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HAUSMITTEILUNG

A m 30. Januar vor 75 Jahren machte


Reichspräsident Paul von Hindenburg
den ehemaligen Kunstmaler und Ob-
dachlosen Adolf Hitler zum deutschen
Reichskanzler. Es war das Ende der ersten deutschen
Republik und der Anfang vom Marsch in eine euro-
päische Katastrophe, die über 60 Millionen Menschen
das Leben kostete. Bis heute treibt die Deutschen –
und nicht nur sie – die Frage um, woran die Wei- Kershaw
marer Republik gescheitert ist und warum sich das
Land nach Hitlers Machtantritt so schnell in die
NS-Diktatur gefügt hat. Antworten darauf geben re-
nommierte Geschichtswissenschaftler und SPIEGEL-
Redakteure im vorliegenden Heft.

Der britische Historiker Ian Kershaw etwa analysiert,


warum so viele Deutsche ihrem „Führer“ begeistert
folgten (Seite 101). Christoph Jahr, Dozent an der
Humboldt-Universität in Berlin, schildert, wie der in Jahr
Deutschland schon vor 1933 grassierende Antisemi-
tismus mit Hitler zur herrschenden Ideologie wurde
(Seite 43). Der Hamburger Geschichtswissenschaftler
Michael Wildt beschäftigt sich in einem Essay mit
der Frage, ob der Zweite Weltkrieg und die Vernich-
tung der Juden von dem Tag an, an dem Hitler die
Macht an sich riss, unvermeidlich waren (Seite 136).

Im niedersächsischen Northeim erkundete SPIEGEL-


Redakteurin Andrea Brandt, wie es war, als die Na- Wildt
zis in einer ganz normalen Kleinstadt das Regiment
übernahmen. Ihr gelang es, noch ein halbes Dutzend Zeitzeugen aus-
findig zu machen, von denen die meisten, so die Autorin, „erstaunlich
offen auch über ihre ganz persönliche Rolle beim Aufstieg der
NSDAP“ sprachen (Seite 92).

Das Spezifische am Nationalsozialismus lässt sich mit einem Blick ins


europäische Ausland besser erkennen. Etwa ins faschistische Italien,
das SPIEGEL-Redakteur Georg Bönisch beschreibt. Zu den Unter-
schieden zwischen Deutschland und Frankreich in der Zwi-
UTA RADEMACHER (O.R.); FRANK SCHUMANN / DER SPIEGEL (O.U.); ROBERT BREMBECK (U.)

schenkriegszeit befragten
Bönisch und Karen An-
dresen, die gemeinsam
mit Klaus Wiegrefe die-
ses Heft konzipierte, den
Augsburger Historiker
Andreas Wirsching (Seite
20). Wie Paris auf die
Weltwirtschaftskrise rea-
gierte, schildert Frank-
reich-Korrespondent Ste-
Wirsching, Bönisch, Andresen fan Simons (Seite 54).

Das nächste SPIEGEL SPECIAL GESCHICHTE erscheint am 29. April zum


Thema griechische Antike.
spiegel special geschichte 1 | 2008 3
IN DIESEM HEFT

Hitler auf dem Nürnberger Marktplatz während des Reichsparteitags 1938

6 Triumph des Wahns


In der krisengeschüttelten Weimarer Republik konnte ein Demagoge wie Hitler mit seinen
Versprechungen die Massen für sich begeistern – die Menschen sehnten sich nach einem starken
Mann. Nach der „Machtergreifung“ steigerte ausgeklügelte Propaganda seine Popularität.

Festgenommene jüdische
Männer in Baden-Baden nach
der Pogromnacht 1938

GETTY IMAGES (O.); SÜDDEUTSCHER VERLAG (U.L.)

Parade des Reichs-


arbeitsdienstes

61 Im Gleichschritt 101 Judenverfolgung – vor aller Augen


Es gab nur noch eine Partei, die Von Anfang an betrieb das NS-Regime offen eine radikal
NSDAP. Die Deutsche Arbeitsfront antisemitische Politik: erst Berufsverbote und Boykott von
ersetzte die freien Gewerkschaften, Geschäften, dann „Rassengesetze“, „Arisierungen“ und
die Kunst wurde zensiert. Pogrome. Am Ende stand der Holocaust.

4 spiegel special geschichte 1 | 2008


1 DAS ENDE
DER WEIMARER
REPUBLIK 2 DER WEG
IN DIE
DIKTATUR 3 DER
TOTALITÄRE
STAAT

6 Hitlers Weg an die Macht 61 Der Staatsstreich 101 Der Hitler-Kult


Inflation, Armut und wenig Hitler regierte mit Terror und Die rasch wachsende Popula-
Vertrauen in die Demokratie Notverordnungen – und dank rität Hitlers durch Propaganda
ließen die Weimarer Republik der willigen Kooperation vieler und außenpolitische Erfolge.
scheitern und beförderten Deutscher.
Hitlers Aufstieg. 104 Chronik 1935 – 1939
64 Chronik 1933 – 1934
10 Chronik 1918 – 1933 Die Gleichschaltung. Der NS-Staat.
Die glücklose Republik.
74 Wer waren Hitlers Wähler? 114 Nürnberger Rassengesetze
19 O-Ton Menschen aus allen Schichten Die legale Ausgrenzung und
Einer spanischen Zeitung schil- stimmten für die NSDAP. Diskriminierung der Juden –
derte Hitler 1923 seine Pläne. 76 Die Schreckensherrschaft ein entscheidender Schritt zum
20 SPIEGEL-Gespräch Der Aufbau von SA, SS und Holocaust.
Der Historiker Andreas Gestapo.
117 Aufschwung durch Rüstung
Wirsching über die Anfälligkeit
der Deutschen für Anti- Militarismus, Rassismus und
semitismus und Führerkult. Zwang – die Grundlagen für
Hitlers Wirtschaftspolitik.
24 Weltwirtschaftskrise
Die verhängnisvolle 120 Wie es wirklich war
Deflationspolitik des Der Autobahnbau und was die
„Hungerkanzlers“ Brüning. NS-Propaganda daraus machte.
30 Furchtbarer Jurist 124 Der amerikanische Weg
Carl Schmitt – der Mann, der
dem NS-Regime das passende Wie US-Präsident Roosevelt
Staatsrecht erfand. auf die Weltwirtschaftskrise
reagierte.
36 Seltsame Allianz
Beim Streik der Berliner Ver- 126 Nahaufnahme
kehrsbetriebe 1932 kooperier- Hitlers größter Propaganda-
ten Nazis und Kommunisten. erfolg: die Olympischen Spiele
1936.
38 Generationenkonflikt
Die Nazis machten sich den 129 „Kraft durch Freude“
Frust der Jugend zunutze. Mit Freizeitangeboten sollten
43 Hass auf die Juden vor allem die Arbeiter für die
Wie der Antisemitismus zur Wahlplakat der NSDAP zur Reichstagswahl NSDAP gewonnen werden.
Herrschaftsideologie wurde. am 31. Juli 1932
132 Manipulation der Massen
48 General und Gefreiter Goebbels’ Ziel: die Menschen
Reichspräsident Hindenburg 80 Kunst unter Zensur
Die Geschmacksdiktatur der „ganz mit den Ideen der
sah bei dem Ex-Frontsoldaten Propaganda zu durchtränken“.
Hitler die „Volksgemeinschaft“ Nazis.
in guten Händen. 84 Das Schweigen der Kirche 136 Essay
52 Nahaufnahme Der Vatikan, die deutschen Waren Krieg und Holocaust
Der Historiker Stephan Bischöfe und die Juden. nach Hitlers Machtübernahme
Malinowski über die 88 Heil und Heiland unvermeidlich?
NS-Begeisterung des Adels. Braune Parteigänger in der
evangelischen Kirche.
54 Respekt vor der Republik 3 Hausmitteilung
Warum in Frankreich die 92 Ortstermin
Demokratie trotz ähnlicher Wie die niedersächsische 144 Schauplätze
Krisen nicht in Gefahr geriet. Kleinstadt Northeim von den
Nazis erobert wurde. 145 Literatur zum Thema
58 Europa der Diktatoren
Vom Baltikum bis zum 96 Hitlers Vorbild 146 Register / Impressum
Mittelmeer herrschten viele Der italienische Faschist Beni-
AKG

totalitäre Regime. to Mussolini. TITELBILD: DIZ

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HITLERS MACHTERGREIFUNG
FACKELZUG IN BERLIN
NS-Aufmarsch am 30. Januar
1933 vor dem Brandenburger
Tor (nachgestellte Szene aus
einem NS-Propagandafilm).

1 DAS ENDE DER


WEIMARER
REPUBLIK
Arbeitslosigkeit, Inflation und ein wachsendes Misstrauen
gegen die Demokratie – zuletzt war niemand mehr
da, der die erste deutsche Republik vor ihren Feinden rettete.
Als der Reichspräsident Hitler zum Kanzler
machte, war das auch ein Wendepunkt der Weltgeschichte.
6 spiegel special geschichte 1 | 2008
BLICK AUS DER REICHSKANZLEI
Aus einem Fenster des
Regierungssitzes grüßt Hitler
jubelnde Berliner.

RECHTE SEITE VERLAG (L.); AKG (R.)


SÜDDEUTSCHER
FOTOCREDIT

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WEIMARS ENDE

8 spiegel special geschichte 1 | 2008


HITLERS KABINETT
Die neue Regierung
präsentierte sich am
30. Januar 1933 dem
Fotografen. Neben Hitler
sitzen Hermann Göring
(l.) und Franz von Papen.

Als Hitler am 30. Januar 1933 Reichskanzler


wurde, endete eine Demokratie,
der es seit Anbeginn an Demokraten
gefehlt hatte. Der Weg der
Deutschen in die Katastrophe begann.

REPUBLIK
IN NOT Von Georg Bönisch

A
m Tag, als die Diktatur kam über Deutschland, war es durch-
gängig frostig – in der Hauptstadt des Reichs registrierten die
Meteorologen als höchste Temperatur minus 3,4 Grad, und
dass meist die Sonne schien, konnte an der Düsternis jener
Stunden nichts ändern.
Es war Montag, der 30. Januar 1933.
Die Berliner, die ihre Zeitungen aufschlugen, fanden auf der Seite „Ver-
mischtes“ je nach Geschmack interessante Nachrichten vor, etwa die Mel-
dung aus Köln, im Karneval sei nun „unser guter alter Walzer“ wieder zu
Hause, der von den Jecken ganz offenbar vermisst worden war. Oder die
Notiz, zwei lange gesuchte Postgeldräuber seien endlich gefasst worden.
Und vorn, im politischen Teil, lasen sie, was ihnen seit Jahren als Nor-
malität erschien, zwangsläufig wiederkehrend wie ein Geburtstag: Rück-
tritt der Reichsregierung am Wochenende. Kannte man doch längst,
Wahlen, Neuwahlen, eine Regierung nach der anderen, der Vorhof der
Republik flimmerte längst – und dann war er da, dieser Niemand aus
Österreich, der unbekannte Soldat, der „Bierkelleragitator“ (Hitler-
Biograf Ian Kershaw), Chef jener braunen Partei, die lange Zeit für vie-
SÜDDEUTSCHER VERLAG

le nur eine verrückte politische Randerscheinung gewesen war, die jetzt


aber, im 14. Jahr nach ihrer Gründung, schon die stärkste politische
Kraft in Deutschland war.
„Hitler ist fabelhaft sicher“, notierte am Tag zuvor sein Berliner
Gauleiter und Sprachrohr Joseph Goebbels, ein Meister des bösen

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CHRONIK 1918 – 1933

DIE GLÜCKLOSE REPUBLIK


9. November 1918 Kaiser Wilhelm II. dankt ab. 11. Januar 1923 Belgische und französische
Der Sozialdemokrat Friedrich Ebert wird Reichs- Truppen besetzen das Rheinland. Zuvor hatte Paris
kanzler. Vom Westbalkon des Reichstags herab ruft Berlin vorgeworfen, seinen Reparationsverpflich-
Philipp Scheidemann, Sozialdemokrat wie Ebert, tungen nicht ausreichend nachzukommen.
die Republik aus.
8./9. November 1923 Im „Bürgerbräukeller“
6. Februar 1919 In Weimar tritt erstmals die im ruft Adolf Hitler die „nationale Revolution“ aus.
Januar neugewählte Nationalversammlung zusammen. Mit einem Stroßtrupp Getreuer marschiert er zur
Feldherrnhalle, wo die bayerische Landespolizei
11. Februar 1919 Ebert wird in der National- den Aufstand niederschlägt.
versammlung zum Reichspräsidenten gewählt.
1. April 1924 Hitler wird zu fünf Jahren Festungs-
28. Juni 1919 Im Spiegelsaal des Versailler haft verurteilt, die er jedoch nicht absitzen muss.
Schlosses unterzeichnen Deutschland Am 20. Dezember wird er vorzeitig entlassen.
und die Alliierten den Friedens-
vertrag. Deutschland verliert ein 26. April 1925 Hindenburg wird
Siebtel seines Gebiets. neuer Reichspräsident. Vorgänger
Ebert war am 28. Februar verstor-
11. August 1919 Die Ver- ben.
fassung der Weimarer Republik
tritt in Kraft. Die National- Ende Oktober 1929 Nach einem
versammlung hatte sie am dramatischen Kurssturz an der
31. Juli in Weimar verabschie- New Yorker Börse beginnt die
det. Weltwirtschaftskrise.

18. November 1919 Vor 29. März 1930 Heinrich Brüning


einem parlamentarischen Unter- wird Reichskanzler. Eine schritt-
suchungsausschuss behauptet weise Ausschaltung des Parlaments
Paul von Hindenburg, das Heer und das Regieren mit Notverord-
sei „im Felde unbesiegt“ geblie- nungen beginnt.
ben, aber unter anderem durch
oppositionelle Kräfte der Heimat 14. September 1930 Bei der
hinterrücks gemeuchelt worden Philipp Scheidemann ruft vom Wahl des Reichstags steigert die
(„Dolchstoßlegende“). Reichstag die Republik aus NSDAP ihr Ergebnis von
2,6 Prozent (1928) auf 18,3 Prozent.
13.–16. März 1920 Rechtsradikale Politiker und
Teile der Armee besetzen das Berliner Regierungs- Februar 1932 Mit 6,128 Millionen erreicht die
viertel und rufen einen der Ihren, Wolfgang Kapp, Zahl der Arbeitslosen ihren Höchststand.
zum Reichskanzler aus. Der Kapp-Putsch, der die
Weimarer Republik an den Rand des Bürgerkriegs 10. April 1932 Hindenburg wird erneut zum
führt, bricht nach vier Tagen zusammen. Reichspräsidenten gewählt.

27. April 1921 Die Alliierten fordern in einem 20. Juli 1932 Mit dem sogenannten Preußen-
Londoner Ultimatum 132 Milliarden Goldmark schlag setzt die Reichsregierung die geschäfts-
Reparationen. Im Dawes-Plan (1924) und im Young- führende preußische Regierung ab. Damit geht die
Plan (1929) wird die Reparationslast später modi- Staatsgewalt im größten Land der Weimarer
fiziert. 1932 wird auf der Konferenz von Lausanne Republik auf die Reichsregierung über, ein ent-
ein Ende der Reparationszahlungen ausgehandelt. scheidender Schritt in Richtung Zentralisierung
der Macht.
26. August 1921 Der Zentrumspolitiker
Matthias Erzberger wird von Rechtsradikalen er- 31. Juli 1932 Bei der Reichstagswahl wird die
mordet. NSDAP stärkste Partei.

24. Juni 1922 In Berlin erschießen Rechts- 6. November 1932 Erneut Wahl: Die NSDAP
extremisten Außenminister Walther Rathenau. Als verliert, bleibt aber stärkste Partei.
Reaktion auf den Mord wird am 21. Juli das Re-
publikschutzgesetz erlassen, das republikfeindliche 30. Januar 1933 Hindenburg ernennt Hitler zum
Bestrebungen mit schweren Strafen bedroht. Reichskanzler.
ULLSTEIN BILD

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WEIMARS ENDE
Worts, „heute wird Tau gezogen.“ Da klang noch
etwas Skepsis mit, denn 100 000 Menschen protes-
tierten gegen Hitler – „Berlin bleibt rot!“ –, und der
linksorientierte „Vorwärts“ warnte, ein Kabinett Hit-
ler würde das „Sprungbrett“ hinein in den Faschis-
mus sein. Es war eine Warnung ohne Widerhall, weil
Adolf Hitler einfach nicht mehr aufzuhalten war.
Gegen 10 Uhr am 30. Januar verließ der Vorsit-
zende der Nationalsozialistischen Deutschen Arbei-
terpartei das Hotel „Kaiserhof“ und machte sich auf
den Weg zum greisen Reichspräsidenten Paul von
Hindenburg, für 11 Uhr war Hitlers Vereidigung als
Kanzler angesetzt. Ein heftiger Streit mit dem künf-
tigen Wirtschaftsminister Alfred Hugenberg ver-
zögerte die Zeremonie.
Er sei zufrieden, dass sich zu guter Letzt doch
alle zusammengerauft hätten, sagte der Reichspräsi-
dent und nickte gefällig, als Hitler versprach, die
Rechte des Staatsoberhaupts zu achten, zum Wohle
der ganzen Nation ohne Rücksicht auf Partei-
interessen regieren zu wollen, und dass er alles tun
werde, um die Verfassung zu erhalten.
Dann sprach Hindenburg einen letzten Satz: „Und
nun, meine Herren, vorwärts mit Gott!“
Hitler war Reichskanzler, und in diesem Augen-
blick war die erste deutsche Republik endgültig tot,
die Weimarer Republik.
„Wie ein Märchen“, bejubelte Goebbels das Er-
eignis. Abends marschierten Zehntausende mit
Fackeln durch Berlin, ihr Zug glich einem Feuer-
band, das auf Gesichter und Häuserwände unruhige mokratie, Angst vor dem Bolschewismus, gefühlte KRIEGSHEIMKEHRER
Schatten warf, als seien es Menetekel. Musikkapel- Demütigung durch die Siegermächte des Ersten Welt- Am Brandenburger Tor
len spielten. Von einem „sinnlosen Taumel der Be- kriegs, die doch aus Sicht von Millionen ein friedlie- wurden im Dezember 1918
geisterung“, schwärmte Goebbels in seinem Tage- bendes Deutschland in diesen Krieg getrieben hatten. zurückkehrende Soldaten
buch. Hohe Arbeitslosigkeit, Inflation, Zusammenbruch begrüßt. Der verlorene
Märchen, auch Wunder – jene Begriffe aus der der Wirtschaft – alles Gründe, die in ihrer Gesamt- Krieg war eine große Bürde
magischen Sphäre – dienten damals (wie später) den heit schließlich binnen wenigen Jahre in eine Dikta- für das Land, hohe Militärs
Propagandaspezialisten des Regimes, um dem Be- tur führten. behaupteten, „im Felde
ginn der sogenannten Machtergreifung „die Aura Und es gab einen weiteren Grund, der auch nichts unbesiegt“ zu sein, nur die
übernatürlicher Weihe zu verschaffen“, schreibt der zu tun hat mit einem Hitler als Verführer einer Kul- Heimatfront habe die
Hitler-Biograf Joachim C. Fest. Und auf diese Weise turnation, nämlich die „Ungleichzeitigkeit der poli- Niederlage zu verantworten.
einen Mythos zu kreieren für die Zukunft. tischen Modernisierung“, wie es der Historiker Hein-
Die Wirklichkeit war viel prosaischer, und sie rich August Winkler nennt. Das Wahlrecht sei früh
präsentierte sich vor allem als eine Geschichte ge- demokratisiert worden, das Regierungssystem freilich
sellschaftlicher Fehlentwicklungen und politischer „verspätet“, und diese Lücke, die sich ergebe aus
Fehlkalkulationen. Als die Geschichte eines Par- der „Verschleppung der Freiheitsfrage im 19. Jahr-
teienstaats, der eigentlich keiner sein wollte – und als hundert“, habe Hitler genutzt und damit das „Fun-
Geschichte einer Demokratie dament seines Erfolges“ ge-
ohne wirkliche Demokraten. legt. Eine Lücke, entstanden ANGST VOR DEM
20 Reichsregierungen er- auch daraus, dass die Weima- BOLSCHEWISMUS
lebte die Republik, jede hielt rer Demokratie getragen wur- Die Furcht vor den Kommu-
im arithmetischen Mittel nur de von einem Führungsperso- nisten verschaffte in der
gut acht Monate. Ein Teufels- nal, das tief verwurzelt blieb Weimarer Republik rechten
kreis entstand, dessen Formel in obrigkeitsstaatlichem Den- Parteien wie Adolf Hitlers
so einfach wie gefährlich war: ken der Kaiserzeit. NSDAP großen Zulauf. Mit
Je schwächer eine Regierung Der 30. Januar 1933 be- martialischen Plakaten
erschien, desto leichter neig- deutete nicht nur eine Zäsur hatte 1919 eine Vereini-
ten die Wähler zu jenen, die der deutschen Geschichte. Er gung zur Bekämpfung des
autoritäre Machtausübung war auch ein Wendepunkt der Bolschewismus die Sorge
versprachen – ob sie nun Weltgeschichte. Wäre Hitler vor der kommunistischen
GALERIE BILDERWELT (O.); ULLSTEIN BILD (U.)

rechts standen oder links. an diesem Tag nicht zum Weltrevolution geschürt.
Einzigartige Bedingungen Reichskanzler ernannt wor-
herrschten damals, und ohne den, die „Welt, in der wir le-
sie wäre Hitler in der Versen- ben“, sagt Winkler, „sähe an-
kung geblieben. Da war ein ders aus“.
übermächtiger Reichspräsi- Der Zweite Weltkrieg, der
dent, der am Ende schwach nur 78 Monate nach dem 30.
wurde. Misstrauen in die De- Januar 1933 begann, kostete
spiegel special geschichte 1 | 2008 11
PARLAMENTSERÖFFNUNG 60 Millionen Menschen das Leben, Soldaten und verschiedenartige politische und soziale Inhalte zu-
Im Nationaltheater zu Zivilisten, Kinder, Frauen, Alte. Und Hitlers Hass grunde lagen. Voller Stolz bekannte dennoch Eberts
Weimar versammelte sich auf die Juden, der zum wichtigsten Punkt national- Parteifreund Eduard David, der Reichsinnenminister,
1919 die neugewählte sozialistischer Politik werden sollte, löste den Holo- nun sei Deutschland die „demokratischste Demo-
Nationalversammlung der caust aus mit fast sechs Millionen Ermordeten. kratie der Welt“. Ein Aufbruch, zweifelsohne.
Weimarer Republik. ™
Und noch jemand brach auf in jenem Jahr – Adolf
Hitler.

W
eimar, die Stadt im Thüringer Becken, um- Mit 16 hatte er die Schule geschmissen, Adolf sei,
geben von sanften Hügeln, ist gebaut auf sagte sein Lehrer, „widerborstig“ gewesen, „eigen-
geschichtsträchtigem Boden – und das Zen- mächtig, rechthaberisch und jähzornig“. Der Vater
trum der deutschen Klassik. Goethe und Schiller, will ihn zum Beamten machen, der Sohn aber glaubt,
die Dichterfürsten, lebten und arbeiteten hier, Kom- in seinen Adern fließe das Blut des Künstlers; bei
ponisten, Musiker, Architekten, Weimar steht für der Aufnahmeprüfung zur Akademie für Bildende
deutsche Kultur, für geistige Größe und Zivilisation, Künste in Wien rasselt er durch, sein Talent reicht nie
für Humanismus. und nimmer.
Und genau deshalb hatten sich hierhin, nach der Hitler malt, doch davon zu leben ist schwer, er
vierjährigen Barbarei des Ersten Weltkriegs und der entwickelt sich zu einem Außenseiter der Gesell-
sich anschließenden November-Revolution, Anfang schaft, der unter Obdachlosen schließlich den sozia-
1919 die gerade gewählten Volksvertreter zurückge- len Abstieg erlebt – eine gescheiterte Existenz auf der
zogen, um die Verfassung auszuarbeiten für einen Suche nach Sündenböcken für das eigene Versagen
demokratischen Bundesstaat, der eine Mischung sein und das Elend auf diesem Erdenball.
Hitler entwickelt sollte aus präsidialem und parlamentarischem Re-
gierungssystem.
Ob er schon in dieser Lebensphase zum besesse-
nen Rassisten wurde, ist historisch nicht gesichert.
sich zum Berlin, die Hauptstadt, war noch zu unruhig, der
Versammlungsort Weimar sollte also kenntlich ma-
Aber er las die Schriften obskurer antisemitischer
Autoren, und er verstand sich als „Großdeutscher“,
Außenseiter chen, dass das neue Deutschland sich rückbesinne ein Gegner also des Habsburgerreichs und Befür-
der Gesell- auf die Tradition der Klassiker – ein Signal für die
Siegermächte, die drei Wochen früher begannen, in
worter einer Vereinigung von Deutschland und
Österreich. Anhänger dieser Idee waren auch An-
schaft – eine Versailles bei Paris über einen endgültigen Friedens-
schluss zu beraten und zu verhandeln.
hänger eines extremen Nationalismus, der sich zu-
dem widerspiegelte in einem tiefen Hass gegen alles
gescheiterte Am 31. Juli nahm in Weimar die Nationalver-
sammlung die neue Verfassung an, mit 262 Jastim-
Jüdische.
Genau dieser Typ Bürger war auch ein gewisser
Existenz auf men gegen 75 Neinstimmen und einer Enthaltung,
wenige Tage später unterzeichnete sie der sozial-
Anton Drexler, Schlosser in der Münchner Eisen-
bahn-Hauptwerkstätte, der auf die Idee kam, man
der Suche nach demokratische Reichspräsident Friedrich Ebert.
Die Verfassung war zwar genuin demokratisch,
müsse endlich einmal eine „richtige“ Partei grün-
den, sollte heißen: eine nichtmarxistische Arbeiter-
Sündenböcken. aber dennoch ein Werk der Kompromisse, weil ihr partei. So entstand, am 5. Januar 1919, die Deutsche
AKG

12 spiegel special geschichte 1 | 2008


Arbeiterpartei (DAP), die sich auch gegen Juden an Stimmen gewannen. Eine glatte Niederlage also WIE IM BÜRGERKRIEG
richtete, weil Drexlers Häuflein sie für Kriegs- für jene gemäßigten Kräfte, die Deutschland her- Im März 1919 herrschte auf
gewinnler hielt. ausführen wollten aus Kriegsfolgen und Revolution Berliner Straßen der
Vielleicht wäre dieser Antisemitismus blass ge- – und hineinlenken wollten in ein ruhigeres Fahr- Ausnahmezustand. Arbeiter
blieben, hätte er sich nicht verbunden mit der Ag- wasser. streikten, Reichswehr-
gressivität einer verlorenen Generation heimge- Oder, noch schärfer akzentuiert: Es schien schon minister Gustav Noske
kehrter, in ihrem Selbstwertgefühl tief verwundeter jetzt das Aus zu sein für jeden Versuch einer groß- setzte Truppen ein, die mit
Frontsoldaten und einer Protesthaltung weiter Be- angelegten Demokratisierung des noch immer ob- schwerem Geschütz gegen
völkerungskreise, die partout Deutschlands Nieder- rigkeitsstaatlich gestimmten Volks. Gesiegt hatten die Streikenden vorgingen.
lage im Ersten Weltkrieg nicht anerkennen wollten. die Enttäuschten, und das Fragile des jungen Staa- Rund tausend Menschen
Und keiner konnte den „Erreger“ aller Übel die- tengebildes zeigte sich an allen Ecken. Rechte putsch- kamen bei den Berliner
ser Welt plastischer beschreiben als er: Hitler. ten und zwangen die Reichsregierung kurzzeitig, März-Kämpfen ums Leben.
Im September 1919 war er Mitglied der Winz- die Hauptstadt zu verlassen, vielerorts erhoben sich
lingspartei geworden und alsbald deren Werbeleiter, die Kommunisten – im Ruhrgebiet wurde ihr Auf-
ein „Trommler“; Hitler, der im Brotberuf für die standsversuch von Reichswehr und Freikorps blutig
Reichswehr Soldaten Nationalistisches und Antibol- niedergeschlagen.
schewistisches eintrichterte, tobte sich aus „über die Terror und Mord hielten die Menschen beständig
Erreger der Rassentuberkulose“, die Juden. in Atem, „blinde Wut und fanatischer Hass“ herrsch-
Gewiss, dieser Mann aus dem österreichischen ten, konstatierte erschüttert der SPD-Vorsitzende
Braunau am Inn hatte den Antisemitismus, der vor Otto Wels. Im August 1921 fiel der Zentrumspolitiker
allem im späten 19. Jahrhundert auf erschreckende und Ex-Reichsfinanzminister Matthias Erzberger
Weise präsent war, nicht erfunden. Aber Hitler radi- einem Attentat zum Opfer, er hatte 1918 das Waffen-
kalisierte ihn in ungeahnter Weise „zu einem biolo- stillstandsabkommen unterzeichnet, das den Ersten
gischen Rassismus“, so der Historiker und Publizist
Peter Zolling – und fand damit schnell Gehör in der GELD OHNE WERT
aufgeheizten Atmosphäre der Weimarer Republik. Nach der Besetzung des

Ruhrgebiets durch
französische und belgische

D
ass die Republik von Beginn an auf schwa- Truppen und nach der
chen Füßen stand, zeigte sich bereits bei der Schließung von Zechen und
Reichstagswahl im Frühsommer 1920, nicht Kokereien durch die Be-
einmal ein Jahr nach Verabschiedung der Verfas- satzer geriet Deutschland
sung. Überraschend verlor die sogenannte Weimarer 1923 in eine schwere
Koalition aus SPD, dem konservativen Zentrum und Wirtschaftskrise. Die Folge
BPK (O.); AKG (U.)

der liberalen Deutschen Demokratischen Partei war eine Hyperinflation.


