende Bücher Hindenburgs Notverordnung vom folgenden Tag, mit sondern als „entartet“ in Hass-Ausstellungen vor-
verbrannt wurden – darun- der etliche Grundrechte außer Kraft gesetzt worden geführt wurden.
ter die Werke von Karl Marx waren, gab es binnen Tagen praktisch keine öffentli- „Zur Kunst muss man geboren sein“, verkündete
und Sigmund Freud. che Meinungsfreiheit mehr. Dass der Rundfunk der ehemalige Postkartenmaler Adolf Hitler in einer
fortan keinen echten Jazz – von den Nazis als „aus- Rede auf dem Nürnberger Parteitag vom September
schließlich auf Schlaginstrumenten beruhende 1933. „Die nationalsozialistische Bewegung und
negermusikartige Darbietungen“ verunglimpft – Staatsführung darf auch auf kulturellem Gebiet nicht
mehr senden durfte, war dabei noch eine der harm- dulden, dass Nichtskönner oder Gaukler plötzlich
ZUFLUCHT IM EXIL loseren Direktiven. ihre Fahne wechseln und so, als ob nichts gewesen
Prägende Intellektuelle der „Auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens be- wäre, in den neuen Staat einziehen.“
Weimarer Republik wie Kurt steht ein vollkommener Verfall“, erklärte Joseph Beckmann harrte noch bis 1937 in Deutschland
Tucholsky (o.) oder Heinrich Goebbels Mitte März kurz nach seinem Antritt als aus. Erst als mit der vielbesuchten Münchner Aus-
Mann waren seit Hitlers Minister für Volksaufklärung und Propaganda. Die stellung „Entartete Kunst“ in einem wahrhaft dia-
Machtübernahme geächtet. Regierung müsse deshalb „unpopuläre Maßnahmen“ bolischen Schlussstrich nahezu alle einst renom-
ergreifen und „schmerzhafte Einschnitte“ vorneh- mierten Avantgardisten noch einmal definitiv ver-
men. Was darunter zu verstehen war, ahnte, wer femt wurden – von Paul Klee bis Oskar Kokoschka,
Goebbels’ Definition für die Presse hörte: „sozusa- von Otto Dix bis Oskar Schlemmer –, entschloss sich
gen ein Klavier, auf dem die Regierung spielen Beckmann schweren Herzens, seine Heimat, für die
kann“. er im Ersten Weltkrieg freiwillig in den Krieg gezo-
Dabei diente das einst so vielstimmige Instrument gen war, für immer zu verlassen.
schon um diese Zeit oft genug bloß noch zur Unter- Zu dieser Zeit war längst auch der letzte Rest
malung des Grauens. So war bereits im Februar eine ästhetischer Unabhängigkeit verloren, war die Kunst
Horde braunbehemdeter junger Männer in die Ber- fest unter Kontrolle der staatlichen Organe. Im No-
liner Kunstschule eingedrungen. Die NS-Aktivisten vember 1936 hatte Goebbels verfügt, an die Stelle der
unterbrachen ein Examen, indem sie vier angeblich Kunstkritik – für die braunen Machthaber ein Bei-
„jüdische“ und „marxistische“ Professoren auf die spiel „jüdischer Überfremdung“ – solle ab sofort der
Straße trieben und anschließend die Studenten ver- „Kunstbericht“ treten. Nur noch „Kunstschriftlei-
prügelten, die ihre Lehrer hatten schützen wollen. ter“ mit „der Gesinnung der Nationalsozialisten“
Am folgenden Tag aber zitierte der „Berliner Lokal- durften sich mit der „Darstellung und Würdigung“
Anzeiger“ aus einer Stellungnahme des NS-Studen- ohnehin staatskonformer Werke beschäftigen.
tenbundes: „Das Anstoß erregende Verhalten ge- Die Schriftsteller hatten schon viel früher zu
wisser Lehrkräfte“ habe eben eine durchaus ver- spüren bekommen, wozu die Nationalsozialisten
ständliche „Erregung“ ausgelöst. fähig waren. Am 10. Mai 1933 – jenem Tag, an dem
KEYSTONE (O.); AKG (M.); ULLSTEIN BILD (U.)
Terror und Verunsicherung, Beschwichtigung und die Gründung der „Deutschen Arbeitsfront“ das
Propaganda-Lenkung – nach diesem Prinzip ver- Ende der freien Gewerkschaften besiegelte – waren
suchte der braune Apparat alle Andersdenkenden überall in Deutschland, beginnend auf dem Opern-
unter seine Kontrolle zu bringen. platz in Berlin, Zehntausende Bücher öffentlich ver-
Der Maler Max Beckmann, von kunstsinnigen brannt worden. „Aktion wider den undeutschen
Großbürgern in Frankfurt am Main geschätzt und Geist“ nannten die Nazis ihren Vandalismus, und er
gefördert, war schon lange vor Hitlers Machtantritt war der Beginn der zweiten Phase der kulturellen
ein Ziel brauner Hetzparolen gewesen. Sicherheits- Machtergreifung. Bücher von Karl Marx und Sig-
PAKT ZWISCHEN
HIMMEL UND HÖLLE
Von Klaus Wiegrefe
S
ie waren die Stellvertreter Gottes auf Erden
FATALE NÄHE und Nachfolger des heiligen Apostels Petrus,
Der päpstliche Väter aller Gläubigen und gewählt nach gött-
Nuntius in Berlin, lichem Recht, um die Menschen auf das Him-
Erzbischof Orsenigo, melreich vorzubereiten: Dr. Dr. Dr. Achille Ratti, der
im Gespräch mit seit 1922 als Papst Pius XI. in Rom amtierte, und sein
Hitlers Außenminis- Kardinalstaatssekretär Eugenio Pacelli, der 1939 als
ter Ribbentrop. Papst Pius XII. geistliches Oberhaupt der mehr als
400 Millionen katholischen Christen auf allen Konti-
nenten wurde.
Der Führer der Deutschen hingegen beherrschte
ein irdisches Reich, das sich zeitweise vom Atlantik
bis zur Wolga erstreckte, erobert in einem Weltkrieg,
der über 50 Millionen Menschen das Leben kostete
– Adolf Hitler, der für die Ermordung von knapp
6 Millionen Juden verantwortlich war, wurde, wie
sein Biograf Joachim Fest befand, zur „Verkörpe-
rung des Bösen“.
Größer kann ein Gegensatz zwischen Akteuren
auf der Weltbühne kaum sein, und doch lastet auf
dem Verhältnis zwischen dem Kirchenstaat und Hit-
lers Regime der drückende Vorwurf einer skandalö-
sen Nähe.
Vom Nationalsozialismus fasziniert, mit dem Anti-
semitismus infiziert, habe der Heilige Stuhl von Be-
ginn an mit Hitler gemeinsame Sache gemacht. Es
vergeht kaum ein Jahr, in dem nicht eine neue dick-
leibige Klageschrift veröffentlicht wird. Etwa die des
US-amerikanischen Politologen Daniel Jonah Gold-
hagen, der die überzogene Behauptung aufgestellt
hat, die katholische Kirche habe den Juden „vor-
sätzlich, aktiv und konsequent Schaden zugefügt“.
Der Vatikan hat manches unternommen, um die
Vorwürfe zu entkräften. Rund 5000 Dokumente aus
der Kriegszeit wurden zwischen 1965 und 1981 ver-
öffentlicht. Außerdem ließ Johannes Paul II. unab-
hängige Forscher erstmals die Papiere sichten, die
päpstliche Archivare in den dunklen Schachteln der
Nuntiaturen München und Berlin oder in den grünen
Mappen mit der Aufschrift „Sacra Congregazione
degli Affari Ecclesiastici Straordinari“ (AES) aufbe-
wahren. AES war das kleine Außenministerium des
Vatikans, geleitet von einem Kollegium aus knapp 20
Kardinälen sowie einer Handvoll Mitarbeiter.
Die bisher einsehbaren Papiere entlasten den Va-
tikan von den schlimmsten Verdächtigungen. Weder
sympathisierten die Päpste mit den Nazis, noch war
der Kirchenstaat Hort eines mörderischen Antisemi-
tismus.
So findet sich in den Unterlagen etwa ein Bericht
vom April 1933. Der damalige Nuntius in Berlin, Erz-
KEYSTONE
müssen. Ich war in Schutzhaft in Spandau-Berlin. die Religion, dass sie die Offenbarungen des Alten Aus dem Brief einer Katholikin,
die nach den Regeln
Habe dort einen 65 Jahre alten Justizrat angetrof- Testaments ablehnen, dass sie den Primat des Papstes der Nazis als Halbjüdin galt,
fen, der 6 Tage in einer so gen. SA-Kaserne lag. nicht gelten lassen.“ an Papst Pius XI.
DIREKTIVE AUS ROM Verbot aller politischen Tätigkeiten für Geistliche Weltkriegs auch im Ausland salonfähig machen; und
Als Kardinalstaatssekretär ausdrücklich zu; Mussolini löste den Partito popola- das gelang.
in Rom signalisierte der re, eine dem Zentrum vergleichbare Partei, auf. Das Konkordat habe „eine Vertrauenssphäre ge-
spätere Papst Pius XII. Diesen Deal mit Hitler zu wiederholen – dazu schaffen, die bei dem vordringlichen Kampf gegen
den Kirchenfürsten in waren Pius XI. und Pacelli bereit. Allerdings mussten das internationale Judentum besonders bedeutungs-
Deutschland, dass er einen vorher die deutschen Bischöfe ihr Verdikt gegen den voll“ sei, jubilierte Hitler in der Kabinettssitzung am
Kurswechsel wünsche: Nationalsozialismus zurücknehmen. 14. Juli 1933, sechs Tage nach der Paraphierung des
Kooperation mit dem Nazi- In Rom liefen damals beunruhigende Berichte aus Vertrags und neun Tage nachdem sich das Zentrum
Regime statt Ablehnung. Berlin ein. Am 22. März meldete der Nuntius: „Es unter dem Druck der Nazis selbst aufgelöst hatte.
machten, prophezeite Nuntius Orsenigo: „Wenn, wie den Juden treibt Millionen völlig mittellos über die- die Organisation Nach-
es scheint, die nationalsozialistische Regierung noch se Erde“. richten über die Juden-
lange an der Macht bleibt, ist es den Juden vorher- Warum Rattis Nachfolger Eugenio Pacelli, der doch deportationen, die
bestimmt, aus dieser Nation zu verschwinden.“ Doch die Nationalsozialisten so gut kennengelernt hatte, Preysing an Rom
selbst da mochte Pius XI. nicht öffentlich seine Stim- den Entwurf nicht veröffentlichte, gehört noch zu den weiterleitete, um den
me erheben. Geheimnissen der päpstlichen Diplomatie. ✦ Papst zu informieren.
spiegel special geschichte 1 | 2008 87
Der Widerstand einer protestantischen Minderheit verstellt der Nachwelt den Blick auf die
zwiespältige Rolle der Amtskirche nach 1933: Antijüdisch und deutschnational
geprägt, kämpfte sie eher für die Wahrung ihrer eigenen Rechte als für die Andersdenkender.
HAKENKREUZ AM ALTAR
Von Jochen Bölsche
N
TRAUUNG IN BRAUN ie zuvor haben die Deutschen den Partei- tums“ und verspricht, ihre Rechte würden „nicht
Nach der Machtübernahme chef der NSDAP so inbrünstig den Herr- angetastet“ werden. Die Botschaft kommt an,
unterwanderten Nazis gott anrufen hören. Am Abend des 1. Fe- mancherorts kennt der Jubel in der Kirche Martin
im Talar die Kirchengemein- bruar 1933, am zweiten Tag nach seiner Luthers kaum noch Grenzen.
den. Parteigenossen Machtübernahme, beendet Adolf Hitler seine erste Hakenkreuzfahnen flankieren die Altäre, Pastoren
organisierten, wie 1933 in Rundfunkansprache mit einem salbungsvollen Satz: verkünden: „Christus ist zu uns gekommen durch
der Berliner Lazarus- „Möge der allmächtige Gott unsere Arbeit in seine Adolf Hitler.“ Von bayerischen Kanzeln schallt es:
kirche, Massentrauungen in Gnade nehmen, unseren Willen recht gestalten, un- „Ein Staat, der wieder anfängt, nach Gottes Gebot zu
Uniform. sere Einsicht segnen und uns mit dem Vertrauen un- regieren, darf in diesem Tun nicht nur des Beifalls,
seres Volkes beglücken.“ sondern auch der freudigen und tätigen Mithilfe der
Als der Rundfunk sieben Wochen später, am Kirche sicher sein.“ Der Staat, so die Geistlichkeit,
21. März, die Rede Hitlers zur Konstituierung des wehre nunmehr der Gotteslästerung und sorge „mit
Reichstags aus der Potsdamer Garnisonkirche über- starker Hand“ für Zucht und Ordnung. Gleichzeitig
trägt, eingebettet in Glockengeläut, Orgelmusik und sei „heiße Liebe zu Volk und Vaterland nicht mehr
SCHERL / SÜDDEUTSCHER VERLAG
feierliche Choräle – da kann es kaum noch Zweifel verfemt“, sondern werde „in tausend Herzen ent-
geben: Die Nazis haben den Segen der evangelischen zündet“.
Kirche. Für die meisten Protestanten sind das Töne, die in
In seiner Regierungserklärung setzt Hitler seinen ihr Weltbild passen, hatte Martin Luther sie doch
Vertrauensfeldzug fort, umschmeichelt die Kirchen gelehrt, der Obrigkeit gehorsam untertan zu sein.
als „wichtigste Faktoren der Erhaltung unseres Volks- Außerdem sind sie – wie viele in der Weimarer Re-
zum Holocaust führten. der Bekenntnisgrundlagen unserer Kirche“ ruft er wendet sich schließlich dem Widerstand zu, als des-
Die verschärfte Kontrolle der Lutheraner über- tanten im „Dritten Reich“, „wird sie ebenso finden verteidigte er auf Kurz-
trägt er von 1935 an einem Kirchenminister, er selbst wie Beweise für Standhaftigkeit und Bewährung“. Es welle gemeinsam mit
verliert das Interesse an der Thematik. Als die Be- habe „blinde Gutgläubigkeit“ gegeben, „fanatischen Joseph Goebbels den
kennende Kirche im August 1936 dazu übergeht, Nationalismus und hemmungslosen Opportunismus NS-Staat gegen die
nicht nur den braunen Kirchenleitungen den Ge- ebenso wie hellsichtige Warnungen, freimütiges Be- „Gräuelpropaganda“
horsam zu versagen, sondern auch Menschenrechts- kennen und entschlossenen Widerstand“. ✦ des Auslands.
ORTSTERMIN
Die einen haben gelitten, die anderen wollen nichts davon bemerkt
haben. Das Beispiel der niedersächsischen Kleinstadt Northeim zeigt, wie es war, als die
Nationalsozialisten die deutsche Provinz eroberten. Von Andrea Brandt
beschäftigt im Öffentlichen Dienst (19 Prozent), im Handel Es spielte keine Rolle, dass die Eltern sie noch hatten taufen
(14 Prozent) und im Dienstleistungsgewerbe (10 Prozent). und konfirmieren lassen, „wegen der Verhältnisse“. Von nun an
Wenig Arbeiter, wenig Katholiken. Die wichtigsten Vertei- war sie trotzdem die „Halbjüdin“.
diger der Weimarer Republik – Sozialdemokraten und das Es sind kleine Szenen, die die alltägliche Diskriminierung be-
Zentrum mit traditionell katholischer Wählerschaft –, in Nort- schreiben. Da ist der Wirt im Ausflugslokal, der die Ballins Kaf-
heim seien sie, sagt Just, strukturell schwächer gewesen als fee und Kuchen bezahlen lässt – sie dann aber hinauswirft, be-
anderswo. vor sie zugreifen können. Da ist die Schneidermeisterin, die
Die wenigen erhaltenen Dokumente aus dem Stadtarchiv ihren Lehrling Gertrude plötzlich nicht mehr beschäftigen mag.
zeugen davon, wie vollkommen Northeim schon bald im Bann Da ist der Kino-Pächter, der das junge Mädchen aus dem Saal
der Nazis stand. Der Leiter der katholischen Volksschule schrieb holt, als „unerwünschte Person“.