(DDP) ihre absolute Mehrheit, während ihre Geg-
ner auf dem rechten und linken Spektrum erheblich
spiegel special geschichte 1 | 2008 13
WEIMARS ENDE
Weltkrieg beendete – für viele war Erzberger eine nen freie Entfaltung gewährte. Und deshalb konnte
Symbolfigur der Niederlage. auch die NSDAP, so hieß die DAP seit Februar 1920,
Im Juni 1922 töteten rechtsextreme Offiziere mit zunehmend an Bedeutung gewinnen.
Schüssen aus nächster Nähe den liberalen Außenmi- ™
nister und früheren AEG-Vorstand Walther Rathe-

I
nau – wohl der bedeutendste Politiker jener Zeit, ein m Jahr vier von Weimar versuchte ihr neuer
intellektueller Kopf, der gerade im italienischen Ra- Vorsitzender Hitler das erste Mal, die Macht in
pallo mit den Sowjets einen weitreichenden Vertrag Deutschland zu ergreifen, es war auch das Jahr,
(einschließlich des Verzichts auf Entschädigungen) in dem der rechtskonservative Schriftsteller Arthur
geschlossen hatte – und das erregte unbändigen Zorn. Moeller van den Bruck ein Buch veröffentlichte, des-
Ein auf fünf Jahre befristetes „Gesetz zum sen Titel als Schlagwort jedermann geläufig ist: „Das
Schutze der Republik“, verabschiedet wenige Wo- dritte Reich“. Nach dem ersten, dem Heiligen Römi-
chen nach dem Rathenau-Mord, sollte den demo- schen Reich Deutscher Nation, und dem zweiten,
kratischen Staat wehrhafter machen. Eine wirksame von Bismarck geschaffenen kleindeutschen Reich,
Waffe im Kampf gegen dessen Feinde konnte das das van den Bruck als unvollkommenes „Zwi-
Gesetz freilich schon deswegen nicht werden, weil schenreich“ einstufte, sollte das „Dritte Reich“ der
seine Anwendung einer Justiz anvertraut war, die Deutschen wieder großdeutsch sein – ein Reich mit
noch durchweg der wilhelminischen Zeit entstamm- Österreich.
te – und keinen Hehl machte aus ihrer Sympathie für Und als Heilslehre schloss die Sehnsucht nach ei-
die politische Rechte und ihrer Aversion gegen die nem solchen „Dritten Reich“ die völkische Idee eines
Demokratie. Großdeutschlands ebenso ein wie die Revision des
Die Statistik ist beeindruckend – und gleicher- Versailler Vertrags mit seiner Fixierung einer deut-
maßen ein Beweis der Verwerflichkeit: Bis 1924 schen Alleinschuld am Ersten Weltkrieg und milliar-
brachten rechtsradikale Attentäter mehr als 400 po- denschwerer Reparationszahlungen – die Revision
litische Gegner um, führt Zolling an. In nur 70 Fäl- war nicht nur ein Traum aller Nationalisten. Sie sei,
len gab es Verurteilungen, viele Angeklagte gingen urteilt der Mainzer Geschichtsforscher Andreas Röd-
straffrei aus, konnten rechtzeitig entkommen oder der, das entscheidende „Bewegungsgesetz der Au-
OPFER RECHTEN TERRORS wurden schon bald wieder aus der Haft entlassen. ßenpolitik in der Weimarer Republik“ gewesen.
Der Zentrumspolitiker Linke hingegen, vor allem Kommunisten, be- Hitler plante im November 1923 einen „Marsch
Matthias Erzberger wurde kamen die ganze Härte des Gesetzes zu spüren. Für auf Berlin“, um eben ein solches Reich zu errichten
am 26. August 1921 von 22 Morde ergingen zehn Todesurteile, dreimal ver- und Deutschland endlich zu befreien vom marxis-
Rechtsradikalen bei Bad hängten die Richter lebenslänglich, alle anderen An- tischen Chaos. Sein Vorbild war der italienische
Griesbach im Schwarzwald geklagten kamen für 15 Jahre hinter Gitter. Ermitt- Faschistenführer Benito Mussolini, der es mit dem
erschossen. Außenminister lungen, etwa die gegen die Mörder der KPD-Größen politischen Druckmittel eines „Marschs auf Rom“ ge-
Walther Rathenau ermor- Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, wurden stark schafft hatte, die Regierungsgewalt zu übernehmen.
deten Rechtsextremisten am behindert. Die Zeit schien Hitler deshalb reif, weil Deutsch-
24. Juni 1922 in Berlin. Auch die Justiz, das ist unzweifelhaft, trägt eine lands Wirtschaft immer mehr in der Krise versank.
große Verantwortung dafür, dass die Weimarer Re- Die Kriegslasten waren nun so drückend, dass der
publik letztendlich scheitern sollte – weil sie mithalf Wert des Geldes in rasender Geschwindigkeit verfiel
„an ihrer Überwältigung durch autoritäre und tota- und die Preise nach oben schossen; seither kennt
KOMFORTABLE HAFT litäre Bewegungen“, formuliert der Bonner Ge- die Ökonomie einen neuen Begriff: Hyperinflation.
In der Festungsanstalt schichtsforscher Karl Dietrich Bracher. Über Nacht waren Wohlhabende zu Fürsorge-
Landsberg bewohnte Hitler Bayern übrigens, Hitlers neue Heimat, hatte das empfängern geworden, der Staat, dem viele Bürger
1924 ein helles Zimmer, Republikschutzgesetz nicht anerkannt; inzwischen ihre Ersparnisse mündelsicher anvertraut hatten, hat-
und auch für die Zeitungs- steuerte die Landesregierung einen eindeutigen te seine Schulden gerade auf sie abgewälzt – diesen
lektüre war gesorgt. Rechtskurs, der allen extremistischen Organisatio- Vorgang brandmarkte ein Zeitgenosse als „eine der
größten Räubereien der Weltgeschichte“. Massen-
elend war die Folge, und der Alltag geriet zum
Kampf ums nackte Überleben.
Ironisch-nüchtern beschreibt eine Hauptfigur in
Erich Maria Remarques Roman „Drei Kameraden“
SÜDDEUTSCHER VERLAG (O.); KEYSTONE (M.); ULLSTEIN BILD (U. L.); GHS-ARCHIV (U. R.)

diese Zeit der Beschwernis: „1923 war ich Reklame-


chef einer Gummifabrik … Zweihundert Billionen
Mark hatte ich monatlich verdient. Zweimal am Tag
gab es Geld und jedes Mal eine halbe Stunde Urlaub,
damit man in die Läden rasen und etwas kaufen
konnte, bevor der nächste Dollar-Kurs rauskam –
dann war das Geld nur noch die Hälfte wert.“
Hitlers Putschidee hatte, ganz im Gegenteil zu
der Mussolinis, schwere Webfehler, die schon früh
einen Hinweis auf seinen Größenwahn lieferten. Ers-
tens konnte er sich nicht – wie Mussolini – auf die
Unterstützung Hunderttausender verlassen, zweitens
hätte die Polizei in Preußen – und durch dieses Ge-
biet hätte der Marsch erfolgen müssen – diesen nie
und nimmer gestattet.
So musste sich Hitler begnügen mit einem
„Marsch auf die Feldherrnhalle“ in München, der

14 spiegel special geschichte 1 | 2008


Putschversuch scheiterte kläglich. Den Hochverrats- ordnung des Währungssystems die Inflation gestoppt KULTURLEBEN
prozess gegen ihn und neun weitere Angeklagte hatte – Gustav Stresemann. Das Multitalent von der 1923 malte Wassily
nutzte er weidlich, um gegen Weimar zu hetzen, Deutschen Volkspartei (DVP) erreichte, dass sich Kandinsky sein Bild „Zwei
kaum gebremst von seinen Richtern wilhelminischer Deutschland den früheren Kriegsgegnern, vor allem schwarze Flecke“. Er verließ
Prägung. Frankreich, annähern und schließlich den Weg finden Deutschland 1933. Marlene
Die NSDAP wurde verboten, das Urteil lautete: konnte in die internationale Gemeinschaft des Völ- Dietrich war 1930 die
fünf Jahre Haft, Festungshaft, die angenehmste Form kerbundes – für den Locarno-Pakt, der auch die Ent- Lola in Josef von Sternbergs
eines Gefängnisaufenthaltes, und das Münchner militarisierung des immer noch besetzten Rheinlands „Der blaue Engel“ nach
Gericht verzichtete darauf, die nach dem Republik- vorsah, bekam er 1926 als erster Deutscher den Frie- dem Roman „Professor
schutzgesetz – es galt als Reichsrecht auch im Frei- densnobelpreis. Unrat“ von Heinrich Mann.
staat Bayern – eigentlich angebrachte Ausweisung „Man konnte wieder arbeiten, sich innerlich sam- Die Dietrich emigrierte
zu verhängen. Begründung: Jene Vorschrift dürfe meln, an geistige Dinge denken“, schrieb der Schrift- anschließend in die USA.
keine Anwendung finden bei einem „Mann, der so steller Stefan Zweig. „Man konnte sogar wieder träu-
deutsch denkt und fühlt“, auch sei er geleitet ge- men und auf ein geeintes Europa hoffen. Einen Welt-
wesen „von rein vaterländischem Geiste und dem augenblick schien es, als sollte unserer schwer ge- NS-AKTIVIST GOEBBELS
edelsten, selbstlosen Willen“. Selbstlos, edel, vater- prüften Generation wieder ein normales Leben be- Der spätere Propaganda-
ländisch – deutsch. schieden sein.“ minister engagierte sich in
In Zelle 7 der Haftanstalt Landsberg am Lech, so Und das einzige Mal erlebte der Reichstag in der den zwanziger Jahren in
schildert es Heinz Höhne in seinem Buch „Die Weimarer Republik eine volle Legislaturperiode, von einer Tarnorganisation der
Machtergreifung“, schickte sich dieser deutsche 1924 bis 1928. Für die stürmische Entfaltung eines seit dem Hitler-Putsch
Mann nun an, „auf einer klapprigen Schreibmaschi- neuen Lebensgefühls erfand das Publikum schnell verbotenen NSDAP.
ne sein bisheriges Leben umzuschreiben. Seite um einen plakativen Begriff:
Seite stilisierte er sich zu dem Führer der ‚nationalen „Goldene Zwanziger“.
Bewegung‘ empor, der – von allen Deutschen er- Oder „Roaring Twen-
hofft – nur auf seine Stunde wartet“. „Mein Kampf“ ties“.
sollte er das Pamphlet nennen, ein Zeugnis der Es schien, als bringe
VG BILD-KUNST, BONN 2008; FOTO: AKG (O.L.); ULLSTEIN BILD (O. R.); SPIEGEL TV (U.)

Besessenheit, das lange niemand ernst nahm. ein Labor immer Bes-
Schon im Dezember 1924 kam er wieder frei – und seres hervor. Die Bau-
schnell zu spüren, dass Führerautorität und martia- haus-Architekten, die
lische Sprüche allein die inzwischen in rivalisierende Expressionisten, freche
Gruppen auseinandergefallene NSDAP nur schwer- Chansons und Filme
lich in Schwung bringen konnten. Hitler erwirkte („Metropolis“), die Kult
die Wiederzulassung der Partei gegen das Verspre- wurden. Oder die groß-
chen, nie wieder zu putschen – bei der zweiten Par- artigen Romane eines
teitaufe am 27. Februar 1925 im Münchner „Bürger- Thomas Mann („Der
bräukeller“ schworen ihm 4000 jubelnde Genossen Zauberberg“), Alexan-
auf ewig Treue. der Döblin („Berlin

Alexanderplatz“) oder
Carl Zuckmayer („Der

Z
wischenzeitlich hatte sich die Jungrepublik fröhliche Weinberg“).
einigermaßen erholt, vor allem dank der klu- Frauen schnitten alte
gen Politik eines Außenministers, der schon Zöpfe ab – ihr Bubikopf
zuvor als kurzzeitiger Reichskanzler mit einer Neu- wurde zum Markenzei-
spiegel special geschichte 1 | 2008 15
WEIMARS ENDE
chen. In der Jazzoper Keine andere Aktion hat Hitler dem mittelständi-
„Jonny spielt auf“ sang schen Bürgertum so bekannt gemacht wie diese
der Chor: „Die neue Kampagne, die all die Gefühle von Angst, Ohnmacht
Zeit bricht an / Versäumt und Wut wieder aufpeitschte – eine Seelenlage, die
den Anschluss nicht / Die für einen Großteil der Deutschen verbunden war
Überfahrt beginnt / Ins mit dem Begriffspaar „Versailles“ und „Reparatio-
unbekannte Land der nen“, wobei freilich längst klar war, dass die im an-
Freiheit.“ stehenden Young-Plan festgelegten neuen Zahlungs-
Das Leben als Expe- verpflichtungen deutlich günstiger ausfielen als die
riment, als zu kurzes vorherigen.
freilich. Alle Unbeküm- Auch wenn das Plebiszit scheiterte – jetzt war
mertheit konnte nicht zum ersten Mal die „Nationale Opposition“ beisam-
darüber hinwegtäuschen, men, die Hitler später an die Macht bringen sollte.
dass dieser Aufschwung Der NSDAP-Chef hatte, auch erstmalig, sein takti-
weder mit politischer sches Konzept erprobt, mit dem er von nun an vor
Stabilität zu tun hatte die Wähler treten wollte: konservativ und zugleich
noch mit wirtschaftli- reformerisch zu sein, für Veränderung und für Kon-
chem Aufblühen, son- tinuität, antikapitalistisch und doch gegen Verprole-
dern ein Produkt „unge- tarisierung – raffinierte Antwort auf die restaurativen
heurer seelischer Span- und revolutionären Wunschvorstellungen so vieler
nungen und künstleri- autoritätsgläubiger Deutscher.
scher Schöpfungskraft“ Die Stimmung im Land war, fast durch alle ge-
war, analysiert der Ge- sellschaftlichen Schichten, pro rechts. In Scharen lie-
schichtsforscher Hagen fen Studenten über zur Hitler-Partei, und Bauern in
Schulze. Schleswig-Holstein bombten gegen Regierungsge-
Weil die extremen bäude; sie glaubten, ein Sieg der Nationalsozialisten
Linken und die extremen auf parlamentarischem Weg werde zu lange brau-
Rechten die große Mehr- chen, pure Gewalt war ihnen lieber. Alte Landfrau-
heit der Weimarer Sze- en trugen an ihren Schürzen plötzlich das Haken-
WARNUNG VOR DER nerie bildeten, wurde der sowieso aus scharfer Front- kreuzabzeichen, weil sie überzeugt seien, heißt es in
RECHTEN GEFAHR stellung erwachsene Grunddissens der Deutschen einem Polizeibericht, nur Hitlers Nationalsozialisten
Im Jahr 1932 brachte die noch verstärkt. Die Avantgarde-Kunst von Weimar könnten die „Retter“ aus dem Elend sein.
satirische Wochenzeit- fand weit mehr Gegner als Freunde, Goebbels’ Am 3. Oktober 1929 starb Stresemann, der viel-
schrift „Simplicissimus“ Angriffe auf die „Asphaltkultur“ hatten nicht nur leicht die Wende geschafft hätte, und drei Wochen
eine Karikatur von Adolf ein Echo bei seinen Nationalsozialisten, sondern später gingen vom Börsenplatz New York aus
Hitler und Alfred Hugen- auch in der soliden Bürgerschaft, die etwa auf Schockwellen um den Globus – die Aktienkurse wa-
berg, dem einflussreichen die „Amerikanisierung“ der Kultur mit Befremden ren erdrutschartig eingebrochen. Deutschland traf
rechten Medienmogul. reagierte. dieser Sturz auf viel brutalere Weise als andere eu-
Das Volk war gespalten: zwischen dem Willen zur ropäische Länder, weil es wegen kurzfristiger Kredi-
Modernität und der Angst davor, zwischen Radika- te vollkommen abhängig war vom amerikanischen
lismus und Resignation. Kapitalmarkt.
DER AUSGLEICHENDE Historiker haben die Zeit der Weimarer Republik Eine wieder einbrechende Wirtschaft und das
Gustav Stresemann war in drei Phasen eingeteilt – erst die Krisenjahre mit damit zwangsläufig verbundene Hochschnellen der
Mitbegründer der Deut- zahlreichen Umsturzversuchen, Unruhen und der Erwerbslosigkeit – Anfang 1930 waren gut drei
schen Volkspartei. Als Hyperinflation, dann die „Goldenen Zwanziger“, in- Millionen Personen arbeitslos, also etwa 15 Prozent
Außenminister gelang es nenpolitisch nahezu windstill, außenpolitisch erfolg- aller Arbeiter und Angestellten – radikalisierte die
ihm, die Isolation der reich und von gewisser ökonomischer Stabilität. Und Menschen entscheidend, und der Neid der Bedrück-
Republik aufzubrechen. jetzt begann Phase drei: mit der Weltwirtschaftskri- ten wuchs.
se, dem Aufstieg der Nazis und der Agonie und dem Gleichermaßen radikalisierte sich die Politik: Im-
Tod der Demokratie. mer mächtiger werdende Kreise in Industrie und

Landwirtschaft drängten den Reichspräsidenten Hin-
denburg, doch endlich die Richtung zu wechseln.

E
nde 1928 erließ Hitler neue Richtlinien für die Sie waren das ständige parlamentarische Kräfte-
Propagandaarbeit seiner Partei: Die üblichen spiel leid und machten sich deshalb für eine auto-
Angriffe auf Konservative wurden gestoppt, ritäre Regierung stark, die – unabhängig vom politi-
stattdessen aktivierte er den Kampf gegen Marxis- schen Flickenteppich Reichstag – den für die herr-
mus, die Internationale und das Judentum, es war ein schenden wirtschaftlichen Verhältnisse angeblich zu
Rechtsschwenk großen Ausmaßes. Wer das noch arbeitnehmerfreundlichen Sozialstaat überwinden
nicht verstanden hatte, der musste es begreifen im sollte.
Sommer 1929. Und Hindenburg reagierte, als am 27. März 1930
Alfred Hugenberg, Vorsitzender der Deutsch- die Große Koalition aus Sozialdemokraten und Li-
nationalen Volkspartei (DNVP), ein Medienmogul, beralen an einer scheinbaren Marginalie scheiterte –
hatte den „Reichsausschuss für das deutsche Volks- der Frage, ob der Beitrag eines jeden zur Arbeits-
INTERFOTO (O.); CINETEXT (U.)

begehren“ gegen die „Kriegsschuldlüge“ und den losenversicherung um einen halben Prozentpunkt
Young-Plan gegründet; Hitler holte er mit ins Boot, angehoben werden sollte. Für den zurückgetretenen
und auch einzelne Industriebosse wie etwa den Stahl- SPD-Kanzler Hermann Müller, er war der 11. Regie-
magnaten Fritz Thyssen, der gleich den Flicks oder rungschef seit 1919, installierte Hindenburg einen
den Borsigs die NSDAP finanziell unterstützte. Zentrumsmann der konservativsten Sorte – Hein-

16 spiegel special geschichte 1 | 2008


rich Brüning, ein stets entrückt und blass wirkender ker Eberhard Kolb), seit längerem schon eine bür- STRASSENSCHLACHT
Nationalökonom. gerliche Rechtsregierung um praktisch jeden Preis Während eines SA-
Das Parlament als Gesetzgeber spielte von jetzt an favorisiert, ohne und notfalls gegen das Parlament. Aufmarschs 1932 in
kaum noch eine Rolle, es konnte, wie schon zu Bis- An Hitler dachte er dabei nicht, noch nicht. Eschwege geraten
marcks Zeiten, auf der Suche nach neuen Mehr- Mit der Wirtschaft ging es weiter rapide bergab, Nazis und kommunistische
heiten jederzeit aufgelöst werden, ein Machtwort mehr als ein Drittel der Deutschen lebte mittlerwei- Gegendemonstranten
Hindenburgs genügte. „Die letzte Chance zur Sta- le von der Fürsorge, Hunger und Krankheiten brei- aneinander. Ein Polizist
bilisierung des Weimarer Parlamentarismus“ war teten sich aus. versucht zu schlichten.
dahin, sagt der Augsburger Historiker Andreas Wir- „Morgen für Morgen“, notierte ein Berlin-Besu-
sching, endgültig. cher aus England, „wachen überall in der riesigen,
Als eine der Brüningschen Notverordnungen – taufeuchten, trübsinnigen Stadt junge Männer auf
zur Sicherung der Staatsfinanzen nämlich – an der und beginnen einen neuen arbeitslosen, leeren Tag:
außergewöhnlichen Stimmenkombination von SPD, Schnürsenkel verkaufen, betteln, im Foyer des Ar-
KPD und NSDAP scheiterte, verkündete er die Auf- beitsamtes Dame spielen, sich in der Umgebung von
lösung des Reichstags – und genau dies bedeutete Pissoirs herumdrücken, Klatsch austauschen, fau-
den Durchbruch der Hitler-Bewegung. Die Brüning- lenzen, stehlen.“
Partei holte bei den Neuwahlen am 14. September Viele wussten keinen Ausweg mehr – und brach-
1930 nur 11,8 Prozent der Stimmen, stärkste Partei ten sich um.
blieb zwar die SPD (24,5 Prozent), aber sie hatte Und die innenpolitische Situation eskalierte,
kräftig eingebüßt. wieder einmal. Allein im Juli 1932 starben in Preu-
Zweiter Sieger waren die Kommunisten – mit 13,1 ßen bei Straßenschlachten zwischen Hitlers SA-Hor-
Prozent (plus 2,5). Erster Sieger war eine Partei, die den, die für kurze Zeit nur verboten worden wa-
vier Jahre zuvor lediglich 800 000 Stimmen geholt ren, und kommunistischen Schlägern über 80 Men-
hatte, jetzt aber 6,4 Millionen: Hitlers NSDAP. 18,3 schen. Die Krawalle am „Altonaer Blutsonntag“
Prozent auf einen Schlag, und dies bedeutete auch, (17. Juli) forderten 18 Tote, fast allesamt unschuldige
dass sich fast ein Drittel aller Wähler für ganz links Bürger.
und ganz rechts entschieden hatte. Dieser Wahltag Präsident Hindenburg hatte mittlerweile Brüning
SÜDDEUTSCHER VERLAG (O.); CORBIS (U.R.)

war ein weiterer Tag im schwarzen Kalender deut- entlassen und ihn durch den westfälischen Guts-
scher Irrwege. besitzer Franz von Papen ersetzt, der wie kein Zwei-

ter den Geist der alten preußisch-deutschen Adels- HITLERS VIZE
kaste verkörperte – und der eigentlich den immer Der adelige Gutsbesitzer-

T
atsächlich hatte der Reichspräsident, und mit aggressiver auftretenden Nationalsozialisten den sohn Franz von Papen
ihm die Vertreter des „erstarkenden groß- Wind aus den Segeln nehmen sollte. trat 1933 als Hitlers
agrarisch-schwerindustriell-militärischen Kar- Papen tat erst einmal etwas anderes, um seine Stellvertreter ins Kabinett
tells außerparlamentarischer Opposition“ (Histori- Rechtsregierung zu stärken. Im Juni hatte in Lau- ein.
spiegel special geschichte 1 | 2008 17
WEIMARS ENDE
Hitlers „mächtigste Ver-
bündete“ (Heinrich Au-
gust Winkler).
Jetzt trat General
Kurt von Schleicher auf
den Plan, ein enger
Vertrauter Hindenburgs,
dessen Einflüsterungen
auch bisher schon den
Niedergang der Republik
beschleunigt hatten.
Schleicher hatte im vor-
letzten Umlauf des Re-
gierungskarussells Papen
beerbt. Ihm schwebte,
um Deutschland aus
der Krise zu führen, ein
breites Bündnis aus Mi-
litärs, Gewerkschaftern
und Teilen der NSDAP
vor.
Der entmachtete Pa-
pen konnte noch einmal
kontern, zumal er auch
die Unterstützung ein-
flussreicher Industrieller,
Banker und ostelbischer
HITLERS BRAUNE HORDEN sanne eine Konferenz der Siegermächte beschlos- Grundbesitzer hatte. Um Schleicher zu stürzen, war
SA-Männer fuhren im offe- sen, Deutschland von der Last der Reparationen, bis dem westfälischen Adligen jedes Mittel recht – auch
nen Pritschenwagen durch auf einen kleinen Rest, zu befreien. ein Kanzler Hitler.
Straubing. Die paramilitäri- Die Propaganda um das „Diktat von Versailles“ Weimars letzte Wochen waren eine grandiose
sche Kampforganisation wäre also obsolet geworden. Sein Kabinett brachte, Fehleinschätzung auf allen Seiten – Hitler ausge-
hatte als brutale Schläger- um abzulenken, ein anderes Thema auf den Weg. nommen.
truppe einen wesentlichen Es machte für die ausufernde Gewalt das seit 1918 Vielleicht wäre die Ausrufung des Staatsnotstands
Anteil am Aufstieg der fast ununterbrochen sozialdemokratisch regierte die letzte Rettung gewesen, vielleicht gar eine vor-
NSDAP. Ihr Anführer Ernst Preußen verantwortlich, das „rote“ Preußen – weil übergehende Militärdiktatur. Jedoch, die Schlüssel
Röhm wurde 1934 auf dessen Polizei angeblich zu lasch sei gegenüber den zur eigentlichen Macht schienen „sicher in den Hän-
Befehl Hitlers erschossen. Kommunisten. den der Repräsentanten konservativer Werte zu lie-
Preußen gehörte zu den wenigen Glücksfällen gen“, urteilt der Berliner Historiker Wolfgang Benz.
dieser Republik ohne Fortune, denn das moderne Vorrangig waren das Hugenbergs DNVP, die Reichs-
Preußen zu dieser Zeit war die Hauptbastion der wehr und der „Stahlhelm“, ein einflussreicher Bund
Demokratie, und wer gewillt war, Weimar hinter sich früherer Frontkämpfer.
zu lassen, der musste diese republikanische Bastion Wer, wie der auserkorene Vizekanzler Papen und
schleifen. auch ausländische Beobachter, geglaubt hatte, im
So kam es dann am 20. Juli, drei Tage nach Alto- Amt werde Hitler schon „gezähmt“ und sich sodann
na. Im Handstreich („Preußenschlag“) ließ Papen vom Demagogen zum Staatsmann entwickeln, der
die Regierung absetzen und sich selbst zum Reichs- irrte genauso wie der designierte Wirtschaftsminister
kommissar für Preußen ernennen; an die Stelle des Hugenberg. Der nämlich war überzeugt davon, der
Einige geschassten sozialdemokratischen Berliner Polizei-
präsidenten trat ein Offizier der Reichswehr – Preu-
„österreichische Gefreite“ (Hindenburg) werde nur
eine Nebenrolle spielen können: „Wir rahmen Hitler
glaubten, wenn ßens Polizei, die noch ein Gegner hätte sein kön-
nen, war so gut wie ausgeschaltet.
ein“, es könne „nichts passieren“.
Um 17 Uhr an jenem 30. Januar 1933 fand die
Hitler erst mal Glatter könnte ein Verfassungsbruch nicht vor
sich gehen, aber das, was sich die Strategen Hinden-
erste Sitzung des „Kabinetts der nationalen Kon-
zentration“ unter Hitlers Leitung statt. Hauptthe-
ein Amt habe, burgs und Papens wohl erhofft hatten, blieb aus. We-
der beruhigte sich zu ihren Gunsten das politische
men: Neuwahlen, „Unterdrückung der KPD“, ein
möglicher Generalstreik. Vizekanzler Papen mel-
werde er Klima, noch festigte sich die Stellung der Regierung, dete sich zu Wort. Das deutsche Volk brauche
gezähmt sein ganz im Gegenteil. Bei den Reichstagswahlen weni-
ge Tage später gab es nur einen Sieger – Hitlers
„jetzt Ruhe“, und deshalb sei es „am besten, zu-
nächst vom Reichstag ein Ermächtigungsgesetz zu
und sich vom NSDAP. Sie holte 37,4 Prozent der Stimmen, das
war mehr als eine Verdopplung gegenüber 1930.
verlangen“.
Ermächtigungsgesetz, das hieß im Klartext: Ge-
Demagogen
DEUTSCHES HISTORISCHES MUSEUM

Und die Hitler-Partei drängte weiter massiv an setzgeber sollte die Regierung sein, nicht das Parla-
die Spitze, woran auch ein großer Stimmenverlust bei ment. Und das bedeutete: Schlussoffensive. Mit Adolf
zum den gut drei Monate später angesetzten Neuwahlen
nichts änderte. Weil nämlich die Kommunisten
Hitler, der kein Politiker im herkömmlichen Sinne
war, sondern Revolutionär und Ideologe, mit einem
Staatsmann 600 000 Stimmen hinzugewannen und so die magi-
sche Zahl von 100 Reichstagssitzen erreichten, war
Ziel nur, so Historiker Schulze, die Weltherrschaft
einer überlegenen Rasse zu errichten, „auf den
entwickeln. die Angst des Volks vor einem Bürgerkrieg fortan Knochen der Unterlegenen“. ✦

18 spiegel special geschichte 1 | 2008


O-TON

Der katalanische Schriftsteller Josep Pla über eine Begegnung mit dem
NSDAP-Führer in München im November 1923

HITLERS MONOLOG

Hitler empfing Pla (1897 bis 1981) und den Journalisten Vertreibung. Für Spanien war die Judenfrage eine religiöse
Eugeni Xammar wenige Stunden bevor die National- Frage, für uns ist sie eine rassische Frage. Hier in Bayern ist
sozialisten die Münchner Feldherrnhalle stürmten. In man schon dabei, die Juden auszuweisen, die keine bayeri-
der spanischen Heimat der beiden Besucher war kurz schen Staatsbürger sind. Das ist der erste Schritt zu einer
zuvor der Diktator Primo de Rivera an die Macht allgemeinen Ausweisung.“
gekommen. Plas Bericht erschien am 28. November „Für uns“, fährt Hitler fort, „handelt es sich also um
1923 in der Tageszeitung „La Publicitat“. Auszüge: eine Rassenfrage. Deutschland muss von Deutschen und
mit deutschen Methoden regiert werden. Der Marxismus ist
die Verneinung unseres Geistes, der vor allem anderen na-

E
tional und patriotisch ist. Wir sind Sozialisten, wir interes-
s ist schwierig, Hitler zu treffen. Als echter sieren uns für alle Probleme der Arbeiterklasse, weil sie
Revolutionär führt er ein unstetes, bewegtes und deutsche Probleme sind, aber wir glauben nicht, dass es für
wildes Leben. Aber für uns ist es jetzt einfach. diese Probleme eine andere Lösung geben kann als die an-
Die Tatsache, dass wir spanische Staatsbürger timarxistische, das heißt den Nationalismus. Unsere Partei
sind, verleiht uns derzeit in Bay- heißt Nationalsozialistische Par-
ern moralische Kraft und erweist tei, und dieser Name macht deut-
sich als hilfreich. Wir brauchen lich, wo wir stehen. Wir haben
nur zur Redaktion von Hitlers nichts gegen die Kommunisten
Tageszeitung zu gehen und gleich einzuwenden. Wir haben die
am Eingang vor dem Portier ei- besten Beziehungen zu dieser
ne Hymne auf unseren Diktator Partei. Die kommunistischen Ar-
anzustimmen. In jedem anderen beiter sind keine unreinen Deut-
Land würde man uns für ver- schen, weil der Kommunismus in
rückt erklären, in München wird Deutschland nichts Widernatür-
dies und alles andere geduldet, liches ist. Für den Sieg zählen wir
solange es nur reaktionär ist … auf die Kommunisten. Gleichzei-
„Die politische Situation in tig sind wir entschlossene Befür-
Deutschland“, beginnt Hitler, „ist worter einer Allianz mit Russ-
unter dem Gesichtspunkt der land. Russland wird heute von
Würde unserer Partei, unter dem marxistischen Elementen regiert.
Gesichtspunkt der Würde unse- Die Rolle Deutschlands wird
rer Rasse ganz und gar unerträg- sein, die Regierung dieses großen
lich. Wir sind zu allem bereit, Landes im Osten von diesen Ele-
außer dazu, in diesem schänd- menten zu säubern und dafür zu
lichen, erbärmlichen Zustand zu sorgen, dass in Russland die
verharren. Selbst der Krieg ist fremdrassigen Elemente von den
besser, tausendmal besser als die reinen Elementen beherrscht
Fortdauer dieser erbärmlichen werden. Dann wird die Stunde
Sklaverei. Überall auf der Welt gekommen sein, Seite an Seite
haben die Männer der Ordnung zu marschieren, der großartigen
triumphiert, die Männer der ei- Zukunft entgegen, die vor dem
sernen Faust, die Patrioten, die Hitler posiert in bayerischer Trachtenjacke und Lederhose. deutschen und dem russischen
wahren Freunde ihres Vaterlands. Eine Aufnahme aus dieser Serie war 1926 für ein Titelbild Volk liegt.“
Wir jedoch werden noch immer des „Völkischen Beobachters“ vorgesehen. Die Bilder „Die Politik, die heutzutage
von einer Gruppe unheilvoller wurden jedoch von der NS-Publizistik nie veröffentlicht. mit uns getrieben wird“, sagt Hit-
Experimentierer beherrscht, von ler mit einem Nachdruck, der in
Marxisten und Juden, die vom Ausland gekauft sind. All das direktem Verhältnis zu seinem entfesselten Überschwang
muss ausgetrieben werden. Vor allem müssen wir generell, steht, „hat die moralische und körperliche Verarmung des
mit einer Explosion an allen Ecken des Reiches, das Juden- deutschen Volkes zum Ziel. Man will uns vernichten. Am
problem lösen. Wir werden dieses Problem durch eine Mas- Ende dieser Politik kann natürlich nur der Krieg stehen ...
senvertreibung lösen. Unser Vorbild ist das, was in Spanien der das Erwachen unserer Rasse bedeutet.“
mit den Juden geschehen ist, aber wir werden die spanische
HEINRICH HOFFMANN / BPK

Lösung noch verbessern. Wir werden den Juden nicht die Zitiert nach Eugeni Xammar: „Das Schlangenei. Berich-
Wahl lassen zwischen Konversion und Vertreibung, wie te aus dem Deutschland der Inflationsjahre 1922–1924“.
Spanien es getan hat. Nein. Wir sind schlicht und einfach für Berenberg Verlag, Berlin; 180 Seiten; 21,50 Euro.

spiegel special geschichte 1 | 2008 19


WEIMARS ENDE

Der Historiker Andreas Wirsching über Defizite der Weimarer Republik,


die Rolle des Protestantismus beim Entstehen des Nationalsozialismus und darüber,
warum die Deutschen so anfällig waren für die NS-Ideologie

„WEIT ENTFERNT VON


SIMPLEN ANTWORTEN“
SPIEGEL: Professor Wirsching, vor 75 Jahren wurde Republik hätte die Forderungen schultern können.
Adolf Hitler Reichskanzler – das Ende der Weimarer Aber die psychologische Belastung war ziemlich ver-
Republik war besiegelt. Woran scheiterte die erste heerend, weil die Deutschen sich absolut ungerecht
deutsche Demokratie? behandelt fühlten. Ich möchte aber ganz stark beto-
Wirsching: Es gibt eine Vielzahl von Gründen, ein re- nen, dass die Reparationsfrage ab 1930 bis eben zum
gelrechtes Bündel. Eine kurze und einfache Antwort 30. Januar 1933 nicht mehr im Mittelpunkt stand.
gab einst Otto Braun, der Sozialdemokrat und Der Generationenwechsel spielte sie in den Hinter-
preußische Ministerpräsident. Er sagte: „Weimar ist grund, außenpolitisch wurde die Weimarer Republik
gescheitert wegen Versailles und Moskau“, also we- ja auch Stück für Stück in den Kreis der führenden
gen der außenpolitischen Belastung und der Kom- Mächte wieder aufgenommen.
munisten, die tatsächlich ihren Teil zur Destabilisie- SPIEGEL: Was spielt denn nach Ihren Forschungen
rung beigetragen haben. Heute sind wir weit ent- eine besondere Rolle?
fernt von simplen Antworten. Aber eine der kurzen Wirsching: Entscheidend war die innenpolitische
Antworten wäre: Hitler ist maßlos unterschätzt wor- Polarisierung, die schon im Kaiserreich existierte,
den von den politischen Führungskräften, und der das Freund-Feind-Denken. Für viele war die Revo-
Versuch, ihn einzuspannen für ihre eigenen Zwecke, lution 1918/19 als inneres Ereignis gravierender als
ANDREAS WIRSCHING, schlug bekanntlich grandios fehl. der Komplex Kriegsniederlage/Reparationen. Jene,
Jahrgang 1959, lehrt SPIEGEL: Und die längere Fassung der Geschichte? die der Weimarer Republik später skeptisch gegen-
Neuere und Neueste Wirsching: Der 30. Januar 1933 ist zuerst einmal ein überstanden, empfanden die Revolution als Zäsur.
Geschichte an der politisches Datum, die Ernennung eines Reichs- Für sie war der Stachel der Revolution ein dauer-
Universität Augsburg kanzlers Hitler, und damit wurden andere Möglich- hafter, er konnte auch nicht wirklich vergessen wer-
und ist Autor der auf- keiten aus der Hand gegeben. Es gibt Gründe, die in den. Das sind mentale Dispositionen, die dann in
sehenerregenden der Wirtschaftsentwick-
Studie „Vom Weltkrieg lung liegen, es geht nicht
zum Bürgerkrieg?“ nur um die Weltwirt-
schaftskrise, die Weima-
rer Republik insgesamt
war geprägt von pre-
kären wirtschaftlichen
und konjunkturellen Ab-
läufen. Es gibt vor allem
Gründe, die in der po-
litischen Kultur liegen,
etwa die im Bürgertum
verbreitete Vorstellung
vom Staat, der alles
richtet.
SPIEGEL: Sie haben Otto
Braun zitiert. Für wie
gravierend halten Sie in
diesem Zusammenhang
die Reparationsforderun-
VERSAILLER VERTRAG gen der Siegermächte?
Im Spiegelsaal des Wirsching: Man muss un-
Schlosses von Versailles terscheiden zwischen der
unterzeichnen Außen- materiell-ökonomischen
minister Hermann Müller Seite und der psycholo-
ROBERT BREMBECK (L.); AKG (R.)

und Verkehrsminister gischen. Eine Volkswirt-


Johannes Bell am 28. Juni schaft wie die Weimarer
1919 den Friedensvertrag
mit den Gegnern des Ersten Das Gespräch führten die Re-
Weltkriegs. (Gemälde von dakteure Karen Andresen und
William Orpen, um 1925) Georg Bönisch.