Mitte der dreißiger Jahre in einem Bericht über die Entwicklung An ähnliche Schmach erinnern sich die jüdischen Zwillinge
seiner Schule: „Ab 1933: Fahnen wurden beschafft, jede Klasse Lotte und Liese Oppenheim, die noch bis 1937 das städtische
schaffte ein Führerbild an, Handgranaten gekauft. Die Schul- Mädchengymnasium Richenzaschule besuchten. In den dreißi-
wandbilder wurden vermehrt durch Rassebilder, Hakenkreuz. ger Jahren liefen die Kinder immer über einen Schleichweg an
Die Bücherei wurde von marxistischen Schriften gesäubert.“ der Stadtmauer entlang nach Hause. In der Innenstadt „wurden
Dann der Satz: „Die Schule erhielt am 4.2. 1936 als einzigste (sic) wir als Juden beschimpft und angepöbelt“, berichtet eine der
und erste Volksschule in der Stadt Northeim die Genehmigung Schwestern, die heute unter dem Namen Lotte Seidel in einem
zum Hissen der HJ-Fahne.“ israelischen Altenheim lebt. 1935 zeigten Nationalsozialisten
War es echte Begeisterung? War es Anpassung? Für Stadt- das Mädchen bei der Polizei an – weil sie, die „Nicht-Arierin“,
archivar Just machen solche Dokumente jedenfalls deutlich, bei einem Waldspaziergang deutsche Wanderlieder geträllert
dass in Northeim „das Hakenkreuz vielfach und gerne stolz hatte.
vorangetragen wurde“. In Northeim habe es weniger antisemitische Ausschreitungen
In Marta Ballins Praxis, erinnert sich die Tochter, blieben die gegeben als anderswo, betonen Allen und andere Forscher.
Patienten nach und nach weg. Gute Freunde wie die Betreiber Vielleicht, weil man sich doch genierte in einer Kleinstadt, in der
des traditionsreichen „Café am Markt“ besuchten die Eltern sich viele seit Generationen kannten. Von den rund 120 Juden
plötzlich nicht mehr. Der Vater blieb dem Männergesangverein gehörte etwa der angesehene Privatbankier oder der Leiter des
fern, die Tochter dem Turnclub, wo sie bis dahin allwöchentlich Festausschusses des Männergesangvereins von 1850 längst zu
Kinder in Geräteturnen und Gymnastik unterrichtet hatte: „Die den Honoratioren der Stadt.
Menschen schwiegen plötzlich, wenn wir den Raum betraten, sa- Spätestens ab Mitte der dreißiger Jahre jedoch hatte die neue
hen weg – da haben wir uns dann ebenso zurückgezogen“, „Volksgemeinschaft“ die von Hitler Verfemten fast völlig aus
schildert Gertrude Schulze-Ballin. dem gesellschaftlichen Leben verdrängt. „Sie haben uns in
Northeim nicht gleich umgebracht“, sagt Gertrude Schulze-Bal- Trotz der Weltwirtschaftskrise – die Mehrheit lebte in Northeim
lin, „aber der Alltag war die Hölle.“ recht gut, als sie die Republik abwählte. 7259 Sparkonten mit ei-
Treue Parteigänger dagegen konnten hoffen, für ihren Eifer nem durchschnittlichen Guthaben von rund 300 Reichsmark ver-
mit einem der 46 staatlich geförderten Eigenheime in einer zeichnet die Northeimer Sparkasse 1933 – nur rund 175 Reichsmark
Neubausiedlung der Stadt belohnt zu werden. Diese Siedlung, pro Kunde weniger als 1929. Auch in den Krisenjahren hatten die
nunmehr das Aushängeschild der NSDAP, war schon in der Northeimer insgesamt im Schnitt 2,2 bis 2,3 Millionen Reichsmark
Weimarer Republik geplant, damals aber ausgerechnet von den allein bei der Sparkasse auf der hohen Kante. Es waren offenbar
Nazis im Stadtrat blockiert worden. eher gutsituierte Bürger als Verzweifelte von der Straße, die in
Nicht alle Deutschen wurden bis 1939 fanatische Parteigän- Northeim die Nationalsozialisten an die Macht beförderten.
ger Hitlers, resümiert der Historiker Richard Evans, der auch die Bürger wie der allseits beliebte Buchhändler Wilhelm
Northeimer Verhältnisse untersucht hat. Aber der „tiefe Wunsch Spannaus. Sein Vater habe den Nationalsozialismus gewollt, weil
der großen Mehrheit nach Ordnung, Sicherheit, einem Ar- er gehofft habe, dass die NSDAP „den Staat wieder in Ordnung
beitsplatz“, nach sozialem Aufstieg und beruflichem Fortkom- bringt“, sagt Günther Spannaus, 80. Den Vater beschreibt er als
men habe dazu geführt, dass sie zumindest anfangs das NS-Sys- nationaldeutschen Intellektuellen. Einer, der Brahms liebte, der
tem unterstützten. mit dem evangelischen Pastor vierhändig Klavier spielte. Die
Die Familie von Irmgard Holst hat die NS-Herrschaft ge- Jahre des Ersten Weltkriegs hatte er als Lehrer in Peru ver-
wollt, „weil es uns mit dem Nationalsozialismus endlich besser- bracht. Als er zurückkehrte, Anfang 1920, sah er im Rheinland
ging“. Für die 86-Jährige mit dem grauen Kurzhaarschnitt und durchs zerbrochene Zugfenster heruntergekommene Straßen-
den wachen blauen Augen waren die letzten Jahre der Weima- züge und war „entsetzt, was aus dem alten Kaiserreich gewor-
rer Republik eine „traurige Zeit“: Der Vater, ein Architekt, war den war“, so der Sohn.
nach dem Konkurs einer örtlichen Baufirma seit Jahren ar- Bildungsbürger Spannaus trat als einer der ersten Northeimer
beitslos. Die Mutter nähte am Küchentisch unermüdlich Kleider, in die NSDAP ein. Bald Kreiskulturwart mit Amtswalter-Uni-
die sie bei Nachbarn gegen ein paar Möhren oder Kartoffeln ein- form und goldenem Parteiabzeichen, soll er daheim am Mit-
tauschte. Sie selbst, die Zwölfjährige, musste in geflickten Blu- tagstisch über allzu rohe Praktiken des NSDAP-Ortsgruppen-
sen zur Schule. „Du hast ja schiefe Absätze“, sagte eine Klas- leiters gelästert haben, dem er nach dem römischen Despoten
senkameradin. Sie hat den abschätzigen Blick des Mädchens bis den Spottnamen „Caligula“ verpasste. Auch fand Spannaus ju-
heute nicht vergessen. nior in der Holzkommode im Biedermeier-Zimmer allerlei Be-
Irmgard Holst weiß noch, wie die Familie am 30. Januar schwerdebriefe des Vaters über Günstlingswirtschaft im Rat-
1933 abends am Radio saß. Wie der Vater sagte, dass nun „eine haus, adressiert an eine Schlichtungskommission der Partei.
gute Zeit anfängt“. Im gleichen Jahr machte er sich selbständig Doch der Buchhändler blieb in der NSDAP, stützte weiter das
mit einem kleinen Baugeschäft. Er bekam Aufträge, weil die System – wenn auch am Ende eher halbherzig.
Branche, angekurbelt durch Zuschüsse, plötzlich boomte. Er trat Weite Teile des Northeimer Bürgertums liefen zur NSDAP
in die Partei ein und bekam noch mehr Aufträge. Vom ersten über, weil sie die als linke Revoluzzer verschrienen Sozialde-
Geld kaufte er Irmgard ein Fahrrad. Später konnte die Familie mokraten loswerden wollten. Die „Bürgerliche Vereinigung“,
sich kleine Reisen leisten. Man fuhr ins Theater nach Göttingen. ein Zusammenschluss konservativer Parteien auf kommunaler
Mutter und Tochter bekamen lange Taft- und Seidenkleider, Ebene, wurde zum Wegbereiter der Nazis, indem sie die Angst
für die Winterbälle des Gesangvereins im Hotel „Sonne“. vor den Linken schürte.
Begeistert habe sie bei den Jungmädeln der NSDAP mitge- Bei der Kommunalwahl 1933 hatte die NSDAP die Bürgerli-
macht, sagt Irmgard Holst: „Endlich waren mal alle gleich.“ chen dann im Griff. Statt der „Bürgerlichen Vereinigung“ trat
Dass einige nicht mehr gleich waren, dass ihre jüdische Freun- eine „Nationale Einheitsliste“ unter Führung der NSDAP an, die
din Ruth aus der Nachbarwohnung bald nicht mehr zum Spie- nicht einmal die Namen ihrer Kandidaten bekanntgab. Fast
len kam, dass sie selbst nicht mehr mit Ruths Vater, einem Kauf- 73 Prozent wählten die NSDAP-Liste, gut ein Viertel die SPD.
mann, in der Küche Walzer tanzen übte – das „war dann einfach Zur ersten Ratssitzung erschienen alle 15 Einheitslisten-Abge-
so, da haben wir nicht viel drüber nachgedacht“. ordneten in Braunhemden.
Schikaniert durch Pöbeleien, Verhöre und
willkürliche Verhaftungen zogen sich die SPD-
Abgeordneten nach und nach aus der Politik
zurück.
Nur in Kirchenfragen regte sich in Nort-
heim noch so etwas wie passiver Widerstand.
Als der NSDAP-Ortsgruppenleiter Northeim
zur ersten Stadt im Deutschen Reich ohne
Kirchenmitglieder machen wollte, gingen vie-
le Bürger demonstrativ noch öfter zum Got-
tesdienst – auch wenn Polizisten ihre Namen
notierten und Hitlerjungen das Kruzifix der
Stadtkirche mit Schneebällen bewarfen.
In der Stadtverwaltung arbeiteten schon
vor der Machtübernahme etliche NSDAP-Mit-
glieder. Heinz Gleitz, 94, damals Sachbear-
beiter im Hauptamt, trat 1931 mit 17 in die
Partei ein. Er habe den Nationalsozialismus
gewollt, weil er von „Sportsgeist und Kraft
Untertertia der Richenzaschule 1934, vorn l. und r.: die Oppenheim-Zwillinge der jungen Bewegung begeistert war“, sagt
Der Faschismus Benito Mussolinis war in vielem Vorbild für die Nationalsozialisten.
HITLERS LEHRMEISTER
Von Georg Bönisch
E
s war immer schon ein besonderes Schau- Es ist bizarr, und es erklärt sich nur schwerlich
spiel, gleich einem Ritual für Ewiggestri- den Nachgeborenen der Hitler-Zeit, die doch eng Der Mann, der
ge. Wenn sich die Dunkelheit auf Rom legt, verwoben war mit dem Regime südlich der Alpen.
strahlt gewöhnlich auf dem Foro Italico Erst ging Hitler bei Mussolini in die Lehre, dann alles auslöste,
nahe dem Olympiastadion ein starker Scheinwerfer
den 17 Meter hohen Obelisken aus Marmor an, und
Mussolini bei Hitler, und um die „Achse“, die bei-
de Diktatoren 1936 geschmiedet hatten, sollte sich kam aus
dann schimmert gut sichtbar eine monumentale In-
schrift – MUSSOLINI DUX.
nach einem gemeinsamen Tatplan die europäische
Politik drehen. Sie drehte sich hinein in den Ver-
dem gesell-
Führer Benito Mussolini – der „Duce“, Erfinder
einer Politik, die Millionen Menschen faszinierte,
nichtungskrieg – und in den Genozid.
Nicht, dass die Italiener in der Wolle gefärbte
schaftlichen
weil sie ihnen in der Zerfallsphase nach dem Ersten
Weltkrieg eine bessere Zukunft versprach. Erfinder
Antisemiten gewesen wären oder bösartige Rassis-
ten, nein. Aber der Satz „Italiani brava gente“,
Nichts, aus
jener rechtsextremen Ideologie, die eine nationale
Wiedergeburt verhieß, dabei jedwede demokrati-
Italiener sind doch stets nette Menschen, ist eben
doch frommer Selbstbetrug. Mit ihm wollten und
der Provinz –
sche Idee zerstörte, mit autoritären, ja totalitären wollen die meisten Italiener vergessen machen, dass fernab der
Mitteln. Millionen wurden unterdrückt, Unzählige
getötet. Diese Politik hat einen Namen: Faschis-
sie erheblich eingespannt waren in die Diktatur
Mussolinis. Bis vor wenigen Jahren erhielten sie Kapitale Rom,
mus.
Und doch gibt es nicht viele, die sich stören an
indirekt sogar noch Unterstützung aus der Histori-
kerzunft, die den Faschismus „klein schrieb“, kons- dem Nerven-
italienischer Erinnerungskultur wie auf dem Foro
Italico. Im Gegenteil, Mussolini gehört ganz selbst-
tatiert der Geschichtswissenschaftler und Italien-
Kenner Wolfgang Schieder, „nach dem Motto: Das
zentrum der
verständlich zu diesem Land wie Augustus oder
Dante oder Garibaldi. Und natürlich Berlusconi.
war alles ganz normal, das war alles nicht so dra-
matisch, das war alles nicht verbrecherisch“.
antiken Welt.
96 spiegel special geschichte 1 | 2008
DER WEG IN DIE DIKTATUR
Erst seit wenigen Jahren rollt die italienische tisch, am besten mys-
Forschung den „Ventennio nero“ auf, die schwarzen tisch verbrämt, emo-
zwei Jahrzehnte. Und auch die Publizistik, lange tionsbeladen.
beeinflusst von einer seltsamen Mischung aus fa- Am 23. März 1919
schistischen Mythen und antifaschistischen Mythen, trafen sich in einem Saal
wird merklich sensibler. Die Zeit also scheint vor- an der Mailänder Piazza
bei zu sein, über die ein italienischer Historiker gar Santo Sepolcro ein paar
nicht zynisch urteilte: „Wir verstecken unser Böses Dutzend Interessierte,
hinter dem noch Böseren.“ Ein Satz, der auf wun- die an diesem Tag noch
derbar intelligente Weise die italienische Relativi- die „Fasci di com-
tätspraxis entlarvte. battimento“ schlossen,
Der Mann, der alles auslöste, kam aus dem ge- Kampfbünde, und sich
sellschaftlichen Nichts, aus der Provinz – fernab auf ein politisches Pro-
der Kapitale Rom, dem Nervenzentrum der antiken gramm verständigten,
Welt. Benito Mussolini wurde 1883 nahe Predappio das sich aufaddierte zu
geboren, einem Dorf in der Emiglia Romagna, die einem seltsamen Kon-
Mutter war Lehrerin, der Vater ein oft arbeitsloser glomerat pazifistischer, sozialistischer und demo- MARSCH AUF ROM
Schmied mit bemerkenswertem Interesse an anar- kratischer Ideen. Ende Oktober 1922 riss
chistischer Literatur. Auch der Sohn, recht klein, Wenig später nur blieb von diesem eher linken Mussolini, unterstützt von
untersetzt, ein aufsässiger, ruheloser, egozentri- Ideologiegeschwafel, und das war dann die dop- Führungsgruppen aus Wirt-
scher Bursche, tendierte in die ganz linke Ecke und pelte Volte, nur noch der Name übrig, den sich die schaft, Heer, Verwaltung
studierte das Lehramt wie die Mutter. Mussolini-Adepten gegeben hatten. Den Faschisten und Kirche, mit dem Marsch
Sein pädagogisches Interesse reichte freilich war nämlich schnell klar geworden, dass sie nur auf Rom die Macht an sich.
nicht für den Beruf, und Mussolini verdingte sich erfolgreich werden konnten, wenn sie im bürger- Der „Duce“ selbst reiste
deshalb als Journalist mit eigens formuliertem Spe- lichen Lager fischten – und damit in scharfer Front- allerdings mit dem Zug an.
zialauftrag, nämlich auf radikale und maßlose Wei- stellung gegen Sozialisten und Kommunisten. Der
se den liberalen Staat und dessen „kapitalistisches“ programmatische Kitt, der den heterogenen Haufen
System zu attackieren, mit dem Ziel, eine Diktatur zusammenhielt, war eine Mischung aus extremem
des Proletariats zu errichten. Als Chefredakteur Nationalismus, radikalem Antisozialismus und blin-
des sozialistischen Parteiorgans „Avanti!“ hatte er der Führergläubigkeit.
ein Stück weit publizistische Macht, und er schrieb Und je weniger die Faschisten tönten gegen den
an gegen den drohenden Krieg in Europa – weil König und die Kirche, desto schneller fraßen sich
doch die Arbeiter in diesem Krieg ihre Köpfe hin- ihre Ideen durch – erst Julisch-Venetien, dann die
halten müssten für den Profit der Kapitalisten. Poebene, die Lombardei, die Toskana und Um-
So war Mussolini 1914, dank klassenkämpferi- brien. Schon 1921 konnten sie die ländlichen Ge-
schen Engagements, auf dem besten Wege zur genden Nord- und Mittelitaliens weitgehend be-
Nummer eins der immer stärker werdenden Sozia- herrschen, auch physisch: Ihre Schlägertrupps, die
listen in Italien. halbmilitärischen „Squadristen“, gingen, wie später
Und dann folgte, in schreiendem Gegensatz zum die SA-Horden in Deutschland, mit ungeheurer
pazifistischen Kurs der Sozialisten, die Kehrtwen- Brutalität gegen politische Gegner vor. Oft unter
dung. Jetzt forderte er seine Parteigänger auf, dem Beifall vor allem der Großgrundbesitzer, die
„beim Ringen der Völker nicht abseits zu stehen“ ihre Macht durch eine gutorganisierte Arbeitneh-
und auf Seiten der Entente, dem Bündnis von Bri- merschaft geschmälert sahen.
ten, Franzosen und Russen, zu den Waffen zu grei- Präfekten, Offiziere und Polizisten schauten meis-
fen, gewissermaßen als Vorspiel zur Revolution. tens weg, quasi in abwartender Neutralität, die
Erklärungen für diese Volte gibt es viele, auch „nicht weit von Komplizenschaft entfernt war“
die, dass er vielleicht korrupt war. Denn plötzlich (Woller). Die stupende, rücksichtslose Kraftentfal-
bekam er von kriegsinteressierten Industriellen so tung der Faschisten mag ihnen häufig genug un-
viel Geld, dass er im November 1914 eine eigene heimlich vorgekommen sein, aber sie hielten die
Zeitung gründen konnte, den „Popolo d’Italia“. „Schwarzhemden“, wie die Mussolini-Anhänger
Wahrscheinlich aber war dem genialen Populis- wegen ihrer Uniform bald hießen, im Vergleich mit
ten kein Mittel zu verächtlich und kein ideologi- den Linken für das geringere Übel.
scher Schwenk zu gewagt, um endlich an die Schalt- Der Begriff „Fascio“ war im Übrigen abgeleitet
hebel der Macht zu kommen. Mussolini „sah, wo aus dem lateinischen „fascis“, also jenem Ruten-
die kleinen Leute, die Kriegsheimkehrer und ver- bündel mit Richtbeil, das in den Zeiten der römi-
ängstigten Bürger, der Schuh drückte“, schreibt der schen Republik Liktoren vor den Konsuln und
Münchner Historiker Hans Woller, „er spürte, wo Prätoren einhertrugen, als Symbol für deren Amts-
COLIN GOLDNER (L.); ACPIX (O.); BETTMANN / CORBIS (U.)
die nationalen Frustrationen saßen und wie sie ge- gewalt und damit für Gewalt über Leben und Tod.
lindert werden konnten“. Italien war, wie andere Fasci, Bünde, so nannten sich schon im 19. Jahr-
Staaten am Ende des Weltkriegs auch, ein Heer- hundert die Zusammenschlüsse sozialrevolutionär SCHLECHTES BENEHMEN
lager politisch Obdachloser, sozial Entwurzelter Gesinnter vor allem auf Sizilien. Mussolini war als Teenager
und Existenzloser. Mussolini ist nicht Urheber dieses Begriffes, das ein jähzorniger Schüler,
Und Mussolini wusste, dass die meisten nicht Substantiv „Faschismus“ war wohl zuerst eine fehlte oft und benahm
nach mehr Mitsprache und mehr Rechten verlang- Wortschöpfung politischer Gegner. Jedoch hat er sich schlecht. Er flog sogar
ten – sondern in schwieriger Zeit nach energischer erkannt, dass aus der römischen Vergangenheit her- von der Schule, nachdem
Führung. Und er wusste, dass sachlich formulier- vorragend Kapital zu schlagen war. Ganz deutlich er mit einem Messer
te Inhalte seiner Politik eher schadeten. Argumen- wurde dies, als er, wie einst Caesar, zur Übernah- auf einen Mitschüler
te mussten anders vorgetragen werden: apodik- me der Macht auf Rom marschieren ließ. losgegangen war.
spiegel special geschichte 1 | 2008 97
JUBEL FÜR HITLER
Bei einer siebentägigen Italien-Reise 1938
besuchte Hitler Florenz, wo ihm sowohl Mussolinis
Soldaten als auch Bürger zujubelten.
Schon im Frühjahr 1921 saßen die ersten Faschis- che Aktion eher politische und propagandistische
ten – 35 Mann – im Parlament, als Partei („Partito Bedeutung („Wer Rom hat, hat die Nation“),
Nazionale Fascista“) gründete sich die Bewegung schließlich war er mitnichten davon überzeugt, sei-
erst im November, und sie war auf Anhieb mit über ne Kämpfer, immerhin 40 000, könnten sich gegen
250 000 Mitgliedern die stärkste in Italien. Um sein die Armee durchsetzen.
Ziel zu erreichen, die Machtübernahme, setzte Tatsächlich war ein Militärschlag gar nicht mehr
„Die Faschis- Mussolini auf eine Mehrfachstrategie, er war kein nötig, gereicht hatte eine über Wochen aufgebaute
Mann der Prinzipien, sondern ein Taktiker, der von Drohkulisse und die beständig geschürte Angst vor
ten haben Tag zu Tag dachte. der „roten Gefahr“: Ende Oktober 1922 ernannte
durch einen So gab er dem Drängen gemäßigter Faschisten der König den „duce del fascismo“ zum „capo del
Staatsstreich nach, Fronten zu begradigen und sich auf lange governo“, zum Regierungschef.
Zeit zu arrangieren mit jenen, die außer ihm und Nur wenige schätzten die historische Bedeutung
die Gewalt an seinen Gefolgsleuten noch Einfluss hatten und bis dieses Marsches, der in der geplanten Form ja gar
sich gerissen in zum Ende haben sollten: dem Königshaus und den
Industriebossen. Plötzlich entdeckte Mussolini, der
nicht stattfand, richtig ein. Wenn die Faschisten die
Gewalt behielten, schrieb der deutsche Diplomat
Italien. Wenn radikale Kirchengegner, seine katholische Seite – und Schriftsteller Harry Graf Kessler in sein Tage-
sie sie behal- und ließ dem Papst bedeuten, das Verhältnis zwi- buch, „so ist das ein geschichtliches Ereignis, das
schen Kirche und Staat entgiften zu können; die La- nicht bloß für Italien, sondern auch für ganz Euro-
ten, so ist das teranverträge von 1929 verschafften dann dem Va- pa unabsehbare Folgen haben kann“, vielleicht wer-
ein geschicht- tikan Souveränität. de jetzt „eine Periode neuer Wirren und Kriege“
Andererseits ließ er zu, dass die Squadristen im- einsetzen.
liches Ereignis, mer brutaler wurden; bis heute gibt es keine ver- Kessler sollte recht behalten. In Italien aber
das nicht bloß lässliche Zahl ihrer Opfer. Zwang und Terror blie- blieb, trotz der Umwälzungen, zunächst vieles beim
ben, abgesehen von wenigen Jahren der Milde, Mit- Alten. Alle, die den Aufstieg des Faschismus – ob
für Italien, tel staatlichen Handelns. aus Schwäche, Resignation oder aus falschem Kal-
HUGO JAEGER / TIME LIFE PICTURES / GETTY IMAGES
sondern auch Und der kalkulierte Rückgriff auf die Geschich- kül – begünstigt und Mussolini zur Macht verholfen
für ganz Euro- te – statt Händeschütteln der „römische Gruß“ mit hatten, durften in ihren oftmals einflussreichen Po-
erhobenem rechten Arm (den die Nazis übernah- sitionen bleiben. Und die Zusammensetzung des
pa unabseh- men), römischer Marschschritt der Schwarzhem- ersten Kabinetts nährte die Hoffnung, dass es auch
bare Folgen den, Adaption römischer Soldatengrade – war eine
durchaus erfolgreiche Reminiszenz an eine große
so bleiben würde: Lediglich fünf Faschisten saßen
mit zehn Vertretern der Liberalen, Demokraten,
haben kann.“ Vergangenheit. Konservativen, Nationalisten und der katholischen
HARRY GRAF KESSLER,
Die strategische Planung des „Marsches auf Volkspartei am Tisch.
deutscher Diplomat und Rom“, das Praktische, hatte Mussolini einem Qua- Doch bald schon änderten sich Ton und Gehabe.
Schriftsteller, im Jahr 1922 drumvirat überlassen. Für ihn selbst hatte eine sol- Offen sprach Mussolini im Parlament davon, dass er
1924 erhielten die Kandidaten Mus- tung. Der italienische Faschismus Den Marmor-Obelisken ließ
solinis 66 Prozent der Stimmen, und diskriminierte und verfolgte die Ju- Mussolini zu Ehren seines
der Chef selbst adelte seine Ideo- den, jedoch nicht mit der Konse- faschistischen Regimes
logie als „Doktrin der Kraft, der quenz der Nazis. Die italienische errichten. Er steht auf dem
Schönheit, der Disziplin, des Ver- Zurückhaltung sei dennoch weniger Foro Italico in Rom und wird
antwortungsbewusstseins und der einem „von Natur aus gemäßigteren derzeit als ein Stück Erinne-
Ablehnung aller Gemeinplätze der Charakter“ des italienischen Fa- rungskultur von Spezialisten
Demokratie“. schismus zu verdanken, sagt Man- restauriert.
Und stellte in mystifizierender telli. Vielmehr hätten „strukturelle
Art klar, dass der Faschismus „nicht Schwächen des Staates“, aber auch
nur eine Partei“ sei: „Er ist ein Re- Teile der Gesellschaft die Faschisten
gime. Er ist nicht nur ein Regime, um Mussolini daran gehindert, „ihr
er ist ein Glaube; er ist nicht nur ein Herrschafts- und Eroberungsbestre-
Glaube, er ist eine Religion.“ ben bis in seine letzten Konsequen-
Um diese Religion als Opium un- zen zu verfolgen“.
ters Volk zu bringen, überschlugen Vielleicht fällt es deshalb leichter,
sich die gleichgeschalteten Massen- die Erinnerungskultur so zu pflegen,
medien und erzeugten einen Duce- wie es in Italien geschieht. Und pfle-
Mythos, der heute noch nachwirkt. gen ist ganz wörtlich zu nehmen:
Der Führer Italiens wurde nicht nur Derzeit restaurieren Spezialisten
hochgejubelt zum „totalen Genie“ den Mussolini-Obelisken auf dem
und „Motor des Jahrhunderts“, er Foro Italico. ✦
spiegel special geschichte 1 | 2008 99
HITLERS MACHTERGREIFUNG
Begeisterte Hitler-Anhänger in
Graz, kurz nach dem „Anschluss“
Österreichs im März 1938
3 DER
TOTALITÄRE
STAAT
Zwischen 1933 und 1938 gelang es Hitler, die große Mehrheit
der Deutschen hinter sich zu scharen – auch viele, die einst
gegen ihn gestimmt hatten, ließen sich von wirtschaftlichen
und außenpolitischen Erfolgen blenden. Aber die Aufrüstung
führte in den Krieg, die Judenverfolgung in den Holocaust.
GETTY IMAGES
DER
HITLER-
MYTHOS
Militärische Erfolge und eine Propaganda,
die den „Führer“ zum treusorgenden
Übervater aller Deutschen stilisierte,
machten Hitler bald zum
vergötterten Idol – auch für viele, die
zunächst noch skeptisch waren.
Von Ian Kershaw
H
eute ist Hitler ganz Deutschland“ – diese Schlagzeile vom
4. August 1934 verdeutlichte, welche entscheidende Macht-
verlagerung soeben stattgefunden hatte. Beim Tod von
Reichspräsident Paul von Hindenburg zwei Tage zuvor hat-
te Adolf Hitler sogleich die Reichspräsidentschaft abgeschafft, und die
Reichswehrsoldaten hatte er einen persönlichen Eid schwören lassen, mit
dem sie ihm als „Führer des Deutschen Reiches und Volkes“ unbe-
dingten Gehorsam gelobten.
Nun war Hitler Staatsoberhaupt, Oberster Befehlshaber der Streit-
kräfte, Regierungschef und Führer der Monopolpartei NSDAP in einer
Person. Seine Macht in Deutschland war total, da keinen Verfassungs-
beschränkungen unterworfen. Die Schlagzeile deutete aber nicht nur die
wesentlich veränderte Machtkonstellation an, sondern setzte Hitler mit
dem von ihm regierten Land gleich und besagte, dass er und das deut-
sche Volk aufs Engste miteinander verbunden
seien. IAN KERSHAW,
Die „Volksabstimmung“, die am 19. August Jahrgang 1943, ist
1934 den machtpolitischen Wandel nachträglich Professor für Neue-
legitimieren sollte, zielte darauf ab, diese Über- re Geschichte an
einstimmung zu demonstrieren. „Hitler für der Universität
Deutschland – ganz Deutschland für Hitler“ lau- Sheffield und Autor
tete die Parole. Wie das Abstimmungsergebnis einer zweibändigen
ADN
DER NS-STAAT
13. Januar 1935 Volksabstimmung im franzö- Gebiete in der Tschechoslowakei an Hitler-
sisch verwalteten Saargebiet, 91 Prozent der Deutschland abzutreten sind.
abgegebenen Stimmen sind für die Rückkehr zu
Deutschland. 1. Oktober 1938 Deutsche Truppen marschieren
in die sudetendeutschen Gebiete ein, 20 Tage
16. März 1935 Die Wehrpflicht wird wieder ein- später gibt Hitler Weisung zur „Erledigung der
geführt. Hitler bricht damit den Versailler Vertrag. Resttschechei“.
26. Juni 1935 Männer zwischen 18 und 25 Jahren 7. November 1938 Der jüdische Emigrant Her-
müssen ein halbes Jahr Arbeitsdienst leisten. schel Grünspan verübt ein Attentat auf den Lega-
tionssekretär an der deutschen Botschaft in Paris,
15. September 1935 In den „Nürnberger Geset- Ernst vom Rath, der zwei Tage später stirbt.
zen“ wird den Juden die deutsche „Reichsbürger-
schaft“ aberkannt, sie gelten nur noch als Staats- 9. November 1938 Organisierte Ausschreitungen
angehörige. Ehen zwischen Juden und „Ariern“ gegen Juden in der von den Nazis sogenannten
werden verboten, Reichskristallnacht.
außereheliche sexuel- Geschäfte werden
le Kontakte unter geplündert und
Strafe („Rassen- Synagogen in Brand
schande“) gestellt. gesetzt, Juden er-
mordet und in KZ
7. März 1936 Ein- deportiert.
marsch deutscher
Truppen in das ent- 12. November
militarisierte Rhein- 1938 Verordnungen
land. bestimmen, dass die
deutschen Juden eine
25./26. Juli 1936 Milliarde Reichsmark
Hitler entscheidet, „Sühneleistung“
dass Nazi-Deutsch- zahlen und für alle
land in den Spani- Schäden aus der
schen Bürgerkrieg Pogromnacht selbst
eingreift, der seit dem aufkommen müssen.