20 spiegel special geschichte 1 | 2008


der Krise nach 1930 der Einstellung Vorschub leis- SPIEGEL: Aber warum führte das gerade in Deutsch-
teten, das Rad könnte zurückgedreht werden auf land in die Katastrophe? „Für mich
eine vorparlamentarische, vielleicht sogar vordemo- Wirsching: Einmal mehr gilt: Die Revolution 1918/19
kratische Lösung. ist entscheidend, sie hat die Dinge ins Rutschen ge- ist völlig
SPIEGEL: Und wenn die Sozialdemokratie unmittelbar
nach dem Ersten Weltkrieg die alten Eliten abgelöst
bracht und in hohem Maße zur politischen Mobili-
sierung geführt, das rechte Lager hat sie regelrecht klar, dass die
hätte?
Wirsching: Teilweise hat sie es ja getan, in Preußen
traumatisiert. So etwas gab es in Frankreich nicht,
auch nicht in England. Die Situation ist einzig zu
völkisch-
etwa. Mir scheinen zwei andere Überlegungen wich-
tiger. Erstens: Es hat keine Sozialisierung der Groß-
vergleichen mit Italien, weil dort ein sehr schwa-
ches parlamentarisches System mitnichten fähig war,
rassistische,
industrie gegeben, im Gegensatz zum Programm der
SPD. Und es gab keine durchgreifende Demokrati-
so etwas wie ein staatliches Gewaltmonopol durch-
zusetzen.
sozial-
sierung der neuaufgestellten Reichswehr. Das waren
Defizite in der sozialdemokratischen Konzeption.
SPIEGEL: Die Zeit zwischen den beiden Weltkriegen
war das Zeitalter der Extremisten in vielen Ländern
darwinistische
Die SPD wollte, ganz wichtig, demokratisch legiti- Europas. Was unterscheidet Deutschland mit Hitler Ideologie
miert handeln, um entsprechend tiefe Einschnitte ge-
rade im Wirtschaftsleben vornehmen zu können. Die
und der NSDAP von Italien, von Frankreich?
Wirsching: Um mit den Nazis anzufangen – für mich der Nazis ein
notwendigen Mehrheiten dafür hat sie nie bekom-
men – und so war der Zug abgefahren.
ist völlig klar, dass ihre völkisch-rassistische, sozial-
darwinistische Ideologie ein deutsches Spezifikum deutsches
SPIEGEL: Wie es scheint, hätte die SPD solche Pläne
nur revolutionär, also mit Gewalt, durchsetzen kön-
ist. Sicher, der Rassismus war vorwiegend ein Im-
portprodukt aus Frankreich …
Spezifikum
nen. Die Angst vor einem Bürgerkrieg, die ständig vor-
handen war, wäre dadurch noch verstärkt worden.
SPIEGEL: … das war Ende des 19. Jahrhunderts …
Wirsching: … aber er ist in Deutschland organisato-
ist.“
Wirsching: Diese Angst, besser gesagt: die Perhor- risch virulent geworden, hat hier den Antisemitismus
reszierung, die dramatisierte Angst vor einem Bür- rassistisch aufgeladen. Und diese Tatsache speiste
gerkrieg, war damals ein gemeineuropäisches Phä- denn auch die NSDAP, aus dieser Tradition kommt
nomen. In Russland gab es einen wirklichen Bürger- auch Hitler. Diesen Ideologiekern gab es in Frank-
krieg, in Deutschland gab es bürgerkriegsähnliche reich so nicht, auch nicht in Italien, zumindest nicht
Zustände mit insgesamt mehr als tausend Toten, in dieser Ausprägung.
ebenso in Italien mit einem ziemlich hohen Ausmaß SPIEGEL: Hatten die Nationalsozialisten ein geschlos-
an Gewalt, in Frankreich war die Angst nicht so stark. senes Weltbild?
Dieses Gegeneinanderstehen, links gegen rechts, war Wirsching: Nein, die NS-Bewegung war immer auch
auch ein gefundenes Fressen für die Republikgegner eine parasitäre, die alles aufnahm und aufsaugte – bis
hierzulande. Das Argument hieß: Der Staat ist zu hin zur Agrarromantik oder den Mythen der deut-
schwach, er kann die Ordnung nicht garantieren. In- schen Nationalgeschichte. Nach 1945 waren das alles
soweit hat das Bürgerkriegsmotiv auch bei den Poli- leere Hüllen, die weggeworfen werden mussten. Das
tikern eine große Rolle gespielt. gab es nicht in anderen Ländern.

RUSSISCHE
REVOLUTIONÄRE
Nach dem Bürgerkrieg in
Russland (1918 bis 1921)
hatten die Bolschewiki ihre
Macht behauptet. Bei der
Demonstration zum 1. Mai
1925 in Leningrad, wie
St. Petersburg seit Lenins
Tod 1924 hieß, fuhren die
Arbeiter mit einer Lenin-
Büste durch die Straßen.
BULLA

spiegel special geschichte 1 | 2008 21


WEIMARS ENDE
Wirsching: Ich glaube, dass dies etwas spezifisch
Deutsches war. Ich glaube sogar, dass es zusammen-
hängt mit dem Luthertum. Schon in der Phase der
Reichsgründung von 1871 und dann nach 1918 waren
viele Protestanten der Auffassung, göttliche Offen-
barung manifestiere und zeige sich in der National-
geschichte. Wenn Sie in das „Deutsche Pfarrerblatt“
ab 1930 schauen, werden Sie sehen: Da wird ständig
diskutiert, was ist an Hitler und dem Nationalsozia-
lismus interessant für uns? Das Datum 30. Januar
1933 bedeutete für breite Teile des protestantischen
Milieus praktisch einen religiösen Aufbruch, denn
der Protestantismus war nach 1918 in gewisser Wei-
se heimatlos geworden; die Monarchen als kirchliche
Landesherren gab es ja nicht mehr.
SPIEGEL: Verlief die Entwicklung auch deswegen in
Frankreich anders?
Wirsching: Ja, dort gab es den Katholizismus, dem die
Vorstellung einer göttlichen Offenbarung in der Na-
tionalgeschichte eher fremd war, und den Republi-
kanismus, innerhalb dessen zwar auch nach einem
starken Mann gerufen wurde, jedoch nicht nach ei-
nem Messias. Der italienische Faschistenführer Be-
nito Mussolini ist das Beispiel eines erfolgreichen
„Erlösers“, was zurückzuführen ist auf die Schwäche
der traditionellen politischen Kräfte.
SPIEGEL: Wenn wir jetzt an den ganz linken Rand
gehen – warum waren die deutschen Kommunisten
radikaler als anderswo?
VEREINIGTE LINKE SPIEGEL: Hat dieses Parasitäre die Partei so attraktiv Wirsching: In Deutschland ist alles viel ideologischer
In Frankreich errang die gemacht für die Deutschen? Oder nicht doch der gesehen worden, viel intensiver als in Frankreich,
Volksfront aus Sozialisten Antisemitismus? für die britischen und italienischen Kommunisten
und Kommunisten bei der Wirsching: Meiner Meinung nach ist der entschei- gilt dies noch mehr. Das Ideologieangebot der Kom-
Wahl zur Nationalversamm- dende Grund für deren Attraktivität, dass die Funk- munistischen Internationale war totalitär und traf
lung im Mai 1936 den Sieg. tionalität der Weimarer Republik einschließlich ihres in Deutschland auf besondere Verhältnisse, die
Mit einem Bildnis des Parteiensystems deutlich nachlässt, 1930 ist sie im seine Rezeption begünstigten. Beides zusammen
neuen Ministerpräsidenten, Grunde genommen schon am Ende. Und die NSDAP hat, was die KPD angeht, eine stärkere Ideologisie-
des Sozialisten Léon versprach in ihrer Propaganda allen alles – den Be- rung bewirkt, und die führte zu einer höheren Radi-
Blum, feierten Anhänger in amten sollte es besser gehen, den Angestellten, den kalität.
Marseille den Triumph. Arbeitern, den Bauern sowieso. Das verband sich SPIEGEL: Welche Rolle spielte dabei die durchgängi-
1932 für ein reichliches Drittel der Wahlbürger zu ge Arbeitslosigkeit?
einer attraktiven Melange, die durchaus eskapisti- Wirsching: Eine große. Dazu kam eine starke Struk-
sche Elemente hatte: Man flüchtete aus der Realität turierung der deutschen Gesellschaft als Klassen-
der Republik, man flüchtete aus dem Versprechen, gesellschaft. Das kann man überhaupt nicht verglei-
die Weimarer Republik könnte die Probleme der chen mit den heutigen Verhältnissen, das kann man
Menschen, die erheblich waren, mit parlamentarisch- auch nicht vergleichen mit der französischen Gesell-
demokratischen Mitteln lösen. schaft, die sehr viel stärker auf Kleinbesitz aufge-
SPIEGEL: Dazu kam dann noch die persönliche Wir- baut war. Es gab eine Sockelarbeitslosigkeit, die eine
kung und Faszination Hitlers. Million kaum je unterschritten hat, und eine Million
Wirsching: Die darf nicht unterschätzt werden. Aber bedeutete damals etwas ganz anderes als in jetzigen
„Die Franzosen ich warne davor, den Aufstieg des Nationalsozialis-
mus und damit die Krise Weimars zu personalisie-
Zeiten. Die Menschen kämpften wirklich ums nack-
te Überleben.
haben aus ren. Dann käme man schnell zu der falschen Über-
legung, der Nationalsozialismus sei etwas Exogenes,
SPIEGEL: In Frankreich hat es ab 1935/36 die Volks-
front gegeben, Sozialisten in der Regierung, von den
dem deutschen fast Metaphysisches, verkörpert durch das Medium
Hitler.
Kommunisten toleriert. Hätte eine solche Konstella-
tion die Weimarer Republik retten können?
Beispiel die SPIEGEL: Er war doch eine Art Medium. Wirsching: Die Franzosen haben ja aus dem deut-

Lehre gezogen Wirsching: Sicher, er hatte Elemente davon. Was er in


Gang setzte, war ein Kommunikationsprozess mit
schen Beispiel die Lehre gezogen – nämlich eine zer-
strittene Arbeiterbewegung tunlichst zu vermeiden.
– nämlich eine der Gesellschaft, die großen Reden, die Massenver-
anstaltungen. Die Gründe für die Attraktivität der
Deren scharfe Spaltung hier ist sicherlich ein Faktor,
der zum Scheitern der Demokratie führte. Eine ge-
zerstrittene NSDAP liegen aber längst nicht nur auf der Ange-
botsseite, sondern auch auf der Nachfrageseite. Die
meinsame Front gegen Hitler – und die Geschichte
wäre anders verlaufen. Doch diese historische Mög-
Arbeiterbewe- Sehnsucht nach Erlösung, nach messianischem Den- lichkeit gab es nicht, die Spaltung der Arbeiter-
KEYSTONE FRANCE / LAIF

ken, wurde von Hitler aufgenommen, er bediente bewegung ist einfach eine Grundtatsache, der man
gung tunlichst dieses Empfinden.
SPIEGEL: Gab es diesen religiösen Führerkult nur in
nicht entkommt.
SPIEGEL: Hat die Weimarer Republik als Sozialstaat
zu vermeiden.“ Deutschland? versagt?

22 spiegel special geschichte 1 | 2008


Wirsching: Versagt nicht, aber sie war überfordert. ein Verlangen nach Autorität, Lenkung und Ord-
Die Weimarer Republik war im Sinne des modernen nung“. Woher kam dieser militärische Affekt?
Sozialstaats avantgardistisch, der Staat übernahm Wirsching: Da spielte der Erste Weltkrieg die ent-
nach der Verfassung die Verantwortung für den Ar- scheidende Rolle. Meist waren es nicht Kriegsvetera-
beitsmarkt, für die soziale Grundsicherung und für nen, die strammstanden, sondern häufig die Jünge-
die Familien, es gab die Erwerbslosenfürsorge, und es ren, die an der „Heimatfront“ sozialisiert worden
gab ab 1927 die Arbeitslosenversicherung. Weimar waren. Das nationalsozialistische Weltbild, hat Sebas-
hätte ein sehr weit entwickelter Sozialstaat sein kön- tian Haffner gesagt, sei nicht in den Schützengräben
nen, aber die Mittel haben gefehlt. ausgeprägt worden, sondern in den Köpfen der da-
SPIEGEL: Dann sind doch bei denen, die Hilfe brauch- heimgebliebenen Schuljungen. Diese Kriegsjugend-
ten, Erwartungen geweckt worden, die wegen der generation, wie man sie genannt hat, hat sich beson-
wirtschaftlichen Lage gar nicht erfüllt werden konn- ders anfällig erwiesen für totalitäres Denken, auch für
ten. dieses soldatisch-paramilitärische Denken. Man darf
Wirsching: Das stimmt, und damit sind wir genau in auch nicht die Kriegspropaganda unterschätzen, die
den langfristigen Abhängigkeiten deutscher Ge- quasi in die Köpfe der Kinder hineingekippt wurde.
schichte, nämlich dass der Staat derjenige ist, von SPIEGEL: Der Faschismus sei deswegen überlegen
dem die Lösung aller Probleme erwartet wird. Die- gewesen, schrieb der Historiker Joachim Fest, weil er
se Mentalität gab es im angelsächsischen Bereich die Zeitkrisen schärfer erfasst habe.
nicht, auch nicht in Frankreich. In Deutschland wird Wirsching: Man kann es auch umdrehen und sagen,
die Erwartungshaltung durch den Ausbau des So- der Faschismus ist selbst ein Symptom der Krise, er
zialstaats gefördert – und dann zwangsläufig ent- ist nicht eine Macht, die souverän Krisenerschei-
täuscht. nungen meistert.
SPIEGEL: Ein Zeichen der Zeit war der Führerge- SPIEGEL: Professor Wirsching, wir danken Ihnen für
danke. Mussolini sagte, mehr „als je haben die Völker dieses Gespräch.

Königsberg

Danzig
Kiel

Rostock

Schwerin
Hamburg Stettin
Neubrandenburg
Bremen Wahlplakate der NSDAP
Wittenberge

Hannover Berlin
Münster Bielefeld
Magdeburg
Halberstadt
Dortmund Cottbus

Düsseldorf Leipzig
Kassel
Köln Weimar Breslau
Siegen Dresden S Ü D D E UT S C H E R V E R L AG

Fulda Plauen
Koblenz
Frankfurt
Würz-
burg
Bamberg
Mann-
heim Braune Stimmenflut
Kaisers- Nürnberg Wähleranteil der NSDAP nach Kreisen
lautern Ansbach Regensburg
bei der Reichstagswahl vom
Saarland* 31. Juli 1932
Stuttgart
5% bis unter 19 %
Ulm 19% bis unter 28%
* bis
1935 unter Völker-
bundverwaltung 28% bis unter 36%
München
Freiburg Rosenheim 36 % bis unter 44%
Quelle: Falter/Lindenberger/
Schumann, „Wahlen und Ab- 44% bis unter 73%
stimmungen in der Weimarer
Republik“

spiegel special geschichte 1 | 2008 23


WEIMARS ENDE

Im Oktober 1929 riss die Finanzkrise an der Wall Street die Weltwirtschaft in den Abgrund.
Die Weimarer Republik traf der Schock schwer. Doch erst die Deflationspolitik der
Regierung Brüning wurde Deutschland zum Verhängnis – und ebnete Adolf Hitler den Weg.

STURZ IN DEN RUIN


Von Alexander Jung

SCHOCKIERTE BÖRSIANER
Der Kurssturz an der New
Yorker Börse Ende Oktober
1929 löste eine weltweite
Wirtschaftskrise aus. In
Europa, Japan, Australien,
überall waren die Aus-
wirkungen zu spüren. Rund
16,4 Millionen Aktien
wurden an einem Tag
verramscht.

Der Kleine

S
chon der Morgen war anders als alle Tage, die tig an Wert, dann schwoll die Bewegung zu einer
Mann, das ist Winston Churchill bisher erlebt hatte. Der Massenflucht an. Jeder Händler wollte nur noch raus
ein Mann, mit spätere Premierminister Seiner Majestät, der aus dem Markt, egal zu welchem Preis.
auf einer Amerika-Reise in New York Station Am Montag setzte sich der Verfall fort, am Diens-
dem man alles gemacht hatte, schaute von seinem Zimmer im Lu- tag sackten die Kurse ins Bodenlose: Rund 16,4 Mil-
machen kann. / xushotel Savoy-Plaza hinaus auf die Fifth Avenue. lionen Aktien wurden an diesem Tag verramscht,
Dort drängten sich die Passanten, Feuerwehrleute ein Rekord, der fast 40 Jahre hielt. Existenzen wur-
Er steht auf eilten herbei, doch sie waren zu spät gekommen. den vernichtet, Träume waren zerplatzt. Das meiste
allen vieren „Direkt unter meinem Fenster hatte sich ein dessen, was in den Jahren zuvor an Papiervermögen
stramm, / bela- Gentleman 15 Stockwerke in die Tiefe gestürzt“, be- aufgetürmt worden war, hatte der Sturm an der Wall
richtete Churchill von der Begebenheit in der Frühe Street fortgeweht.
den mit dem des 25. Oktober 1929. Der Mann, der an diesem „Wenige Menschen verloren jemals so rapide an
Notprogramm, / Freitag in den Tod sprang, gehörte zu den Unglück- Ansehen“, resümierte später der Ökonom John Ken-
lichen, die erst ihr Vermögen verloren hatten und neth Galbraith, „wie die Bankleute von New York in
und wartet auf dann die Nerven. den fünf Tagen vom 24. bis zum 29. Oktober.“
den Schinder. / Später folgte Churchill einer Einladung an die Wall Einen Tag später endete Churchills Besuch in den
Street. Er nahm auf der Besuchertribüne der Börse USA, der Staatsmann nahm das Schiff zurück nach
Er schleppt und Platz, dort machte er seine zweite Grenzerfahrung an England. Es war gleichsam der Aufbruch in eine an-
darbt und nennt diesem Tag. Er wurde Zeuge einer Finanzkrise, wie dere Zeit.
es Pflicht, / sie die Welt noch nicht gesehen hatte. Der Börsenkrach von 1929 war der Auftakt zur
Die Kurse fielen und fielen und fielen, der Ticker ersten Weltwirtschaftskrise, die tatsächlich diesen
denkt nicht an ratterte ohne Unterlass, das Papierband konnte die Namen verdient; ihre Ausläufer waren bis nach Japan
sich und denkt Notierungen gar nicht so schnell ausspucken, wie sie und Australien zu spüren. Sie hat nicht nur zahllose
sanken. Ratlos standen die Händler auf dem Parkett, Menschen und Unternehmen ruiniert, sie hat die
auch nicht / sie sahen aus „wie die Zeitlupenaufnahme eines auf- Weltläufte verändert – und ganz besonders das Ge-
einmal an seine geschreckten Ameisenhaufens“, beschrieb Churchill, schehen in Deutschland. Das „Dritte Reich“, der
Kinder. was er von der Empore beobachten konnte. Zweite Weltkrieg, die Teilung des Landes: All das
Am Tag zuvor war die Verkaufswelle ins Rollen wäre ohne die globale Wirtschaftskrise nicht denkbar
ERICH KÄSTNER, 1931 gekommen. Erst verloren nur einzelne Papiere kräf- gewesen.
DPA

24 spiegel special geschichte 1 | 2008


Natürlich verlief dieser Prozess der Wirklichkeit“ nannte Galbraith KOSTSPIELIGE PROJEKTE
keinesfalls zwangsläufig. Doch die das Phänomen. Friseure, Postboten, Konrad Adenauer, von
wirtschaftlichen Turbulenzen wa- Schuhputzer: Keiner wollte die Ge- 1917 bis 1933 Oberbürger-
ren eine wichtige Voraussetzung legenheit verpassen. Warum auch meister von Köln, nahm
für alles, was politisch folgte. Sie sollten sie zögern, schließlich folg- eine 15-Millionen-Dollar-
veranlassten die Zeitgenossen, ten sie nur den Ratschlägen der Anleihe auf, um die Stadt
manches, was bis dahin als Gewiss- klügsten Köpfe ihrer Zeit. zu verschönern. Nach dem
heit galt, nun doch in Frage zu stel- Der Yale-Professor Irving Fisher Börsenkrach räumte er
len. Das Vertrauen in die Kräfte beispielsweise, damals einer der ein, sich übernommen zu
des Marktes war gänzlich verflo- bekanntesten Ökonomen, meinte haben.
gen, die Hoffnung zerstört, dass zwei Wochen vor dem Crash,
eine „unsichtbare Hand“ am Ende „dass Aktienkurse, wie es scheint,
alles zum Besten richten würde. ein dauerhaft hohes Niveau er-
Nun wurde wieder nach dem Staat reicht haben“. Und im Wahlkampf
gerufen, der intervenieren sollte, 1928 hatte Präsidentschaftskandi-
nach der starken, der ordnenden dat Herbert Hoover bereits froh-
Hand. lockt: „In Amerika sind wir heute
In Amerika brachte die Weltwirtschaftskrise dem Triumph über die Armut näher als jemals zuvor
Franklin Delano Roosevelt hervor und das Kon- in der Geschichte irgendeines Landes.“
junkturprogramm des New Deal – in Deutschland er- Nur wenige behielten einen kühlen Kopf und ahn-
wuchsen aus ihr Adolf Hitler und die Schreckens- ten, dass auch dieser Aufschwung einmal sein Ende
herrschaft der Nationalsozialisten. Selten waren finden würde. Dass die Unternehmen irgendwann
Glück und Unglück zwischen Völkern so ungleich mehr produzierten, als sie verkaufen konnten. Vor al-
verteilt, warum bloß? lem aber: dass es sich bitter rächen würde, wenn die
Kaum ein Land war so stark von der Krise ge- Kunden sich fast alles auf Pump finanzierten – das
troffen wie das Deutsche Reich. Die Erwerbslosigkeit neue Haus, die große Limousine, die modernen
stieg sprunghaft an, von 1,3 Millionen registrierten Küchengeräte. Drei Viertel aller Möbel und mehr als
Arbeitslosen im September 1929 auf mehr als 6 Mil- die Hälfte der Autos haben die Amerikaner damals
lionen Anfang 1933. Fast jede Familie in Deutschland mit fremdem Geld bezahlt.
bekam in irgendeiner Form die Wirtschaftskrise „Früher oder später wird der Crash kommen, und
zu spüren. er kann schrecklich werden“, prophezeite der US-
Und doch traf es die USA noch schlimmer. Dort Ökonom Roger Babson noch im September 1929.
setzte „The Great Depression“ zwar später ein, aber Deutliche Hinweise wurden jedoch nicht ernst ge-
dafür war der Niedergang umso heftiger, und er nommen: das Absacken der US-Automobilproduk-
reichte bis weit in die dreißiger Jahre hinein. Fast drei tion vom Frühjahr bis zum Herbst 1929 um ein Drit-
Jahre dauerte es, bis der Dow-Jones-Index im Juli tel beispielsweise oder der Rückgang der Bauaufträge.
1932 seinen Tiefstand bei 41 Punkten fand – und da- Unvorhersehbar war es also keinesfalls, dass der
nach weitere 22 Jahre, bis er im November 1954 wie- Abschwung bevorstand, auch wenn das wahre Aus-
der das Vor-Krisen-Niveau von 381 Punkten er- maß letztlich jegliche Vorstellungskraft überstieg.
reichte. Wieso also entwickelte sich gerade in Doch jeder, der mahnte und warnte, wurde bloß ver-
Deutschland aus dem ökonomischen Niedergang die lacht, in Amerika wie in Deutschland. Auch hierzu-
politische Katastrophe? lande lebten die Bürger weit über ihre Verhältnisse.
Nach dem Ersten Weltkrieg und seinen fast Der gesamte Aufschwung der Weimarer Jahre war
15 Millionen Toten lag schließlich der Mehrheit der fremdfinanziert, das Reich hochgradig abhängig von
Deutschen wie der Amerikaner nichts ferner, als auf kurzfristigen Auslandskrediten, insbesondere aus den
die Schlachtfelder zurückzukehren. „Nie wieder USA. Mit ihnen bediente es die Reparationenforde-
Krieg!“ lautete das Motto zahlreicher Kundgebungen rungen der Alliierten, jährlich 2,5 Milliarden Reichs-
jener Zeit. mark. In erster Linie aber erforderte die Moderni-
Die Bürger sehnten sich nach Ruhe und Wohl- sierung der kriegsgeschwächten Volkswirtschaft ge-
stand, nach Frieden und Fortschritt. Sie wollten an- waltige Kapitalmengen.
knüpfen an den fulminanten Aufschwung der Vor- Die deutsche Wirtschaft bestritt ihre Nettoinves-
kriegszeit, nunmehr befeuert durch den Treibstoff titionen von 1924 bis 1929 in Höhe von 45 Milliarden
des 20. Jahrhunderts, das Mineralöl. Sie begeisterten Reichsmark fast zur Hälfte mit Geld, das sie sich aus
sich für die neuen Produkte, die ihnen das Leben zu dem Ausland, großenteils aus Amerika, geliehen hat-
erleichtern versprachen: Kühlschränke, Staubsauger, te. Vor allem die aufstrebende Autoindustrie profi-
Radioempfänger – am Band gefertigt und für beinahe tierte vom Kapitalfluss aus Übersee: Ford gründete
jeden erschwinglich. neue Werke in Berlin und Köln, General Motors
Bahnbrechende Technologien wie das Automobil, kaufte 1929 die Adam Opel AG in Rüsselsheim, einen
die Luftfahrt oder der Rundfunk erregten die Phan- von damals noch 17 deutschen Autoherstellern.
tasien der Anleger. Die Hochkonjunktur entfachte Auch die Kommunen hatten sich von Dollar- VORBOTEN DER MODERNE
ein wahres Feuerwerk an den Aktienmärkten. Die transfers abhängig gemacht. Die Städte bauten Neue Produkte versprachen
Aktie der Radio Corporation of America zum Bei- Krankenhäuser, Wohnungen, Straßenbahnnetze, den Menschen in den zwan-
spiel konnte ihren Wert von 1924 bis Herbst 1929 Kläranlagen. Konrad Adenauer, damals Kölner ziger Jahren ein komfor-
verzehnfachen. Stadtoberhaupt, war „der freigebigste unter den tableres Leben. Osram warb
Immer mehr Anleger spekulierten an der Börse, deutschen Oberbürgermeistern“, urteilt der Histo- auf großen Plakaten für
nicht selten kauften sie Aktien auf Pump in der fes- riker Harold James. seine Produkte, im Katalog
ten Erwartung, sie könnten ja mit einem Teil der Noch 1913 zählte seine Verwaltung 2124 Beamte des Berliner KaDeWe wurde
FOTOS: AKG

Kursgewinne die Schulden tilgen. „Massenflucht aus und Angestellte, 1924 waren es schon 4765. Ein Jahr ein Staubsauger vorgestellt.
spiegel special geschichte 1 | 2008 25
heißt es im Vorstandsbericht der Vereinigten Stahl-
werke zum Geschäftsjahr 1929.
Zahlreiche Unternehmen bauten Personal ab. In
Hagen beschäftigte die Eisen- und Stahlindustrie statt
42 000 Mitte 1930 nur noch gut 21 000 Menschen. Die
Arbeitslosenversicherung, 1927 in einer vergleichs-
weise günstigen konjunkturellen Lage gegründet,
rutschte tief ins Defizit.
Je mehr Menschen aber arbeitslos wurden oder
kurzarbeiteten, desto stärker schrumpfte die Nach-
frage nach Waren und Dienstleistungen, die Umsät-
ze von Handelsfirmen sanken erheblich: Möbelhäu-
ser verloren zwischen 1929 und 1932 die Hälfte ihres
Geschäfts, der Textileinzelhandel verzeichnete ein
Umsatzminus von 43 Prozent, vor allem aufgrund der
Preissenkungen. Entsprechend drosselte die Indu-
strie ihre Produktion und deren Zulieferer wiederum
ihre Fertigung. Die deutsche Wirtschaft war gefangen
in einer Abwärtsspirale.
In dieser Situation hätte es einer Person bedurft,
die mutig und entschlossen gegensteuert, die den
Markt mit Geld versorgt und so die Konjunktur auf
Touren bringt. Stattdessen ernannte Reichspräsident
Paul von Hindenburg einen Reichskanzler, der die
Spirale noch enger drehte.
Heinrich Brüning war bei Amtsantritt im März
1930 erst 44 Jahre alt, und doch fehlte ihm der Mo-
dernisierungswille, den ansonsten eine neue Gene-
ration auszeichnet. Mental war Brüning fest im Kai-
serreich verhaftet: ein glühender Nationalist, der im
Ersten Weltkrieg eine Maschinengewehreinheit ge-
führt und die Niederlage nur schwer verwunden hat-
te, privat ein Junggeselle, der als kontaktscheu galt
und asketisch lebte. Für den Historiker Golo Mann
war er „der katholische Bürger mit dem Geist eines
KANZLER BRÜNING später nahm die Stadt eine 15-Millionen-Dollar- Gelehrten, der Seele eines Mönchs zugleich und ei-
Heinrich Brüning war der Anleihe auf. Adenauer wollte Köln zur „Metropole nes Soldaten“.
falsche Mann für die des Westens“ machen: Er ließ den Festungsgürtel Seine wirtschaftspolitischen Vorstellungen waren
Bewältigung der Krise. Statt in eine Grünanlage umgestalten, erweiterte den gewissermaßen Ausdruck seiner Biografie. An obers-
dem wirtschaftlichen Rheinhafen, baute eine neue Rheinbrücke. Nach dem ter Stelle stand für ihn der Abbau der Reparations-
Abschwung gegenzusteuern, Börsenkollaps räumte er ein, dass er sich mit den forderungen. Unter allen Umständen wollte Brüning
bestand er auf einem kostspieligen Projekten übernommen hatte: „Wir Versailles revidieren und das Reich wenigstens von
harten Sparkurs. „Hunger- haben uns bei manchen, insbesondere außeror- dieser finanziellen Kriegsfolge befreien. Die Regie-
kanzler“ wurde er des- dentlichen Ausgaben die Grenzen der finanziellen rung habe dieses Ziel „jeden Tag, in jeder Stunde, in
halb im Volksmund genannt. Leistungsfähigkeit nicht genügend vor Augen ge- jedem Beschluss vor Augen“, versicherte er.
halten.“ Tatsächlich belasteten die Reparationsleistungen
Doch da war es zu spät. Die Amerikaner benötig- von Beginn an die Republik. 1929 machten die Zah-
ten nun jeden Dollar für sich selbst. Der Geldfluss lungen immerhin 17 Prozent des gesamten Werts der
stoppte abrupt, wie sich an der Entwicklung der deutschen Exporte aus. Unzumutbar freilich waren
Emissionen von Auslandsanleihen ablesen lässt: 1928 die Forderungen nicht. Brüning aber stilisierte sie
gewährten die USA dem Deutschen Reich noch Kre- zu einem Kardinalproblem hoch. Er nahm sogar die
dite im Wert von 277,1 Millionen Dollar, ein Jahr Verelendung weiter Teile der Bevölkerung in Kauf,
später waren es gerade noch 29,5 Millionen Dollar. bloß um den Siegermächten zu demonstrieren, dass
„Bei der Das ganze finanzielle Konstrukt, auf dem Weimars Deutschland viel zu arm sei, seinen Verpflichtungen
Wirtschaft ruhte, krachte in sich zusammen. nachzukommen.
großen wirt- Als Erste bekamen die deutsche Exportwirtschaft Wie besessen war Brüning von dieser Idee des Ge-
schaftlichen und die Bauindustrie leidvoll zu spüren, dass es sich sundschrumpfens, das in Wahrheit ein Kaputtsparen
beim Aufschwung nur um eine „Dollarscheinblüte“ war. Der „Hungerkanzler“, als der er bald bezeich-
Not muss jedes gehandelt hatte. Der Wert der ausgeführten Güter net wurde, schlug einen gnadenlosen Deflationskurs
Übermaß sank von 12,3 Milliarden Reichsmark im Jahr 1928 auf ein – und verschärfte die Krise damit noch.
5,7 Milliarden 1932, die Zahl der Beschäftigten in Gespart wurde an allem: an den Ausgaben für
an Feiern und der Bauwirtschaft ging um mehr als 60 Prozent den Wohnungsbau, an Krediten und Subventionen
Vergnügen zurück: von rund zwei Millionen auf 775 000. und vor allem an den Beamtengehältern. Die Staats-
vermieden Investoren stellten Bauprojekte zurück, Unter- bediensteten verzichteten in den Brüning-Jahren auf
nehmer kauften keine neuen Maschinen, weil die 19 bis 23 Prozent ihres Gehalts.
werden.“ Banken ihnen keinen Kredit mehr gaben. „Allent- Zuweilen nahmen die Anstrengungen groteske
ULLSTEIN BILD

halben macht sich der Kapitalmangel in Betriebsein- Züge an: „Bei der großen wirtschaftlichen Not, mit
Aus einer amtlichen Mitteilung
der Regierung Brüning schränkungen und Zahlungsstockungen bemerkbar“, der weiteste Kreise des deutschen Volkes zu kämp-