17. Juli auf der Iberi- Gleichzeitig werden
schen Halbinsel tobt. alle jüdischen Ge-
schäfte und Hand-
1. August 1936 In werksbetriebe ge-
Berlin beginnen die schlossen, Juden
Olympischen Spiele. wird der Besuch von
Theatern, Kinos,
25. Oktober 1936 Konzerten und Aus-
Der deutsch-italieni- stellungen verboten.
sche Vertrag begrün-
det die „Achse Ber- Deutscher Bomber im Spanischen Bürgerkrieg 15./16. März 1939
lin–Rom“. Einmarsch deutscher
Truppen in die Tschechoslowakei, Bildung des
25. November 1936 Abschluss des Antikom- „Reichsprotektorats Böhmen und Mähren“.
internpakts zwischen Japan und Deutschland.
22. Mai 1939 Militärbündnis zwischen Deutsch-
12./13. März 1938 Deutsche Truppen marschie- land und Italien.
ren in Österreich ein. Per Gesetz wird Österreich
Nazi-Deutschland zugeschlagen („Anschluss“). 23. August 1939 Deutsch-sowjetischer
Nichtangriffspakt („Hitler-Stalin-Pakt“); Auf-
29. September 1938 Auf der Münchner Konfe- teilung Polens in einem geheimen Zusatz-
renz zwischen Hitler, Mussolini, dem britischen protokoll.
Premier Neville Chamberlain und dem französi-
schen Regierungschef Édouard Daladier wird unter 1. September 1939 Deutscher Angriff auf
anderem beschlossen, dass die sudetendeutschen Polen, Beginn des Zweiten Weltkriegs.
AMW
„Ich kann war nur zu gern bereit, sich dafür in den höchsten Tö-
nen loben zu lassen. Die meisten Leute meinten, er
schen Lager verbreitet. Dass das deutsche Heer nur
noch 100 000 Mann umfassen durfte, galt als dauer-
nicht so viel habe das Lob verdient. haftes Zeichen nationaler Schwäche.
fressen, wie Dieser Schachzug trug wesentlich dazu bei, auch Die tollkühnen außenpolitischen Schachzüge, mit
jene Deutschen für Hitler zu gewinnen, die ihn 1933 denen Hitler die Knebelung durch den Versailler
ich kotzen nicht gewählt hatten. Es sah fraglos so aus, als habe Vertrag beseitigen und Deutschland wieder Stärke
möchte.“ der „Führer“ Deutschland von der Geißel der Mas- und Ansehen verschaffen wollte, stießen im Volk auf
senarbeitslosigkeit, an der andere europäische Län- massenhafte Zustimmung, solange sie nicht mit Blut-
MAX LIEBERMANN (1847 bis der (und auch die USA) weiterhin schwer zu tragen vergießen verbunden waren. Der Austritt aus dem
1935), deutscher Maler, beim
Betrachten eines Fackelzugs zu hatten, befreit und für eine Art „Wirtschaftswunder“ Völkerbund 1933, das Plebiszit im Saarland 1935 so-
Hitlers Machtübernahme 1933 gesorgt. Im Spätsommer 1934 stellte ein Sopade-Be- wie die im selben Jahr in Aussicht gestellte neue
in Berlin richt aus dem Ruhrgebiet fest, dass selbst „die indif- große Wehrmacht, die Remilitarisierung des Rhein-
ferente Arbeiterschaft … größtenteils hitlergläubig“ lands 1936 und der „Anschluss“ Österreichs 1938 gal-
sei. Weiter hieß es dort: „Der Umstand, dass durch ten als – noch wenige Jahre zuvor unvorstellbare –
die ‚Arbeitsbeschaffung‘ Arbeitslose in wenn auch triumphale nationale Großtaten, die allein durch Hit-
noch so schlecht bezahlte Arbeit gekommen sind, lers staatsmännisches „Talent“ ermöglicht worden
hat sie sehr beeindruckt. Sie trauen Hitlers ‚schnel- waren. Sie offenbarten die Schwäche der West-
ler Entschlusskraft‘ zu, dass er, wenn er ‚richtig in- mächte, die in Deutschland seit Kriegsende das Sa-
formiert‘ wird, eines Tages das Steuer über Nacht zu gen gehabt hatten.
ihren Gunsten herumwerfen wird.“ Über die Reaktionen auf die Einführung der
Ähnliches bestätigte kein Geringerer als Willy Wehrpflicht im März 1935 wusste die Sopade zum
Brandt, nachdem er von seinem norwegischen Exil Beispiel zu berichten:
aus in der zweiten Hälfte des Jahres 1936 Deutsch- Begeisterung am 17. März ungeheuer. Ganz Mün-
land einen heimlichen Besuch abgestattet hatte. Auch chen war auf den Beinen. Man kann ein Volk zwin-
seiner Meinung nach hatte das NS-Regime durch die gen zu singen, aber man kann es nicht zwingen, mit
Arbeitsbeschaffung selbst in den Kreisen jener Deut- solcher Begeisterung zu singen. Ich habe die Tage
schen an Rückhalt gewonnen, die früher links ge- von 1914 miterlebt und kann nur sagen, die Kriegs-
wählt hatten. erklärung hatte auf mich nicht den Eindruck ge-
Ab 1936 herrschte Vollbeschäftigung. Antriebs- macht wie der Empfang Hitlers am 17. März …
motor für den Arbeitsmarkt war inzwischen die Auf- Das Vertrauen in politisches Talent und ehrlichen
rüstung, die allerdings ernste Gefahren für die Zu- Willen Hitlers wird immer größer, wie überhaupt
kunft mit sich brachte. Doch nur wenigen Deutschen Hitler wieder im Volk außerordentlich an Boden
bereitete die Herkunft der Arbeitsplätze wirklich gewonnen hat. Er wird von vielen geliebt.
Sorgen. Tatsache war, dass es jetzt Arbeit gab, wo Das von Hitler gepflegte Image eines Staatsman-
früher aufgrund der Massenarbeitslosigkeit unge- nes, der das Ansehen seines Landes in der Welt wie-
heure Not geherrscht hatte. Dieser Wandel wurde derherstellte, die Deutschland zustehenden Rechte
größtenteils Hitler persönlich zugeschrieben. Moch- fanatisch verteidigte und dabei Blutvergießen ver-
te dieses propagandistische Bild auch stark von der mied, wurde mit der Sudetenkrise und der dadurch
Realität abweichen, so war es doch von nachhaltiger im Sommer 1938 heraufbeschworenen Kriegsgefahr
Wirkung. Noch lange nach dem Krieg glaubten vie- erstmals wesentlich in Frage gestellt. Daraufhin er-
le Deutsche ungeachtet der von ihnen durchlebten möglichten die Westmächte Hitler in München Ende
Katastrophe, dass die Beseitigung der Massenar- September einen letzten großen außenpolitischen
beitslosigkeit und das Ende der tiefen Wirtschafts- Triumph – der ihm aber aufgrund seiner Kriegsbe-
krise im Wesentlichen Hitler zu verdanken gewesen reitschaft eigentlich gegen den Strich ging.
seien. Aus dem Umstand, dass dann der Kriegsbeginn im
Wie Meinungsumfragen Ende der vierziger Jahre September 1939 im Volk weniger auf Begeisterung als
in der amerikanischen Besatzungszone festhielten, auf Resignation stieß, ist wiederum zu ersehen, dass
gehörten zu den positiven Dingen, die man mit Hit- Hitler die Vergrößerung seiner Anhängerschaft
ler assoziierte, gute Lebensbedingungen sowie Voll- während der Friedensjahre des „Dritten Reiches“
beschäftigung, und auch rund zehn Jahre später zeig- mit Hilfe falscher Versprechungen erreicht hatte. Die
IM WIDERSTAND ten sich junge Leute in Norddeutschland überzeugt, meisten Menschen waren für die Erhaltung des Frie-
Der spätere Bundeskanzler Hitler habe durch die Beseitigung der Arbeitslosig- dens. Hitler aber strebte die ganze Zeit nach Krieg
Willy Brandt mit einer keit viel Gutes getan. Noch in den siebziger Jahren und war dabei überzeugt, die Öffentlichkeit über sei-
Freundin 1934 im Exil in dachten Arbeiter im Ruhrgebiet gern an die Frie- ne wahren Absichten täuschen zu müssen, wie er in
Oslo. Bei einem heimlichen denszeit im „Dritten Reich“ zurück, die in ihrer Er- einer vertraulichen Rede vor deutschen Pressever-
Besuch in Deutschland innerung mit Vollbeschäftigung und mit vergnügli- tretern im November 1938 zugab:
1936 stellte auch Brandt chen Ausflügen im Rahmen der nationalsozialisti- Die Umstände haben mich gezwungen, jahrzehn-
fest, dass die Nazis durch schen Freizeitorganisation „Kraft durch Freude“ ver- telang fast nur vom Frieden zu reden. Nur unter
die Schaffung von Arbeit bunden war. der fortgesetzten Betonung des deutschen Frie-
selbst in politisch linken Der zweite Punkt, den die Sopade als Grund für denswillens und der Friedensabsichten war es mir
Kreisen zahlreiche Anhän- Hitlers Rückhalt hervorhob, war zweifellos ein möglich, dem deutschen Volk … die Rüstung zu
ger gewonnen hatten. Schlüsselfaktor. Hitler hämmerte den Deutschen pau- geben, die immer wieder für den nächsten Schritt
senlos ein, dass Deutschland durch die – angeblich als Voraussetzung notwendig war.
von den „Novemberverbrechern“ herbeigeführte – Die große Mehrzahl der Deutschen betrachtete
Niederlage von 1918 und durch den Versailler Vertrag die Wiederherstellung des Nationalstolzes und der
von 1919 schwer gedemütigt worden sei. Die vehe- militärischen Stärke, die Hinwegsetzung über den
mente Ablehnung des als ungerecht empfundenen Versailler Vertrag und die Ausweitung des Deutschen
Vertrags war in Deutschland quer durch alle politi- Reichs auf Österreich und das Sudetenland als ei-
politischen Gefahr und zur Beseitigung von Korrup- im Land verbreitet. Zum „Führer“-Mythos gehört nen wurden verboten
tion und Unmoral. nicht nur, dass Hitler die Beseitigung der Massen- und zerschlagen.
spiegel special geschichte 1 | 2008 109
DER TOTALITÄRE STAAT
Die von Goebbels wie Beschwörungsrituale all-
jährlich zu „Führers Geburtstag“ veröffentlichten
Lobgesänge auf „unseren Hitler“ und die populären,
in hohen Auflagen verkauften Fotobände, in denen
Heinrich Hoffmann scheinbar den „privaten“ Hitler
zeigte – Hitler, wie ihn keiner kennt (1932), Jugend
um Hitler (1934), Hitler in seinen Bergen (1935) und
Hitler abseits vom Alltag (1937) –, zielten alle dar-
auf ab, die „menschliche“ Seite des „Führers“ zu
präsentieren und hervorzuheben, dass er als „Mann
des Volkes“ „heroische“ Eigenschaften entwickelt
habe.
Wie viele Menschen damals dem widerlichen Per-
sonenkult mit Haut und Haaren verfallen waren,
lässt sich natürlich nicht sagen. Es waren auf jeden
Fall nicht wenige. Hitlers Adjutanten mussten Berge
von Briefen, unbeholfenen Gedichten und Lobprei-
sungen, Fotografien und Geschenken bewältigen –
unter letzteren auch ein Sack Kartoffeln, deren Sor-
te der „Führer“ anscheinend besonders mochte.
In den Anfangsjahren des „Dritten Reiches“ nann-
te eine wachsende Zahl von Eltern ihren männlichen
Nachwuchs „Adolf“, obwohl die Standesbeamten
schon 1933 die Anweisung erhalten hatten, eine
solche Namensgebung möglichst zu unterbinden, um
den Namen des „Führers“ zu schützen.
Derartige Auswüchse des „Führer“-Kults be-
schränkten sich zweifellos überwiegend auf eine fa-
natische, nazifizierte Minderheit. Doch selbst Men-
schen, die die Personenkultexzesse nicht mit-
trugen, übernahmen oftmals zumindest Teile des
positiven Bilds, das die Propaganda von Hitler
zeichnete.
Die „Volksgemeinschaft“ definierte sich durch
die Ausgrenzung bestimmter Bevölkerungsgruppen,
weshalb die nationalsozialistische Interpretation die-
ses Begriffs zwangsläufig auf Rassendiskriminierung
hinauslief.
REICHSPOGROMNACHT arbeitslosigkeit und der Bau der Autobahnen zuge- Da die Maßnahmen zur Herstellung von „Ras-
Vom 9. auf den 10. Novem- schrieben wird. Untrennbar mit diesem Mythos ver- sereinheit“ – wie die spätere Verfolgung von Ho-
ber 1938 wütete ein antise- bunden ist auch die Ansicht, der „Führer“ habe zwar mosexuellen, Roma und „Asozialen“ – vorhandene
mitischer Mob in ganz „Fehler“ gemacht (wohl jene Schritte, die seinem Vorurteile ausnutzten und scheinbar die Stärkung
Deutschland: Hunderte Land den ruinösen Krieg brachten, der für Millionen eines homogenen Volksstaats bezweckten, stützten
Menschen starben, Tausen- Tod und Vernichtung bedeutete), habe aber immer- sie den öffentlich vermittelten Eindruck, Hitler ver-
de jüdischer Geschäfte hin in Deutschland „aufgeräumt“, moralische Nor- körpere die „Volksgemeinschaft“.
wurden zerstört, über 1400 men gestärkt, das Chaos beendet und die Krimina- Darüber hinaus verstärkte auch die unablässige
Synagogen und Betstuben lität beseitigt, so dass man abends auf den Straßen Anprangerung der angeblichen mächtigen Volks-
angezündet oder zerstört. wieder sicher unterwegs sein konnte. feinde – Bolschewismus, westliche „Plutokratie“ und
Neben der Erholung der Wirtschaft sowie der vor allem die (in der Propaganda mit beiden ver-
Wiederherstellung von „Ordnung“ und militärischer bundenen) Juden – Hitlers Anziehungskraft als Ver-
Stärke gab es noch einen anderen Umstand, durch teidiger der Nation und Bollwerk gegen alles, was de-
den Hitler an Rückhalt gewann: Er verkörperte jene ren Überleben von außen oder innen bedrohte. Zwar
„positiven“ Werte, die man damals mit nationaler teilte ein Großteil der Bevölkerung keineswegs Hit-
Einheit und „Volksgemeinschaft“ verband. Die Pro- lers antisemitische Paranoia, betrachtete den Anti-
paganda stellte den „Führer“ unablässig als strenges, semitismus allerdings auch nicht als so gravierenden
aber verständnisvolles Oberhaupt dar, das bereit- Makel, dass dadurch die dem „Führer“ mehrheitlich
willig auf ein zufriedenstellendes normales Leben zugeschriebenen positiven Eigenschaften überwogen
verzichtete, um Tag und Nacht zum Wohle des hätten. Da eine latente Abneigung gegen Juden
Volkes zu arbeiten. Bei aller Kritik an unteren Char- schon vor Beginn der nationalsozialistischen Hass-
gen und dem negativen Eindruck, den die Öffent- propaganda weit verbreitet war, konnte dem bei
lichkeit von den im Alltag oft als unzulänglich er- einer großen Minderheit anzutreffenden „dynami-
lebten Parteifunktionären – den „kleinen Hitlern“ – schen“ Hass kein Einhalt geboten werden – erst recht
hatte, war der „Führer“ in den Augen eines Großteils nicht, als diese Minderheit ab Januar 1933 an der
der Bevölkerung jemand, der sich nicht von Parti- Macht war.
kularinteressen und materiellen Bestrebungen leiten Dass es damals – inzwischen gut erforschte – un-
ließ und dessen Selbstlosigkeit einen deutlichen terschiedliche Einstellungen zur Judenverfolgung
Gegensatz zur Habgier und Korruptheit der Partei- gab, wurde durch die verschiedenen Reaktionen auf
bonzen bildete. die Verkündung der Nürnberger Gesetze im Sep-
AKG
Deutschland zu vereinen. Begeisterung für Hitler ständig und unverändert mochte er seine Autonomie zu erweitern, die sonst
hochzuhalten. Einen Höhepunkt erreichte der Enthu- in manchen Regimebereichen möglicherweise Be-
siasmus jeweils in triumphalen Momenten wie bei der schränkungen unterlegen hätte. Und das bewirkte
Verkündung der Remilitarisierung des Rheinlands wiederum, dass die ideologischen Vorstellungen, auf
1936 – um anschließend bei den meisten Menschen die Hitler seit Beginn seiner politischen „Karriere“
wieder dem „grauen Alltag“ Platz zu machen. zwanghaft fixiert war – die „Beseitigung“ der Juden
Schmeicheleien seiner Entourage und der ihn im- die der „Führer“ es geführt hatte. KARL VALENTIN (1882 bis
mer wieder stimulierende Jubel der Massen führten Übersetzung: Jürgen Peter Krause 1948), bayerischer Humorist
In Nürnberg sanktionierte der Reichstag im September 1935 die legale Ausgrenzung und
Diskriminierung der Juden – ein entscheidender Schritt auf dem Weg zum Holocaust.
W
PAAR AM PRANGER egen eines „fortgesetzten Verbrechens le Äpfel, Bananen und dergleichen der Frau ins Ge-
Ein jüdischer Kinobesitzer der Rassenschande“ verurteilte das sicht und an den Kopf geflogen“, berichtete andern-
und seine Freundin müssen Landgericht Bayreuth am 15. März 1939 tags das „Kulmbacher Tageblatt“.
sich vor dem Hotel „Vier den Kulmbacher Viehhändler Karl Strauß war einer von etwa 15 000 Männern, ge-
Jahreszeiten“ in Cuxhaven Strauß zu acht Jahren Zuchthaus. Das Gericht sah es gen die deutsche Strafverfolger in den Jahren 1935
im Juli 1933 – weit vor als erwiesen an, dass der Witwer, ein verdienter Ve- bis 1945 auf der Grundlage des „Gesetzes zum Schut-
Inkrafttreten der Nürn- teran des Ersten Weltkriegs und Deutscher jüdischen ze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre“
berger Gesetze – die öffent- Glaubens, drei Jahre lang eine sexuelle Beziehung wegen „Rassenschande“ Ermittlungsverfahren ein-
liche Zurschaustellung als mit einer nichtjüdischen Mitbewohnerin gepflegt leiteten.
sogenannte Rassenschänder hatte. Das Gesetz gehörte ebenso wie das „Reichsbür-
gefallen lassen. Ein halbes Jahr vor seiner Verurteilung, am Tag gergesetz“ zu den sogenannten Nürnberger Geset-
nach dem Pogrom vom 9. November 1938, war zen, mit denen die Nationalsozialisten 1935 die Ent-
Strauß zusammen mit vier weiteren Juden der Stadt rechtung und Ausgrenzung der Juden vorantrieben.
von Kulmbacher Kriminalbeamten in „Schutzhaft“ Durchgepeitscht wurden sie am 15. September, einem
genommen worden. Zwei Tage darauf trieben SS- Sonntag. Adolf Hitler hatte zwei Experten des
Männer seine Freundin durch die Straßen der frän- Reichsinnenministeriums nach Nürnberg einfliegen
kischen Kleinstadt. lassen, zum „Reichsparteitag der Freiheit“, wie die
Auf einem Schild, das die verstörte Frau tragen NSDAP ihr Propagandaspektakel diesmal nannte. In
musste, stand: „Ich artvergessenes Schwein habe mit Nachtsitzungen erarbeiteten die Beamten die Ge-
dem Juden Karl Strauß seit Jahren bis heute Ras- setzentwürfe; der eilends in Nürnberg einberufene
senschande getrieben.“ An die 500 Kulmbacher folg- Reichstag beschloss die Regelungen anschließend
KEYSTONE
ten johlend dem Umzug. „Vielfach kamen auch fau- einstimmig. „Der Ekel macht einen krank“, schrieb
zunehmend auch der Hitlerjugend hatten jedoch für Parteigenossen und Rassenforscher schlugen vor,
das neue Regime unerwünschte Nebenwirkungen. auch Menschen, die einen jüdischen Urgroßelternteil
Auslandskorrespondenten befeuerten mit ihren Be- hatten, als „Achteljuden“ einzubeziehen. Die Minis-
richten über willkürliche Verfolgung und Demüti- terialbeamten hingegen wollten es pragmatischer
gung jüdischer Deutscher in vielen Ländern die For- handhaben; Jude sollte sein, wer mindestens drei jü-
derung nach einem Wirtschaftsboykott gegen Nazi- dische Großeltern hatte.
spiegel special geschichte 1 | 2008 115
DER TOTALITÄRE STAAT
Hitler folgte weitgehend den auf Zwei Beamte des Reichsinnenministeriums – Wil-
problemlose Umsetzung der Geset- helm Stuckart und Hans Globke, der später in der Bun-
ze bedachten Beamten. In der Ers- desrepublik unter Regierungschef Konrad Adenauer
ten Verordnung zum Reichsbürger- Staatssekretär im Kanzleramt wurde – ließen sich eine
gesetz vom 14. November 1935 hieß andere Verschärfung einfallen. In einem Gesetzes-
es deshalb: „Jude ist, wer von min- kommentar plädierten sie dafür, auch „beischlaf-
destens drei der Rasse nach volljü- ähnliche Handlungen, z. B. gegenseitige Onanie“ zu
dischen Großeltern abstammt.“ verfolgen, was das Reichsgericht als oberstes Straf- und
Und: „Als Jude gilt auch der von Zivilgericht des Hitlerstaates prompt sanktionierte.
zwei volljüdischen Großeltern ab- Darüber, ob auch im Ausland vollzogener außer-
stammende staatsangehörige Misch- ehelicher Geschlechtsverkehr verfolgt werden solle,
ling.“ Hinzu kamen die sogenann- bestand zunächst Unsicherheit. Wiederum war es
ten Geltungsjuden, Menschen, die Freisler, der sich als Scharfmacher hervortat. Im April
der jüdischen Religionsgemein- 1936 befand der spätere Präsident des Volksgerichts-
schaft angehörten oder mit einem hofs, „das gesunde Volksempfinden“ fordere „in
Juden verheiratet waren. derartigen Fällen Bestrafung“.
Die Anwendung der Gesetze Die Gerichte sollten auf Anweisung Hitlers nur
durch die Gerichte erschien vielen Männer wegen „Rassenschande“ verfolgen. Frauen al-
Antisemiten zunächst zu lasch. So lerdings wurden meist in „Schutzhaft“ genommen,
beschwerte sich im März 1936 die der Fürsorge übergeben oder anderweitig drangsaliert.
Gestapo beim Justizministerium, Häufig waren es, so der Historiker Götz Aly,
dass die für „Rassenschande“ ver- „missgünstige Nachbarn und Sexualneider“, die Be-
hängten Strafen – „zwischen sechs schuldigte denunziert hatten. Da viele Anzeigen halt-
HETZE AUF DEM LAND Wochen und anderthalb Jahren Gefängnis“ – keine los waren oder es an Beweisen fehlte, kam es nur bei
Eine fränkische Bauernfami- abschreckende Wirkung hätten. Roland Freisler, gut 15 Prozent aller Ermittlungsverfahren zu Ankla-
lie betrachtet das Schild damals Staatssekretär im Reichsjustizministerium, gen. Mit Beginn der Deportationen Richtung Osten
„Der Vater der Juden ist der sorgte bald dafür, dass die Gerichte härtere Urteile sparte man sich dann viele Prozesse ganz.
Teufel“, das auf Initiative sprachen. Außerdem ging die Gestapo dazu über, Den Viehhändler Karl Strauß übergaben die Jus-
eines lokalen Nazi-Führers „Rassenschänder“, nachdem sie ihre Freiheitsstra- tizbehörden im Dezember 1942 der Gestapo. Der
1935 an einem Ortseingang fe verbüßt hatten, umgehend in „Schutzhaft“ zu Kulmbacher wurde nach Auschwitz deportiert und
KEYSTONE
aufgestellt wurde. nehmen. dort ermordet. ✦
FLUGZEUGMONTAGE
Wie hier in der Fertigungshalle von Messer-
schmitt, wo die Jagdflugzeuge Me 109 G
hergestellt wurden, war es vor allem die
Produktion von Rüstungsgütern, die im
„Dritten Reich“ Arbeitsplätze schuf.
Die Arbeitslosigkeit sank, der Konsum stieg. Sogar im Ausland wurden die Nazis dafür
gelobt. Doch von Anfang an waren Rassismus, massive Aufrüstung
und eine rigide Zwangswirtschaft die Grundlage für Hitlers Wirtschaftspolitik.
D
ie Zahl klang verheißungsvoll. Schon ein Und im Jahr darauf, 1937, gab es ernsthaften Arbeits- ADAM TOOZE,
Jahr nach Adolf Hitlers Machtantritt mel- kräftemangel. Jahrgang 1967, ist
deten die Statistiker, die Arbeitslosigkeit Schon im Mai 1932 hatte Parteitheoretiker Gregor Historiker an der
habe sich von sechs Millionen auf weniger Strasser im Reichstag versprochen, die „große anti- Universität Cambridge
als vier Millionen reduziert. kapitalistische Sehnsucht“ des deutschen Volkes mit (Jesus College) und
Deutsche Familien, so schien es, konnten dank einem riesigen Arbeitsbeschaffungsprogramm zu stil- Autor des Buches
des neuen Regimes wieder normal leben. Männer len. Mit Siedlungsprojekten und der Erschließung „Ökonomie der
und auch viele Frauen fanden Arbeit. Die Regierung landwirtschaftlicher Böden wollte Strasser zudem Zerstörung. Die
sorgte für Ausbildungschancen. Zum ersten Mal hat- das Problem der Verstädterung und der Ernährung Geschichte der
ten alle männlichen Jugendlichen die Aussicht, zu Deutschlands aus heimischem Boden sichern. In sei- Wirtschaft im
Facharbeitern aufzusteigen. Und selbst um das klei- ner ersten Radioansprache am 1. Februar 1933 ver- Nationalsozialismus“.
ne Glück daheim schien sich der „Führer“ zu sorgen: sprach auch Hitler einen „umfassenden Angriff ge-
Frischvermählte erhielten zinslose Darlehen für die gen die Arbeitslosigkeit“.
Wohnungseinrichtung. Als die Nationalsozialisten am 30. Januar 1933 an
HANNS HUBMANN / BPK
Mochten die Daten der Arbeitslosenstatistik auch die Macht kamen, konnten sie noch auf Finanzmit-
nicht ganz der Wahrheit entsprechen, an den ele- tel zurückgreifen, die in der Endphase der Weimarer
mentaren Tatsachen war nicht zu zweifeln: 1936 war Republik von der Regierung Kurt von Schleicher per
in Nazi-Deutschland die Vollbeschäftigung erreicht. Kredit für den Kampf gegen die Arbeitslosigkeit be-
spiegel special geschichte 1 | 2008 117
FAMILIENLEBEN schafft worden waren. Die Gelder wurden nun be- nicht wie keine deutsche Regierung zuvor um den
Zunächst waren die schleunigt ausgegeben, und sie reichten, um auf loka- Lebensstandard der Volksgenossen? Schon im Fe-
Menschen zufrieden. Es gab ler Ebene einiges in Bewegung zu setzen. Aus Ost- bruar 1933, bei der Internationalen Automobilaus-
zinslose Darlehen für Ehe- preußen meldete Gauleiter Erich Koch im August stellung in Berlin, schwärmte Hitler von einem künf-
paare, neue Wohnungen 1933, in seinem Einflussgebiet gebe es keine Arbeits- tigen Volkswagen. Doch der blieb für Durchschnitts-
wurden gebaut. Doch bald losen mehr. Um das zu erreichen, war man aller- verdiener ein unerfüllter Traum.
führte die Zwangswirtschaft dings in der Wahl der Methoden nicht zimperlich. Motorräder etwa oder Radios waren da für ge-
zu Knappheit bei Zur Not sperrte man Betroffene einfach in Arbeits- wöhnliche Deutsche schon eher als bescheidene
den Konsumgütern. lager oder deklarierte die ersten „wilden“ Konzen- Statussymbole zu erwerben. Der sogenannte Volks-
trationslager als förderungswürdige Arbeitsbeschaf- empfänger stand rechtzeitig zur Deutschen Funk-
fungsmaßnahmen. ausstellung im August 1933 in den Läden. In Wohn-
Im Juni, nachdem Hjalmar Schacht Präsident der zimmern, Schulen oder Betrieben sollte den Fanfa-
Reichsbank geworden war, floss auch im ganzen Land ren der NS-Propaganda fortan gelauscht werden.
das Geld. Eine Milliarde Reichsmark gab es für das Die Wirtschaftspolitik des „Dritten Reiches“ er-
sogenannte Reinhardt-Programm, benannt nach Fritz regte auch international Aufsehen. Auf der Weltaus-
Reinhardt, dem nationalsozialistischen Staatssekretär stellung 1937 in Paris wurde Hitlers Regierung als
im Finanzministerium. Mit Musterdiktatur gepriesen. Zwischen dem brutalen
diesen Mitteln sollte finanziert kommunistischen Regime des Josef Stalin und dem
werden, was Gregor Strasser unbarmherzigen englischen Liberalismus hatte Hitler
1932 gefordert hatte: Sied- scheinbar einen dritten Weg gefunden – den deut-
lungsprojekte, Straßen- und schen, nationalen Sozialismus. Der Cambridge-
Wohnungsbau. Ein Großpro- Volkswirt John Maynard Keynes, der nach dem Krieg
gramm zum Bau von Auto- die Marktwirtschaften der westlichen Demokratien
bahnen folgte binnen Wochen, entscheidend beeinflusste, scheute sich nicht, zu er-
und um die Baukonjunktur klären, dass sich seine bahnbrechende Theorie der
über den Winter nicht ab- Nachfragesteuerung in einem „totalen Staat“ wie
sacken zu lassen, wurde ein Deutschland wesentlich einfacher realisieren ließe
zweites Reinhardt-Programm als im liberalen England. Seine Kollegin in Cam-
aufgelegt, diesmal über 800 bridge, Joan Robinson, verstieg sich später sogar zu
Millionen Reichsmark. der Behauptung, dass „Hitler bereits eine Kur für die
AKG (0. L.); SOBOTTA / BPK (O. R.); GEORGE KSANDR / INTERFOTO (U.)