26 spiegel special geschichte 1 | 2008


WEIMARS ENDE
fen haben, muss jedes Übermaß an Feiern und Ver- gleich: In Frankreich waren es 155, in den USA 133,
gnügen vermieden werden“, wurden die Bürger in in Großbritannien 85.
einer amtlichen Mitteilung aufgefordert. Deshalb Nachdem Weimars Gründerväter den Bürgern ein
werde auch die Regierung gesellschaftliche Veran- Leben „in Schönheit und Würde“ versprochen hat-
staltungen „auf das Mindestmaß“ beschränken. ten, höhnte Joseph Goebbels, Berliner Gauleiter der
Zugleich kletterten die Steuern auf ein beispiel- NSDAP, in seinen Artikeln regelmäßig: „Das Glück
loses Niveau, vor allem Konsumsteuern wurden dras- dieses Lebens in Schönheit und Würde vermochten
tisch erhöht: die Umsatzsteuer, die Tabaksteuer, die nicht länger zu ertragen …“ und fügte die Namen der
Biersteuer, die Zuckersteuer; besteuert wurden sogar Selbstmörder an.
Mineralwasser (mit fünf Pfennig pro Liter) und Li- Der ökonomischen Depression folgte jene des
monade (mit bis zu zehn Pfennig). Gemüts. Die Arbeitslosigkeit entkoppelte die Be-
Niedrigere Ausgaben, höhere Abgaben: Die troffenen vom Rest der Gesellschaft, mit fatalen Fol-
Parallelpolitik würgte die Konjunktur vollends ab. gen, wie die österreichische Sozialpsychologin Marie
In drei Jahren sanken alle volkswirtschaftlich be- Jahoda in ihrer berühmten Studie „Die Arbeitslosen
deutsamen Parameter um mindestens 30 bis 40 Pro- von Marienthal“ herausfand: „Wenn dieses Band
zent: das Bruttosozialprodukt, die Einkommen, der zerrissen wird, dann verlieren sich die Menschen in RECHTE PAROLEN
Konsum, die Investitionen, die Aktienkurse, die Zahl Tagträumen, verlieren ihr Selbstvertrauen und sind Die Deutschnationale
der Erwerbstätigen. Minuszeichen allerorten. bereit, den phantastischen Versprechungen von Volkspartei wandte sich
Die Wirtschaft verlor jeden Schwung, selbst er- Demagogen Glauben zu schenken.“ 1924 auf einem Plakat
hebliche Preisabschläge konnten die Verbraucher In jener Zeit bereiste der amerikanische Jour- gegen den Friedensvertrag
nicht zum Einkauf animieren. Die Preise fielen auf nalist Hubert Renfro Knickerbocker das Land, ein von Versailles, dessen
breiter Front, insbesondere Agrarprodukte wurden Deutschland-Kenner, der für die „New York Eve- Bedingungen viele für den
immer billiger, sie verloren von 1926 bis 1933 im ning Post“ schrieb und 1923 bereits Zeuge von Hit- Niedergang des Landes
Schnitt 57,5 Prozent an Wert. „Die Leute fühlten, wie lers gescheitertem Putsch im Münchner Bürgerbräu- verantwortlich machten.
der Boden unter ihren Füßen nachgab“, beschrieb keller geworden war. Bei einem erneuten Besuch
der österreichische Ökonom Joseph Schumpeter die beeindruckte ihn besonders eine Szene, die er „bei
Dramatik. den Ärmsten der Armen im roten Herzen der rötes-
In der Begründung für ihre brachiale Sparstrate- ten Stadt Deutschlands“ erlebte, in einer Berliner
gie verwendeten Brüning und seine Mitstreiter vor- Kneipe.
zugsweise Metaphern aus Natur und Medizin. Sie Dort hatte von 500 Gästen höchstens jeder Zehn-
verwiesen auf die „Selbstheilungskräfte“ der Wirt- te ein Glas Bier vor sich stehen gehabt, war ihm auf-
schaft: Der kranke Organismus könne sich von ganz gefallen. „Wenn der Deutsche zu arm geworden ist,
allein kurieren, er müsse sich nur selbst reinigen, um sich ein Bier zu kaufen“, folgerte der Journalist, VERNICHTETE EXISTENZEN
sozusagen die Krankheit ausschwitzen. Dazu seien „ist er am Verzweiflungspunkt angelangt.“ Häufig brachte die Krise
Rezessionen durchaus sinnvoll, sie trennten Gutes Doch es kam noch schlimmer. Im Frühjahr 1931 den Ruin. Vor den
vom Schlechten, Produktives vom Unsoliden, da- spitzte sich die Wirtschaftskrise zu, nachdem die Arbeitsämtern standen
nach erblühe die Unternehmenslandschaft prächtiger Österreichische Creditanstalt, die größte Geschäfts- die Menschen – wie
denn je. bank Österreichs, überraschend ein Defizit von hier in 1930 Hannover – in
Aber was nützten den Bürgern alle Verheißun- 140 Millionen Schilling meldete. Anleger in aller Welt langen Schlangen an, in den
gen auf eine strahlende Zukunft, wenn ihre Existenz vermuteten, dass nun auch die deutschen Banken in Krankenhäusern häuften
unmittelbar bedroht war? Große Teile der Ge- Mitleidenschaft gerieten, und zogen Kapital ab. sich Fälle von Unter-
sellschaft litten bittere Not, in den Krankenhäusern Schon lange war die Geschäftslage der Banken ernährung, die Selbstmord-
häuften sich die Fälle von Unterernährung, im Win- angespannt, die Vielzahl der Konkurse hatte sie ge- rate stieg.
ter waren die Wärmehal-
len überfüllt. Überschul-
dete Kommunen muss-
ten Betriebe verkaufen,
es war kein Geld mehr
da für Sportplätze, Thea-
ter, Badeanstalten und
Schulen.
Reihenweise gaben
Einzelhändler ihr Ge-
schäft auf. Sie konnten
die Preise für ihre Waren
noch so senken: Die
Käufer streikten beharr-
lich, allein die staatlichen
Leihämter hatten Hoch-
konjunktur. Katastro-
phenstimmung machte
sich breit – und einige
zogen ihre ganz persön-
liche Konsequenz: 1932
kamen in Deutschland
auf eine Million Ein-
wohner 260, die Selbst-
FOTOS: AKG

mord begingen. Zum Ver-


spiegel special geschichte 1 | 2008 27
BANKROTTE GESCHÄFTE schwächt. In eine ernste Schieflage kamen dann die mittelte Eindruck, der Staat stünde unmittelbar vor
Inflation und mangelnde Dresdner Bank und die Danatbank, nachdem im Juli dem Finanzkollaps – die Bankenkrise zerstörte alle
Kaufkraft der Kunden trieb 1931 ein wichtiger Kunde, der Delmenhorster Nord- Hoffnungen, dass die Depression schnell überwun-
viele Einzelhändler in den wolle-Konzern, zahlungsunfähig geworden war. Die den werden könnte. Als die Briten dann noch im
Konkurs. Reihenweise Geschäftsführung hatte sich beim Kauf von Rohwol- September das Pfund abwerteten, war es mit der
mussten Läden schließen. le verspekuliert. Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie voll-
Nur die Leihhäuser hatten Am Morgen des 13. Juli 1931, es war ein Montag, ends vorbei.
Hochkonjunktur. standen die Kunden der Danatbank vor verschlosse- In einem Geschäftsbericht der Reederei Nord-
nen Türen. Schnell verbreitete sich diese Nachricht, deutscher Lloyd für das Jahr 1931 wird beklagt, dass
bald bildeten sich vor Banken und Sparkassen lange die Abkehr Englands vom Goldstandard „das Ge-
Schlangen. Die Reichsregierung zog die Notbremse: schäft am schwersten betroffen“ habe, „da mit we-
Sie schloss für zwei Tage sämtliche Kreditinstitute. nigen Ausnahmen auf dem Nordatlantik fast alle
Auch nach diesen sogenannten Bankfeiertagen Raten in Pfund Sterling notiert wurden“. Die Folge:
blieben viele Schalter gesperrt. Die Auszahlung von „ein wesentlicher Abbau der Bezüge unserer Land-
Guthaben war eingeschränkt, sofern überhaupt noch und Schiffsangestellten“.
etwas zu holen war: Zwischen Herbst 1928 und Die Freigabe vom Goldstandard wog deshalb so
Herbst 1929 hatten 357 Kreditinstitute und Leihhäu- schwer, weil gleich rund 25 Länder dem britischen
ser Insolvenz angemeldet. Vorbild gefolgt waren. Deutschland dagegen lehnte
Besonders gravierend waren die Folgen der Ban- die Abwertung der Reichsmark ab. „Ich werde bis
kenkrise für die Industrie. Selbst die solidesten Un- zum Letzten gegen jedwede inflationäre Maßnahme
ternehmen bekamen nun die Kreditlinie gekürzt. Be- ankämpfen“, versicherte Brüning vor dem Reichs-
kannte Namen wie die Maschinenfabrik Borsig oder parteiausschuss der Zentrumspartei im November
der Stahlkonzern von Friedrich Flick standen plötz- 1931. Und er werde die Politik des eisernen Sparens
lich vor Liquiditätsproblemen. fortsetzen, kündigte er an, angesichts des Haus-
Das Versagen der Banken hing möglicherweise haltsdefizits habe er keine andere Wahl. War Brüning
Die Banken- auch mit deren „übertriebenem Konservatismus“ also ein Gefangener der Umstände?
krise zerstörte zusammen, vermutet der Historiker James. Er kriti-
siert die „einseitige Vergabe von Bankkrediten
Um diese Frage entzündete sich schon Ende der
siebziger Jahre eine leidenschaftliche Debatte, aus-
alle Hoffnung, hauptsächlich an Großindustrie und Großagrarier“.
Die Geldhäuser hätten überwiegend in absterbende
gelöst hat die Kontroverse der Münchner Historiker
Knut Borchardt. Ein rechtzeitiges Gegensteuern ge-
dass die Industrien investiert statt in Zukunftsbranchen wie
die Elektrotechnik. Dadurch sei die notwendige
gen den Abschwung sei gar nicht möglich gewesen,
behauptet er. Brüning habe sich mit Zwangslagen
Depression Erneuerung aufgehalten worden: „Es genügte also
schon ein leichter Stoß, um ein von Grund auf an-
konfrontiert gesehen, „die so ungeheuerlich gewesen
sind, dass wir auch heute für sie keine wirkliche
schnell
WOLFGANG WIESEBACH / BPK

fälliges Gebilde zum Einsturz zu bringen“, so James. Lösung angeben können“. Der Reichskanzler habe
Ob die Banker wirklich die Hauptverantwortung vielmehr „wahrhaft heroisch“ die Bereinigung durch-
überwunden für die Kreditklemme trugen oder ob eher das leicht- gestanden.
werden könnte. fertige Finanzgebaren mancher Industrieller krisen-
verschärfend wirkte oder aber der von Brüning ver-
Sein Berliner Kollege Carl-Ludwig Holtfrerich wi-
derspricht vehement. Brüning habe durchaus Spiel-

28 spiegel special geschichte 1 | 2008


WEIMARS ENDE
räume besessen, sie aber nicht genutzt. Er habe die Hans Schäffer, Staatssekretär im Finanzministerium,
Zuspitzung der Krise sogar bewusst betrieben. „Mög- einen eigenen Plan zur staatlichen Arbeitsbeschaf-
licherweise hätte eine ein Jahr früher einsetzende fung aus, Volumen: 2,5 Milliarden Reichsmark. Sein
Arbeitsbeschaffungspolitik das politische Schicksal Konzept stand zwar diametral der Auffassung des
Deutschlands in andere Bahnen gelenkt“, meint Reichskanzlers entgegen, doch Schäffer ließ sich nicht
Holtfrerich. beirren. „Kann man es verantworten“, fragte er etwas
Fest steht: Spätestens nach Bankenkrise und pathetisch, „an einer richtigen und zweckmäßigen
Pfundabwertung begannen Persönlichkeiten ver- Lösung, die sozial entlastend und politisch beruhigend
schiedenster Herkunft damit, nach Alternativen wirkt, aus taktischen Gründen vorbeizugehen?“
zur Deflationspolitik zu suchen, allen voran die Kurz darauf schlugen die Gewerkschafter Wladi-
Ökonomen. In den zwanziger Jahren vertrat noch mir Woytinsky, Fritz Tarnow und der SPD-Abge-
eine Mehrheit von ihnen die Auffassung, jede ordnete Fritz Baade ein Konjunkturprogramm vor,
Krise behebe sich von allein, sofern der Markt nur das fortan nach den Initialen ihrer Nachnamen WTB-
frei und unreguliert funktioniere. Und weil sich jedes Plan genannt wurde. Sie plädierten für die öffent-
Angebot seine eigene Nachfrage schaffe, könne liche Beschäftigung von einer Million Menschen;
es gar nicht zu langanhaltender Arbeitslosigkeit Reichsbahn, Reichspost und andere Körperschaften
kommen – bis die Weltwirtschaftskrise das Gegenteil sollten Aufträge im Wert von zwei Milliarden Reichs-
bewies. mark vergeben.
Es war die Stunde von John Maynard Keynes: Selbst in Teilen der Wirtschaft keimten Zweifel an
Der britische Ökonom empfahl in solchen Krisen- Brünings Kurs auf. Am 15. Juli 1931, dem zweiten
situationen, der Staat müsse antizyklisch agieren und „Bankenfeiertag“, versammelte sich in der Berliner
Nachfrage erzeugen. Er könne die Konjunktur durch Dependance der Vereinigten Stahlwerke eine illustre
öffentliche Aufträge oder Arbeitsbeschaffung ankur- Runde zu einer Krisensitzung. „Jede weitere Preis-
beln, bis sie wieder von allein laufe. senkung“, warnte der Schwerindustrielle Peter
Keynes fasste seine Vorstellung 1936 zu einer Klöckner, „würde verpuffen und uns nur schaden.“
Theorie zusammen, doch schon in den Jahren zuvor Die Industriellen kamen überein, dass nur ein ÖKONOM KEYNES
erregte er durch Vorträge und Aufsätze einiges Auf- Arbeitsbeschaffungsprogramm eine Initialzündung In der Krise empfahl der
sehen in der Zunft – und löste heftige Kontroversen geben könnte. Albert Vögler, Vorstandschef der Ver- britische Wissenschaftler
aus. Beide Schulen prallten während einer Konferenz einigten Stahlwerke, sprach sich für „produktive den Regierenden,
Mitte September 1931 in Berlin im Haus der Reichs- Arbeiten“ im Straßenbau aus, der Stahlbaron Fritz antizyklisch zu handeln und
bank aufeinander. Thyssen erwartete, dass die öffentliche Beschäfti- die Konjunktur durch
Die Friedrich-List-Gesellschaft hatte führende Na- gung von einer Million Bürgern die Einstellung einer öffentliche Aufträge oder
tionalökonomen eingeladen, sie sollten die „Mög- weiteren Million nach sich zöge. Arbeitsbeschaffungs-
lichkeiten einer aktiven Konjunkturbelebung durch Es gab also genügend Persönlichkeiten, die früh maßnahmen anzukurbeln.
Investition und Kreditausweitung“ erörtern. Am ers- auf die Unzulänglichkeiten der Deflationspolitik hin-
ten Tag gaben die Neoklassiker den Ton an, der Te- gewiesen hatten – und auf die fatalen gesellschaft-
nor: am besten geduldig abwarten, bis die Wirt- lichen Konsequenzen. Erstaunlich weitsichtig zeigte
schaftskrise durchgestanden ist. sich etwa der Gewerkschaftsführer Anton Erkelenz:
Der zweite Tag begann mit einem Referat von „Wer Hitler bekämpfen will, muss den Deflations-
Wilhelm Lautenbach, einem Oberregierungsrat im prozess, diese gewaltige Zerstörung von Arbeit, Wer-
Reichswirtschaftsministerium. Er hielt ein flammen- ten und Kapital, beenden“, warnte er schon im De-
des Plädoyer für einen Kurswechsel, für Arbeitsbe- zember 1931. Doch es blieben einzelne Stimmen, es
schaffungsmaßnahmen und für staatliche Investitio- wuchs keine gemeinsame Bewegung daraus.
nen. Lautenbach wurde unterstützt vom Finanzöko- Die Politik des „Deficit spending“ hat bei den
nomen Heinrich Rittershausen: Der Staat könne mit großen Parteien und den wichtigen gesellschaft-
öffentlichen Aufträgen die Konjunktur ebensogut lichen Gruppen zu wenig Unterstützung erfahren.
beleben wie die Reichsbank mit der Erhöhung der Nicht einmal die SPD fand den Mumm zu einer
Geldmenge, zu dieser Einsicht sei er nach der Lek- keynesianischen Wende in der Wirtschaftspolitik.
türe neuer Schriften von Keynes gelangt. Die Sozialdemokraten zogen es vor, sich zurück-
Und wie es bei solchen Treffen zuhalten und die angeschlagene SARKASTISCHER ABSCHIED
manchmal passiert: Es entwickelte Regierung Brüning zu stützen. „Adieu, Herr Reichspräsi-
sich eine eigene Dynamik. Ein Kein Wunder, dass der Reichs- dent, und schreiben Sie mir
Wort ergab das andere, die Stim- kanzler hartnäckig blieb. Brüning mal ’ne Ansichtskarte
mung kippte. Selbst Reichsbank- wollte sich nicht „bei den letzten aus dem Dritten Reich“, ließ
präsident Hans Luther, ein bein- hundert Metern vor dem Ziel“, „Simplicissimus“ im Juni
harter Deflationist, zeigte sich wie sein berühmter Ausspruch 1932 den abgetretenen
UPI (O.); KNUD PETERSEN / BPK / KUNSTBIBLIOTHEK, SMB (U.)

plötzlich nachdenklich, ob die har- vom Mai 1932 lautete, von seiner Kanzler Brüning Reichs-
te Tour „diesmal nicht sowohl das Strategie abbringen lassen. Doch präsident Hindenburg
Kranke als vielmehr das Gesun- in Wahrheit war das Rennen zurufen.
de“ treffen könnte. In seiner Au- längst gelaufen.
tobiografie („Vor dem Abgrund“) Hindenburg ließ ihn fallen, das
überschrieb er später freilich das Kabinett Brüning trat am 30. Mai
Kapitel über Brünings Politik mit zurück.
der unmissverständlichen Feststel- Seine Nachfolger Franz von
lung: „Es gab keine Alternative!“ Papen und Kurt von Schleicher
Auch in der Politik wuchsen die blieben nur ein Zwischenspiel,
Zweifel an der Deflationsstrategie. der Weg war frei für Adolf
Nach der Bankenkrise tüftelte Hitler. ✦
spiegel special geschichte 1 | 2008 29
WEIMARS ENDE

Carl Schmitt, Staatsrechtler in der Weimarer Republik und im „Dritten Reich“, war der
Prototyp des gewissenlosen Wissenschaftlers, der jeder Regierung dient, wenn es der eigenen
Karriere nutzt. Wann immer die Nationalsozialisten Menschen beiseiteräumen wollten,
der eitle Professor aus dem Sauerland lieferte ihnen die passende rechtliche Begründung.

MEPHISTO ALS UNTERTAN


Von Thomas Darnstädt

gangen, keine Kriegsgefangenen getötet und keine


Angriffskriege vorbereitet.“
Carl Schmitt war nicht zu fassen. Der Staats-
rechtsprofessor aus dem Sauerland hat die Weimarer
Republik kaputtgeschrieben, den Nazis das passende
Staatsrecht erfunden. Er hat seine Wissenschaft in
den Dienst menschenverachtender Gesetze gestellt,
die Feinde Hitlers entrechtet und den Krieg als
Zweck der Politik verherrlicht. Na und? War das
etwa verboten?
Bis heute beurteilen manche Kollegen den 1985
verstorbenen Rechtslehrer nicht als Nazi-Verbrecher,
sondern als Genie. Und tatsächlich hat der formu-
lierungsmächtige und populäre Wissenschaftler die
Nazis weder herbeigeschrieben, noch war er ur-
sprünglich ein Anhänger Hitlers.
Carl Schmitt war einfach schneller als die Politik
– egal, welche. Er hatte immer die passenden Ideen
schon parat und immer eine griffige Formulierung
drauf. Seine Sätze, sagte einmal bewundernd ein
Kollege, seien gefährlicher als „lautlos explodieren-
de Minen“. Und er war skrupellos genug, die Sätze
jeweils dort zu zünden, wo es ihm am meisten nutz-
te. So wurde er Beispiel einer Generation gewissen-
loser Wissenschaftler, die Hitlers Terrorregime die
Weihen des Wahren verlieh. Die Karriere des furcht-
baren Herrn Schmitt kann als eine mögliche Er-
klärung für das Rätsel dienen, warum die deutsche
Intelligenzija zum großen Teil in das primitive Ge-
brüll des „Führers“ einstimmte.
„Der Führer schützt das Recht“, so einfach war
das in den einfachen Worten des Carl Schmitt. So
erklärte der Gelehrte, dass Hitler bald nach der
Machtübernahme seinen Kontrahenten Ernst Röhm
und die gesamte SA-Spitze bei Nacht und Nebel um-
bringen ließ – und dass er das durfte. „Wir denken
die Rechtsbegriffe um“, feixte der fixe Professor.
Carl Schmitt war ein Verbrecher ganz besonderer
Art. Er paktierte nicht mit dem Reich des Bösen, er
war selbst böse. „Der Mephisto des Staatsrechts“, so
charakterisiert ihn der Frankfurter Staatsrechtler und
Rechtsgeschichtler Michael Stolleis.

G
WORTE ALS WAFFEN anz am Ende, als alles vorbei war, haben Schmitt begann als sehr kleiner Teufel. 1915, im
Die Reden Carl Schmitts die amerikanischen Besatzer den Mann Ersten Weltkrieg, hatte er einen Posten bei der Zen-
waren Frontalangriffe verhaftet und ins Nürnberger Kriegsver- surbehörde in der Münchner Maxburg, Zimmer
auf Demokratie und Rechts- brechergefängnis gesteckt. Da haben sie Nummer 156, Telefonnebenstelle 45. Die Zensur-
staat. Die Nazis beriefen den Gelehrten, der von Anfang an dabei war, immer behörde war eine subalterne Schnittstelle zwischen
sich gern auf den Staats- wieder verhört. Ohne Ergebnis. Schließlich schickten Geist und Gewalt. Genau richtig für einen, der einen
rechtsprofessor. sie ihn nach Hause. „Wegen was hätte ich den Mann Hass auf alles hat. Einen Antrag von Thomas Mann,
anklagen sollen?“, begründete der US-Ankläger Einsicht in ein verbotenes Buch nehmen zu dürfen,
ULLSTEIN BILD

Robert Kempner den überraschenden Schritt: „Er lehnt er ab. Aus Sicherheitsgründen. Dann besorgt er
hat keine Verbrechen gegen die Menschlichkeit be- sich das Buch und liest es heimlich.

30 spiegel special geschichte 1 | 2008


„Wie hasse ich diese Zeit und dieses Land und die-
se Menschen“, notierte er in sein Tagebuch, und
Ausnahmezustand entscheidet.“ Das klingt schon
besser.
„Wie hasse ich
überhaupt: Jedes Jahr lägen die Lebkuchen früher in Bis heute mühen sich die Rechts- und Staatsphi- diese Zeit und
den Geschäften. Schon im November. Unerträglich. losophen, Moraltheoretiker und Politikwissenschaft- dieses Land
Unerträglich seine Gier nach Anerkennung, der ler an diesem mephistophelischen Satz ab. Sollen sie
Sohn eines Kleinbürgers im Sauerland notiert „hefti- doch. Der Satz ist nichts weiter als eine Tautologie. und diese
ge Sehnsucht nach Ruhm und Erfolg“, doch „die Welt Dem Gelehrten Schmitt floss so etwas reihenweise Menschen.“
will mich nicht“. Fazit: „Ich bin ein armer Teufel.“ aus der Feder.
Es sollte Hermann Göring sein, der ihn aus der Der erste Satz eines Werkes, so verriet er, sei das CARL SCHMITT in seinem
Tagebuch
Hölle erlöste und ihn schließlich zum Preußischen Entscheidende. So arbeiten Journalisten – nur dass
Staatsrat machte. Für Schmitt die Erfüllung. die gewöhnlich mehr Skrupel dabei haben. „Der
Doch so weit sind wir noch nicht. Seinen Hass auf Führer schützt das Recht“, das waren auch die ersten
die Welt, sein Gefühl, zu kurz gekommen zu sein, Worte eines Werkes, und in die Gedankengebäude
tobte der junge Professor Schmitt, wie so viele, vor- des skrupellosen Formulierers Schmitt scheinen sie
erst an der jungen Demokratie der Weimarer Repu- auf einmal ganz gut zu passen.
blik aus. Republik war so wie der Frieden von Ver-
sailles: Verrat. Demokratie „kommt von unten“,
Monarchie hingegen „kommt von oben, von Gottes
Gnaden, aus mystischer oder jetzt physischer Er-
höhung. Darin liegt ihre Stärke“.
Um Stärke: Darum ging es. Der Staat hatte stark
zu sein, um die Politik des Souveräns durchzusetzen.
Der Souverän sollte über dem Recht, ja über der
Verfassung stehen, seine Entscheidung schafft die
Norm, wie Gott dem Moses die Gesetzestafeln dik-
tierte. Ein Gottesstaat war es so auch, der dem Ka-
tholiken Schmitt vorschwebte, Vorbild der Staat der
katholischen Kirche, mit einem Papst als Führer, ein
Staat, das war klar, in dem für Kommunisten und
Republikaner kein Platz war, für Juden auch nicht:
„Sie gehen mit allen Kulturen und bleiben selbst
doch nur kleine Schmeichler, sentimentale Diebe,
das Ekelhafteste, was es gibt.“
Das waren ja alles nicht Schmitts Ideen. Der Mann
las zu viel. Und die Literatur, nicht nur die staats-
rechtliche, war voll der Sehnsucht nach dem ver-
lorenen deutschen Reich. Je mehr die kalte junge
Republik Orientierungslosigkeit und Schwäche er-
kennen ließ, desto größer wurde die Sehnsucht nach
dem sicheren Hort nationaler Größe und mystischer
Wärme. Der österreichische Dichter Hugo von Hof-
mannsthal predigte von einer „konservativen Revo-
lution“, hinter dem „Treiben der Untergangspro-
pheten und Bacchanten des Chaos, der Chauvinisten
und Kosmopoliten, der Anbeter des Momentes und
der Anbeter des Scheins“ versprach er „eine neue
deutsche Wirklichkeit, an der die ganze Nation teil-
nehmen“ könne.
Ein schönes Gefühl machte auch die Lektüre der
Traktate der „Reichstheologie“. Das war eine von
der katholischen Kirche gesponserte Gruppierung,
die – Schmitt immer dabei – von der Wiederkehr
des „Sacrum imperium“, des Heiligen Römischen
Reiches Deutscher Nation, träumte. Es fehlte nur die
„rettende Tat“ eines Helden, der das Volk aus dem
Jammertal des Parteienstaats befreit.
„Die Mitte des ewigen Tuns überragt alle Mäch-
te, denn alle Mächte leben durch die Mitte. Die Mit-
te ist das Reich. Darum geschehen in der Welt, in Dass er für den braunen Pöbel einst solche Sätze DIE AUFZEICHNUNGEN
dem Leibe Gottes, alle Ordnungen auf den Ort hin, schmieden würde, hätte sich der Professor an der In seinem Tagebuch –
an welchem das Reich geschieht. Auf das Reich, als Berliner Handelshochschule zuvor selbst nicht zu- verfasst in Gabelsberger
den Täter und Wissenden Gottes, ist die Geschichte getraut. Immer wieder hatte sich Schmitt über Hitler Kurzschrift, 1914 – beklag-
aller anderen Seelentümer angelegt.“ Der Seelen- mokant geäußert, so gar nichts Göttliches hatte der te der junge Carl Schmitt
tümer, der solchen Schwulst verfasste, war nicht Carl Kerl. Schmitt beriet die Innenministerialen der sein Los als „armer Teufel“,
Schmitt, er hieß Friedrich Hielscher und war in den Reichsregierung Papen sogar bei dem Versuch, die der im Leben zu kurz
dreißiger Jahren ein bekannter Autor. Radikalen von KP und NSDAP zu verbieten. In gekommen sei.
Doch Carl Schmitt war es, der den Ungeist seiner letzten Monografie vor der Machtübernah-
auf den Punkt brachte. „Souverän ist, wer über den me, „Legalität und Legitimität“, setzte er die Nazis
spiegel special geschichte 1 | 2008 31
WEIMARS ENDE
gleich mit „Kommunis- mentarischer Mehrheiten den staatlichen Gesetz-
ten, Gottlosen oder was gebungs- und Gesetzesanwendungsapparat ihren
immer“. Interessen dienstbar machen.“
Schmitt stellte sich als Die Parlamentarische Demokratie samt Parteien-
Souverän einen Reichs- wesen, so sah es Schmitt, war die Quelle allen Übels.
präsidenten vor, einen Das Parlament war ein veraltetes Instrument des
Mann wie Hindenburg, bürgerlichen Liberalismus mit seinem Glauben an
nur mit allen Vollmach- Gesetzesbindung und Rechtsstaat. Die konservative
ten. Und er machte all Revolution sollte all dies wegfegen: Dem Liberalis-
seinen Einfluss als mus, tönte Schmitt, werde man „die Totenmaske ab-
Staatsrechtsexperte der nehmen“.
Weimarer Republik gel- Anstelle der „falschen Fassade“ des Parlaments
tend, die Artikel der sollte in Schmitts Staat „echte Repräsentation“ durch
Weimarer Verfassung ex- eine „wirkliche Autorität“ wirken. Voraussetzung sei
zessiv auszuweiten, die allerdings die „Homogenität“ von Repräsentant und
dem vom Volk gewählten Repräsentierten: Dies sei die wahre Demokratie.
Staatsoberhaupt beson- Und dieser Hitler, war er ein Repräsentant nach
dere Befugnisse für den Schmitts Lehre? „Sicher zielte Schmitt nicht auf den
Ausnahmezustand ein- völkischen Führerstaat“, sagt der Staatsrechtshisto-
räumten. Nicht nur das riker Michael Stolleis. Doch – manche nennen es
in Artikel 48 begründete Tragik, andere Ironie der Geschichte – fast alles, was
und zum Schluss heftig Schmitt dachte und schrieb, glaubte und redete, gab
genutzte Notverord- das perfekte wissenschaftliche Unterfutter für das
nungsrecht sollte nach nun folgende dunkelste Kapitel Deutschlands her.
Schmitts Lehre dem Der Rassenwahn: Bei Schmitt war es die Homo-
Reichspräsidenten zuste- genität, die Gleichartigkeit von Volk und Repräsen-
hen – er sollte, so las der tant, die dann zur „Artgleichheit“ mutierte.
Professor die Verfassung, Der Judenhass: Bei Schmitt war es der „Ekel“
FURCHTBARE JURISTEN sogar legitimerweise die Verfassung ändern dürfen. vor den „schmeichlerischen“ Störenfrieden völki-
Der preußische Justiz- War der Reichspräsident – und nicht das Volk – der scher Homogenität.
minister Hanns Kerrl (3. v. r) Souverän, weil er über den Ausnahmezustand ver- Der Unrechtsstaat: Bei Schmitt war es die Ge-
besuchte 1934 die nach fügte? Oder verfügte er über den Ausnahmezustand, ringschätzung der „Legalität“ vor der „Legitimität“
ihm benannte Ausbildungs- weil er – und nicht das Volk – der Souverän war? einer höheren, von der Vorsehung gesendeten Ge-
stätte für NS-Referendare in Schmitts erste Sätze explodierten meistens lautlos – rechtigkeit, die Hochachtung der „wahren Verfas-
Jüterbog. Im Hof vergnügte diesmal nicht. sung“, die, ungeschrieben, Vorrang vor dem Verfas-
man sich damit, das Als Hindenburg im Vollgefühl seiner Souveränität sungstext haben müsse.
Paragrafensymbol am am 30. Januar 1933 Adolf Hitler, obgleich der keine Der Führerstaat: Gerade der Übergang von der
Galgen aufzuhängen. Mehrheit im Parlament hatte, zum Reichskanzler er- verhassten parlamentarischen Demokratie zu der
nannte, war der Lärm der braunen Kolonnen mit durch Akklamation legitimierten Diktatur war nach
ihren Fackelzügen auf den Straßen unerträglich. Un- Schmitt die Verwirklichung „wahrer Demokratie“.
ter den Linden, nicht weit von der Berliner Friedrich-
Wilhelms-Universität, standen am Straßenrand die
Staatsrechtsordinarien und sahen sich den martia-
lischen Aufbruch ins „Dritte Reich“ an. „Schauer“,
berichtete ein Schmitt-Kollege, seien ihm Unter den
Linden über den Rücken gelaufen, wohlige Schauer,
räumte er ein.
An diesem Abend lag Schmitt, damals 44, mit Er-
RASSENHETZE kältung im Bett und ließ sich berichten, was sein
Wenn es um antisemitische Souverän da getan hatte. „Der alte Herr ist verrückt
Propaganda ging, war geworden“, notierte er in sein Tagebuch das Fazit
das Wochenblatt „Der eines Gesprächs mit Vertrauten.
Stürmer“ stets besonders Schmitt hatte sich einen Staatsstreich zu seinen
gefragt. Das Blatt wurde Bedingungen gewünscht. Mehrfach hatte der Exper-
1923 vom NS-Aktivisten te für den Ausnahmezustand sich vor der Macht-
Julius Streicher in Nürnberg übernahme mit Reichswehroffizieren getroffen, um
gegründet. die „konservative Revolution“ zur rettenden Tat wer-
den zu lassen: Der vielgefragte Staatsberater war an
der Vorbereitung eines Notstandsplanes beteiligt, der
BPK (L.); SAMMLUNG RAUCH / INTERFOTO (R.)

die Weimarer Verfassung außer Kraft setzen und das


Parlament entmachten sollte.
Unter dem Beifall seiner Zunft hatte Schmitt stets
gewarnt, der liberale Parlamentarismus sei das In-
strument streitender Parteien und Interessengrup-
pen. Indem sie den Staat paralysierten und sich selbst
blockierten, verliere der Staat „alle Festigkeit“, weil
„irgendwelche – sichtbaren oder unsichtbaren – so-
zialen und wirtschaftlichen Mächte mit Hilfe parla-

32 spiegel special geschichte 1 | 2008


In Schmitts Demokratie sollte gelten, was vom
Zeitpunkt des Ermächtigungsgesetzes an im „Dritten
Reich“ verordnet war: „Alle wollen dasselbe, deshalb
wird in Wirklichkeit keiner überstimmt, und wenn er
überstimmt wird, so hat er sich eben über seinen
wahren und besseren Willen getäuscht.“
Diesen an Jean-Jacques Rousseau angelehnten
Satz schrieb Schmitt schon 1928. Er sollte die Denk-
schablone nicht nur der Hitler-Diktatur, sondern
aller Diktaturen werden, die folgten.
Wie bruchlos der imaginäre Schmitt-Staat in den
real existierenden Hitler-Staat übergehen konnte,
erfuhren der erkältete Professor und seine Freunde
schon am 1. Februar, dem Tag zwei des „Dritten Rei-
ches“. Der „Sender Berlin“ verbreitete in der Sende-
reihe „Aus der Welt der Gelehrten“ ein Interview
mit dem berühmten Carl Schmitt.
Im Kreise befreundeter Kollegen saß der Profes-
sor Schmitt also vor seinem Rundfunkempfänger
daheim und hörte sich selbst sagen: „Das Reich wird
eines Tages vielen Millionen Deutschen eine ein-
fache Selbstverständlichkeit sein.“
So sollte es sein. Die Freunde schauten ihren
Kollegen an, der konnte sich bestätigt sehen, und
alle müssen innerlich übereingekommen sein: Der
Schmitt ist ein kluger Kopf.
Die Anekdote vom Beginn des „Dritten Reiches“
ist von der Schmitt-Forschung überliefert und wis-
senschaftlich belegt. Sie gibt einen Blick darauf frei,
wie es beiläufig passieren konnte, dass der brave und
etwas eitle Herr Schmitt binnen wenigen Wochen
zum engagierten Propagandisten eines verbrecheri-
schen Regimes wurde.
Das Interview, jeder konnte es wissen, war natür-
lich kein Live-Interview, sondern bereits Wochen zu-
vor aufgezeichnet worden. Dass es gleich nach der
Machtübernahme gesendet wurde, war pure Pro-
grammschematik. Und der Schmitt-Kenner weiß,
dass mit dem „Reich“ keineswegs das Nazi-Reich,
sondern jener Traum vom wiedererstandenen „Heili-
gen Römischen Reich Deutscher Nation“ gemeint war.
Schmitt hätte das klarstellen können. Aber war
dies wirklich die Stunde der Differenzierungen?
Zufall: Am selben Tag erschien auch ein Artikel
von ihm mit dem Titel „Weiterentwicklung des tota-
len Staates in Deutschland“. Auch hier war die Welt-
geschichte schneller als die Medien. Der „wissen-
schaftliche“ Aufsatz war schon vor Wochen in die Schmitt wand sich. Er müsste „ein Buch schrei- HERMANN GÖRING
Setzerei gegangen. Es handelte sich um eine Neu- ben“, um so heikle Dinge zu erklären. – hier als Reichsmarschall
fassung eines alten Schmitt-Textes, der Begriff des Vorbei. Carl Schmitt war zu allem bereit. Sein 1941 im Kreise von
„totalen Staates“ hatte nichts mit einem starken Staat nagelneues NSDAP-Parteibuch trug die Nummer Offizieren – beförderte
zu tun, sondern war ursprünglich genau das Gegen- 2098860. den Professor Schmitt
teil, eine Schmittsche Wortprägung im Kampf gegen Carl Schmitt war zu eitel und zu feige, den dunk- zum Preußischen Staatsrat
die Republik, gegen die „totale“ Übernahme staat- len Sinn seiner gefährlichen Wortprägungen zu und sicherte sich so die
licher Angelegenheiten durch die pluralistische Ge- erklären. Keine Zeit für Differenzierungen. Die Mi- Loyalität des einflussreichen
sellschaft und ihre Parteien. nen, die er gelegt hatte, wurden höhererseits hoch- Rechtsgelehrten.
Doch „totaler Staat“ klang so total wie totaler geschätzt, was sollte er sie wegräumen? Schon war
Krieg, und das gefiel Hitler. Schon bald konnte man der „große nationale Staatsrechtslehrer“ ( „West-
das Schmitt-Wort in einem Artikel im „Völkischen deutscher Beobachter“) als „Kronjurist“ der Hitler-
Beobachter“ lesen, und bald darauf machte das Wort Regierung im Gespräch. Der arme Teufel ließ sich die
die Runde bei Kundgebungen und Fachtagungen. Chance, auf dem Zeitgeist ganz oben zu schwim-
Einer der Redner, ein Schmitt-Freund, verkündete men, nicht entgehen. Er sollte einen glänzenden
WALTER FRENTZ / ULLSTEIN BILD

da vor Publikum, „totaler Staat“ sei eine Begriffs- Mephisto abgeben.