Am 21. März 1934 insze- Arbeitslosigkeit gefunden hatte, bevor Keynes mit
nierte Hitler eine Begehung seiner Erklärung fertig war“.
des Autobahnabschnitts Mün- Und nicht nur in Sachen Arbeitslosigkeit beein-
chen–Salzburg. Der sorgfältig druckte die Politik Hitlers. In seiner Radioansprache
choreografierte Festakt sollte am 1. Februar 1933 hatte der „Führer“ versprochen,
RADIO FÜRS VOLK den Deutschen demonstrie- auch die Bauern zu retten. Und tatsächlich wurde der
Der auch für Normal- ren, wie nachdrücklich ihre Regierung das Land ver- „Reichsnährstand“ schon bald zu einer wichtigen
verdiener erschwingliche änderte. Tausend Arbeiter standen an der Baustelle Stütze der Nationalsozialisten. Während seiner kur-
„Volksempfänger“ war Spalier, darunter viele ehemals Arbeitslose. Hitlers zen Amtszeit als Landwirtschafts- und Wirtschafts-
beliebt. Im internationalen Rede wurde im Radio landesweit übertragen. minister setzte sich Alfred Hugenberg, der Vorsitzen-
Handel waren jedoch Und die Propaganda, so schien es vielen, log de der zunächst mit Hitler regierenden Deutsch-
Geräte in besserer nicht. Hitlers Wirtschaftswunder war ein Positivum, nationalen Volkspartei, energisch für einen umfassen-
Qualität für weniger Geld das die dunklen Seiten des Regimes in den Hinter- den Schutz des Bauernstands ein. Der Agrarimport
zu haben. grund drängte. Bemühten sich die neuen Machthaber wurde zugunsten der deutschen Bauern radikal ge-
D
Aufrüstung streng geheim gehalten wurde, ging das NS-
Regime in der internationalen Finanzpolitik in die Offensive. ie Feier am 23. Septem-
Im Juni 1933 kündigte Deutschland einseitig ein Schulden- ber 1933 zählt zu den
moratorium an. Ausländischen Gläubigern, vor allem in den wirkungsvollsten Insze-
USA, gestand man zwar weiter Zahlungen zu, aber nur in nierungen, die sich das
Reichsmark, die aufgrund der im Sommer 1931 in Kraft ge- Propagandaministerium der National-
tretenen Devisenbeschränkungen nicht ohne weiteres gegen sozialisten ausgedacht hat. Am Morgen
Dollar eingetauscht werden konnten. werden 720 „Arbeiter der Faust“ (Nazi-
Zahlungen in ausländischer Währung wollten die Natio- Jargon) vom Frankfurter Arbeitsamt
nalsozialisten erst wieder aufnehmen, wenn der deutsche zum Autobahnbau abgeordnet. In Ar-
Außenhandel einen deutlichen Überschuss erwirtschaftet beitsuniformen marschieren die Män-
hatte. Ob die ausländischen Gläubiger Geld bekamen, hing ner durch die Straßen, vorbei an flat-
ternden Hakenkreuzfahnen zur Frank-
furter Börse, an deren Portikus ein
Banner mit der Parole „Arbeit und Ingenieur Todt
Friede“ prangt.
Fritz Todt, Generalinspektor für das deutsche Straßenbau-
wesen, begrüßt die Ankömmlinge mit den Worten: „Kameraden,
soeben kommt ihr vom Arbeitsamt. Es ist der Wille unseres Füh-
rers, dass ihr diese Stätte nicht mehr betretet. Wir gehen nicht
mehr stempeln, sondern wir bauen Straßen.“
Vor Todt stehen – in Ständer geklemmt – Hunderte Schaufeln,
die nun ausgegeben werden; anschließend setzt sich der Gene-
ralinspektor an die Spitze der Kolonne und führt diese zur Bau-
stelle im Frankfurter Stadtwald, wo bald auch Adolf Hitler ein-
trifft. Da auf Weisung des Propagandaministeriums ab 10.45 Uhr
im ganzen Land die Arbeit ruht, damit niemand die Radio-
übertragung verpasst, verfolgt vermutlich ein beträchtlicher Teil
Luftfahrtminister Hermann Göring mit Landwirtschaftsminister Walter der Deutschen, wie der Diktator vom „Zeitalter der Autobah-
AKG (L.); WALTER FRENTZ / ULLSTEIN BILD (M. L.); SÜDD. VERLAG (M. R.); SCHERL / SÜDD. VERLAG (R.)
Darré (M.) 1937 auf der Grünen Woche in Berlin nen“ schwadroniert.
Anschließend greift Hitler selbst zum Spaten und startet mit
somit von ihnen selbst ab – nämlich davon, ob sie deutsche einem Stich den Bau der Reichsautobahn Frankfurt–Mann-
Waren kauften. Genau das war aber angesichts der hoff- heim–Heidelberg. Das Foto vom zupackenden und sich volksnah
nungslosen Überbewertung der deutschen Reichsmark kaum gebenden „Führer“ wird in den folgenden Jahren millionenfach
zu erwarten, und an eine Abwertung war nicht zu denken, gedruckt.
seit Hitler die Stabilität der Währung zu einem Glaubenssatz Den Deutschen hat sich diese Szene nachhaltig eingeprägt.
seiner Regierung erklärt hatte. Keine Propagandalüge der Nationalsozialisten erwies sich als
Für die Schwierigkeiten, die aus alldem für den Export derart langlebig wie jene, Hitler habe als Erster – und ohne Ver-
erwuchsen, fanden die braunen Propagandisten eine Erklä- brechen – Autobahnen bauen lassen und auf diese Weise die
rung ganz in ihrem Sinne. Verschiedene jüdische Organisa- Massenarbeitslosigkeit beseitigt.
tionen hatten als Reaktion auf die ersten antisemitischen Nichts davon trifft zu: Der Autobahnbau brachte nur wenige
Ausschreitungen in Deutschland zu einem Boykott deutscher zehntausend Menschen in Lohn und Brot, dafür aber jene ins KZ,
Waren aufgerufen. Propagandaminister Joseph Goebbels und die unter politischem Verdacht standen und sich der Maloche zu
andere nutzten dies freudig als Ausrede – das „Weltjuden- hartnäckig widersetzten. Und erfunden hat Hitler die Autobah-
tum“ war schuld daran, dass die deutsche Wirtschaft krän- nen schon gar nicht – die erste war noch in der Weimarer Repu-
kelte. blik eröffnet worden, im Sommer 1932 von Konrad Adenauer,
Nüchternen Geistern in Wirtschaftsministerium und dem späteren ersten Kanzler der Bundesrepublik, der damals
Reichsbank schien das Problem des deutschen Exports doch Oberbürgermeister in Köln war. Um sich als erster Autobahn-
eher eine Frage des Preises zu sein. Um die Konkurrenz-
fähigkeit der deutschen Exporteure zu steigern, dachte man
PERFEKTE INSZENIERUNG
Eine Fahrzeugkolonne mit
Hitlers Wagen an der Spitze
fährt im Juni 1937 über den
neu eingeweihten Autobahn-
abschnitt Dresden–Meerane
LEONE / ULLSTEIN BILD (O.); AKG (U. L.); BPK (U. R.)
Manche Maßnahmen, die der amerikanische Präsident Franklin D. Roosevelt während der
Großen Depression ergriff, ähneln Regelungen, die es auch in Nazi-Deutschland
oder im faschistischen Italien gab. Doch in den USA war die Demokratie nie in Gefahr.
I
n großen und klei- Er strahlte Tatkraft, Optimismus und Wärme aus,
nen Städten über- und er zeigte Mitgefühl für die „Vergessenen“ der
all im Land stan- Gesellschaft. Wichtiger noch war, dass er seinen Mit-
den abgehärmte bürgern einen „New Deal“ versprach, eine neue, ge-
Männer Schlange. Nie- rechtere Verteilung der Chancen.
dergeschlagen warteten 22,8 Millionen oder 57,4 Prozent der Wähler
sie auf Almosen aus stimmten für ihn, während auf die beiden Kandida-
den Armenküchen. Die ten der Sozialisten und Kommunisten, die eine
Löcher in ihren Schu- grundlegende, wenn nicht revolutionäre Verände-
hen waren mit Zei- rung des kapitalistischen US-Systems anstrebten, nur
tungspapier zugestopft. knapp eine Million Stimmen entfielen.
Es war 1931/32, der In seiner Inaugurationsrede am 4. März 1933 kün-
dritte Winter der Gro- digte Roosevelt dunkel an, dass er für seinen „Feld-
ßen Depression in den zug zur Bewältigung der Krise“ dieselben Not-
USA, wie ihn der ame- standsbefugnisse beanspruchen werde, wie sie dem
rikanische Historiker Präsidenten im Krieg oder „bei der Invasion durch
PANIK IN NEW YORK David M. Kennedy schildert. Die Löhne sanken in einen äußeren Feind“ zustünden. Auf diese Andro-
Im Oktober 1929 sackten der Krise um 55 Prozent, 15 Millionen Amerikaner hung eines diktatorischen Regimes auf Zeit kam er
die Kurswerte innerhalb waren ohne Jobs – ein Viertel der arbeitsfähigen Be- indes nie zurück, denn seine Gesetzesvorlagen
einer Woche um 40 Prozent völkerung. Allein in Chicago lebten damals 700 000 stießen im Kongress ohnehin auf keinen nennens-
ab. Aufgeregte Anleger mittellose Menschen. werten Widerstand.
versammelten sich vor der Präsident Herbert Hoover, ein Republikaner aus Gleich nach seinem Amtsantritt, als Not und
Börse in der Wall Street. Iowa, der sein Amt 1929 angetreten hatte, setzte vor Elend der Großen Depression ihren Höhepunkt er-
allem auf die Selbstheilungskräfte des Marktes, reicht hatten, begann der Präsident die Finanz-, Wirt-
Steuererhöhungen und einen ausgeglichenen Staats- schafts- und Sozialpolitik zu reformieren. Anders als
haushalt. Als 1930 Rufe nach einer staatlichen Ar- im bisher unangefochtenen Laisser-faire-Kapitalis-
beitslosenversicherung laut wurden, lehnte Hoover mus der USA, bei dem der Staat dem freien Unter-
ab, weil er keine „wohlfahrtsabhängige Klasse“ schaf- nehmertum fast völlig freie Hand ließ, übernahm
fen wollte. Die Barackenlager, die Obdachlose an nun die Bundesregierung Verantwortung für das
den Stadträndern errichteten, trugen im Volksmund wirtschaftliche Wohlergehen der Bürger.
bald schon seinen Namen: „Hoovervilles“. Zunächst galt es, das Vertrauen in die Banken
Dennoch blieben die Amerikaner, wie Beobach- wiederherzustellen. Um Kreditvergaben zu Speku-
ter erstaunt feststellten, duldsam und passiv. Mas- lationszwecken zu unterbinden, wurden Investitions-
senproteste waren selten und meist gewaltlos. Ein und Geschäftsbanken voneinander getrennt. Eine
Landarbeiter aus South Dakota erklärte diese Hal- neue Börsenaufsichtsbehörde brachte Licht in den
tung später: „Wir sprachen nicht von der Revolution; völlig undurchsichtigen Wertpapierhandel, und eine
wir sprachen von Jobs.“ Versicherung der Einlagen beruhigte die Sparer. Hat-
Zum heftigsten Protest kam es im Juni 1932 in ten schon vor dem Börsenkrach jedes Jahr Hunder-
Washington. Dort versammelten sich an die 15 000 te von Banken Konkurs anmelden müssen, so sank
Demonstranten, gegen die Hoover reguläre Truppen die Zahl jetzt auf jährlich weniger als zehn. „In acht
einsetzte. Mit aufgepflanzten Bajonetten wurden die Tagen“, meinte ein Berater Roosevelts, „wurde der
Demonstranten vertrieben und ihr Lager am Rand Kapitalismus gerettet.“
der Hauptstadt niedergebrannt. In der Öffentlich- In der Währungspolitik gab die Regierung den
keit verstärkte dieser Militäreinsatz den Eindruck, Goldstandard auf, wertete den Dollar ab und erhöh-
dass es dem Präsidenten an jeglichem Mitgefühl für te damit die Importpreise. Durch diese Schutzmaß-
ULLSTEIN BILD (O.); TOPHAM PICTUREPOINT (U.)
die Opfer der Krise mangelte. nahmen für den Binnenmarkt schotteten sich die USA
FRANKLIN D. ROOSEVELT Die Quittung bekam Hoover bei den Wahlen im vom Welthandel ab und verstärkten bereits existie-
Im November 1932 wurde November 1932. Der Demokrat Franklin D. Roose- rende Autarkiebestrebungen in anderen Ländern, vor
der Demokrat zum neuen velt wurde neuer Präsident der USA. Roosevelt, ein allem in Hitlers Deutschland und Mussolinis Italien.
Präsidenten der Vereinigten aus reicher, alteingesessener Familie stammender Nach Ansicht der New-Deal-Experten lag das
Staaten gewählt. Er hatte und durch Kinderlähmung gehunfähiger Mann Kernproblem der Landwirtschaft in der Überpro-
sich schon als Gouverneur von damals 50 Jahren, hatte sich bereits als Gouver- duktion. Um die Agrarüberschüsse abzubauen, er-
des Staates New York durch neur des Staates New York mit Sozialreformen her- sannen sie Produktionskontrollen und Prämien für
Sozialreformen hervorgetan. vorgetan. Produktionsbeschränkungen. Da diese Maßnahmen
erstreckte sich über sieben Staaten und verband Ar- Farmen. Vor allem die wirtschaftlichen und sozialen
beitsbeschaffung mit Strukturentwicklung in dieser
wirtschaftlich zurückgebliebenen Region. Dämme,
Strukturreformen hält Kennedy für die bleibenden
Errungenschaften des New Deal. Millionen
Schleusen und Elektrizitätswerke dienten dazu, den
Fluss schiffbar zu machen, Hochwasser und Erosion
Doch ebenso wichtig sind die Verdienste um die
Erhaltung der Demokratie in den USA. Gibt es auch
Sparer verloren
zu kontrollieren und aus Wasserkraft billigen Strom
zu erzeugen.
Ähnlichkeiten bei den Methoden, die Roosevelt und
die totalitären Regime in Europa zur Bekämpfung
ihr Geld.
Eigentlich hatte Roosevelt noch sechs ähnliche der Wirtschaftskrise anwandten, so wiegen die poli-
Unternehmungen geplant, doch im Kongress fand er tischen Unterschiede doch weitaus schwerer.
dafür keine Unterstützung. Immer wieder tauchte In den Vereinigten Staaten gab es keinen staatlich
bei Reformprojekten des Präsidenten die Frage auf, gedeckten Terror uniformierter Privatarmeen wie
ob sie noch verfassungsgemäß seien. Wiederholt be- Hitlers SA oder Mussolinis Schwarzhemden. Die
fanden die Obersten Bundesrichter, der Kongress US-Verfassung und die Gewaltenteilung blieben in-
habe zu viele Vollmachten an die Exekutive abge- takt, die Bürgerrechte unangetastet.
treten und die Zentralregierung mische sich un- Der New Deal gefährdete nie die Demokratie in
zulässig in die Belange der Einzelstaaten ein. Amerika – er sicherte ihr Überleben. ✦
spiegel special geschichte 1 | 2008 125
NAHAUFNAHME
Mit den Olympischen Spielen 1936 präsentierten die Nationalsozialisten der Welt ein gigantisches
Täuschungsmanöver. Das Sportspektakel wurde Hitlers größter Propagandaerfolg.
wie ein offizielles Kommuniqué vermerkte. So perplex war und Spaßmacher eines Diktators, der sich bereits als Herrscher
Lewald, dass er sein bestechendstes Argument, das er sich zur dieser Welt fühlt.“
Überredung zurechtgelegt hatte, glatt vergaß und nur schriftlich Angesichts zunehmenden Drucks von außen sah sich Hitler
nachreichte: Mindestens tausend aus aller Welt entsandte zum Handeln gezwungen. Flankiert von den deutschen Sport-
Journalisten versprächen doch eine „ungeheure Propaganda- funktionären und hilfreich unterstützt durch großzügiges
wirkung für Deutschland“, versicherte er Hitler. Augenzudrücken des Internationalen Olympischen Komitees,
Davon war der offenbar längst überzeugt. Seine Spiele soll- organisierte Hitler ein gigantisches Täuschungsmanöver.
ten größer, bombastischer und erfolgreicher werden als alles bis- Um das Ausland zu beschwichtigen, sicherte Berlin dem
her Dagewesene, ordnete er an – das neue Olympiastadion für Internationalen Olympischen Komitee zu, dass „grundsätzlich“
100000 Zuschauer, das Hitlers Leibarchitekt Albert Speer schnell auch Juden im deutschen Olympiateam stehen könnten – ob-
skizzieren musste, sollte das Symbol sein. schon die doch nach der „Machtergreifung“ systematisch aus
Hitlers größtes Problem waren nicht die Spiele oder die 100 den Sportvereinen gedrängt wurden.