prägung des berühmten Carl Schmitt, der habe es al- Am 15. September 1933 war schulfrei. Die Jugend
lerdings ein bisschen anders gemeint. Zum Glück sei Preußens sollte – mindestens am Radio – dabei sein,
der Herr Schmitt anwesend und könne vielleicht net- wenn der Ministerpräsident Hermann Göring den
terweise die „Totalitätsauffassung des nationalsozia- Preußischen Staatsrat eröffnete. Göring, ein Mann,
listischen Staates“ näher erklären. der sich aufs Dekorieren verstand, hatte das macht-
spiegel special geschichte 1 | 2008 33
PREUSSENSCHLAG lose Beratungsgremium erfunden, um Leuten, die vor als Berater des vorletzten Weimarer Kanzlers
Am 20. Juli 1932 fuhren er gebrauchen konnte, den Bauch zu pinseln. Carl Papen in einem Staatsgerichtsverfahren den Putsch
Reichswehreinheiten durch Schmitt gehörte dazu. gegen die SPD-Regierung Preußens erfolgreich ver-
Berlin, um die preußische So war der 15. September auch ein Fest für ihn, teidigt hatte, den „Preußenschlag“, mit dem er sei-
Regierung abzusetzen. Der eine Anerkennung seiner großen Verdienste um das nen Ruf als „Kronjurist“ in heiklen Staatsangele-
Reichskanzler hatte den Reichsstatthaltergesetz zur Gleichschaltung der Län- genheiten begründet hatte. Preußischer Staatsrat,
„Preußenschlag“ angeord- der, bei dem der Professor die Feder geführt hatte. Preußischer Staatsrat, wie das klingt: „Ich bin dank-
net, Rechtsberater war Carl Nun waren alle öffentlichen Gebäude mit dem bar, dass ich Preußischer Staatsrat und nicht Nobel-
Schmitt. preußischen Adler und der Hakenkreuzfahne be- preisträger geworden bin“, erklärte Carl Schmitt
flaggt, zur Neuen Aula der Berliner Universität noch, als der Krieg längst verloren war.
schritt der Gelehrte durch ein Spalier von Unifor- Und nicht Nobelpreisträger. Die hohe Meinung,
mierten der SA, der SS und des Stahlhelm. Das Di- die Carl Schmitt fortan von sich selbst hatte, konnte
Ein Anstifter plomatische Korps unter Führung des Apostolischen an Höhe tatsächlich mit der des größenwahnsinnigen
Der Philosoph Martin Stuhls war angetreten. Hermann Göring konkurrieren.
Heidegger forderte Carl Ouvertüren von Johann Sebastian Bach und Lud- Im Hochgefühl, Macht und Einfluss zu haben, pu-
Schmitt 1933 auf, beim wig van Beethoven untermalten die per Lautsprecher blizierte der eitle Gelehrte immer kühnere, immer
ideologischen Umbau in den Straßen übertragene Festrede Hermann schlimmere Ideen. Vieles davon sollte die Nachwelt
der Universitäten mit- Görings. „Heute“, sprach der große Dekorateur, einst als das Beschämendste einstufen, das je aus der
zuhelfen. Heidegger, „herrscht Festesfreude überall“, dies sei die „Todes- Feder eines deutschen Juristen geflossen ist.
Rektor in Freiburg, fei- stunde“ des Parlamentarismus, die „Auferstehung“ Es ging ja schon los mit dem Reichstagsbrand:
erte die NS-Revolution Preußens. Am letzten Tag ebenjenes Februar, der mit der Ra-
als Rettung des Volkes. Das war etwas für den ewig zu kurz gekommenen diosendung aus der „Welt der Gelehrten“ begonnen
Seine Philosophie pass- Herrn Schmitt. Wie weit war in dieser Stunde die hatte, erging die Notverordnung „zum Schutz von
te zu Schmitts Thesen. Münchner Maxburg, Zimmer 156, Nebenstelle 45, Volk und Staat“, mit der nicht nur die Grundrechte
Statt Gut und Böse entfernt, in der er sich von der ganzen Welt verlas- der Weimarer Verfassung außer Kraft gesetzt, son-
zählt danach nur „Ent- sen gefühlt hatte. dern für den mutmaßlichen Reichtagsbrandstifter
scheidung“ und „Ent- Der Untertan Schmitt erhob sich in der Neuen Marinus van der Lubbe rückwirkend die Todesstra-
schlossenheit“. Wohin Aula von seinem Sitz, streckte die Hand seines rech- fe eingeführt wurde.
solch ein Denken führt, ten Arms nach vorn und schmetterte mit den ande- Die Beseitigung der Grundrechte war Carl Schmitt
zeigt ein späteres Zitat ren ein dreifach herzhaftes „Sieg Heil“. Als wenige ein Anliegen seit langem gewesen, der Verstoß gegen
Heideggers: „Ackerbau Minuten später Schmitt und andere Honoratioren das fundamentale Rückwirkungsverbot, gegen den
ist jetzt motorisierte als Staatsräte auf den „Führer“ vereidigt wurden, Rechtsstaatsgrundsatz „Nulla poena sine lege“ feierte
Ernährungsindustrie, im läuteten gemäß der Regieanweisung Görings in ganz Schmitt ebenso. Es müsse im neuen Reich stattdessen
Wesen dasselbe wie Preußen die Glocken. der Grundsatz „Nullum crimen sine poena“ gelten,
die Fabrikation von Lei- Und der neue Preußische Staatsrat Schmitt fand keine Tat dürfe wegen rechtsstaatlicher Faxen un-
chen in Gaskammern.“ überhaupt nichts dabei, dass er noch zwei Jahre zu- gesühnt bleiben.
AKG

34 spiegel special geschichte 1 | 2008


WEIMARS ENDE
Fanfare auf Fanfare aus der Werkstatt Schmitts liche und gefährliche Weise. Wir lernen wieder un-
untermalte fortan die Zertrümmerung der Weimarer terscheiden. Wir lernen vor allem Freund und Feind Carl Schmitts
Verfassung. Zum Ermächtigungsgesetz, mit dem im richtig unterscheiden.“ Zu den Feinden aber, daran
März der Reichstag entmachtet und damit die Demo- lässt Schmitt keinen Zweifel, gehörten die Juden an Denken hat das
kratie abgeschafft wurde, erschien kurze Zeit später
schon der halbamtliche Kommentar des Kronjuristen
erster Stelle: „Der Jude hat zu unserer geistigen Ar-
beit eine parasitäre, taktische und händlerische Be- Recht in den
Schmitt: Das Gesetz sei ein „Ausdruck des Sieges der
nationalen Revolution“. Das sei ein „Wendepunkt von
ziehung.“
Mehr als 40 Aufsätze in diesem Ton hat der Par-
Ruf gebracht,
verfassungsgeschichtlicher Bedeutung!“ Denn damit
ist der „überlieferte Gesetzesbegriff des parlamenta-
teigenosse Nummer 2098860 in den Jahren zwischen
1933 und 1936 veröffentlicht. So, als müsste er seine
jedem belie-
rischen Gesetzgebungsstaates überwunden“.
Schließlich, Tusch: „Die Weimarer Verfassung gilt
hohe Parteibuchnummer wettmachen, die ihn in den
Augen der alten Kämpfer als „Märzgefallenen“ ent-
bigen Unrecht
nicht mehr.“
Was es bedeutet, sich von der Gesetzesbindung,
larvte, einen, der erst im letzten Augenblick nach den
März-Wahlen der Partei beigetreten war, als dazu
zu dienen.
der größten zivilisatorischen Leistung des neuzeit- kein Bekennermut mehr gehörte.
lichen Rechts, zu trennen, führte Schmitt nach dem Der Hamburger Staatsrechtsprofessor und Rechts-
Röhm-Putsch mit grausamer Konsequenz vor. Drei methodenforscher Hans-Joachim Koch hat später
Tage im Sommer 1934 reichten Hitler, um mit dem das dumpfe Dröhnen im Werke Schmitts untersucht
Konkurrenten Ernst Röhm weitere 84 politische Geg- und zu rekonstruieren versucht. Kochs Urteil: „Ein-
ner umbringen zu lassen. Den ersten politischen Mas- fach Unsinn.“
senmord der Hitler-Diktatur rechtfertigte wenig spä- Tödlicher Unsinn, der noch dazu die ganze Bran-
ter der Gelehrte Schmitt mit seinem Aufsatz über das che in Verruf brachte. Carl Schmitts verantwor-
Recht, das „der Führer“ schützt: Im „Führerstaat“ tungsloses Rechtsdenken hat das Recht in den Ruf ge-
dürften sich Gesetzgebung, Regierung und Justiz bracht, jedem beliebigen Unrecht, selbst dem Jahr-
nicht „misstrauisch kontrollieren“. Der Führer sei es tausendverbrechen der Nazis, zu Diensten zu sein.
vielmehr, der Recht setze und „als oberster Ge- Des Staatsrats mephistophelische Machtgier gilt heu-
richtsherr“ vollstrecken lasse. te als furchtbares Beispiel für die Prostitution der
Hitlers Wort, der Führererlass, hatte allgemein Wissenschaft.
anerkannten Gesetzesrang erst seit Kriegsbeginn. Dabei war der Mann, der sich zu gern als „Kron-
Für Carl Schmitt war das von Anfang an so: „Aus jurist des Dritten Reiches“ bezeichnen ließ, für den
dem Führertum fließt das Richtertum.“ Mit dem Se-
gen wissenschaftlicher Erkenntnis war im Staate Hit-
lers rechtlich vogelfrei, wer der NSDAP missfiel.
Der Staatsrat schrieb: „Wir wissen nicht nur ge-
fühlsmäßig, sondern aufgrund strengster wissen-
schaftlicher Einsicht, dass alles Recht das Recht eines
bestimmten Volkes ist. Es ist eine erkenntnistheore-
tische Wahrheit, dass nur derjenige imstande ist, Tat-
sachen richtig zu sehen, Worte richtig zu verstehen
und Eindrücke von Menschen und Dingen richtig zu
bewerten, der in einer seinsmäßigen, artbestimmten
Weise an der rechtsschöpfenden Gemeinschaft teilhat
und existentiell ihr zugehört.“
Dies war die sehr kultivierte, in Ton traditioneller
Juristensprache formulierte Aufforderung zu dem,
was später als „Endlösung der Judenfrage“ bezeich-
net wurde: zum Holocaust. Dass Schmitt wusste, mit
welchem Feuer er spielte, zeigt später sein Vorschlag
in einer NS-Reformkommission, Paragraf 1 des Bür-
gerlichen Gesetzbuchs zu ändern, der lautet: „Die
Rechtsfähigkeit des Menschen beginnt mit der Voll-
endung der Geburt.“ Das Wort „Mensch“, so der Hitler-Staat nicht viel mehr als ein nützlicher Idiot. NS-APOLOGETEN
Jurist, sollte gestrichen werden, irgendetwas wie Niemand kann sagen, der Staatsrechtsprofessor habe Der Dichter Ernst Jünger,
„deutscher Volksgenosse“ sei besser. So kriegte man die Nazis an die Macht gebracht. ein fanatischer Kriegs-
die Juden aus dem Recht. Der Rechtshistoriker Stolleis kommt zu dem ab- befürworter, traf 1941 mit
„Carl Schmitt schafft die Menschen ab“, höhnte schließenden Urteil: „Nichts von dem, was das NS- Carl Schmitt zusammen.
das SPD-Blatt „Neuer Vorwärts“, aus dem Prager Regime angerichtet hat, wäre ohne Schmitt anders Das Foto mit Jünger
Exil. Als Schmitt 1935 die Nürnberger Rassengesetze gelaufen.“ in Uniform entstand
als „Verfassung der Freiheit“ feierte, gab es niemanden Dass sie ihn nicht brauchen, haben die Nazis bald auf dem Lac de Rambouillet
mehr, der ihm ins Wort hätte fallen können. selbst gemerkt. 1936 setzten die eifersüchtigen Ideo- bei Paris.
Das Herausdrängen der Juden aus der Hoch- logen der NSDAP eine Entmachtung des „Kronjuris-
schullehrerschaft und dem Rechtswesen war dem ten“ Schmitt durch. Der Gelehrte verlor seine Äm-
Professor ein besonderes Anliegen. Es gehe, so sei- ter als Herausgeber der „Deutschen Juristen-Zei-
ne Begründung, halt nicht anders: „In diesen großen tung“, Mitglied der Akademie für Deutsches Recht,
und tiefgreifenden, aber gleichzeitig innerlichen und, Leiter der Reichsfachgruppe der Hochschullehrer im
ich möchte sagen, intimen Wachstumsprozess soll NS-Juristenbund.
sich kein Fremdgearteter einmischen. Er stört uns, Preußischer Staatsrat ist er geblieben, bis es kei-
auch wenn er es vielleicht gut meint, auf eine schäd- nen Staat mehr gab. ✦
spiegel special geschichte 1 | 2008 35
WEIMARS ENDE

Im Kampf gegen die Demokratie kooperierten Kommunisten auch mit Nationalsozialisten.


Besonders eng war die Zusammenarbeit beim Berliner Verkehrsarbeiterstreik vor 75 Jahren.

„NAZIS UND KOZIS“


Von Klaus Wiegrefe

B
erlin, November 1932, zwei Tage vor der nisten dominierte Streikleitung aufgenommen. Ge-
Reichstagswahl. Hunderte Nationalsozialis- meinsam besprach man Maßnahmen gegen Streik-
ten und Kommunisten marschieren an der brecher und Polizei.
Schöneberger Hauptstraße auf. Aber an- Die Berliner konnten auf den Straßen Nazis und
statt aufeinander loszugehen, unterstützen sie Seite Kommunisten beobachten, die in friedlicher Ein-
an Seite einen wilden Streik bei der Berliner Ver- tracht mit ihren Klapperbüchsen für die Streikkassen
kehrsgesellschaft (BVG). ihrer Organisationen sammelten.
Einige Schaffner, Zugführer und Depotarbeiter So ganz überraschend kam die Kooperation zwi-
halten den Dienstbetrieb aufrecht. Als ein Wagen schen Braun und Rot für die meisten Zeitgenossen al-
der Straßenbahnlinie 40 lerdings nicht. Immer mal wieder hatten die Anhän-
sich nähert, brüllt die ger Adolf Hitlers und Josef Stalins gemeinsam agiert,
Menge „Streikbrecher“ bei kleinen Streiks etwa oder dem Volksentscheid in
und „Herunter mit den Preußen 1931.
Bluthunden“. Die Schutz- „Bolschewismus und Faschismus haben ein ge-
polizisten, die auf dem meinsames Ziel: die Zertrümmerung des Kapitalis-
Vorder- und dem Hin- mus und der Sozialdemokratischen Partei“, erklärte
terperron mitfahren, feu- ganz offen der KPD-Abgeordnete im sächsischen
ern erst in die Luft, Landtag Kurt Alfred Sindermann.
dann – als die Radikalen Die Wähler störten sich erstaunlicherweise nicht
angreifen – auch in die an dieser Mischung aus mörderischen Straßen-
Masse. schlachten und gelegentlicher Kooperation gegen die
So wie in Schöneberg Sozialdemokraten, die große Stütze der ausgezehrten
attackieren an diesem Weimarer Republik. Bei den Reichstagswahlen im
Freitag in vielen Teilen Juli 1932 erhielten die Demokratiefeinde aus NSDAP
Berlins Aktivisten von (37,4 Prozent) und KPD (14,5 Prozent) zusammen
NSDAP und KPD ge- mehr als die Hälfte der Stimmen.
meinsam die Polizei, die „Jetzt müssen wir an die Macht und den Marxis-
DUBIOSE ALLIANZ Streikbrecher zu schützen versucht. Der sogenannte mus ausrotten. So oder so!“, notierte Goebbels kurz
Kommunist Walter Ulbricht rote Freitag markiert den blutigen Höhepunkt des darauf in seinem Tagebuch. Doch Reichspräsident
redete auf einer gemein- fünf Tage dauernden Ausstands, bei dem vier Men- Paul von Hindenburg wollte Wahlsieger Hitler nicht
samen Veranstaltung von schen sterben. zum Reichskanzler ernennen. Im September zeich-
Nazis und Kommunisten im Gemessen an den bürgerkriegsähnlichen Verhält- nete sich ab, dass Anfang November erneut ein Ur-
Berliner Stadtteil Prenzlauer nissen gegen Ende der Weimarer Republik, ist diese nengang bevorstand.
Berg am 22. Januar 1931; Bilanz eines verlängerten Wahlwochenendes nicht Für Hitler wie den deutschen KP-Chef Ernst Thäl-
vorn links saß als Zuhörer ungewöhnlich. Hunderte kamen 1932 bei Straßen- mann stellte sich damit die Frage, in welchem Wäh-
Joseph Goebbels. schlachten ums Leben. Doch während sonst Nazis lerspektrum zusätzlich Stimmen zu gewinnen seien.
und Kommunisten einander mit Pistolen, Messern Beide Parteiführungen kamen, so Experte Röhl, zum
oder Totschlägern nach dem Leben trachten, steht gleichen Ergebnis: „unter den Anhängern des jewei-
der Verkehrsarbeiterstreik für einen anderen, viel- ligen Gegners“. Ein Sieg der proletarischen Revolu-
fach vergessenen Strang der Geschichte: das de- tion, behauptete Thälmann, sei „ohne den Einbruch
struktive Zusammenwirken von „Nazis und Kozis“ in die Front der Hitler-Bewegung“ unmöglich. Schon
(SPD-Jargon), das zum Untergang der ersten deut- im Mai hatte er die Devise ausgegeben, „bei der Aus-
In Berlin schen Demokratie beitrug. Und der BVG-Streik ist
dafür ein „Paradebeispiel“ (Historiker Heinrich
lösung von Streiks“ Nationalsozialisten in die Streik-
komitees hineinzunehmen.
sammelten August Winkler). Gründe zum Streiken gab es im Herbst 1932 ge-
Kommunisten Denn organisiert hatten den Ausstand die Arbei-
terorganisationen von KPD und NSDAP. Dahinter
nug. Der damalige Kanzler Franz von Papen wollte
mit Lohnkürzungen zumindest einem Teil der mehr
und Nazis zogen Walter Ulbricht, der KPD-Chef Berlins und
spätere DDR-Gründer, sowie Joseph Goebbels, der
als fünf Millionen Arbeitslosen einen Job verschaffen.
Papen beseitigte weitgehend das geltende Tarifrecht
in friedlicher Berliner Gauleiter der NSDAP, die Strippen.
Das Resultat dieser Zusammenarbeit hat der Pu-
und löste damit eine Welle von Ausständen aus, auch
in der Berliner Verkehrsgesellschaft, dem drittgröß-
Eintracht blizist Klaus Rainer Röhl in seinem Buch „Nähe zum
Gegner. Kommunisten und Nationalsozialisten im
ten Betrieb in Deutschland.
Das ehemalige Vorzeigeprojekt sozialdemokrati-
für ihre Berliner BVG-Streik von 1932“ aufgearbeitet. Ver- scher Kommunalpolitik hatte unter der Wirtschafts-
ULLSTEIN BILD

treter der „Nationalsozialistischen Betriebszellen- krise schwer gelitten. Knapp 6500 der einst 28400 Be-
Streikkassen. Organisation“ (NSBO) wurden in die von Kommu- schäftigten waren entlassen worden; gleich sechsmal

36 spiegel special geschichte 1 | 2008


hatte die BVG-Direktion
die Löhne gekürzt oder
die Arbeitszeit zurück-
gefahren, wohlgemerkt
ohne Lohnausgleich.
UO-Tage nannte sich das
– Urlaub ohne Bezah-
lung. Kein Wunder, dass
die Arbeiter empört rea-
gierten, als die BVG-Di-
rektion im Oktober 1932
erneut die Stundenlöhne
senken wollte. Da half es
auch nicht, dass die zu-
ständige Gewerkschaft
die geplante Kürzung
von 23 auf 2 Pfennig her-
unterhandelte.
Die Kommunisten
sprangen zuerst auf den
Zug auf und trommelten
für eine Urabstimmung,
bald schlossen sich ande-
re an, darunter auch die
NSBO. Gauleiter Goeb-
bels: „Viele bürgerliche
Kreise werden durch un-
sere Teilnahme am Streik
abgeschreckt. Das ist aber nicht das Entscheidende. ben der Führersitze ein und verprügelten Fahrer wie STILLSTAND IN BERLIN
Diese Kreise kann man später sehr leicht wieder- Schaffner. Von den 271 eingesetzten Straßenbahn- Während des Streiks der
gewinnen; hat man aber den Arbeiter einmal ver- wagen wurden an diesem Tag 165 teilweise schwer Berliner Verkehrsbetriebe
loren, dann ist er auf immer verloren.“ beschädigt. „Die streikenden Arbeiter sind zu akti- bauten Kommunisten und
Am 2. November votierten 14 471 Arbeiter für den vem Terror gegen die Streikbrecher übergegangen“, Nazis Barrikaden, rissen
Ausstand, nur knapp 4000 dagegen. Nach der Sat- notierte Goebbels. Bei Einbruch der Dunkelheit stell- Strommasten aus und
zung der zuständigen Gewerkschaft reichte diese te die BVG den Betrieb vollkommen ein. blockierten Fahrwege.
Zweidrittelmehrheit zwar nicht aus, zumal nicht nur Trotzdem zeichnete sich bereits an diesem Abend
Gewerkschaftsmitglieder abgestimmt hatten, aber das Scheitern ab. Eine Ausweitung des Streiks war
das interessierte nun niemanden mehr. ausgeblieben. Die S-Bahn, die der Reichsbahn un-
Noch in der Nacht ließen Ulbricht und Goebbels terstand, fuhr weiterhin, und damit brach auch der
Genossen mobilisieren und Streikposten einteilen. Verkehr in Berlin, wie von Goebbels und Ulbricht er-
Der sogenannte Massenstreikschutz sollte den Ein- hofft, nicht zusammen. Vor allem aber drohte Reichs-
satz Arbeitswilliger verhindern, was freilich nicht ganz kanzler Papen mit dem Einsatz aller „Machtmittel
gelang. Die Streikenden rissen Stromstangen herun- des Staates“ und ließ die gesamte Berliner Schutzpo-
ter, bauten Barrikaden und gossen Weichen mit Ze- lizei mobilisieren. Da Hitler den Eindruck aufrechter-
ment aus. Stolz schickten „revolutionäre Arbeiter halten wollte, er strebe auf legalem Wege in die Reichs-
der BVG“ vom Straßenbahnhof 24 in Lichtenberg kanzlei, zog sich die SA noch in der Nacht zurück.
an die Moskauer „Prawda“ eine Grußbotschaft als Die NSBO verblieb in der Streikleitung, aber die
„Beweis der engen Verbundenheit mit euch“. Gewalt ging nun deutlich zurück. Und nachdem die
Die jeweilige Basis der beiden Parteien hatte kei- BVG-Direktion die ersten tausend fristlosen Kündi-
ne Schwierigkeiten mit der ungewohnten Koopera- gungen zugestellt hatte – damit entfiel der Anspruch
tion, obwohl man sich sonst die Köpfe einschlug. auf die karge Arbeitslosenunterstützung –, bröckel-
Über die Gründe des reibungslosen Zusammen- te überall die Streikfront. Die Verkehrsarbeiter wür-
gehens lässt sich nur spekulieren. Früher glaubten den „um Wiederaufnahme betteln“, schimpfte ein
Wissenschaftler, Anhänger von KPD und NSDAP KPD-Funktionär. Am Dienstagmorgen fuhren Stra-
hätten öfter die Lager gewechselt; sogar ein Teil des ßenbahnen, Omnibusse und U-Bahnen wie gewohnt.
SCHERL / SÜDDEUTSCHER VERLAG (O.); SÜDDEUTSCHER VERLAG (U.)

SA-Sturms sei aus ehemaligen Kommunisten gebildet Obwohl der Ausstand am Ende den Streikenden
worden. Doch dafür haben sich keine Belege finden außer Toten und Verletzten nichts eingebracht hatte,
lassen. War es also nur die Parteidisziplin, der brau- schienen die Kommunisten profitiert zu haben. Die
ne und rote Genossen folgten? KPD gewann jedenfalls am Wahlsonntag 2,4 Prozent
Am Morgen des Freitags spitzte sich die Situation der Stimmen hinzu, während die Nationalsozialisten
zu. Vor dem Depot in der Belzigerstraße, dann auch deutlich verloren.
am Rudolf-Wilde-Platz und in der Martin-Luther- Und dennoch hat sich für die Kommunisten die AGITATOR GOEBBELS
Straße bedrängten Hunderte Kommunisten und punktuelle Allianz mit Hitler, für die der BVG-Streik Um die Arbeiter für die
Nationalsozialisten die anrückende Schutzpolizei. das Paradebeispiel ist, nicht ausgezahlt. Die verhasste NSDAP zu gewinnen, befür-
Mehrfach feuerten Polizisten, die sich auf Notwehr Weimarer Republik ging zwar im Januar 1933 end- wortete der spätere Pro-
beriefen, in die Menge. gültig zugrunde. Doch an ihre Stelle trat das braune pagandaminister die
In den Hochburgen der SA wie der KPD blockier- Reich, in dem KPD-Mitglieder verfolgt und ermordet gemeinsame Streikfront
ten Streikende die Fahrbahnen, warfen die Schei- wurden. ✦ mit den Kommunisten.
spiegel special geschichte 1 | 2008 37
In der Weimarer Republik tobte ein Kampf in der Jugend um ihren Platz in der Gesellschaft.
Die Nationalsozialisten machten sich den Frust der nachwachsenden Generation zunutze.

„MACHT PLATZ, IHR ALTEN“


Von Jan Friedmann

W
JUNGE PARTEI eil wir die echten, wahren und uner- ten Stimmen der völkischen Jugendbewegung, die
1925 gründete sich nach bittlichen Feinde des Bürgers sind, während der Weimarer Republik maßgeblich den
Hitlers Festungshaft die macht uns seine Verwesung Spaß“, Weg in die Diktatur ebnete.
NSDAP in München neu. höhnte der Rebell und Jugendführer. Wie schon die Turner und Burschenschafter im 19.
Neben Hitler (Jahrgang Was wie eine Parole von 1968 anmutet, ist ein Satz Jahrhundert und später die 68er fühlte sich die männ-
1889) sitzen am Tisch: von Ernst Jünger über sich selbst und seine Alters- liche Jugend von Weimar dazu berufen, das Land zu
Alfred Rosenberg (1893), genossen aus dem Jahr 1929. retten. Doch im Unterschied zu allen Vorgängern
Walter Buch (1883), Franz „Wir sind Söhne von Kriegen und Bürgerkrie- und Nachfolgern konnten diese Radikalen nach 1933
Xaver Schwarz (1875), gen“, fuhr der Rechtsintellektuelle in seinem Gene- ihre utopistischen Pläne ungebremst in Taten um-
Gregor Strasser (1892) und rationenporträt fort. Eines Tages werde es gelingen, setzen. Mit ihrem geschlossen antiliberalen und
Heinrich Himmler (1900). die bestehende „krustige, schmutzige Decke wegzu- antisemitischen Weltbild marschierten sie durch die
sprengen“ und darunter eine „stolzere, kühnere und Institutionen. Das macht die jungen Völkischen zur
noblere Jugend“ zum Vorschein zu bringen, die „Aris- wirkungsmächtigsten Jugendbewegung in der deut-
tokratie von morgen und übermorgen“. schen Geschichte.
Dem Schriftsteller, Studienabbrecher und Frei- In keinem anderen Jahrzehnt prallten die Gene-
BETTMANN/CORBIS

schärler war die bürgerliche Demokratie genauso rationen so heftig aufeinander wie in den zwanziger
verhasst wie vielen Menschen seiner Generation. Jahren. „Macht Platz, ihr Alten!“, schleuderte der
Jünger, Jahrgang 1895, wurde eine der prominentes- Reichspropagandaleiter der NSDAP, Gregor Strasser,

38 spiegel special geschichte 1 | 2008


WEIMARS ENDE
im Jahr 1927 dem Establishment der Weimarer Re-
publik entgegen. „Macht Platz, ihr Unfähigen und
Schwachen, ihr Blinden und Tauben, ihr Ehrlosen
und Gemeinen, ihr Verräter und Feiglinge, macht
Platz, ihr seid gewogen und zu leicht befunden
worden.“
Ihren ideologischen Fundus hatte sich die selbst-
bewusste Avantgarde in den Schützengräben des Ers-
ten Weltkriegs angeeignet. Tatsächlich waren es zwei
Generationen von Jugend, die dort geprägt wurden.
Da waren zum einen die Jahrgänge der zwischen
1880 und 1900 Geborenen, die eigentliche Front-
generation. Angetreten in rauschhafter Begeisterung,
erlebten sie den Krieg als ungeheure Schlachtbank:
Jedem Meter an Bodengewinn gingen stundenlange
Bombardements durch Flugzeuge und schwere Ge-
schütze voraus, die neuentwickelten Panzer walzten
durch die Krater. Jeder dritte der zwischen 1892 und
1895 geborenen deutschen Männer verlor hier sein
Leben.
So schlossen die Überlebenden: Nur wer in der
Gemeinschaft funktioniert und sich im Gegenzug auf
die unbedingte Kameradschaft seiner Mitkämpfer
verlassen kann, hat eine Chance. Der Einzelmensch
gilt nichts, erst im Kollektiv der feldgrauen Unifor-
men wird er zu einer Macht.
Doch die Heroisierung der Härte und des Opfers
prägte auch die Jüngeren. Sie absorbierten die kai-
serliche Kriegspropaganda, die Durchhalteparolen
der Lehrer und Amtsleute, sie glaubten an die Dolch-
stoßlegende. Ein regelrechter Jugendkult entstand
um die verlustreichen Infanterieangriffe auf das bel-
gische Langemarck, bei denen Tausende deutsche
Kriegsfreiwillige, Studenten und Schüler, im Herbst
1914 ins Maschinengewehrfeuer gerannt waren. „Die
Studenten, mit denen ich mich in jener Kompanie zu-
sammenfand, waren alle bei Langemarck dabei ge-
wesen“, so der rechtsextreme Schriftsteller und Frei-
korps-Kämpfer Ernst von Salomon, Jahrgang 1902,
„wenn nicht tatsächlich, so doch symbolisch.“
Der Malus, für den Krieg zu spät dran gewesen zu
sein, machte die Jüngeren nur noch radikaler. Die politischen Parteien schufen sich solche Nebenorga- VERRATENE IDEALE
Niederlage diente ihnen als Beleg dafür, dass man nisationen: die Kommunisten etwa den „Roten Der Aufbruch in eine neue
nicht hart genug gewesen sei. Die „eigentliche Ge- Frontkämpferbund“ (1924), die Sozialdemokraten bessere Zeit, den beispiels-
neration des Nazismus“, so notierte Sebastian Haff- das „Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold“ (1924), die weise die Wandervogel-
ner 1939 hellsichtig in seinen „Erinnerungen“, seien Katholiken die „Windhorstbünde“ (1920), die DDP Bewegung (u.) propagierte,
„die in der Dekade 1900 bis 1910 Geborenen“, die den „Jungdeutschen Orden“ (1920), die DNVP ihren endete für viele junge
„den Krieg ganz ungestört von seiner Tatsächlichkeit „Stahlhelm“ (1918) – und die NSDAP warb mit der Menschen Anfang des
als großes Spiel erlebt“ hätten. Parole „Jugend führt Jugend“ für ihre Sturmabtei- 20. Jahrhunderts tragisch.
Ihr Credo der Härte und Unerbittlichkeit über- lung SA (1921). Im belgischen Langemarck
trugen beide Generationen, die Frontkämpfer und Alle Bünde boten Marschieren in Kolonnen und starben 1914 Tausende
ihre jüngeren Brüder, auf die Zivilgesellschaft von Wehrertüchtigung, das Reichsbanner zum Beispiel junger Kriegsfreiwilliger
Weimar. Kompromisse galten ihnen als Zeichen von Geländelauf, Gepäckmarsch oder Kleinkaliber- einen sinnlosen Tod.
Schwäche. Heroisches Handeln musste stattdes- schießen. Sie hielten den Großen Krieg in Ehren
sen rein, radikal und sachlich sein. Anstelle des und stählten ihre Mitglieder für künftige Schlach-
schalen Parlamentarismus wollten sie das Ide- ten. Ziel sei die „geistige und seelische Rüstung
al einer klassenlosen Volksgemeinschaft set- der wehrhaften Jugend“, hieß es im Manifest
zen, frei von störenden Fremdkörpern. des Jungdeutschen Ordens – und die äußer-
Dem neuen „kollektivistischen Ge- te sich am besten in jugendlich-viriler Ge-
schlecht“, urteilte Thomas Mann über walt. SCHULE DER GEWALT
den Nachwuchs, gelte die Bildung des Das politische Chaos von Weimar bot In der Hitlerjugend – hier
19. Jahrhunderts als „abgeschmackter reichlich Gelegenheit für Kriegsspiele und eine Anstecknadel –
Plunder aus Großvaters Tagen, worüber le- Straßenschlachten. An der Grenze zu Polen wurde der Nachwuchs
ULLSTEIN BILD (M.); AKG (U.)

bensgerechte Jugend die Achseln zuckt“. kämpften Freikorps; die Fehde gegen den radikalisiert.
Ihre Ideale von Kameradschaft, soldatischer politischen Gegner im Innern wurde mit At-
Männlichkeit und freiwilliger Unterordnung fand tentaten, Putschversuchen und Fememorden
die Jugend in den zahlreichen paramilitärischen ausgetragen. Während des Ruhrkampfes, der
Verbänden und bündischen Organisationen. Alle französisch-belgischen Besetzung des Ruhrgebiets
spiegel special geschichte 1 | 2008 39
KÄMPFERISCHE im Jahr 1923, verzeichneten die paramilitärischen die modische Anregung mit, auch zu Friedenszeiten
COOLNESS Organisationen großen Zulauf. Der Stahlhelm grün- auf der Straße den „Trenchcoat“ („Schützengraben-
Der „großartig kalte Stil“ dete eine Jugendkämpfertruppe für 17- bis 21-Jähri- mantel“) zu tragen. Dieser Chic stand für den er-
(Gottfried Benn) galt vielen ge, den Jungstahlhelm. strebten „großartig kalten Stil“ (Gottfried Benn).
jungen Männern als erstre- Eine gewisse messianische Kraft wurde der Jugend Der Anspruch, gestaltende Avantgarde zu sein,
benswert. Die in der Armee seit Beginn des 20. Jahrhunderts zugeschrieben. Der geriet nach dem Ersten Weltkrieg in scharfen Wi-
erlernten Prinzipien, etwa Begriff wurde zum Wert an sich, zur Chiffre für Auf- derspruch zur Realität: Denn tatsächlich gab es sehr
hier bei der Infanterie- bruch und Fortschrittsglaube. Wer jugendlich war, viel Jugend, zu viel. Seit Ende des 19. Jahrhunderts
ausbildung, wurden stand auf der richtigen Seite, denn Jugend verkörper- war der Anteil der jungen Bevölkerung im Reich
auf die Zivilgesellschaft te Dynamik statt Dekadenz, Zukunft statt Zerfall, Op- stark angestiegen; Mitte der zwanziger Jahre war
übertragen. position gegen die Verkrustungen in Politik, Religion mehr als die Hälfte der Bevölkerung zwischen 15
und Gesellschaft. „Jugend ist Leben, Jugend ist Farbe, und 45 Jahren alt.
ist Form und Licht“, schrieb die in München erschei- Die Wirtschaftskrisen und die Hyper-Inflation tra-
nende Zeitschrift „Jugend“ 1895 in ihrer Erstausgabe. fen vor allem junge Erwachsene. Sie verloren ihre
Jugend war nun nicht mehr an Jobs, ihre marginalen Ersparnisse
RECHTER VORDENKER eine Lebensphase gebunden. Sie und zugleich den Glauben, dass
Ernst Jünger posiert 1913 stand, verkörpert in so unter- die Gesellschaft sie brauche. Al-
in der Uniform der schiedlichen Strömungen wie lein im Rechnungsjahr 1931/32
Fremdenlegion. Wie kein dem deutschen Wandervogel, der durchliefen über 300 000 junge
anderer fing der Frei- britischen Pfadfinderbewegung Arbeitslose Schulungskurse der
schärler und radikale und dem italienischen Futuris- Reichsanstalt für Arbeitsvermitt-
Schriftsteller das Denken mus, für neue Erziehung, den lung und Arbeitslosenversiche-
seiner Generation ein. neuen Menschen. Der moderne rung, ohne Illusionen, jemals in
ERNST KLETT-VERLAG (U.); SIEGFRIED LAUTERWASSER / BPK (O.)