Millionen Reichsmark, die für das Spektakel am Ende verbaut Obwohl gleichwertige Trainingsmöglichkeiten damit längst
wurden. Es war der zunehmende internationale Widerstand nicht mehr möglich waren, verbreitete das deutsche Olympia-
gegen das Nazi-Regime, der in der Idee eines Olympiaboykotts komitee 1934 die öffentlichkeitswirksame Nachricht, 21 jüdi-
ein probates politisches Signal sah. sche Athleten seien für den Olympiakader vorgesehen – keiner
Das „Ermächtigungsgesetz“ vom März 1933, der „Röhm- von ihnen startete später. Lediglich der Eishockeyspieler Rudi
Putsch“ 1934, die Nürnberger Rassengesetze 1935 und die anti- Ball und die Fechterin Helene Mayer, die als sogenannte Halb-
jüdische Pogromstimmung – die internationale Akzeptanz für juden noch die uneingeschränkte Reichsbürgerschaft besaßen,
ein sportliches „Fest des Friedens“ unter dem Hakenkreuz war wurden demonstrativ nominiert.
im Ausland denkbar schlecht. Eine breite Boykottbewegung, an- Die jüdische Hochspringerin Gretel Bergmann, Top-Athletin
geführt von den USA, aber auch in Frankreich, Spanien, den von internationalem Format, schaffte es noch bis in den vor-
Niederlanden oder England, fand rasanten Zulauf bei europäi- läufigen Kader. Kurz vor Beginn der Spiele, als das amerikani-
schen Gewerkschaften, Arbeitersportvereinen, Linksparteien sche Team bereits auf dem Seeweg nach Deutschland und eine
SAMMLUNG RAUCH / INTERFOTO
und natürlich jüdischen Verbänden und Organisationen, was die Absage nicht mehr zu befürchten war, wurde Bergmann kurz-
Spiele bis zuletzt gefährdete. fristig wegen angeblich schlechter „zuletzt gezeigter Leistungen“
Zusätzlich munitioniert wurden die Kritiker von deutschen gestrichen. Einen Monat vor Beginn der Spiele war sie mit
Intellektuellen im Exil. Heinrich Mann beschwor das Ausland in 1,60 Meter deutschen Rekord gesprungen – das hätte für eine
einem flammenden Appell aus Frankreich: „Glauben Sie nur: Medaille gereicht.
Diejenigen der internationalen Sportler, die nach Berlin gehen, Rechtzeitig vor Eröffnung der Winterspiele in Garmisch-Par-
werden dort nichts anderes sein als Gladiatoren, Gefangene tenkirchen am 6. Februar und vor dem Einsetzen des Besu-
lebte, sprach indigniert von einem „ganz und gar politi- worden.
schen Unternehmen“, das den Nazis da geglückt war: „Im- Der Schrecken nahm seinen Lauf. Manfred Ertel
„DER DEUTSCHE
ARBEITER REIST“
Von Karen Andresen
E
ine sanft geschwungene Bucht, feiner weißer
Sand, auf dem sich Kiefernbäume wiegen.
Die Prorer Wiek mit der „Schmalen Heide“
war in den dreißiger Jahren des vorigen
Jahrhunderts sicher einer der schönsten Strände auf
der Ostseeinsel Rügen.
Ausgerechnet dieses Kleinod unberührter Natur
suchten sich die Nationalsozialisten aus, um am
2. Mai 1936 mit dem Bau eines gigantischen See-
bades zu beginnen. Zwei Gebäudeflügel mit je vier
Bettenhäusern, sechs Stockwerke hoch, fast fünf Ki-
lometer lang, alle Zimmer mit Meerblick. Dazu zwei
Wellenbäder, ein Schlachthof, eine Konservenfabrik,
ein Kraftwerk und eine monumentale Festhalle mit
20 000 Sitzplätzen.
Adolf Hitler selbst soll die Idee zu diesem Mam-
mutprojekt für 20 000 Feriengäste gehabt haben. Man
müsse, so wird der Diktator zitiert, „ein Riesenbad
bauen, das Gewaltigste und Größte von allem bisher
Dagewesenen“.
Inzwischen mag man sich an mächtige Betonbur-
gen für Urlaubermassen gewöhnt haben, damals aber
war, was die Nazis vorhatten, eine Sensation.
Zur feierlichen Grundsteinlegung reisten neben
Parteiprominenz auch Vertreter von Kriegsmarine
und Luftwaffe an. Robert Ley, der Leiter der natio-
nalsozialistischen Pseudogewerkschaft Deutsche Ar-
beitsfront (DAF), hielt eine Ansprache, die landes-
weit vom Radio übertragen wurde, und im Kino ver-
kündete die „Deutsche Wochenschau“: „Auf der In-
sel Rügen entsteht das größte und schönste Seebad
der Welt. Hier werden später Tausende und Aber-
tausende schaffende deutsche Menschen Erholung
und Kraft zu neuer Arbeit finden.“
Die Nationalsozialisten hatten vor allem Indu-
striearbeiter im Visier, denn, so DAF-Chef Ley,
„Tausende Urlauber mit schwieligen Händen sind
die beste Propaganda für das neue Deutschland, die
man sich denken kann“.
Da war es selbstverständlich, dass schon das Da-
tum für die Grundsteinlegung, der 2. Mai 1936, mit
Bedacht gewählt worden war. Auf den Tag genau
drei Jahre zuvor hatten die Nazis überall in Deutsch-
land die Gewerkschaftshäuser gestürmt. In der Fol-
ge waren führende Funktionäre verhaftet, das Ver-
mögen konfisziert und die Mitglieder zwangsweise in gen. Sie heißt: Vernichtung des Marxismus“, hatte SONNE UND HAKENKREUZ
die Arbeitsfront eingegliedert worden. Adolf Hitler seine Gefolgsleute angefeuert. Ein Urlaubspaar ganz nach
Ein Streikrecht gab es fortan nicht mehr, die Löh- Was aber sollte aus den vielen tausenden einfa- den Wünschen der
ne wurden niedrig gehalten. Sozialdemokraten muss- chen Mitgliedern von SPD, KPD und Gewerkschaf- NS-Führung. Denn die
ten ebenso wie Kommunisten um ihr Leben fürchten ten werden, deren Arbeitskraft dringend gebraucht wollte auch auf die Freizeit
ULLSTEIN BILD
oder waren bereits aus dem Land geflohen. „Lasst wurde in der schon auf Hochtouren laufenden der Deutschen möglichst
euch in keiner Sekunde von unserer Parole abbrin- Kriegswirtschaft? Allein mit Verboten und Gewalt, viel Einfluss nehmen.
spiegel special geschichte 1 | 2008 129
DER TOTALITÄRE STAAT
„Wilhelm Gustloff“ das wussten die Machthaber, war das Proletariat te und – wenige – Arbeiter für sich die Fahrt in die
nicht gefügig zu machen. Sommerfrische.
Das Kreuzfahrtschiff
Also zeigte das Regime sein anderes, sein ver- Seit Mitte der zwanziger Jahre schmückte sich
wurde in den dreißiger
meintlich fürsorgliches Gesicht. Soziale Wohltaten jede größere Tageszeitung mit einer eigenen Rubrik
Jahren bei Blohm &
sollten die Arbeiter in die nationalsozialistische „Reisen, Bäder, Kurorte, Wandern“. Und selbst im
Voss in Hamburg für
„Volksgemeinschaft“ einbinden. sozialdemokratischen „Vorwärts“ tauchten vermehrt
die DAF gebaut.
Im November 1933 gründeten die Nazis im Fest- Reiseberichte und Ferienvorschläge auf.
Namensgeber war ein
saal des einen Monat zuvor aufgelösten Preußischen Sieben Tage Sächsische Schweiz waren für 105
1936 in der Schweiz
Staatsrates an der Leipziger Straße in Berlin die NS- Reichsmark (RM) zu haben, der Norddeutsche Lloyd
ermordeter Antisemit
Organisation „Nach der Arbeit“, die sich schon bald bot eine Nordlandreise ab 140 RM an. „Im reichen
und Landesgruppen-
in „Kraft durch Freude“ (KdF) umbenannte. Worum Wortschatz unserer deutschen Sprache“, schwärmte
leiter der NSDAP. Ab
es den braunen Machthabern dabei ging, machte ein Mitglied der „Naturfreunde“, habe nichts „ei-
1939 war es Lazarett-
DAF-Chef Ley in seiner Festrede ziemlich unver- nen so poetischen Klang für den Arbeitsmenschen
schiff und schwimmende
blümt deutlich: Der „schaffende deutsche Mensch“ wie das Wort ‚Urlaub‘“.
Kaserne. Im Januar
dürfe sich, so Ley, in seiner arbeitsfreien Zeit nicht 1929 beschlossen auch SPD und Gewerkschaften,
1945 nahm die „Wilhelm
selbst überlassen bleiben, denn „aus der Langewei- eine eigene Arbeiter-Reiseorganisation zu gründen.
Gustloff“ in Goten-
le entspringen dumme hetzerische, ja letzten Endes „Die werktätige Bevölkerung, ganz gleich ob sie in
hafen (dem heutigen
verbrecherische Gedanken“, und nichts sei gefährli- der Fabrik oder in der Schreibstube tagein, tagaus
Gdynia in Polen) rund
cher für einen Staat. So gesehen, fügte der DAF-Lei- schwer arbeiten muss, hat Anspruch darauf, sich die
10 000 Flüchtlinge und
ter hinzu, sei „sogar der Kegelclub staatserhaltend“, Schönheiten dieser Erde zu erobern und sich wenigs-
Soldaten an Bord. Nach
weil die Menschen wüssten, „wo sie am Abend hin- tens einmal im Jahr über die Mühsal des Alltags zu
russischem Torpedo-
zugehen haben“. erheben“, verkündete der sozialdemokratische
Beschuss sank das
Bald darauf hatte sich KdF erfolgreich der Freizeit Reichsausschuss für Bildungsarbeit, der auch Stu-
Schiff. Rund 9000
der Deutschen bemächtigt. Von der Wandertour bis dienreisen für Proletarier anbot.
Menschen starben.
zur Schiffsreise, vom Schachspielen bis zum Tau- Doch die meisten Arbeiter hatten weder genug
benzüchten gab es kaum etwas, was die NS-Organi- Geld – der durchschnittliche Jahresverdienst lag 1928
sation nicht im Programm hatte. Sie sorgte für Brei- bei 2300 Reichsmark – noch genug freie Zeit, um
tensport und „weltanschauliche“ Erziehung, organi- von den Angeboten Gebrauch zu machen. Zwar wur-
sierte Theaterbesuche und bunte Abende. de ihnen in der Weimarer Republik erstmals auch ein
1934 starteten zum ersten Mal fahnengeschmück- Recht auf Jahresurlaub tarifvertraglich zugesichert,
te KdF-Urlauberzüge, zwei Jahre später lief das doch viele arbeiteten ohne Tarifvertrag, oder sie
erste KdF-Schiff vom Stapel. Hatten Urlaubsfahrten ließen sich, wenn ihnen Urlaub zustand (oft waren es
bisher vor allem als Pri- ohnehin nur magere drei Tage), diesen lieber aus-
vileg begüterter Schich- zahlen, um die Familienkasse aufzubessern.
MASSENBAD ten gegolten, so wurde Hinzu kam, dass sich besonders bei älteren
Das NS-Mammutprojekt jetzt die Parole ausgege- Funktionären in SPD und Gewerkschaften hartnäckig
Prora auf Rügen wurde ben: „Der deutsche Ar- das Ressentiment hielt, Urlaubsfahrten seien vor
nie als Ferienanlage beiter reist.“ allem Ausdruck eines kleinbürgerlichen Individua-
genutzt. Begonnen allerdings lismus, von dem sich ein klassenbewusster Proletarier
hatte die allgemeine Rei- besser fernzuhalten habe. Und so war die Forderung
selust viel früher. Schon nach mehr Urlaub nie zu einem wichtigen Anliegen
1840 hatten in Großbri- des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes
tannien einzelne wohl- geworden.
tätig gesinnte Unterneh- Die Nationalsozialisten erkannten schnell, welch
mer bei den Privatbah- große propagandistische Chance für sie in dem The-
nen Züge gebucht, um ma steckte. Hitler selbst versprach, der nationalso-
ihren Arbeitern und de- zialistische Staat werde sich bemühen, seinen „Volks-
ren Familien Ausflüge ins genossen alles das zugänglich zu machen, was früher
Grüne zu ermöglichen. Vorrecht einer begrenzten Lebens- und Volksschicht
1841 schickte Thomas war“. Er wünsche, so zitierte DAF-Chef Ley einen
Cook, der britische Pio- „Führerbefehl“ des Diktators, dass der deutsche Ar-
nier des Massentouris- beiter eine Erholungszeit bekomme, „weil ich ein
mus, seinen ersten Son- nervenstarkes Volk will, denn nur allein mit einem
derzug mit 570 Arbeitern Volk, das seine Nerven behält, kann man wahrhaft
auf die Reise. große Politik machen“.
In Deutschland waren Was damit gemeint war, zeigte sich im faschisti-
es bis zum Ende des schen Italien, wo es seit 1925 mit „Opera Nazionale
Ersten Weltkriegs vor al- Dopolavoro“ eine ähnliche Organisation gab, die
lem die zahlungskräfti- KdF als Vorbild gedient hatte. Die körperliche und
gen Oberschichten, die moralische Ertüchtigung der Massen, ließ man hier
sich eine Auszeit, etwa in ganz unverklausuliert verlauten, solle auch dazu die-
einem der feinen Seebä- nen, die Menschen „für die eventuellen Anforde-
der, leisten konnten. Erst rungen einer kriegerischen Zukunft tauglich zu ma-
in der Weimarer Repu- chen“.
blik setzte eine Demo- KdF stieg bald zu einem der mächtigsten Reise-
STEFAN SAUER / DPA
„Robert Ley“. in den vorhandenen Bädern nicht vollständig wohl, waren, schien die
Zwar nahmen Arbeiter immer noch sehr viel sel- weshalb der „Führer“ für sie eigene Anlagen wolle. Realisierung des Volks-
tener an den Urlaubsfahrten teil als Angehörige des Weitere Großprojekte, etwa an der Kurischen Nehrung wagens lange Zeit
Mittelstands, und insgesamt wurde auch nur jede in Ostpreußen, waren geplant, wurden aber nie gebaut. fraglich. 1937 übernahm
zehnte Reise von KdF organisiert. Dennoch war die Auch in Prora sollten nie Touristen eintreffen. Bei es die DAF, für einen
propagandistische Wirkung, vor allem in den ersten Ausbruch des Zweiten Weltkrieges stellten die Nazis preisgünstigen „KdF-
Jahren nach der „Machtergreifung“, enorm. den Bau ihres Vorzeigebades ein. Die Arbeiter wur- Wagen“ in Wolfsburg
KdF, meldeten Sozialdemokraten ihrer Partei- den von dem Rohbau auf Rügen zur Raketenver- ein Werk bauen zu
führung ins Prager Exil, sei eine „geschickte Speku- suchsanstalt nach Peenemünde und zum „Westwall“ lassen. Doch vom
lation auf die kleinbürgerlichen Neigungen der abgezogen. KdF widmete sich fortan der Truppen- Volkswagen gab es bis
unpolitischen Arbeiter“ und insgesamt eine „gute betreuung, organisierte Bunkerabende und Theater- Kriegsende nur einige
Propaganda für das System“. Bitter vermerkt ein Be- aufführungen an der Front. Die beiden Passagier- Vorzeigemodelle. In
richt an die Sopade, wie sich die Exilanten nannten: schiffe „Wilhelm Gustloff“ und „Robert Ley“ gingen dem DAF-Werk wurden
„Manche sagen: Ja, so etwas hat uns der Staat früher als Lazarettschiffe auf große Fahrt, in Prora wurden stattdessen Militär-
nicht geboten, da sind wir aus unserem Nest nicht sowjetische Kriegsgefangene und osteuropäische fahrzeuge hergestellt.
herausgekommen.“ Vor allem die Frauen würden oft Zwangsarbeiter interniert. Wer den KdF-Wagen
noch monatelang von ihren Reisen erzählen und da- Im Krieg, ließ die NS-Propaganda nun die Deut- bereits angezahlt hatte,
mit ihre Umgebung begeistern. schen wissen, erfahre KdF „ihre schönste Krönung“.✦ verlor sein Geld.
spiegel special geschichte 1 | 2008 131
DER TOTALITÄRE STAAT
Seinen Aufstieg verdankt Adolf Hitler der Verbreitung von Hass und Verleumdung. Für
seine Agitationsmethoden hat er sich vieles bei seinen politischen Gegnern abgeschaut.