Jugendliche sollte ein Tatmensch den regulären Arbeitsmarkt ein-


sein, kein grüblerischer Zauderer, treten zu können.
er hatte einen Anspruch auf die Das Reichsministerium des In-
Gestaltung der Zukunft – abge- nern warnte vor Jugendnot: „In
leitet aus der Gewissheit, dass Millionen von Familien ist die
kein Älterer die Jetztzeit ähnlich Ernährung ungenügend, Klei-
authentisch erleben könne. dung und Wäsche verbraucht, die
Das Ideal der kämpferischen Gesundheit durch Wohnungsen-
Coolness schlug sich auch in der ge gefährdet, die Erziehungskraft
Mode nieder, etwa in den Anlei- der Familie zerstört durch
hen beim Militär. Aus dem Ersten zermürbende Sorge, Hoffnungs-
Weltkrieg nahmen junge Männer losigkeit und Verzweiflung. Einer

40 spiegel special geschichte 1 | 2008


ständig wachsenden Zahl von Jugendlichen fehlt der im roten Berlin mobilisierten sie an der Universität IN REIH UND GLIED
Lebensinhalt der Arbeit.“ nur 70 Unterstützer. Hitlerjungen stehen
Politisch gelang es zwei Parteien, aus dem Elend Die Studentenschaft war schon seit der Gründer- während einer Parade an
und dem Impuls nach radikaler Erneuerung Profit zu zeit deutschnational bis völkisch gesinnt. Die Stu- einem Ostseestrand
schlagen: der NSDAP und der KPD. Faschismus und denten propagierten Innerlichkeit statt Intellekt, Ge- stramm – militärisch ging
Kommunismus waren sich ähnlich in ihrer Opposi- fühl statt Analyse und unbedingte Gemeinschaft statt es auch in anderen Nach-
tion gegen die alte Ordnung, in der öffentlichen Mi- gesellschaftlicher Widersprüche. wuchsorganisationen der
litanz und der martialischen Rhetorik. Wie auch die Angeheizt von einer zumeist reaktionären Pro- Weimarer Republik zu.
jungen Rechten beanspruchten die Kommunisten die fessorenschaft, wurden die Universitäten in der Wei-
universale Geltung ihrer Werte. „Der Bolschewis- marer Republik zur Bastion von rechtsextremem und
mus ist eine Jugendbewegung der Völker, die sich antisemitischem Gedankengut. Terrorgruppen nutz-
nicht eindämmen lassen wird“, schrieb ein Kommu- ten die Autonomie der Hochschulen als Rückzugs-
nist zur Gründung der KPD im Jahr 1919. raum. So hatte einer der Mörder des Außenministers
Doch es war vor allem die NSDAP, die in großer Walter Rathenau an der Berliner Universität stu-
Zahl junge Unterstützer mobilisieren konnte. Ihr Auf- diert. Er rekrutierte dort Aktionstrupps für das
stieg war zugleich der Ansturm der Jungen auf die Pri- Sprengen unwillkommener Versammlungen und frei-
vilegien der Alten. Von den 107 im Jahr 1930 gewähl- willige Agenten für Spitzeldienste gegen Linke.
ten NSDAP-Abgeordneten waren 45 unter 35 Jahre Bereits 1921 erhielt der extrem rechte Deutsche
alt. Adolf Hitler, so schwadronierte sein späterer Pro- Hochschulring bei den Asta-Wahlen zwei Drittel der „Die Refor-
pagandist Joseph Goebbels, habe das „erlösende Stimmen. Er führte die Wahlkämpfe mit der Forde- men, die
Wort einer ganzen Generation“ gefunden, er sei ge- rung, Juden den Zugang zu den Unis zu erschweren.
eignet, die „Republik der Greise“ hinwegzufegen. Die „Weltbühne“ schrieb 1924 über die „zerhauenen, Maßnahmen
Dass die Nazis den Wettlauf gewannen, lag nicht mit Watte verbundenen Physiognomien“ der Ver- der Erwachse-
zuletzt daran, dass die Jungakademiker stramm bindungsstudenten, „die stundenlang um einen Tisch
rechts eingestellt waren. In keiner anderen Bevölke- herumsitzen, einen Liter Bier nach dem anderen in
nen waren der
rungsgruppe konnte die NSDAP so früh so hohe Zu- den Schlund gießen und alle Viertelstunde aufstehen, Jugend zu
stimmungsraten erzielen. teils um an der Toilettenwand ein Hakenkreuz zu
An der Universität Erlangen erreichte der 1926 malen, teils um den gerade fälligen Militärmarsch
kompromiss-
gegründete Nationalsozialistische Deutsche Studen- mitzupfeifen“. Eigentlich seien solche Gestalten ja haft, zu
tenbund (NSDStB) schon 1929 die absolute Mehrheit,
1930 kamen weitere Universitäten hinzu. Solche Vo-
lachhaft, doch man frage sich mit Sorge: „Wie wird
Deutschland aussehen, sobald diese Leute Regie-
langsam und
zaghaft.“
KARL HÖFFKES / AURIS

ten waren repräsentativ für die politische Einstel- rungsräte geworden sind oder Richter oder Univer-
lung der Studenten – die Wahlbeteiligung lag meist sitätsprofessoren?“ Der Soziologe HELMUT
bei 70 Prozent. Kommunistische Gruppen konnten Die Studenten fühlten sich als Elite der jungen Ge- SCHELSKY 1957 im Rückblick
dagegen an den Unis keinen Einfluss erringen, selbst neration – und doch war ihr soziale Lage noch prekä- auf die Jugend von Weimar

spiegel special geschichte 1 | 2008 41


WEIMARS ENDE
dischen Verbindungsstudenten die Mützen vom
Kopfe gerissen. Zahllose Fäuste schlugen auf uns ein.
Obwohl wir uns erbittert wehrten, war es natürlich
ein Ding der Unmöglichkeit, sich gegen zehnfache
Übermacht zu halten. Aber es blieb nicht bei den
Fäusten. Unsere Gegner schlugen mit Reitpeitschen,
Schlüsseln und Koppelschlössern auf uns ein.“
In der Endphase der Republik versanken viele
Hochschulen in Gewalt und Anarchie. In Berlin kam
es zu Tumulten und Massenschlägereien zwischen
Linken und Nazis. Ein Kommunistenführer forderte,
„dem frechen Terror der faschistischen Studenten
den roten Terror des Proletariats entgegenzusetzen“.
Die Gewalt sickerte noch stärker in den politi-
schen Alltag ein, Saalschlachten, Überfälle auf Ver-
einslokale und blutige Zusammenstöße auf der
Straße waren an der Tagesordnung. Allein im ersten
Halbjahr 1932 wurden bei solchen Zusammenstößen
über 100 Menschen getötet und über 4500 verletzt.
Die Militarisierung und die paramilitärische Schule
der Härte forderte nun ihren Tribut – und das war
HITLERJUNGE QUEX rer als die der Nicht-Akademiker. „Geistige Wäh- erst der Anfang.
Der 1932 von Kommunisten rungskrise“, „Studenteninflation“ und „akademi- Zum Märtyrer der jungen Rechten wurde der 16-
ermordete 16-jährige sches Proletariat“ lauteten die gängigen Krisen-Vo- jährige Hitlerjunge Herbert Norkus. Er geriet in eine
Herbert Norkus wurde zum kabeln in den Zwanzigern. Während im gesamten Horde von Rotfront-Schlägern, als er an einem dun-
Märtyrer der Bewegung. Die Reich 1913 noch 79 000 Studenten eingeschrieben klen Januar-Morgen im Jahr 1932 in Berlin-Moabit
NS-Propaganda, hier eine waren, waren es im Jahr 1931 schon 138 000. Flugblätter verteilte. Norkus starb durch mehrere
Filmszene von 1933, Die Studienbedingungen litten, der Strom an Messerstiche, laut „Völkischem Beobachter“ war sein
schlachtete sein Schicksal Kriegsheimkehrern verstopfte zusätzlich die Hoch- Gesicht zerschlagen und zertreten, die Oberlippe
propagandistisch aus. schulen, die öffentlichen Mittel waren knapp. Bis fehlte.
1924 mussten mehr als zehn Prozent aller Hoch- Darauf sprang eine beispiellose Vermarktungs-
schüler das Studium aus Geldnot abbrechen, bis zum maschine um den jüngsten Blutzeugen der Bewe-
Ende der Republik war es ein Viertel der Gesamt- gung an. Gauleiter Goebbels ordnete für Berlin
studentenschaft. eine Woche „Parteitrauer“ an, der NS-Autor Karl
Diejenigen, die sich durchkämpften, fanden sich in Aloys Schenzinger schrieb ein Propagandabuch über
einem scharfen Wettbewerb um freie Stellen wieder, den „Hitlerjungen Quex“ – der Name entstand, weil
sie mussten sich häufig unterqualifiziert und unter- er angeblich so schnell und wendig gewesen sein
bezahlt verdingen, um der Arbeitslosigkeit zu ent- soll wie Quecksilber. Das Rührstück wurde mit
gehen. So wiesen die Statistiken für das Jahr 1932 500 000 gedruckten Exemplaren zum erfolgreichs-
mindestens 40 000 bis 50 000 überschüssige Akade- ten Jugendbuch des Nationalsozialismus, ein Film
miker aus. folgte.
Ihr Hass richtete sich gegen den Staat, der sie Norkus’ Schicksal veranlasste Reichjugendführer
nicht vor sozialem Abstieg bewahren konnte. Prälat Baldur von Schirach zu einer Tirade, in der sich
Georg Schreiber, Zentrumsmann und katholischer der ganze verquere Stolz der jungen völkischen
Volkskundler, konstatierte Rechten widerspiegelt: „Hier
1931 das Entstehen eines neu- ist nicht die sorglose Be-
en „geistigen Proletariats“. Es schwingtheit bürgerlicher Kind-
propagiere „Nationalismus heit, hier ist Kampf, Elend,
und Faschismus, weil man dar- Hunger, Blut und Tod. Das
in den Aufbau einer neuen sind keine Kinder, das sind
Welt zu verspüren glaubt, in Soldaten.“
der auch der Geistesarbeiter Seine Generation, rechtfer-
HINEIN INS UNGLÜCK wieder zu einer Existenz und tigte Ernst Jünger 1925 den
Der Aufstieg der NSDAP seinem Recht kommt“. Repu- Kampf gegen die Demokratie,
war auch ein Triumph der blik und Studentenschaft hät- habe sich „in jenem großen,
Jungen über die Alten. Den ten sich „gegenseitig im Stich ruhmvollen Krieg am schärfs-
Nationalsozialisten gelang gelassen“, analysiert der Frei- ten für die Sache der Nation
es, etwa mit diesem burger Historiker Bernd Rusi- eingesetzt, wir fühlen uns auch
Werbeplakat, sich als nek im Rückblick. jetzt zum Kampf für sie be-
unverbrauchte Kraft zu Die Nazi-Studenten über- rufen. Der Tag, an dem der
stilisieren. zogen die Hochschulen bereits parlamentarische Staat unter
mit systematischem Terror, als unserem Zugriff zusammen-
sich die Demokratie noch stürzt, und an dem wir die
wehrhaft zeigte. Ein jüdischer nationale Diktatur ausrufen,
Student an der Berliner Uni- wird unser höchster Festtag
versität berichtete von einem sein“.
Übergriff im Januar 1932: „Mit Es sollte der 30. Januar 1933
FOTOS: AKG

einem Schlage wurden uns jü- werden. ✦

42 spiegel special geschichte 1 | 2008


Radikale Judenfeindschaft gab es in Deutschland und Teilen der Welt schon vor 1933.
Aber erst unter den Nationalsozialisten wurde der Antisemitismus zu einer Herrschaftsideologie.
Gleich nach der Machtübernahme begann Hitler, seinen Wahn in die Tat umzusetzen.

SCHLEICHENDES GIFT
Von Christoph Jahr

S
eit dem Mittelalter gab es überall im christli-
chen Europa eine latente, bisweilen eruptiv-
gewalttätige Judenfeindschaft. Als moderne
politische Bewegung trat sie während der
Kanzlerschaft Otto von Bismarcks erstmals in
Deutschland auf. Sie hatte das Ziel, die Gleichbe-
rechtigung der deutschen Juden rückgängig zu ma-
chen. Die Judengegner bezeichneten sich bald selbst
als „Antisemiten“ und ihre Ideologie als „Antisemi-
tismus“.
Von Deutschland ausgehend fand dieser Begriff
Eingang in viele andere europäische Sprachen, denn
er signalisierte, dass es um mehr als die religiös
motivierte, durch das Christentum tradierte Juden-
feindschaft vergangener Jahrhunderte ging. Nicht
mehr nur, weil sie einer anderen Religion anhingen,
sondern weil sie angeblich einer fremden, nicht assi-
milierbaren „Rasse“ angehörten, wurden die Juden
nunmehr verachtet und verfolgt.
Die radikalsten Judengegner forderten daher be-
reits zu dieser Zeit, alle Juden aus Deutschland zu
vertreiben, doch politisch blieb ihr Geschrei zunächst
folgenlos. Es vergiftete allerdings langfristig das geis-
tige Klima, wie sich in der Krisensituation des Ersten eröffnete, sich frei von staatlicher Diskriminierung als VOLKSVERHETZUNG
Weltkriegs zeigte. Ungeachtet des offiziell verkün- gleichberechtigte Bürger zu entfalten. Werbeplakat für die anti-
deten „Burgfriedens“ radikalisierte sich die Juden- Dass einige Protagonisten der Novemberrevolu- semitische Wochenzeitung
feindschaft, wurden doch Schuldige für die unge- tion wie Rosa Luxemburg oder Bayerns Minister- „Der Stürmer“ in Wien
heuren sozialen Lasten des Kriegsalltags gesucht. präsident Kurt Eisner Juden waren, kam der radika- im Sommer 1938 nach
Als das Kaiserreich schließlich der alliierten Über- len Rechten sehr gelegen. Dem im Februar 1919 dem sogenannten
macht erlag und die Monarchie stürzte, brach, wie gegründeten „Deutschvölkischen Schutz- und Trutz- Anschluss Österreichs
Alfred Wiener, ein führender Vertreter des „Cen- bund“ gelang, woran die Antisemiten im Kaiserreich (Ausschnitt aus einem
tralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glau- gescheitert waren, nämlich zahlreiche der rivalisie- Dokumentarfilm).
bens“ (C.V.), 1919 schrieb, eine „gewaltige antisemi- renden Antisemitenverbände zusammenzuschließen
tische Sturmflut“ über Deutschland herein. und einen im Stillen wirkenden Unterstützerkreis
Im Oktober 1918 hatte Heinrich Claß, Vorsitzen- aufzubauen.
der des antisemitischen und ultranationalistischen 1922 bekannten sich rund 200 000 Deutsche zu
„Alldeutschen Verbandes“, dazu aufgerufen, die ab- diesem Verband und damit zum radikalen, völki-
sehbare Niederlage Deutschlands „zu Fanfaren gegen schen Antisemitismus. Mit Millionen von Plakaten,
das Judentum“ zu benutzen. Dadurch wurden die Handzetteln und Broschüren erreichte die antisemi-
gut 500 000 Juden – ganze 0,9 Prozent der deutschen tische Agitation eine Breitenwirkung wie nie zuvor.
Bevölkerung – zu Sündenböcken der Niederlage. „Die Juden“, giftete etwa die völkische „Ostdeut-
Seit der russischen Oktoberrevolution von 1917 sche Rundschau“ aus Bromberg im Juni 1919, „haben
und unter Hinweis auf Leo Trotzki und andere uns um die Früchte unserer Siege betrogen … unse-
führende Revolutionäre jüdischer Herkunft gewann ren Mittelstand zermürbt … uns die Revolution ge-
auch die Behauptung, Bolschewismus, Revolution bracht“. Selbst Carl Bürger, Sekretär des „Vereins
und Judentum seien identisch, für das zur Abwehr des Antisemitismus“, äußer-
verängstigte Bürgertum eine scheinbare CHRISTOPH JAHR, te im Dezember 1918, es seien „zu viele
Plausibilität. Daher fiel es der deutsch- Jahrgang 1963, ist Juden in der Regierung“. ULTRANATIONALIST
nationalen Propaganda leicht, die No- Privatdozent am Der ehemalige sozialdemokratische Heinrich Claß, Vorsitzender
vemberrevolution von 1918 als einen Institut für Reichsjustizminister Otto Landsberg da- des „Alldeutschen
durch Juden und für Juden inszenierten Geschichtswissen- gegen meinte: „Die politische Abstinenz Verbandes“, wollte die
ULLSTEIN BILD (U.)

Umsturz darzustellen. Richtig daran war schaften der hilft den Juden gar nichts. Wenn unter deutsche Niederlage 1918
nur, dass die Weimarer Republik den Humboldt-Univer- den Spartakisten und unter den Unab- „zu Fanfaren gegen das
deutschen Juden erstmals die Chance sität in Berlin. hängigen Sozialisten sich kein Jude be- Judentum“ nutzen.
spiegel special geschichte 1 | 2008 43
NS-IDEOLOGIE IM ALLTAG fände, so würde das am Antisemitismus absolut „Kreuz-Zeitung“ wärmte das antisemitische Klischee
Während eines Volksfestes nichts ändern; er soll eben Mittel zum Zweck sein.“ von der „jüdischen Übermacht“ und Sonderstellung
in Leißling an der Saale Tatsächlich fasste der Begriff „Judenrepublik“ für im Rechtswesen auf, weil die Juden angeblich „für
im Juni 1936 machen die politische Rechte alles zusammen, was sie verab- unantastbar“ erklärt worden seien und die „antise-
sich gemäß antisemitischen scheuungswürdig fand. Schon 1920 hatte der SPD- mitische Gesinnung mit dem Bannfluch des Staates“
Klischees verkleidete Politiker Carlo Mierendorff festgestellt, dass die „rein- belegt worden sei.
Teilnehmer über die rassigen schwarz-weiß-roten Sprücheklopfer“ verbal Es war eine alte Gepflogenheit der Antisemiten,
Vertreibung jüdischer zwar „auf den Juden“ einprügelten, „aber den Re- die Justiz als angeblich „verjudet“ darzustellen, doch
Bürger lustig. publikaner meinen“. Doch bei Beschimpfungen blieb mit der Wirklichkeit hatte das nichts zu tun. Der
es oft nicht mehr, es wuchs die Zahl der Antisemiten, Rechtsanwalt und Aktivist des C.V., Ludwig Foerder,
denen der Judenhass nicht nur Propagandamittel war, lag näher an der Wahrheit, als er die deutschen Ju-
sondern die ihn auch blutig ernst meinten. den 1921 als „Stiefkinder der Gerechtigkeit“ be-
Das zeigte sich nicht zuletzt in den vielen politisch zeichnete. Foerder konnte sein Urteil auf seine Er-
motivierten Morden der revolutionären Anfangszeit fahrungen aus zahlreichen Prozessen stützen, in de-
der Republik, denen auch Rosa Luxemburg und Kurt nen er – meist vergebens – versucht hatte, gerichtli-
Eisner zum Opfer fielen. Den negativen Höhepunkt che Strafen gegen antisemitische Hetzer zu erwirken.
bildete die Ermordung des Außenministers Walther Die Gerichte ließen allzu oft auch derbste, direkt
Rathenau am 24. Juni 1922 durch Angehörige der zur Gewalt aufrufende Äußerungen wie „Schmiert
rechtsradikalen „Organisation Consul“. die Guillotine ein mit Judenfett, Blut muss fließen,
Immerhin ging jetzt ein Aufschrei der Empörung Judenblut!“ ungesühnt. Manche Richter sympathi-
durch Deutschland, den Reichskanzler Joseph Wirth sierten mit den rechtsradikalen Hetzern. Sehr viele
im Reichstag auf die bis heute immer wieder zitier- standen Republik und Demokratie zumindest distan-
te Formel brachte: „Dieser Feind steht rechts!“ ziert gegenüber, denn nach 1918 war es auch in der
Den Worten folgten nun endlich Taten. Das „Ge- Justiz versäumt worden, die konservativen und mon-
setz zum Schutz der Republik“ wurde erlassen, der archietreuen Eliten auszutauschen.
„Deutschvölkische Schutz- und Trutzbund“ in weiten Besonderen Hass zogen in den Anfangsjahren der
Teilen des Reiches verboten. Im September 1922 wies Republik die sogenannten Ostjuden auf sich, die ins-
der Preußische Justizminister die Generalstaats- besondere in Bayern als Sündenböcke herhalten
GEGEN DEN HASS anwälte an, antisemitische Ausschreitungen nach- mussten, in Internierungslager gesteckt und im
Reichskanzler und Zen- drücklich zu verfolgen und dazu auch mit den jüdi- Herbst 1923 ausgewiesen wurden. Etwa zur gleichen
FOTOS: ULLSTEIN BILD

trumspolitiker Konstantin schen Organisationen zusammenzuarbeiten. Zeit kam es auch im Berliner Scheunenviertel zu
Fehrenbach verurteilte in Prompt hatten die Antisemiten eine neue Hetz- pogromartigen Unruhen.
der Weimarer Republik den parole. Die Juden, verbreiteten sie, seien „Staats- Seit 1919 geisterte darüber hinaus mit den „Pro-
Antisemitismus. bürger erster Klasse“. Auch die rechtskonservative tokollen der Weisen von Zion“ die international viel-

44 spiegel special geschichte 1 | 2008


WEIMARS ENDE
morgen gegen Rom“, schrieb 1920 beispielsweise die
„Nürnberger Volkszeitung“.
Immer wieder fanden sich führende Zentrums-
politiker wie die Reichskanzler Konstantin Fehren-
bach oder Wilhelm Marx zu scharfen Verurteilungen
des Antisemitismus bereit und unterstützten die
Juden auch in ihrem Kampf gegen ein Verbot des ri-
tuellen Schächtens, das Antisemiten unter der Mas-
ke des Tierschutzes immer wieder durchzusetzen
versuchten.
Dennoch war die Abwehr des Antisemitismus
durch den politischen Katholizismus ambivalent,
denn der jahrhundertealte, religiös begründete Anti-
judaismus blieb im katholischen Milieu wirksam,
ebenso wie die Abwehr des als „jüdisch“ diffamier-
DISKRIMINIERUNG ten Liberalismus.
Rationierte Güter wurden während des Krieges nur gegen In dem vom katholischen Herder-Verlag 1926 her-
Vorlage einer Berechtigungskarte ausgegeben – das J steht ausgegebenen Lexikon hieß es daher, der Anti-
für Jude (Berlin, um 1942). semitismus sei nur dann abzulehnen, „wenn er die
Juden um ihrer Blutsfremdheit willen bekämpft oder
leicht wirkungsvollste antisemitische Propaganda- sich im Kampf unchristlicher Mittel bedient“. An
schrift aller Zeiten durch Deutschland. Im Umkreis diese Vorstellung, dass es einen „berechtigten Anti-
des zaristischen Geheimdienstes entstanden, setzte semitismus“ gebe, konnte die Propaganda der völ-
diese auf reiner Phantasie beruhende Schrift eine kischen Rechten und später der NSDAP mühelos
Verschwörungstheorie in die Welt, die bis heute ver- anknüpfen.
breitet wird. In kaum einer Bevölkerungsgruppe war der Anti-
Daneben trugen populäre Romane wie Artur Din- semitismus stärker verbreitet als unter Studenten
ters rund 200 000-mal verkauftes Epos „Die Sünde und Akademikern. Viele hatten ein überwiegend
wider das Blut“ in erheblichem Maße dazu bei, dass rechtskonservatives Weltbild, dazu kam die in den
selbst die abstrusesten Phantasien verbohrter Ju- wirtschaftlich schwierigen Jahren der Weimarer Re-
denhasser Eingang in das Denken und Fühlen großer publik als prekär empfundene soziale Lage. Beides
Bevölkerungskreise fanden. machte die Universitäten für den radikalen Antise-
Auch der sogenannte Bäderantisemitismus nahm mitismus besonders anfällig.
immer radikalere Formen an. Schon seit dem späten Der „Chefideologe“ der „Deutschen Burschen-
19. Jahrhundert hatten sich einige Kurorte, allen schaft“, Karl Hoppmann, veröffentlichte 1931 sein
voran die Nordseeinsel Borkum und das Ostseebad Buch „Über den Stand der Verjudung der akademi-
Zinnowitz, einem geradezu grotesken Gesinnungs- schen Berufe“, das die Abstiegsängste der Bürger- PROPAGANDA
exhibitionismus verschrieben und taten alles, um jü- kinder auf die Juden projizierte. Schon seit dem spä- Auch im Bürgertum verfing
dische Feriengäste fernzuhalten. ten 19. Jahrhundert hatten viele Burschenschaften die deutschnationale Propa-
Es war kein Zufall, dass der evangelische Pfarrer keine Juden mehr aufgenommen. So wurde eine ganda, Bolschewismus,
Ludwig Münchmeyer zu den eifrigsten Propagandis- ganze Generation zukünftiger Akademiker im Geist Revolution und Judentum
ten eines „judenfreien“ Borkum zählte, denn der des radikalen völkischen Nationalismus und Antise- gleichzusetzen, so etwa
Protestantismus erwies sich – mit Ausnahme einiger mitismus erzogen. durch Hinweis auf die jüdi-
liberaler und dem Dialog mit dem Judentum zuge- 1926 vertrieb eine Kampagne antisemitisch ver- sche Herkunft Rosa Luxem-
wandter Theologen wie Ernst Troeltsch, Otto Baum- hetzter Studenten den an der Technischen Hoch- burgs und Leo Trotzkis.
garten oder Paul Tillich – als stark anfällig für das völ- schule Hannover lehrenden Philosophiedozenten
kische und antisemitische Denken. Schließlich war Theodor Lessing aus dem Amt. Weder seine akade-
der Hofprediger Adolf Stoecker schon zu Bismarcks mischen Kollegen noch das Preußische Kultusminis- SCHMIEREREIEN
Zeiten eine treibende Kraft der sich formierenden terium stärkten ihm den Rücken. Angesichts des Zwischen 1923 und 1932
antisemitischen Bewegung gewesen. Klimas beispielsweise an den juristischen Fakultäten wurden rund 200 jüdische
Die Vertreter eines „germanischen Christentums“, beschlich Kurt Tucholsky 1927 die Ahnung, dass Friedhöfe in Deutschland
die das „jüdische Erbe“ negierten und vergessen ma- selbst der monarchistische Richter der Gegenwart geschändet (hier: Parole
chen wollten, sammelten sich 1921 im „Bund für „noch Gold ist gegen jenen, der im Jahre 1940 Rich- an einer Friedhofsmauer in
Deutsche Kirche“. Auch die 1932 ins Leben gerufe- ter sein wird“. Saarbrücken).
ne Bewegung der „Deutschen Christen“ erblickte
BILDARCHIV PISAREK / AKG (O. L.); ULLSTEIN BILD (O. R.); AP (0. M.)

„in Rasse, Volkstum und Nation“ Kernelemente der


göttlichen Weltordnung, weshalb „der Rassenvermi-
schung entgegenzutreten“ sei.
Viele protestantische Gebiete Deutschlands zähl-
ten ab 1929/30 zu den Hochburgen der NSDAP,
während sich das katholische Milieu resistenter zeig-
te. Wie schon im Kaiserreich wurde der radikale,
rassistische Antisemitismus vom politischen Katholi-
zismus, der in der Zentrumspartei seine Heimat fand,
zurückgewiesen. Das geschah aber nicht primär um
der Juden willen, sondern aus der Befürchtung her-
aus, dass die völkischen Antisemiten sich ebenso ge-
gen das Christentum wendeten: „Heute gegen Juda,
spiegel special geschichte 1 | 2008 45
WEIMARS ENDE
Die wenigen Zionisten erblickten im grassieren-
den Antisemitismus dagegen die Bestätigung ihrer
pessimistischen Sicht, dass eine Integration in die
Mehrheitsgesellschaft illusionär sei. Doch auch die
Zeitschrift „Der Schild“, Organ des „Reichsbundes
jüdischer Frontsoldaten“ und politisch vergleichs-
weise konservativ und nationalistisch eingestellt, dia-
gnostizierte im Dezember 1926 düster: „Das deutsche
Judentum kämpft nicht nur für seine Anerkennung,
es kämpft für seine Existenz.“
Dass das keine Schwarzmalerei war, zeigte sich ab
1929/30, als sich die wirtschaftliche Lage dramatisch
verschlechterte. Die Massenarbeitslosigkeit infolge
der Weltwirtschaftskrise bewirkte, dass die NSDAP
quasi über Nacht zu einem zentralen Faktor der
deutschen Politik wurde. Entstanden als bayerische
Regionalpartei, war die NSDAP zunächst nur eine
von mehreren radikalnationalistischen und völkisch-
antisemitischen Splitterparteien gewesen. Als ihr
rasanter Aufstieg zur Massenpartei begann, war der
antijüdische Rassismus vor allem für die Binnenin-
tegration der aus unterschiedlichen sozialen Schich-
ten stammenden Mitgliederschaft wichtig, aber auch,
um das sich in seiner Existenz bedroht fühlende
Kleinbürgertum zu gewinnen.
Wenngleich der Antisemitismus in der Spätphase
der Weimarer Republik nicht die führende Rolle in
der NS-Propaganda spielte, blieb es niemandem ver-
borgen, dass die Nationalsozialisten eine besonders
aggressive Judenfeindschaft nicht nur vertraten, son-
dern auch praktizierten. Immer wieder wurden von
der SA jüdische Bürger angegriffen.
Angesichts dieser neuen Qualität antijüdischer
Gewalt beschloss der „Centralverein“, mit einer Ver-
teidigungsschrift gegenzuhalten. In sieben Auflagen
zwischen 1923 und 1932 wurden die „Anti-Anti: Blät-
ter zur Abwehr“ herausgegeben. Auch in die Reichs-
tagswahlkämpfe der Jahre 1930 und 1932 schaltete
sich der C.V. in bis dahin ungekannter Intensität ein.
1929 wurde mit dem „Büro Wilhelmstraße“ eine Art
Zweigstelle eröffnet, die sich ganz dem publizisti-
schen Kampf gegen die NSDAP widmete.
Dass ihre eigene Zukunft auf Gedeih und Ver-
derb mit dem Schicksal der Republik zusammen-
JAGD AUF JUDEN Zunächst schien sich die Republik in der Mitte hing, war wohl den meisten Juden bewusst. So
Nach der deutschen der zwanziger Jahre jedoch zu stabilisieren. Der schrieb die Zeitschrift „Der Israelit“ im Sommer
Besetzung Polens machen offensichtliche Antisemitismus trat zwischen 1924 1930: „Unser Schicksal als gleichberechtigte Staats-
Deutsche Jagd auf Juden. und 1929/30 auch etwas in den Hintergrund. Den- bürger ist mit der heutigen Staatsform so eng ver-
Hier halten zwei deutsche noch gab es selbst in dieser Zeit eine lange Kette ge- knüpft, dass die Feinde gegen die ‚jüdische Republik‘
Polizisten 1941 in Posen walttätiger Ausschreitungen gegen Juden. Zwischen anstürmen.“ Deswegen halte man „treu und fest zu
einen jüdischen Mann fest. 1923 und 1932 kam es zu etwa 200 Schändungen jü- Republik und Verfassung“. Alle Versuche, den
discher Friedhöfe. Fast nie wurden die Täter bestraft, Reichskanzler Heinrich Brüning von der Zentrums-
da ihnen nicht selten „jugendlicher Leichtsinn“ zu- partei zu einer offiziellen Stellungnahme gegen den
gestanden wurde. Antisemitismus zu veranlassen, scheiterten jedoch.
Der schleichende Ausschluss jüdischer Deutscher Während die Kommunisten der Versuchung erla-
aus dem sozialen und wirtschaftlichen Leben des Lan- gen, auch das Feindbild des „jüdischen Kapitalisten“
des nahm gegen Ende der Weimarer Republik neue, für ihre Propaganda zu nutzen, war die SPD die-
existenzbedrohende Formen an. In Süddeutschland jenige Partei, die am konsequentesten den Anti-
beispielsweise trieb der fanatische NSDAP-Gauleiter semitismus ablehnte. Wie schon im Kaiserreich, so
Mittelfrankens, Julius Streicher, sein Unwesen. Im fand auch in der Weimarer Republik die überwie-
Norden hatte die 1928 entstandene „Landvolkbewe- gende Mehrheit der Juden ihre politische Heimat
gung“ in Schleswig-Holstein das Ziel, die bäuerliche aber im Linksliberalismus. Die „Deutsche Demo-
Bevölkerung antisemitisch zu agitieren. kratische Partei“ musste sich daher immer wieder
Die Anonymität der Großstädte bot noch einen als „Judenschutztruppe“ diffamieren lassen – und
gewissen Schutz, und viele Juden versuchten, durch diese Propaganda blieb nicht wirkungslos: Immer
ANDRE BRUTMANN

„unauffälliges Verhalten“ oder betont „nationale seltener war die Partei bereit, jüdische Abgeordnete
Haltung“ antisemitischen Vorurteilen keinen Anlass in den Reichstag oder die Länderparlamente zu
zu geben. entsenden.

46 spiegel special geschichte 1 | 2008


Ab 1930 leistete die bürgerliche Mitte in Deutsch- sich, die ganze Tragweite dessen zur Kenntnis zu AUSGRENZUNG
land als politische Kraft immer weniger Widerstand nehmen, was sich da vor ihren Augen an Ausgren- 1933 verkündete die Stadt
gegen die Parolen der NSDAP. Zwar lehnte Theodor zung, Diffamierung und Gewalt abspielte. Erlangen, dass Juden nicht
Heuss, junger liberaler Hoffnungsträger und später Da die schleichende Entsolidarisierung mit der erwünscht seien. Sehr
erster Präsident der Bundesrepublik Deutschland, jüdischen Minderheit lange vor 1933 eingesetzt hat- schnell passten sich Bürger
1932 in seinem Buch „Hitlers Weg“ den NS-Rassen- te, konnte Hitler, kaum im Amt, gleich damit be- im ganzen Reich dem anti-
wahn als „verzerrt und kenntnislos“ ab, aber eine ginnen, seinen antisemitischen Wahn in die Tat um- jüdischen Gedankengut der
ernsthafte Gefahr für die deutschen Juden wollte er zusetzen. Mit dem am 7. April 1933 erlassenen „Ge- Nationalsozialisten an.
nicht erkennen und empfahl ihnen Zurückhaltung in setz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“
ihrem Abwehrkampf, „da Schweigen wirksamer wäre wurden jüdische Beamte aus ihren Ämtern ver-
als gegenbeweisende Empfindlichkeit“. trieben.
Angesichts solch tatenarmer Halbherzigkeit wand- Damit begann eine Kette von Entrechtungen, die
ten sich 1932 viele Juden der SPD oder dem katho- über die „Nürnberger Gesetze“ und die Zerstörung
lischen Zentrum zu, um ihre Wählerstimmen den der wirtschaftlichen Existenzgrundlage der deut-
letzten nennenswerten Stützen der Republik zugute- schen Juden, von der viele „Volksgenossen“ ohne of-
kommen zu lassen. Retten konnten sie dadurch je- fensichtliche Skrupel profitierten, schließlich nach
doch weder die Republik noch sich selbst. Auschwitz führte.
Doch trotz all dieser negativen Entwicklungen Trotzdem wäre es eine grobe Vereinfachung, die
bildeten die fanatischen Antisemiten am Ende der Weimarer Republik als bloße Vorgeschichte des Ho-
Weimarer Republik nur eine wenn auch lautstarke locaust zu begreifen, denn die Geschichte kennt kei-
und gewaltbereite Minderheit. Der radikale Antise- ne Zwangsläufigkeiten. Was nach 1933 geschah, kann
mitismus der Nazis hielt jedoch zu wenige davon ab, allerdings auch nicht ohne die Prägungen der Jahre
die NSDAP zu wählen. davor erklärt werden. Radikale Judenfeindschaft hat-
Zwar gab es mahnende Stimmen, aber anders als te es in Deutschland, wie in vielen anderen Teilen
in Frankreich, wo Emile Zola während der anti- Europas und der Welt, vor 1933 gegeben. Neu war,
STADTARCHIV ERLANGEN (O.); LEONE / ULLSTEIN BILD (U.)

semitischen Dreyfus-Affäre mit seinem berühmten dass erstmals in einem modernen europäischen Staat
Zeitungsartikel „J’accuse“ protestierte, fand sich in eine politische Bewegung die Macht übernahm, für
Deutschland kein prominenter Intellektueller, der die der Antisemitismus nicht nebensächlich, sondern JUDENHASS IM KINO
sich unter Aufbietung seines ganzen Prestiges für zentral war. Plakat zum antisemitischen
die Juden einsetzte. „Deutschland hat keinen Dadurch wurde der Antisemitismus vom opposi- Film „Jud Süss“ von Veit
Zola“, stellte das „Berliner Tageblatt“ 1932 ernüch- tionellen Kampfinstrument zur Herrschaftsideologie Harlan aus dem Jahr 1940:
tert fest. eines totalitären Systems. Ihre Macht nutzten die Durch die gezielt negative
Ab 1933 passten sich zu viele Bürger dem NS- Nationalsozialisten gegenüber den Juden in Deutsch- Darstellung der jüdischen
Ungeist in atemberaubenden Tempo an. Zu viele land und Europa mit einer Unerbittlichkeit, die vor Hauptfigur sollte das Juden-
waren gleichgültig gegenüber dem, was den jüdi- 1933 für kaum jemanden vorstellbar war – am we- tum in der Bevölkerung
schen Mitmenschen widerfuhr. Zu viele weigerten nigsten für die Juden selbst. ✦ diskreditiert werden.
spiegel special geschichte 1 | 2008 47
WEIMARS ENDE

Reichspräsident Paul von Hindenburg pflegte seinen Mythos als Held


des Ersten Weltkriegs. Besessen von der Vision einer „nationalen Wiedergeburt“,
lieferte er die erste deutsche Demokratie dem Diktator aus.

WEIMARS TOTENGRÄBER
Von Norbert F. Pötzl

A
ls sich Adolf Hitlers designiertes Kabinett fie*, habe dem Reichspräsidenten in dessen Ent-
am Mittag des 30. Januar 1933 zur Ver- scheidung hineingeredet: „Hindenburg besaß ein
eidigung beim Reichspräsidenten versam- starkes herrscherliches Selbstverständnis, mit dem
melte, konnte Paul von Hindenburg, 85, es sich nicht vereinbaren ließ, ausgerechnet die Ent-
seine Rührung nicht verbergen. Mit feuchten Augen scheidung über die Ernennung Hitlers zum Reichs-
äußerte der alte Herr seine „Genugtuung über die kanzler und damit eine politische Weichenstellung
endlich erzielte Einigung der nationalen Rechten“. von größter Tragweite aus der Hand zu geben.“
Hindenburgs Lebenstraum war in Erfüllung ge- Pyta räumt, faktenreich untermauert, mit der Mär
gangen. Der Generalfeldmarschall des Ersten Welt- auf, der Reichspräsident sei Wachs in den Händen
kriegs, der kurz zuvor noch versichert hatte, er den- einer reaktionären Kamarilla, etwa seines Staats-
ke „gar nicht daran, den österreichischen Gefreiten sekretärs Otto Meißner oder seines Sohnes Oskar
DOLCHSTOSSLEGENDE zum Wehrminister oder Reichskanzler zu machen“, von Hindenburg, gewesen. Und die Behauptung, das
Schon kurz nach dem Ende sah nun in Hitler den Vollstrecker seiner politischen Drängen ostelbischer Großgrundbesitzer habe letzt-
des Ersten Weltkriegs stell- Grundüberzeugung, dass nur eine Regierung der lich den Ausschlag für Hitlers Berufung gegeben, sei,
ten Ludendorff und Hinden- „nationalen Konzentration“ die von ihm ersehnte so Pyta, „pure Spekulation“. Vielmehr habe sich
burg die wahrheitswidrige „Volksgemeinschaft“ verwirklichen könne. Hindenburg in maßloser Selbstüberschätzung immer
Behauptung auf, linke Zu den Patrioten zählte Hindenburg freilich nur dazu berufen gefühlt, in der Nachfolge Otto von Bis-
Politiker seien der „im extrem rechte Kräfte. Neben dem neuen Regierungs- marcks die „Reichseinigung“ zu vollenden.
Felde unbesiegten“ deut- chef waren zwei weitere Nationalsozialisten – Wil- Der 1847 in Posen geborene Sohn eines preußi-
schen Armee in den Rücken helm Frick und Hermann Göring – Mitglieder des schen Offiziers und Gutsbesitzers hatte eine respek-
gefallen. Mit dieser perfiden Kabinetts, drei Minister gehörten der Deutsch- table Militärlaufbahn hinter sich, als er 1911 im Rang
Lüge warben die Deutsch- nationalen Volkspartei (DNVP) beziehungsweise eines Kommandierenden Generals in Pension ging.
nationalen 1924 auf einem dem Frontsoldatenbund „Stahlhelm“ an, die übri- Seinen Lebensabend gedachte er in Hannover zu
Wahlplakat. gen fünf waren parteilose Rechtskonservative. verbringen, wo er als junger Leutnant knapp sieben
Damit besiegelte der Jahre gedient hatte.
Reichspräsident das En- Doch dann begann im August 1914 der Erste Welt-
de der ersten deut- krieg, und der damals fast 67-jährige Ruheständler
schen Demokratie. „Oh- suchte nach der Mobilmachung händeringend („Ich
ne Hindenburgs Ent- bin körperlich und geistig durchaus frisch“) um sei-
scheidung, Hitler den ne Reaktivierung nach. Schließlich wurde ihm die
Weg in das Berliner Führung der 8. Armee im Osten anvertraut, geknüpft
Herrschaftszentrum frei- freilich an die Bedingung, dass der Oberbefehlshaber
zugeben, wäre die deut- die operativen Angelegenheiten seinem General-
sche, ja die globale Ge- stabschef Erich Ludendorff überließ. General Wil-
schichte nach mensch- helm Groener, der bei der förmlichen Nominierung
lichem Ermessen anders Hindenburgs durch Kaiser Wilhelm II. zugegen war,
verlaufen“, konstatiert notierte, der einzige Grund für Hindenburgs Beru-
der Bielefelder Ge- fung sei „der Umstand“ gewesen, „dass man von
schichtswissenschaftler seinem Phlegma absolute Untätigkeit erwartete, um
Hans-Ulrich Wehler. Ludendorff völlig freie Hand zu lassen“.
Hitlers „Machtergrei- Die Erwartung erfüllte Hindenburg perfekt. Auch
fung“ war, entgegen an der Front genoss er den Lebensstil eines Rentners:
verbreiteter historischer Pünktlich um 13 Uhr aß er zu Mittag, danach legte er
Legendenbildung, kei- sich aufs Ohr, anschließend ging er spazieren oder
neswegs das Werk ei- unternahm eine Ausfahrt mit dem Automobil. Vor al-
nes senilen Greises, der lem pflegte er ausgiebig zu ruhen – sogar die seinen
die Folgen seines Tuns Feldherrnruhm begründende Schlacht von Tannen-
nicht mehr überblickte. berg, bei der Ende August 1914 die Russen einge-
Und niemand, unter- kesselt und geschlagen wurden, habe Hindenburg
streicht der Stuttgarter verschlafen, kolportierten böse Zungen. Die strate-
Historiker Wolfram Pyta, gischen Planungen überließ er ohnehin Ludendorff.
47, in seiner kürzlich er-
ULLSTEIN BILD

schienenen, voluminö- * Wolfram Pyta: „Hindenburg. Herrschaft zwischen Hohenzollern


sen Hindenburg-Biogra- und Hitler“. Siedler Verlag, München; 1116 Seiten; 49,95 Euro.

48 spiegel special geschichte 1 | 2008


TANNENBERG-SCHLACHT
Seinen Mythos als Kriegs-
held begründete Hinden-
burg durch den Sieg seiner
8. Armee über die russische
Narew-Armee Ende August
1914 – obwohl er selbst
kaum Anteil daran hatte.
Mit Sinn für Symbolik
benannte er die Schlacht
nach dem Ort, wo 1410 das
Heer des Deutschen Ordens
von polnischen und litaui-
schen Verbänden vernich-
tend geschlagen worden
war.

OSTFRONT-KOMMANDO
Hindenburg (l.), nominell
Oberbefehlshaber der
8. Armee, blickt während
der Schlacht bei Tannen-
berg auf seinem Gefechts-
stand durch ein Scheren-
fernrohr, neben ihm
Generalstabschef Luden-
dorff (2. v. r.) und Oberst-
leutnant Max Hoffmann (r.),
die eigentlichen Urheber
des Operationsplans.

„Hindenburg
bekümmert
sich um das
Militärische
überhaupt
nicht mehr.
Er ist viel auf
Dennoch reklamierte er nach dem Sieg von Tannen- Mit seinem angemaßten Renommee als Kriegs- Jagd und
berg gegenüber Kaiser und Öffentlichkeit das Haupt- held mischte sich Hindenburg seit Anfang 1915 zu- kommt im
verdienst für sich. nehmend auch in die Politik ein. Er gewann Einfluss
Genau genommen stand das Örtchen Tannenberg auf den Kaiser und den Reichskanzler Theobald von Übrigen
nicht einmal im Zentrum des Geschehens. Aber
Hindenburg, mit Sinn für Symbolik, verwendete
Bethmann Hollweg. Gegen Erich von Falkenhayn,
den Chef der Obersten Heeresleitung, intrigierte er
morgens und
den Ortsnamen im Gedenken an jene Schlacht, in so lange, bis er im August 1916 selbst dessen Position abends fünf
der 1410 das Heer des Deutschen Ordens eine einnehmen konnte. Minuten,
vernichtende Niederlage durch polnische und li- Auch die Kriegsniederlage beschädigte Hinden-
INTERFOTO (O.); ULLSTEIN BILD (U.)

tauische Verbände hatte hinnehmen müssen. „Jetzt, burgs öffentliches Ansehen nicht. Soweit die Oberste um sich zu
nach 504 Jahren“, schrieb Hindenburg an seine Heeresleitung für das Debakel verantwortlich ge- erkundigen,
Frau, „kam die Revanche.“ Und er sah sich schon in macht wurde, schob man die Schuld vor allem Lu-
den Geschichtsbüchern verewigt: „Ich glaube, Dein dendorff zu – in Militärkreisen war die tatsächliche was los ist.“
Alter wird womöglich noch mal ein berühmter Rollenverteilung zwischen dem Oberbefehlshaber MAX HOFFMANN, rechte Hand
Mann.“ und seinem Stabschef ja bekannt. Und die konser- Ludendorffs, im Oktober 1915

spiegel special geschichte 1 | 2008 49


WEIMARS ENDE
vativ-nationalen Kräfte, die Hindenburg weltan- derte sich damit bei den immer noch zahlreichen
schaulich nahestanden, zielten mit ihren Vorwürfen Monarchisten an.
ohnehin weniger auf die Armee als vielmehr auf die Wie ein Ersatzkaiser bog er sich die Weimarer
neue politische Führung. Verfassung zurecht und trennte sich von seinen
Hindenburg machte sich die perfide „Dolchstoß- Kanzlern, wann immer sie zu einer Belastung für
legende“ zu eigen: Nicht militärische Fehlentschei- sein persönliches Ansehen zu werden drohten.
dungen oder die groteske Überschätzung des militä- Gegen Ende der siebenjährigen Wahlperiode wur-
rischen Potentials hätten das Reich in die Katastrophe de Hindenburg allerdings amtsmüde. Reichskanzler
getrieben, sondern die fehlende Unterstützung aus Heinrich Brüning, ein Zentrumspolitiker, stellte An-
der Heimat für die kämpfende Truppe. fang August 1931 nach einem Vortrag beim Präsi-
Nach der Abdankung des Kaisers am 9. Novem- denten fest, der habe, „wie es schien, nur eine Idee:
ber 1918 war es Hindenburg, der Wilhelm II. um des- mit dem bisherigen Kurs möglichst schnell in einen
sen persönlicher Sicherheit willen bedrängte, in die politischen Ruhestand hineinzukommen“.
Niederlande ins Exil zu gehen. Später, als dies in der Vorher aber wollte der 84-Jährige seinen Nachlass
ERSTER PRÄSIDENT Öffentlichkeit als feige Flucht des Monarchen an- regeln. Am 10. Oktober 1931 kam es zur ersten per-
Der Sozialdemokrat Fried- gesehen wurde, bestritt er, die treibende Kraft für sönlichen Begegnung zwischen dem Präsidenten und
rich Ebert, Staatsoberhaupt diesen Schritt gewesen zu sein. Der „sogenannte dem NS-Parteiführer. Im Verlauf der zweistündigen
von 1919 bis 1925, trug Nationalheros soll eben, auf meine Kosten, fein her- Unterredung machte Hitler sichtlich Eindruck auf
wesentlich zur Stabilität der auskommen“, zeterte der Ex-Kaiser. Hindenburg, indem er seine Vaterlandsliebe heraus-
Weimarer Republik bei. Auch bei der Entscheidung über den Friedens- strich und im Namen der Frontsoldaten einen politi-
schluss erwies sich Hindenburg als Meister des poli- schen Kurswechsel forderte: Diejenigen, die ihr Le-
tischen Doppelspiels. Im Bewusstsein der militäri- ben aufs Spiel gesetzt hätten, verlangten nun, „nach-
schen Ohnmacht gab er der Weimarer Nationalver- dem alle Regierungen bisher versagt“ hätten, „die
sammlung sein stillschweigendes Einverständnis zur Zügel selbst in die Hand zu nehmen“.
Annahme des Versailler Friedensvertrags, fügte aber Im Dezember 1931 fand Hindenburg allmählich
später hinzu, „als Soldat“ müsse er „den ehrenvollen Gefallen daran, doch noch übergangsweise weiter
Untergang einem schmählichen Frieden vorziehen“. zu amtieren. Allerdings wollte er sich keiner Volks-
Um sich nicht selbst zu exponieren, ließ Hinden- wahl mehr stellen, sondern von der verfassungs-
burg seine Stellungnahme durch den Ersten Gene- mäßigen Möglichkeit Gebrauch machen, die Präsi-
ralquartiermeister Groener vortragen. „Sie müssen dentschaft mit einer Zweidrittelmehrheit im Reichs-
eben wieder das schwarze Schaf sein“, raunte ihm tag verlängern zu lassen. Er scheute einen Wahl-
Hindenburg zu – kein Schatten sollte seinen Nimbus kampf, in dem sein sorgsam gepflegter Mythos als
verdunkeln. Kriegsheld und kaisertreuer General beschädigt wer-
Als der sozialdemokratische Reichspräsident den könnte.
Friedrich Ebert am 28. Februar 1925 überraschend Doch die zerstrittenen Rechtsparteien konnten
starb, kam es erstmals zu der in der Verfassung vor- sich zunächst nicht einigen, und auch auf den Adel
gesehenen Volkswahl des Staatsoberhaupts. Ebert war nicht so recht Verlass. Zwar ermunterte der Vor-
war 1919 noch von der Weimarer Nationalversamm- sitzende der deutschen Adelsgenossenschaft, Fried-
BETROGENER KANZLER lung zum vorläufigen Reichspräsidenten gewählt wor- rich von Berg, Hindenburg zur Kandidatur, da in
Kurt von Schleicher war nur den; der Reichstag hatte 1922 seine Amtszeit bis zum dessen Person adlige Tugenden wie „Ehre, Vater-
knapp zwei Monate im Amt 30. Juni 1925 verlängert. landsliebe, Treue verkörpert“ seien. Aber Berg büß-
– derweil hatte Hindenburg Nachdem beim ersten Wahlgang keiner der Be- te seinen Alleingang mit dem Verlust seines Amtes –
bereits mit Hitler verhan- werber die erforderliche absolute Mehrheit erreicht gerade jüngere Adlige hielten die klassischen Adels-
deln lassen. hatte, kandidierte Hindenburg in der zweiten Runde tugenden für überholt und erhoben, ganz im völki-
am 26. April 1925 für den „Reichsblock“, in dem sich schen Sinne, die „rassische Reinhaltung“ zur obers-
alle rechten Parteien und Gruppierungen zusammen- ten Maxime des Adels.
geschlossen hatten. Er erhielt 48,3 Prozent der Stim- Am 15. Februar verkündete Hindenburg seine
men, sein Gegenkandidat Wilhelm Marx vom ka- Kandidatur, obwohl er nicht die erhoffte Unterstüt-
tholischen Zentrum, der außer von seiner eigenen zung durch die „nationale Opposition“ gefunden
Partei auch von der SPD und linksliberalen Kräften hatte. Im ersten Wahlgang verfehlte der Amtsinhaber
unterstützt wurde, bekam 45,3 Prozent. mit 49,6 Prozent die erforderliche absolute Mehr-
Die Mehrheit der Wähler, bilanziert Biograf Pyta, heit für eine Wiederwahl knapp, Hitler erhielt 30,1
berief „einen Mann an die Spitze des Staates, der ein Prozent der Stimmen.
zumindest ambivalentes Verhältnis zu den demo- Für den zweiten Wahlgang versuchte Hitler, einen
kratischen Institutionen dieses Staatswesens unter- Hohenzollernprinzen zur Kandidatur zu bewegen –
PRESSEBILDERDIENST KINDERMANN (O.); INTERFOTO (M.); AKG (U.)

hielt“. Innerlich habe der Präsident „nie auf dem in der Hoffnung, dass Hindenburg dann seine Be-
Boden des demokratischen Verfassungsstaates“ ge- werbung zurückziehen würde. Tatsächlich war Kron-
standen, „auch wenn er sich in formaler Hinsicht prinz Wilhelm fest entschlossen, über das Amt des
lange Zeit durchaus an die geltenden Verfahrenregeln Reichspräsidenten die Wiederherstellung der Mo-
hielt, ohne allerdings ihren Geist zu erfassen“. narchie anzusteuern. Er bat Hitler dafür um Unter-
Symptomatisch für Hindenburgs rückwärtsge- stützung und sicherte ihm im Gegenzug zu, dass er
wandte Haltung war seine Fahnenverordnung im ihn nach gewonnener Wahl zum Reichskanzler er-
ENTTÄUSCHTER GEFÄHRTE Jahr 1926. Der Präsident dekretierte, dass die Han- nennen werde. Allerdings machte der Kronprinz sei-
Wilhelm Groener, viele delsflagge mit den alten Kaiserfarben Schwarz-Weiß- ne Kandidatur von der Zustimmung seines Vaters
Jahre ein wichtiger Helfer Rot an den deutschen Gesandtschaften und Konsu- abhängig – doch der Ex-Kaiser legte aus den Nie-
Hindenburgs, wurde am laten im Ausland gleichberechtigt neben der schwarz- derlanden sein Veto ein.
Ende „kurz und ohne Scham- rot-goldenen Nationalflagge gehisst werden sollte. Hindenburg, glaubt Biograf Pyta, hätte wohl oh-
gefühl“ fallen gelassen. Der oberste Repräsentant der neuen Republik bie- nehin keinen Rückzieher gemacht, auch wenn der

50 spiegel special geschichte 1 | 2008


Kronprinz kandidiert hätte: „Hindenburg fehlte es an Weggefährten loszuwerden, setzte Hindenburg auf HANDSCHLAG
altpreußisch-konservativer Treue zum Monarchen dessen bisherigen Intimus Kurt von Schleicher, den Beim „Tag von Potsdam“
und der angestammten Dynastie, und seine monar- Chef des Ministeramts im Reichswehrministerium. am 21. März 1933 besiegel-
chische Gesinnung war letztlich nicht mehr als eine Ihn beauftragte er, Groener zu erledigen, das Kabi- ten Hitler und Hindenburg
unverbindliche Meinungsäußerung.“ So schätzte nett Brüning zu Fall zu bringen und ein Personal- ihr am 30. Januar geschlos-
auch August Wilhelm von Preußen, der vierte Kai- tableau für eine neue Reichsregierung zu schaffen. senes Aktionsbündnis.
sersohn und ein hochkarätiger SA-Mann, den Reichs- Groener wusste aus eigener Erfahrung, dass
präsidenten ein: Hindenburg, dessen war er sich si- althergebrachte preußische Vorstellungen von le-
cher, würde in jedem Fall kandidieren, „selbst wenn benslanger Treue nicht Hindenburgs Sache waren.
eine Kompanie von Preußenprinzen aufmarschierte“. Hindenburgs Wahlspruch „Die Treue ist das Mark
Die zweite Runde der Präsidentenwahl am 10. der Ehre“ entpuppte sich immer wieder als hohle
April 1932 entschied Hindenburg mit 53 Prozent für Phrase. Nüchtern erkannte der langjährige Hinden-
sich, doch Hitler kam immerhin auf fast 37 Prozent. burg-Vertraute: Der Reichspräsident „hat mich kurz „Wie kann ein
Es schmerzte Hindenburg, dass er seinen Sieg nicht
seinen politischen Freunden, sondern vor allem der
und ohne Schamgefühl fallen lassen“.
Ebenso erging es Brüning, der gerade noch am eif-
Mann, dessen
SPD und dem Zentrum verdankte, deren Wähler mit rigsten für Hindenburgs Wiederwahl geworben hat- Wähler in
eiserner Disziplin für ihn gestimmt hatten, um Hitler te. Das Staatsoberhaupt bestellte den Kanzler am Konzentra-
zu verhindern. 30. Mai 1932 um 11.55 Uhr ein – da er Punkt zwölf die
Mit der Wiederwahl Hindenburgs hatte Reichs- vor seinem Palais aufziehende Marinewache zu tionslager und
kanzler Brüning seine Schuldigkeit getan und am- begrüßen hatte, blieben gerade mal dreieinhalb Mi- SA-Keller
tierte nur noch als Regierungschef auf Abruf. Den- nuten, um jenen Mann zu verabschieden, den er
noch verfolgte er weiterhin den Auftrag des Reichs- wiederholt seines ungeteilten Vertrauens versichert geschleppt
präsidenten, „alle bürgerlichen Parteien einschließ- hatte. werden, sich
lich der Nationalsozialisten für eine Regierungsbil- Aus Verlegenheit, weil sich auf die Schnelle keine
dung zusammenzufassen“. bessere Lösung anbot, berief Hindenburg den
von den dafür
Im Widerspruch dazu schien die Notverordnung äußerst rechts stehenden Zentrumspolitiker Franz Verantwort-
HANS SCHALLER / DER SPIEGEL

zu stehen, die Hindenburg am 13. April unterzeich-


nete und mit der er die paramilitärischen Organisa-
von Papen zum Kanzler, der dem drohenden Partei-
ausschluss (wegen Desavouierung seines Partei-
lichen feiern
tionen der Hitler-Partei, SA und SS, reichsweit ver- freunds Brüning) durch Austritt zuvorkam. Papen lassen?“
bot. Schon kurz darauf setzte Hindenburg aber in sollte nur ein Interimskabinett führen, denn am 4.
HEINRICH BRÜNING, Ex-Kanz-
Umlauf, dass er zu diesem Schritt von Innenminister Juni löste Hindenburg den Reichstag schon wieder ler, über Hindenburgs Auftritt
Groener geradezu genötigt worden sei. Um den alten auf – von der Neuwahl versprach sich der Präsident beim „Tag von Potsdam“

spiegel special geschichte 1 | 2008 51


WEIMARS ENDE
eine Legitimation für die von ihm angestrebte Regierungs-
konstellation. Der Historiker Stephan Malinowski über
Hindenburg, argumentiert der Berliner Historiker Hein-
rich August Winkler, hätte Brüning im Amt belassen können die Begeisterung des deutschen
und sei keineswegs gezwungen gewesen, den Reichstag auf- Adels für die Nationalsozialisten
zulösen. Die reguläre Neuwahl stand erst im September 1934
an. Bis dahin hätte sich die Wirtschaft wahrscheinlich erholt,
die Arbeitslosenzahlen wären gesunken, der Zulauf zu den
radikalen Parteien wäre abgeebbt. „ALLE
In jedem Fall wäre es, so Winkler, „ein Gebot der Vernunft
und der Verantwortung gewesen, die gemäßigte, parlamen-
tarisch tolerierte Form der Präsidialregierung so lange wie
BERÜHMTEN
möglich beizubehalten“. Hätte sich Hindenburg „von dieser
Einsicht leiten lassen, wäre Hitler vermutlich nicht an die
Macht gekommen“.
FAMILIEN
Mit 37,4 Prozent errang die NSDAP am 31. Juli 1932 das
beste Ergebnis, das je eine Partei bei Reichstagswahlen in der
Weimarer Republik erzielen konnte. Aber auch zusammen
WAREN DABEI“
mit DNVP (6,2 Prozent) und DVP (1,2 Prozent) reichte es ✦
nicht zur absoluten Mehrheit. Allerdings waren die Natio-
nalsozialisten stark genug, um jede gegen ihren Willen ge-
bildete Regierung lähmen zu können. SPIEGEL: Herr Malinowski, Hitler
Einem Misstrauensantrag der KPD am 12. September ge- galt vielen Adligen als Parvenü.
gen die Regierung Papen schloss sich, neben allen anderen Henning von Tresckow soll ge-
Parteien außer DNVP und DVP, auch die NSDAP an – und sagt haben, man müsse ihn „wie
wieder wurde der Reichstag aufgelöst. einen tollen Hund abschießen“.
Nach der Neuwahl am 6. November, bei der die Nazi-Par- Was bedeutete dieser Herren-
tei auf 33,1 Prozent zurückfiel, erteilte Hindenburg Hitler habitus für das Verhältnis des
dennoch den Auftrag zur Regierungsbildung. Den gab der Adels zu den Nationalsozialis-
NS-Führer jedoch zwei Tage später zurück, weil er die Be- ten?
dingungen des Reichspräsidenten nicht akzeptieren mochte. Malinowski: Zunächst einmal
Gegen eine erneute Kanzlerschaft Papens legte Wehr- trug er dazu bei, dass Hitler
minister Schleicher quasi ein Veto ein – die Reichswehr kön- möglich wurde. Denn der Adel
ne die befürchteten politischen Streiks und Sabotageaktionen unterschätzte die Nazis aus ge-
von links und rechts nicht unter Kontrolle halten. Daraufhin nau dieser Herrenhaltung her-
ernannte Hindenburg Schleicher zum Kanzler – mit der Maß- aus – am deutlichsten formuliert
gabe, eine Tolerierung seiner Regierung durch die Nazis zu 1933 von Hitlers Steigbügelhalter
erreichen. Während sich Schleicher darum bemühte, ver- und Vizekanzler Franz von
handelte jedoch Papen bereits im Auftrag Hindenburgs mit STEPHAN MALINOWSKI, Papen: Man habe den NSDAP-
Hitler über dessen Berufung zum Kanzler. Jahrgang 1966, lehrt Chef „engagiert“, in zwei Mo-
Mit dem kühlen Hinweis, dass Schleichers Versuch, eine Neuere Geschichte an der naten sei Hitler „in die Ecke
Reichstagsmehrheit zu finden, gescheitert sei, entließ Hin- Freien Universität Berlin. gedrückt, dass er quietscht“. Be-
denburg den Kanzler am 28. Januar 1933. Schleicher reagier- Er ist Autor der 2004 im kanntlich kam es dann genau
te verbittert auf diesen Winkelzug: Natürlich habe der Präsi- Fischer Taschenbuch Verlag andersherum. Dieser Habitus
dent das Recht, ihn abzusetzen, sagte er bei der Verabschie- erschienenen Studie spielte dann aber auch für den
dung zu Hindenburg, „aber das Recht, hinter dem Rücken des „Vom König zum Führer“. Entschluss zum Staatsstreich
von Ihnen berufenen Kanzlers mit einem anderen zu paktie- eine Rolle, denn in einer Gesell-
ren, gestehe ich Ihnen nicht zu. Das ist Treubruch“. schaftsschicht, die tausend Jahre lang Herrschaft ausgeübt hatte,
Die Reichstagsneuwahl, die Hitler nach seiner Ernennung gab es kaum absolutes Parteigängertum und Führertreue bis zum
zum Kanzler mit Hindenburgs Hilfe ansteuerte, sollte dann bitteren Ende. Für den Adel war das eher eine Art selbstgewähl-
der letzte Urnengang sein. Die Rückkehr zum parlamenta- tes Bündnis. Zu den unbestreitbaren Ehrentaten der Männer des
rischen System sei unbedingt zu vermeiden, kündigte der 20. Juli gehört, dass sie dieses Bündnis von sich aus aufgekündigt
NS-Führer an. Ein Ermächtigungsgesetz, mit Zweidrittel- haben.
mehrheit beschlossen, würde die Regierung autorisieren, un- SPIEGEL: Aber was hatte der Nationalsozialismus Adligen über-
ter Ausschaltung des Parlaments Gesetze selbst zu verab- haupt zu bieten?
schieden. Dafür war Hindenburg bereit, teilweise auf seine Malinowski: Karrieren und Landbesitz zum Beispiel. Von den
präsidialen Befugnisse zu verzichten. rund 10 000 adligen Offizieren im Kaiserreich wurden nach 1918
Stundenlang marschierten am Abend des 30. Januar SA- nur rund 900 in die stark verkleinerte Reichswehr übernommen.
MONIKA ZUCHT / DER SPIEGEL (L.); INTERFOTO (R.)

und „Stahlhelm“-Verbände in einem kilometerlangen Fackel- Es gab nach dem Ersten Weltkrieg Tausende regelrecht arbeits-
zug auf der Wilhelmstraße erst an Hindenburg (in der alten lose preußische Adlige, die auf nichts anderes vorbereitet worden
Reichskanzlei, seinem provisorischen Amtssitz) und dann an waren als eine Karriere beim Militär – traditionell Absicherung
dem etwa hundert Meter entfernt auf dem Balkon der neu- für nachgeborene Söhne, die keinen Grundbesitz erbten.
en Reichskanzlei stehenden Hitler vorbei. Auch Zehntau- SPIEGEL: Und die Aufrüstung der Nazis öffnete dieses Tor dann
sende Zivilisten brachten beiden Ovationen dar. wieder.
Das imponierte Hindenburg, der sich darin bestärkt fühl- Malinowski: Richtig. Die Anzahl der adligen Offiziere schnellte
te, an diesem Tag die richtige Entscheidung getroffen zu ha- nach 1933 innerhalb von zwei Jahren von 900 auf rund 2300
ben: „Patriotischer Aufschwung sehr erfreulich“, schrieb er
seiner Tochter. ✦