VERWIRRTE
EMPFINDUNGEN
Von Michael Sontheimer
D
ie Tätigkeit der Propaganda“, berichtete Als „berufsmäßigen Werberedner“ führte ihn der
Adolf Hitler später, habe ihn schon polizeiliche Nachrichtendienst. Und tatsächlich war
„außerordentlich interessiert“, als er noch der Mann aus dem österreichischen Braunau als Red-
GESCHULTER ein „armer namenloser Teufel“ war. Im ner in den verqualmten Bierkellern der bayerischen
SELBSTDARSTELLER September 1919 trat der spätere Reichskanzler in Hauptstadt in seinem Element. Vor alkoholisierten
Um bei seinen Reden gut München der Deutschen Arbeiterpartei (DAP) bei Männerrunden schrie er seinen über Jahre ange-
anzukommen, nahm Adolf und übernahm sogleich den Posten des Obmanns für stauten Hass heraus, hetzte gegen Juden und Marxis-
Hitler Schauspielunterricht. Werbung und Propaganda. ten, fabulierte von Verrätern, die dem im Felde un-
Seine Posen waren einstu- Dem DAP-Mitbegründer Anton Drexler, einem besiegten Heere in den Rücken gefallen seien.
diert. Die NSDAP bediente Werkzeugschlosser, war Hitlers rhetorisches Talent Über eine Rede, die er einen Monat nach seinem
sich modernster Propagan- auf einer Versammlung aufgefallen. Dort hatte der Eintritt in die DAP gehalten hatte, schrieb er später:
damethoden: So waren die berufslose Gefreite einem Redner so furios Paroli „Was ich früher, ohne es irgendwie zu wissen, einfach
Wahlkampfkampagnen der geboten, dass dieser umgehend aus dem Saal schlich. innerlich gefühlt hatte, wurde nun durch die Wirk-
Partei ganz auf eine Person, „Mensch, der hat a Gosch’n“, stellte Drexler fest, lichkeit bewiesen: Ich konnte reden!“
Hitler, abgestellt, was „den kunnt ma braucha.“ Auch bei der Münchner Hitler lernte schnell, sich bei seinen Auftritten
damals nicht üblich war. Polizei wurde Hitlers Begabung bald aktenkundig. mit aggressiver Melodramatik zu inszenieren. „Die
tischen Wahlkampfmanager etwas Neues einfallen. tober 1933 erlassenen Schriftleitergesetz, in dessen
Erstmals wurden 50 000 Schallplatten von Hitlers Folge rund 1300 „marxistische“ und jüdische Jour-
Waren Holocaust und Krieg nach dem Machtantritt Adolf Hitlers unvermeidbar?
N
ur vier Tage nach seiner Ernennung zum Im Juni 1933 kündigte die Hitler-Regierung ein-
Reichskanzler traf sich Adolf Hitler mit AUFSCHWUNG AUF PUMP seitig ein Moratorium aller Auslandsschulden an, was
den Befehlshabern der Reichswehr in der Aufwendig wurde Hitlers die Gläubigerstaaten zu Recht als aggressiven Af-
Privatwohnung des Chefs der Heereslei- Besuch am 26. Mai 1938 in front verstanden.
tung, General der Infanterie Kurt Freiherr von Ham- Fallersleben inszeniert, wo Im Oktober trat das Deutsche Reich mit Aplomb
merstein. Was er den zwei Dutzend versammelten er den Grundstein für ein aus dem Völkerbund aus und zog sich aus allen in-
Generälen am Abend dieses 3. Februar zu sagen hat- Volkswagenwerk legte. ternationalen Abrüstungsverhandlungen zurück, um
te, bildete den Kern seines politischen Programms: Die wachsende Rüstungs- sich sämtlicher völkerrechtlicher Verpflichtungen zu
„Völlige Umkehrung der gegenwärtigen innenpoliti- produktion wurde vor allem entledigen und die Aufrüstung ungehemmt voran-
schen Zustände in Deutschland“, so notierte Gene- durch Schulden finanziert. treiben zu können.
ralleutnant Curt Liebmann Hitlers Ausführungen.
„Keine Duldung der Betätigung irgendeiner Gesin-
nung, die dem Ziel entgegen steht (Pazifismus!). Wer
sich nicht bekehren lässt, muss gebeugt werden. Aus-
rottung des Marxismus mit Stumpf und Stiel.“ Und:
„Beseitigung des Krebsschadens der Demokratie“
sowie „Eroberung neuen Lebensraums im Osten und
dessen rücksichtslose Germanisierung“.
Auch daran, dass der Aufbau der Armee wichtigs-
te Voraussetzung für diese Politik ist, ließ Hitler kei-
nen Zweifel. Im Gegenteil, die „Stärkung des Wehr-
willens mit allen Mitteln“ sei so wichtig, dass dem
gegenüber alles andere
MICHAEL WILDT, zurücktreten müsse, ließ
Jahrgang 1954, ist His- er seine Zuhörer wissen.
toriker am Hamburger Und das Volk, insbeson-
Institut für Sozial- dere die Jugend, müsse
forschung sowie Autor auf die Überzeugung
zahlreicher Bücher und eingeschworen werden,
Aufsätze über den dass „nur der Kampf uns
Nationalsozialismus. retten kann“.
2007 erschien von ihm Die Generäle hörten
„Volksgemeinschaft als Hitlers Programm gern,
Selbstermächtigung. hatte doch die Reichs-
Gewalt gegen Juden in wehrführung schon 1921
der deutschen Provinz im Geheimen damit be-
1919 – 1939“. gonnen, unter Bruch des
Versailler Vertrags den
Aufbau eines großen Heeres zu planen. Nun war
endlich eine Regierung an der Macht, die ihre Poli-
tik auf den Krieg ausrichtete.
Reichsbankpräsident Hjalmar Schacht stimmte im
Sommer 1933 einem Programm zu, dem zufolge in
den kommenden acht Jahren 35 Milliarden Reichs-
mark an staatlichen Mitteln in die Aufrüstung inves-
tiert werden sollten – eine gigantische Summe, wenn
man bedenkt, dass das gesamte Volkseinkommen
Deutschlands im Jahr 1933 etwa 46 Milliarden Reichs-
mark betrug.
Die Heeresführung legte im Dezember 1933 nach
und plante die Vergrößerung des stehenden Heeres.
21 Divisionen mit 300 000 Mann sollten bis März 1938
verfügbar sein – eine Zahl, die nur mit der Ein-
führung der allgemeinen Wehrpflicht zu erreichen
war, was der Versailler Vertrag verbot. Aufrüsten
wollten auch die Marine und das neugebildete Reichs-
luftfahrtministerium unter Hermann Göring.
FELDHERRNHALLE
MÜNCHEN
König Ludwig I. ließ 1841 bis 1844 im
Zentrum Münchens eine Loggia nach
florentinischem Vorbild zu Ehren des
bayerischen Militärs errichten. Nach-
dem eine antirepublikanische Putsch-
bewegung unter Führung Hitlers im
Bürgerbräukeller die „Nationale Revo-
lution“ ausgerufen und die bayerische
wie die Reichsregierung für abgesetzt
erklärt hatte, marschierten die Aufrüh-
rer am 9. November 1923 durch die
Innenstadt. Es kam zu Kämpfen mit
der Polizei; 14 Putschisten und 4 Poli-
zisten starben. Nach wenigen Stunden
scheiterte der Staatsstreichversuch.
Nach der „Machtergreifung“ wurde die
Aktion propagandistisch verklärt und
alljährlich als „Marsch zur Feldherrn-
halle“ inszeniert.
BÜCHERVERBRENNUNGS-MAHNMAL schaffen. Für Um- und Ausbauarbeiten tische Gegner rücksichtslos zu verfolgen.
Berlin ließ er Tausende KZ-Häftlinge einsetzen. Am 1. Mai 1945 eroberten Soldaten der
Der einstige Opernplatz war am 10. Mai Unmittelbar vor Kriegsende wurde die Roten Armee das schwer beschädigte Ge-
1933 Schauplatz der von der Deutschen Burg durch ein SS-Kommando weitgehend bäude. Die rote Fahne flatterte als Symbol
Studentenschaft organisierten Bücherver- zerstört. Die wiederhergestellte Burg wird des Sieges über dem Reichstag. Seit April
brennung. Wie in zahlreichen deutschen heute unter anderem als Jugendherberge 1999 ist das mehrfach restaurierte Bau-
Städten waren Leihbibliotheken von und Museum genutzt; im ehemaligen Wach- werk Sitz des Deutschen Bundestages.
Werken unliebsamer Autoren „gesäubert“ gebäude wird die Geschichte der „Kult- www.reichstag.de
worden. Am heutigen Bebelplatz erinnert und Terrorstätte der SS“ dokumentiert.
seit 1995 ein von dem israelischen Bild- www.wewelsburg.de KONZENTRATIONSLAGER DACHAU
hauer Micha Ullman geschaffenes Mahn- bei München
mal, eine im Boden unter einer Glasplatte TOPOGRAPHIE DES TERRORS Schon im März 1933 ließ Himmler, damals
eingelassene Bibliothek mit leeren Rega- Berlin Münchner Polizeipräsident, das KZ
len, an die kulturvernichtende Aktion. Zwischen der ehemaligen Prinz-Albrecht-, errichten. Hier inhaftierte das Regime
der Wilhelm- und der Anhalter Straße zuerst politische Gegner, später Juden,
OBERSALZBERG befanden sich die Zentralen des national- Homosexuelle, Geistliche, Sinti und
bei Berchtesgaden sozialistischen SS- und Polizeistaats: das Roma. Während des Krieges verschleppte
In malerischer Alpenlandschaft kaufte Geheime Staatspolizeiamt, der Sicher- man auch Menschen aus den überfalle-
und erweiterte Adolf Hitler ein Anwesen heitsdienst der SS und ab 1939 auch das nen Ländern hierher. Zwischen 1933 und
(„Berghof“), das als zweite Residenz ne- Reichssicherheitshauptamt. Politische 1945 waren insgesamt mehr als 200 000
ben der Reichskanzlei auch dem Empfang Gegner wurden hier bei Verhören gefol- Menschen in Dachau und seinen 200
von Staatsgästen und Würdenträgern tert. Hier fielen Entscheidungen zur Ver- Außenlagern eingesperrt. Der Tod von
diente. Weitere NS-Prominenz ließ sich folgung politischer Gegner, zur Ermor- 30 000 Gefangenen wurde in Dachau
samt Arbeitsstäben und SS-Entourage im dung sowjetischer Kriegsgefangener und registriert, die tatsächliche Opferzahl liegt
„Führergebiet“ auf dem Obersalzberg zum Völkermord an den europäischen Ju- weitaus höher. Das einstige KZ ist heute
nieder. Alliierte Luftangriffe zerstörten den. Bislang erinnerte eine provisorische eine Gedenkstätte.
einen großen Teil der Anlage. Seit 1999 Ausstellung an das Terrorregime des NS- www.kz-gedenkstaette-dachau.de
informiert eine Ausstellung des Instituts Staats. Nach jahrelangen Konzeptstreitig- Ursula Wamser
für Zeitgeschichte über die Geschichte des keiten ist die Eröffnung eines Dokumen-
Ortes und die NS-Diktatur. tationszentrums für Mai 2010 geplant.
www.obersalzberg.de www.topographie.de
WEWELSBURG REICHSTAG
bei Paderborn Berlin
Im 17. Jahrhundert wurde die Neben- Kaiser Wilhelm II. weihte das von ihm
MAURITIUS IMAGES (O.), FOTEX (U.)
ULLSTEIN BILD; INTERFOTO; BPK; WALTER FRENTZ / ULLSTEIN BILD; BPK; WALTER FRENTZ / ULLSTEIN BILD (V.L.N.R.)
Oltmer, Dr. Regina Schlüter-
Dibelius, Otto 91, 140 70f, 118 Ahrens, Stefan Storz,
Diels, Rudolf 77, 79 Pacelli, Eugenio, Papst Pius XII. Thyssen, Fritz 16, 29 Ursula Wamser, Anika Zeller
Diem, Carl 126 Jünger, Ernst 35, 38, 40, 42 84ff Tillich, Paul 45 Titelbild
Stefan Kiefer; Iris Kuhlmann,
Dietrich, Marlene 15 Papen, Franz von 9, 17f, 29, 37, Todt, Fritz 120f Gershom Schwalfenberg,
Dietrich, Otto 126, 134 Kaas, Ludwig 71 51f, 63, 65, 70f Tresckow, Henning von 52 Astrid Shemilt, Arne Vogt
Dinter, Artur 45 Kandinsky, Wassily 15 Päts, Konstantin 58ff Troeltsch, Ernst 45 Organisation
Döblin, Alfred 81, 140 Kapp, Wolfgang 10 Pechmann, Wilhelm von 90 Tucholsky, Kurt 45, 76, 82f Angelika Kummer,
Antje Wallasch
Drexler, Anton 12, 132 Kästner, Erich 72 Pétain, Philippe 57
Produktion
Kempner, Robert 30 Pilsudski, Józef 58ff Ulbricht, Walter 36f Solveig Binroth, Christiane
Ebert, Friedrich 10, 12, 50, 61 Kerrl, Hanns 32 Pla, Josep 19 Ulmanis, Karlis 58ff Stauder, Petra Thormann
Eichmann, Adolf 79, 141 Kessler, Harry Graf 81, 98 Poincaré, Raymond 56 Umfrid, Hermann 89 Herstellung
Eicke, Theodor 78f Keynes, John Maynard 29, 118 Preußen, August Wilhelm von 51, Mark Asher
Verantwortlich für Anzeigen
Eisner, Kurt 43f Klee, Paul 81f 53 Vögler, Albert 29 Norbert Facklam
Erkelenz, Anton 29 Klemperer, Victor 65, 115, 128, Preysing, Konrad von 86f Anzeigenobjektleitung
Erler, Fritz 77 140f Wassermann, Jakob 140 Susanne Korn
Erzberger, Matthias 10, 13, 14 Klöckner, Peter 29 Querfurt, Carl 95 Weiß, Bernhard 134 Verantwortlich für Vertrieb
Koch, Erich 118 Wels, Otto 71 Thomas Hass
Fahlbusch, Ernst 95 Krause, Reinhold 90 Račič, Puniša 58 Wessel, Horst 133 Druck
u. e. sebald druck GmbH,
Falkenhayn, Erich von 49 Radic, Stjepan 58 Wilhelm II. 48, 50 Nürnberg
Fehrenbach, Konstantin 45 Landsberg, Otto 43 Rathenau, Walther 10, 14, 41, 44 Willikens, Werner 111 Objektleitung
Flatow, Ernst 91 Lautenbach, Wilhelm 29 Ratti, Achille, Papst Pius XI. 84ff Wilson, Woodrow 55 Manuel Wessinghage
Flechtheim, Alfred 82 Le Bon, Gustav 133 Reibnitz, Kurt von 53 Wolff, Theodor 66 Geschäftsführung
Dr. Mario Frank
Flick, Friedrich 28 Lebrun, Albert 54 Remarque, Erich Maria 14
Foerder, Ludwig 44 Lessing, Theodor 45 Riefenstahl, Leni 126, 128 Zola, Emile 47 © SPIEGEL-Verlag Rudolf Augstein
Freisler, Roland 116 Lewald, Theodor 126 Rittershausen, Heinrich 29 Zuckmayer, Carl 15, 80f GmbH & Co. KG,
Freud, Sigmund 82f Ley, Robert 129 ff Robinson, Joan 118 Zweig, Stefan 15 Januar 2008 ISSN 1612-6017