52 spiegel special geschichte 1 | 2008


NAHAUFNAHME

hoch. Dazu kamen Karrierechancen als Folge politischer Säu- definiert. Dass auch die Nazis in Kategorien wie Blut und Rasse
berungen im höheren Verwaltungsdienst und in der Diplomatie. dachten, hat nachweislich viele Adlige angesprochen.
Nicht zu vergessen auch die Posten bei der SS – fast jeder fünf- SPIEGEL: Wie weit spielte der Adel den Nazis in die Hände?
te SS-Obergruppenführer, also die zweithöchste Rangstufe, Malinowski: Es gibt ab etwa 1930 eine nachweisbare Bewegung
stammte aus dem Adel. Es begegneten sich in der SS viele im gesamten deutschen Adel in die NSDAP hinein. Das fängt
klangvolle Namen: Alvensleben, Bülow, Pückler, Steuben, Us- mit August Wilhelm Prinz von Preußen an, dem vierten Sohn
lar, Westphalen oder Henckel-Donnersmarck. des letzten Kaisers, der in Bierzelten für die Nazis auftrat,
SPIEGEL: Und andere und gilt für viele andere
hofften auf Beuteland Geschlechter. Es gibt in-
aus Hitlers Feldzügen? nerhalb des preußischen
Malinowski: Die Nazis Adels praktisch keine der
hatten ja große Schwie- berühmten Familien, die
rigkeiten, für ihre Ost- nicht dabei ist.
siedlungspolitik das viel- SPIEGEL: Können Sie
beschworene „Volk ohne Zahlen nennen?
Raum“ zu finden. Aus Malinowski: In der win-
Arbeitern wollte Hitler zig kleinen Gruppe des
Wehrbauern machen, Hochadels werden rund
aber die mochten nicht. 70 Fürsten, Prinzen und
Ganz anders der Adel: Prinzessinnen noch vor
Der Großherzog von Ol- 1933 Parteigenossen. Bis
denburg etwa schrieb 1941 sind es etwa 270.
schon Anfang Juni 1941 Beim niederen Adel sieht
an SS-Chef Heinrich es nicht anders aus. Man
Himmler, dass einige sei- findet in den Mitglieds-
ner sechs Söhne gern im karteien der NSDAP 34
Osten siedeln würden, ob Bismarcks, 41 Schulen-
man sich nicht schon mal burgs, 43 Bredows, 40
eine Option für den Kauf Bülows, 43 Kleists, 53
„größerer Güter“ sichern Arnims, 78 Wedels – ins-
könne. Es gibt weitere gesamt allein aus einer
Beispiele. Hält man sich Stichprobe von 350 Fa-
den materiellen Aspekt milien fast 3600 Adlige.
vor Augen, ist es weniger Und jeder Vierte trat vor
erstaunlich, dass viele 1933 ein.
Adlige so lange mitge- SPIEGEL: Es gab unter
macht haben. den Edelleuten aber auch
SPIEGEL: Aber vor 1933 Demokraten. Wie ging
hatten die adligen Her- der Adel mit Standes-
ren doch allen Grund, genossen um, die sich
sich vor den Nazis eher zur Weimarer Republik
zu fürchten. In der bekannten?
NSDAP gab es einen Malinowski: Sie wurden
starken sozialistischen nicht mehr zur Jagd oder
Flügel, und unter Hitlers zu Bällen eingeladen,
SA-Schlägern fanden sich BRAUNER KAISERSOHN ihre Offizierskameraden
viele Proletarier und August Wilhelm Prinz von Preußen (M.), vierter Sohn Wilhelms II., in SA-Uniform schnitten sie, sie wurden
Landarbeiter. 1933 bei der Einführung des ehemals kaiserlichen Generalfeldmarschalls August von nicht mehr geheiratet,
Malinowski: Das Verhält- Mackensen (l.) als Preußischer Staatsrat, mit dem Reichsbischof der „Deutschen ihre Töchter wurden
nis zwischen Adel und Christen“, Ludwig Müller (r.). nicht mehr zum Tanz
Nationalsozialismus ist aufgefordert. Unter Um-
die Geschichte eines Missverständnisses. Was die Adligen in ständen wurden sie aus ihren Familienverbänden ausgeschlos-
der braunen Partei sahen, war nicht das, was sie dann bekamen. sen. Der schlesische Baron Kurt Freiherr von Reibnitz etwa, als
Als Kampfbewegung stand sie radikal gegen alles, wogegen sozialdemokratischer Staatsminister nach 1918 eine adlige Aus-
auch der Adel stand: Demokratie, Republik, Parlamentarismus, nahmegestalt, wurde von seinen Standesgenossen als „zucker-
Parteienstaat, Sozialdemokratie. Aus seiner Sicht war das also süßer Reibnitz“ verhöhnt und gesellschaftlich geschnitten.
eine Organisation, mit der man etwas anfangen konnte, die SPIEGEL: Immerhin waren es dann nicht zuletzt Adlige, die den
man reiten konnte wie ein Pferd – und es dauerte lange, bis der Mut aufbrachten, mit Hitler zu brechen und sich sogar aktiv ge-
Adel merkte, dass sich das Verhältnis von Ross und Reiter ver- gen ihn zu stellen.
kehrt hatte. Malinowski: Ohne Adel hätte es keinen 20. Juli 1944 gegeben –
SPIEGEL: Welchen Anteil hat der Antisemitismus? aber eben auch keinen 30. Januar 1933. Das Attentat ist der
Malinowski: Der größte deutsche Adelsverband, die Deutsche zweite Teil, zu dem ein erster Teil gehört. Und der scheint mir
Adelsgenossenschaft, führte bereits 1920 einen Arierpara- der wichtigere Part zu sein. Geschichte verläuft von hinten nach
graphen ein. Als Gruppe hat sich der Adel ja immer über Blut vorn. Interview: Hans Michael Kloth, Klaus Wiegrefe

spiegel special geschichte 1 | 2008 53


WEIMARS ENDE

Arbeitslosigkeit, Inflation, Dauerkrise der Politik – Frankreich hat in der Zwischenkriegszeit


vieles mit Deutschland gemein. Dennoch gerät dort die Demokratie nicht in Gefahr.
Auch bei den Nationalisten gibt es einen tiefsitzenden Respekt vor den republikanischen
Institutionen. Erst Hitlers Armee besiegelt das Ende der Dritten Republik.

AUFRUHR IN PARIS
Von Stefan Simons

D
ie Losung klingt nicht gerade nach Staats- Unter dem Druck der Öffentlichkeit und von sei-
Während sich streich: „Nieder mit den Räubern“, heißt ner eigenen Partei im Stich gelassen, tritt Edouard
die Parole, die am 6. Februar 1934 im Zen- Daladier, der gerade bestätigte Regierungschef, am
Kommunisten trum von Paris mehrere tausend Demon- Tag danach zurück; Präsident Albert Lebrun betraut
und Sozial- stranten mobilisiert. Während im Parlament die Ver-
trauensabstimmung über die gerade berufene Regie-
einen seiner Amtsvorgänger, Gaston Doumergue,
mit der Bildung einer breiten „Burgfrieden“-Koali-
demokraten in rung von Edouard Daladier ansteht, sammeln sich
vor der Oper die Anhänger rechter Organisationen –
tion – die Staatskrise ist abgewendet.
Der Anlass? Angesichts anderer kapitaler Finanz-
Deutschland „Action française“, „Jeunesses patriotes“, „Croix-
de-feu“ oder der Nationalen Union der Kriegsteil-
affären eine beinahe banale Serie von Betrügereien,
die schließlich in der sogenannten Stavisky-Affäre
bekämpften, nehmer. Aber auch Kommunisten und linke Vetera-
nen folgen dem Aufruf der KP-Zeitung „L’Huma-
kulminiert. Dahinter verbirgt sich die Karriere eines
gewieften Hochstaplers, der mit Charme und be-
stärkte in nité“ zum Kampf gegen Korruption und unsaubere
Machenschaften der Abgeordneten.
trächtlicher krimineller Energie ein Vermögen er-
schwindelt hat und – dank guter Beziehungen zu ho-
Frankreich eine Die Regierung hat Vorsichtsmaßnahmen getrof- hen Pariser Politikern – lange der Justiz entkommt.
vereinigte fen: Polizeikräfte und sogar Militär ziehen an den
Boulevards der Hauptstadt auf, die Seine-Brücke am
Während sich eine parlamentarische Untersu-
chungskommission mit den Hintergründen befasst,
Linke die Palais Bourbon, dem Sitz der Nationalversammlung,
wird von Gendarmen abgeriegelt. Am Nachmittag
streiten Linke wie Rechte über die historische Inter-
pretation der Vorfälle: Nationalisten und rechtsex-
Republik. kommt es vor der Oper zu ersten Zusammenstößen;
als der Marsch auf die Place de la Concorde mündet,
treme Randgruppen sprechen von einem Aufbegeh-
ren der Volksseele gegen eine verkommene Politi-
eskaliert die Kundgebung zur Straßenschlacht. Be- kerkaste – wenn nicht gar von der Abwehr einer
dräuenden bolschewistischen Revolution. Für Sozia-
listen und Kommunisten ist der Aufruhr nichts we-
niger als ein „faschistischer Putschversuch“.
Stand Frankreichs Demokratie damals vor dem
Zusammenbruch? Drohte, ein Jahr nach der Macht-
ergreifung der deutschen Nationalsozialisten, in Pa-
ris ein Umsturz durch rechtsextreme Kräfte?
„Autoritäre Entwicklungen waren durchaus vor-
handen, es gab eine Bandbreite nationalistischer Ver-
bände und Gruppierungen mit faschistisch geprägter
Ideologie und Praxis“, sagt der Augsburger Histori-
ker Andreas Wirsching, „doch die vielbeschworene
Putschgefahr gehört zum Gründungsmythos des fran-
zösischen Antifaschismus.“ Der Professor für Neue-
re und Neueste Geschichte, der in Paris die Polizei-
akten der Vorfälle einsah, ist überzeugt: „Keine der
politischen Organisationen besaß die Kraft, per Auf-
stand die Macht an sich zu reißen.“
Es fehlte aber nicht nur der „Wille zur Macht“
(Wirsching). Die ideologischen Grundlagen waren
ebenfalls andere als in Deutschland. Gewiss existierte
BITTERER SIEG rittene Garden treiben die Menschen auseinander, auch in Frankreich ein antisemitischer Reflex. Selbst
Am Arc de Triomphe in Paris dann, bei Einbruch der Dunkelheit, fallen Schüsse. bürgerliche Schichten, so Wirsching, seien „bisweilen
LÉON GIMPEL / GALERIE BILDERWELT

feiern die Franzosen 1919 Die Bilanz der Zusammenstöße: mindestens 15 von einem christlich-religiösen Antisemitismus er-
ihren Sieg über Deutsch- tote Demonstranten, ein getöteter Polizist, rund 1500 fasst“ worden.
land. Doch die Kriegsbilanz Verletzte. „Bürgerkrieg“, „Aufruhr von Faschisten Doch die Mixtur aus antikapitalistischen und an-
ist verheerend: 1,35 Millio- und Kommunisten“ und „Paris bedeckt von Blut“, tikommunistischen Feindbildern entlud sich nur sel-
nen eigene Soldaten sind schreiben die Zeitungen über die schlimmste Kon- ten in einem wirklich virulenten Judenhass. Selbst
gefallen oder werden vemisst, frontation in der Hauptstadt seit dem Aufstand der bei den Nationalisten und Faschisten nahestehenden
das Land ist praktisch pleite. Pariser Kommune 1871. Verbänden führte dumpf völkischer Antisemitismus

54 spiegel special geschichte 1 | 2008


nicht zu einer rechten Massenbewegung. Erst mit beschädigt, Eisenbahnlinien und Straßen unbe- REVOLTE
der deutschen Besatzung wucherten Verrat, Pogrome nutzbar, Felder und Wiesen durch Bombentrichter Am 6. Februar 1934, dem
und Deportation. umgepflügt, durch Minen und Gift unbrauchbar. Tag der großen Demonstra-
Und noch etwas unterschied Frankreich vom Die „Illusion des Sieges“ nennt Stefan Martens, Vize- tion in Paris, steht ein Auto-
deutschen Nachbarn: Während sich Kommunisten Direktor des Deutschen Historischen Instituts in bus auf der Place de la
und Sozialdemokraten in Deutschland erbittert Paris, die verquere Wahrnehmung der eigenen Concorde in Flammen.
bekämpften, stärkte in Frankreich eine vereinigte Grandeur.
Linke die Republik. Die Industrieproduktion hat sich seit Beginn des
Dennoch wird in den dreißiger Jahren des vorigen Krieges mehr als halbiert. Obendrein war der Krieg
Jahrhunderts Paris ebenso wie Jahre zuvor Berlin auf Pump geführt worden, Anleihen und Kriegs-
von Streiks und Straßenschlachten erschüttert, Be- kredite haben die Auslandsschulden astronomisch
stechungsaffären, Kungeleien und Korruption schwä- anschwellen lassen. Frankreich hat gesiegt, aber ist
chen das Ansehen der politischen Führungsriegen. praktisch pleite.
Regierungen wechseln zeitweise im Monatstakt. „L’Allemagne paiera“, heißt daher das Motto, mit
Arbeitslosigkeit, Inflation und Kapitalflucht ge- dem Paris umfangreiche Reparationszahlungen und
fährden die prekäre Stabilität, antidemokratische Sachleistungen einfordert. Außerdem muss Deutsch-
und totalitäre Vorstellungen gewinnen an Boden. Es land das Elsass und Lothringen abtreten, das Rhein-
ist eine Epoche, in der der Rechtsstaat in Deutsch- land kommt faktisch für gut ein Jahrzehnt unter fran- LINKER REFORMER
land wie in Frankreich von einem „ideologischen zösische Besatzung. Doch die Wirtschaft erholt sich Regierungschef Léon Blum
Zweifrontenkrieg“ (Wirsching) bedroht wird und sich nur schleppend, der Wert des Franc rutscht ab, zu- erhöht die Löhne, führt
mit Kommunismus und Rechtsextremismus konträre mal die USA und Großbritannien auf der Rückzah- Betriebsräte und bezahlten
demokratiefeindliche Bewegungen etablieren. lung ihrer während des Krieges gewährten Kredite Jahresurlaub ein. Dass sich
Die rasante Entwicklung der Gegensätze, die Eric bestehen. die wirtschaftliche Lage
Hobsbawm als „Zeitalter der Extreme“ charakteri- Vielleicht noch schlimmer: Mit dem Friedensver- Frankreichs verschlechtert,
siert hat, fußt in beiden Ländern auf den Ergebnissen trag bröckelt die Bündnistreue der Alliierten. Minis- kann er nicht verhindern.
des Ersten Weltkriegs. terpräsident Georges Clemenceau muss erleben, dass
Der Friedensvertrag von Versailles wird in US-Präsident Woodrow Wilson visionären Vorstel-
Deutschland zur Hypothek der Weimarer Republik. lungen vom Selbstbestimmungsrecht der Völker
In Frankreich hingegen wird der 11. November, der nachhängt, während Großbritanniens Premier Lloyd
Tag des Waffenstillstands 1918, zum Feiertag erklärt. George plötzlich darauf drängt, das geschlagene
Die alljährlichen Rituale vor den Gefallenendenk- Deutschland nicht zu sehr zu schwächen.
mälern verklären die Metzeleien in den Schützen- Außenpolitisch zunehmend isoliert, von Versor-
gräben zum Höhepunkt der republikanischen Er- gungsengpässen gebeutelt, kommen und gehen die
innerungskultur. Regierungen der Dritten Republik wie auf einer
KEYSTONE-FRANCE (O.); POPPERFOTO (U.)

Eine Selbsttäuschung angesichts der verheeren- Drehbühne – wobei die immer gleichen Protago-
den Kriegsbilanz: 1,35 Millionen Soldaten (10,5 Pro- nisten des politischen Schauspiels nur die Rollen
zent der männlichen Bevölkerung) sind gefallen wechseln.
oder werden vermisst. Die demografische Lücke wird Der Ruf nach Stabilität und Ordnung beschert
Frankreich lange belasten; 1931 erreicht die Zahl der der Republik 1919 ein Mitte-rechts-Bündnis, dem vie-
Erwerbstätigen 20,8 Millionen – etwa die Höhe von le ehemalige Militärs angehören. Während der „Bloc
1906 (20,4 Millionen). Der industrialisierte Norden national“ mit brachialer Härte Streiks gegen die
und der Osten sind verwüstet, 20 000 Fabriken sind Teuerung oder Ausstände für die Verstaatlichung der
spiegel special geschichte 1 | 2008 55
WEIMARS ENDE
Eisenbahn unterdrückt, spaltet sich die linke Bewe- duktion, dann brechen die Preise ein, bevor sich die
Zunächst sinkt gung 1920. Eine Minderheit versammelt sich hinter Abwärtsspirale in Bankrotten und Massenentlassun-
dem Sozialisten Léon Blum, die Mehrheit bildet die gen fortsetzt.
die Produktion, Moskau-nahe SFIC (Section française de l’interna- Die hereinbrechende Krise beschert den Linken
dann brechen tionale communiste), die spätere Kommunistische
Partei Frankreichs.
1932 einen erneuten Wahlsieg. Wie 1924 wird
Edouard Herriot vom „Parti radical“, der wichtigsten
die Preise ein, Das regierende Mitte-rechts-Bündnis wird vor al-
lem durch das wachsende Misstrauen gegenüber den
bürgerlich-linksrepublikanischen Formation, Regie-
rungschef, doch er bildet überraschend kein neues
bevor sich die USA und Großbritannien zusammengehalten – und
durch die Feindschaft zu Deutschland. Als Berlin
Linkskartell. Sein Versuch, die Ansprüche von Ka-
pital und Arbeit zu versöhnen, kann den wirtschaft-
Abwärtsspirale sich im Frühjahr 1921 weigert, die ultimativ auf 132
Milliarden Goldmark angesetzten Reparationen hin-
lichen Niedergang nicht aufhalten und endet im zer-
mürbenden Konflikt mit dem Parlament: In 18 Mo-
in Bankrotten zunehmen, marschieren alliierte Truppen in Duis-
burg-Ruhrort und in Düsseldorf ein; zwei Jahre spä-
naten wechseln sechsmal die Regierungen.
Der Frust über die verschlissenen politischen Al-
und Massen- ter besetzen Franzosen und Belgier nach neuem ternativen von Rechts bis Links, die Desillusionie-
entlassungen Streit das Ruhrgebiet. Das Vorgehen isoliert Paris
gegenüber Briten und Amerikanern; außerdem wird
rung über das herkömmliche demokratische System,
lässt Vereine und Verbände am rechten Rand des
fortsetzt. die Besatzung zum wirtschaftlichen Desaster. 1924
verordnet Regierungschef Raymond Poincaré eine
Parteienspektrums entstehen. Die sogenannten Ligen
mobilisieren die Verlierer der damaligen Globalisie-
drakonische Steuererhöhung – und verhilft damit rungskrise – allesamt beseelt von der Rückkehr der
den Linken zum Wahlsieg. Nation zu Autorität, Ordnung und Stabilität.
Als Poincaré-Nachfolger steht fortan Edouard Rechte wie rechtsextreme Bewegungen orientie-
Herriot einem wackligen Bündnis vor, das unter ren sich auch am faschistischen Vorbild Italiens:
dem Namen „Linkskartell“ firmiert. Außenpolitisch Gruppen wie „Faisceau“, „Francisme“ oder „Jeu-
setzt Herriot auf die Wiederannäherung an Groß- nesses patriotes“ sind straff organisiert, mit eigenen
britannien, die Anerkennung der Sowjetunion und Milizen und Sicherheitsdiensten, und verstehen sich
ein System kollektiver Sicherheit: Aristide Briand, vor allem als „Bewahrer der Nation“. Die „Solidarité
zwischen 1925 und 1932 fast ununterbrochen Frank- française“, gegründet vom Parfumhersteller François
reichs Außenminister, verständigt sich mit seinem Coty, verfolgt das Ziel einer plebiszitären Volks-
Kollegen Gustav Stresemann auf eine Reduzierung demokratie und tritt auch äußerlich auf wie die rech-
der Reparationen, die gegenseitige Anerkennung der ten Kameraden in den Nachbarländern: Uniformiert
Grenzen und Deutschlands Aufnahme in blauen Hemden, den gallischen Hahn als Emblem,
in den Völkerbund. Die Männer- verschafft sich der Verband vor allem dank seiner Ta-
freundschaft, für die beide 1926 mit geszeitung („L’Ami du peuple“) unter den Arbeitern
dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet großen Einfluss.
werden, sorgt für Annäherung, aber Intellektuell bedeutsamer ist die „Action fran-
mit ihrem Traum einer europäischen çaise“, ein zunächst monarchistischer Verband des
Aussöhnung sind die beiden Politiker Schriftstellers Charles Maurras. Zugleich nationalis-
ihrer Zeit weit voraus. tisch, militant katholisch und antisemitisch, versucht
Wirtschaftlich erleidet das Links- Maurras einen ideologischen Brückenschlag zwi-
kartell jedoch Schiffbruch. Saftige Ka- schen Traditionalisten und modernen Gegnern des
pitalsteuern und die Ausgabe von kurz- Parlamentarismus. Mit den „Camelots du roi“ ver-
fristigen Schuldverschreibungen er- fügt die Organisation zudem über eine mehrheitlich
schüttern das Vertrauen der Unterneh- studentische Einsatztruppe, die wegen ihrer aggres-
mer und beschleunigen die Kapital- siven Rauflust berüchtigt ist.
flucht. Unter dem Druck der Finanz- Straff organisiert tritt auch die Organisation
krise bricht im Juli 1926 das Kartell „Croix-de-feu“ auf den Plan: Einst ausschließlich
auseinander. Orden tragenden Frontkämpfern vorbehalten, wird
Poincaré, als Feuerwehrmann in der Verband unter Oberst François de La Rocque ab
wirtschaftlich schwierigen Zeiten be- 1931 zur militanten Organisation umgeformt. Unter
währt, wird Regierungschef einer Führung des Weltkriegsoffiziers und strammen Pa-
„Union nationale“. Mit einer drasti- trioten wandelt sich der Veteranenverein zu einer Mas-
schen Abwertung stoppt er den Verfall senorganisation. Ihre Gliederungen wie etwa der Ju-
AUSSÖHNUNG des Franc. Mit der Konsolidierung kehrt das abge- gendverband „Volontaires nationaux“ (späteres Mit-
Der französische Außen- wanderte Kapital zurück, innerhalb eines Jahres glied: François Mitterrand) verstehen sich als Stützen
minister Aristide Briand erreicht der notorisch defizitäre Haushalt schwarze der Nation – auch vor der „deutschen Gefahr“.
verständigte sich mit Zahlen. Der Aufschwung lässt die Zahl der Indu- Ihrer zahlenmäßigen Stärke zum Trotz addieren
seinem deutschen Kollegen striearbeiter bis 1931 auf sieben Millionen ansteigen, sich die rechtsradikalen und antiparlamentarischen
Gustav Stresemann darauf, und vor allem die Großunternehmen profitieren von Widersacher der Regierung aber nicht zur existenti-
die Reparationen zu redu- einem wahren Innovationsschub. Soziale Neuerun- ellen Bedrohung für die Dritte Republik. „Die Rech-
zieren und die Grenzen gen folgen: Sozialversicherung, freie höhere Schul- ten Frankreichs haben nicht die Organisationstiefe
gegenseitig anzuerkennen. bildung, eine Pension für Kriegsteilnehmer. der deutschen NSDAP“, erklärt Wirsching, „und bei
Der Aufwärtstrend hält sogar noch an, als nach vielen der Nationalisten verbirgt sich hinter virulen-
dem New Yorker Börsenkrach am Schwarzen Freitag tem Anti-Parlamentarismus ein tiefsitzender Respekt
1929 der Absturz der Weltwirtschaft ganz Europa er- vor der Institution der Republik.“
fasst. Doch die „größte Krise des modernen Kapita- Die ist daher nicht einmal am 6. Februar 1934 in
ULLSTEIN BILD

lismus“, so Historiker Martens, erreicht die Franzo- Gefahr, als sich der propagandistisch entfachte Volks-
sen nur mit Verzögerung: Zunächst sinkt die Pro- zorn gegen die Abgeordneten der Nationalver-

56 spiegel special geschichte 1 | 2008


sammlung richtet. Dennoch, sagt Historiker Mar-
tens, war die Konfrontation an der Concorde-Brücke
ein „Wendepunkt der französischen Geschichte“: Als
eine Woche später die Linken zum Generalstreik
und zu Demonstrationen aufrufen, treffen die ge-
trennt marschierenden Kolonnen von Sozialisten und
Kommunisten aufeinander und proben mit dem
Kampfruf „Gemeinsam handeln“ die spontane Ver-
brüderung. Auch die Parteispitzen folgen schließlich
der Solidarität an der Basis – das warnende Beispiel
von Hitlers Machtergreifung hat die KP-Führung
zum Kurswechsel bewogen. Statt sich zu bekämpfen,
formiert sich die Linke in Frankreich zur Volksfront
und stärkt damit die Republik.
Schon bei den Kommunalwahlen 1935 zeichnet
sich eine linke Sammlungsbewegung ab, der sich bald
auch die vereinigten Gewerkschaften anschließen.
Die Parlamentswahlen im April/Mai 1936 bestätigen
den Trend – die Volksfront siegt und verfügt über
eine Mehrheit von 386 zu 222 Stimmen.
Der Triumph löst landesweit Streiks von „volks-
festähnlichem Charakter“ aus. Fabriken und Werks-
hallen werden besetzt, die Kommunisten und Sozia-
listen feiern den Wahlerfolg als Sieg der Arbeiter-
klasse. Rote Fahnen werden geschwenkt, man streikt
für die 40-Stunden-Woche, aber es ertönt kein Ruf
nach einer kommunistischen Revolution, was die
bürgerliche Rechte radikalisiert hätte.
„Aus deutscher Perspektive ist es schon über-
raschend“, so Faschismus-Forscher Wirsching, „trotz
markiger Klassenkampfparolen und Revolutionsrhe-
torik werden in Frankreich sogar die Kommunisten
als quasi staatstragende Kräfte vorübergehend in den
Konsens der Republik integriert.“
Neuer Regierungschef wird der Sozialistenführer
Léon Blum, der binnen acht Wochen nach seinem
Amtsantritt eine lange Liste von Reformen abarbei-
tet: Betriebsräte werden per Gesetz ebenso verord-
net wie Lohnerhöhungen, Flächentarifverträge und
– als besondere Krönung der Volksfrontreformen –
zwei Wochen bezahlter Jahresurlaub. Erstmals fahren
Arbeiter und ihre Familien ans Meer, radeln an Tag des Einmarschs der Wehrmacht in Polen wird die DEUTSCH-FRANZÖSISCHES
Loire und Marne entlang oder entdecken Camping in Generalmobilmachung angeordnet und Deutschland VERHÄLTNIS
der Natur. am 3. September der Krieg erklärt. Der französische Minister-
Das Füllhorn sozialer Errungenschaften hat seinen Entlang der massiven Bunkeranlagen der Magi- präsident Edouard Daladier
wirtschaftlichen Preis. Die Lohnstückkosten erhö- not-Linie verharren die Franzosen acht Monate im (l.) sitzt am 29. September
hen sich, die Produktion geht zurück, bei steigender Sitzkrieg – wartend auf den Feind; diese sogenann- 1938 neben dem deutschen
Inflation. te „drôle de guerre“ endet mit dem deutschen An- Außenminister Joachim von
Gleichzeitig verschärft der Sieg der Linken die griff durch die Ardennen und dem Vorstoß an den Ribbentrop in einer Staats-
Gewaltbereitschaft rechtsextremer und faschistischer Ärmelkanal, am 14. Juni wird Paris besetzt. karosse auf dem Weg zu
Organisationen. Am rechten Rand formieren sich Ganz Frankreich befindet sich auf der Flucht. Adolf Hitler. Nicht einmal
politische Parteien. Eine von ihnen, der „Parti soci- Marschall Philippe Pétain übernimmt die Regierung. zwei Jahre später, am
al français“ des Obersts de La Rocque, schwillt auf Nach dem Waffenstillstand etabliert sich der Rumpf- 14. Juni 1940, paradieren
bis zu 700 000 Mitglieder an – und hat damit mehr staat in Vichy, im unbesetzten Süden Frankreichs, als deutsche Soldaten nach
Gefolgsleute als Sozialisten und Kommunisten zu- „Etat français“. Während General Charles de Gaulle dem Einmarsch durch Paris
sammen. Parallel dazu wachsen Fremdenhass und am 18. Juni von London aus – weitgehend ungehört (im Hintergrund der Arc de
Antisemitismus, auch gegen jene rund 50 000 Juden, – zum Widerstand aufruft, erhält der Marschall drei Triomphe).
die vor den Nazis aus Deutschland geflohen sind. Wochen später weitgehende Vollmachten, die die
Zusätzlich außenpolitisch unter Druck, verkün- parlamentarische Demokratie endgültig aushebeln.
GETTY IMAGES (O.); ARTHUR GRIMM / BPK (U.)

det Léon Blum im Februar 1937 eine „Pause“ bei den Es ist das Ende der Dritten Republik.
Wirtschaftsreformen und gibt im Juni ganz auf. Auch Die Vorfälle vom 6. Februar 1934 werden unter
eine zweite Regierung unter Blum scheitert ein Jahr deutscher Besatzung noch einmal propagandistisch
darauf. Nachfolger Edouard Daladier profitiert von aufbereitet: In der Wochenschau vom Februar 1944
einer kurzfristigen Konjunkturverbesserung, doch verkehrt das Vichy-Regime den antiparlamentari-
nun gerät Frankreich in den Strudel außenpolitischer schen Aufruhr an der Place de la Concorde zum Mas-
Konflikte: Das Münchner Abkommen, der deutsche senprotest aufrechter Franzosen gegen die „Fahrläs-
Einmarsch in der Tschechoslowakei, der Hitler-Sta- sigkeit eines Regimes“, das unter „jüdischem Einfluss
lin-Pakt polarisieren Parteien und Öffentlichkeit. Am den Krieg und die Niederlage“ herbeigeführt habe.✦
spiegel special geschichte 1 | 2008 57
WEIMARS ENDE

Die Demokratie hatte zwischen den beiden Weltkriegen in vielen europäischen Ländern
einen schweren Stand: Vom Baltikum bis zum Mittelmeer übernahmen
fast überall Diktatoren die Macht – doch keiner war so brutal wie Adolf Hitler.

„BLUT WIRD FLIESSEN“


Von Jan Puhl

P
uni∆a Ra‡i‡ trug einen Revolver unter sei- in Polen und Litauen, 1934 in Estland und Lettland.
Der Erste nem Jackett, als er am 20. Juni 1928 das Red- Auch in Albanien (1928), in Jugoslawien (1929), in
nerpult in der „Skup∆tina“, dem Parlament Bulgarien (1934), in Griechenland (1936) und in Ru-
Weltkrieg hatte des Königreichs der Serben, Kroaten und mänien (1938) entledigten sich Monarchen der Mit-
die Landkarte Slowenen, erklomm. Hass lag in der Luft zwischen
den Abgeordneten der verschiedenen Volksgruppen.
bestimmung durch Parlamente und regierten fortan
allein, setzten die Rechte der Bürger außer Kraft und
Europas Als der serbische Radikale Ra‡i‡ sprach, pöbelte ein
kroatischer Abgeordneter dazwischen. Da zog der
nahmen Oppositionelle nicht selten gefangen.
Doch war keines dieser Regime so brutal wie das
verändert, von Redner seine Waffe und gab den ersten Schuss in
Richtung der Parlamentarierreihen der Kroaten ab.
der Nationalsozialisten in Deutschland. Weder über-
fielen die Herrscher Polens, Ungarns oder der balti-
der Ostsee bis Zwar warf sich ihm der in der Nähe sitzende Jus-
tizminister in den Arm. „Blut wird fließen“, schrie je-
schen Staaten ihre Nachbarn, noch ließen die Königs-
Diktatoren des Balkan Juden in industriellem Maß-
zum Mittelmeer mand. Aber der vor Wut rasende Serbe war nicht zu
stoppen. Nacheinander schoss er drei Abgeordnete
stab ermorden. Nirgends stand hinter den autoritären
Herrschern eine Massenbewegung wie die NSDAP.
waren zwölf nieder, darunter den Führer der Kroaten, Stjepan Und nirgends wurden Regimegegner zu Tausenden in
neue Staaten Radic. Radic starb nach wochenlangem Siechtum an
seinen Verletzungen.
Konzentrationslager gesteckt oder gleich ermordet.
Das ist wohl auch einer der Gründe, warum heu-
entstanden. Alexander I., König der Serben, Kroaten und Slo-
wenen, kam das Blutbad in der Volksvertretung sehr
te in Osteuropa der Diktatoren der Zwischenkriegs-
zeit keineswegs mit Abscheu gedacht wird. „Wie die
gelegen, lieferte es ihm doch den Vorwand, 1929 die strahlende Baby-face-Sonne am Himmel der Tele-
ohnehin mageren demokratischen Rechte seiner Völ- tubbies schwebt sein Geist über der Erinnerung“,
ker zu kassieren und sein Reich, nun offiziell Jugo- schwärmt die estnische Zeitung „Eesti Päevaleht“
slawien genannt, in eine Diktatur zu verwandeln. über Konstantin Päts, der 1934 die Macht im Land
BALTISCHE DIKTATOREN Damit lag der Monarch voll im Trend seiner Zeit: übernommen hatte. Der Diktator verkörpere „für
Antanas Smetona, Der Erste Weltkrieg hatte Europas Landkarte verän- viele die vergangenen Tage des Glücks“.
Alleinherrscher in Litauen, dert. Aus der Konkursmasse des alten Deutschland, Auch in Polen wird Marschall Józef Pilsudski, der
behauptete ebenso wie die Österreich-Ungarns, des zaristischen Russland und sein Land 1918 in die Unabhängigkeit geführt hatte
Diktatoren Konstantin Päts des Osmanischen Reiches waren in einem Streifen und sich 1926 zum Alleinherrscher aufschwang, noch
aus Estland und Karlis von der Ostsee bis zum Mittelmeer zwölf neue Staa- heute kultisch verehrt. Täglich brennen vor seiner Sta-
Ulmanis aus Lettland, die ten entstanden. Sie alle experimentierten mit der De- tue an der Warschauer Ujazdowski-Straße rote Kerzen.
Demokratie sei für die mokratie, doch nur in der Tschechoslowakei und in Der autoritäre Herrscher wird in Polen vor allem
wirtschaftlichen Probleme Finnland überlebte die Volksherrschaft. Ansonsten über- als Staatsgründer nach rund 150 Jahren unter
verantwortlich. nahmen Diktatoren die Macht: 1919 in Ungarn, 1926 preußisch-deutscher, russischer und österreichischer

ULLSTEIN BILD (2); ULLSTEIN BILD / IMAGNO (R.)

58 spiegel special geschichte 1 | 2008


Europas Diktaturen NORWEGEN
1934
E S T L A N D Päts
Totalitäre und autoritäre Regime
in der Zwischenkriegszeit Nord s e e
SCHWEDEN 1934
L E T T L A N D Ulmanis
GROSS- DÄNEMARK
IRLAND LITAUEN
BRITANNIEN 1926
Smetona
N I E DE R- 1933
L A N DE Hitler SOWJETUNION
1926
B E LG I E N DEUTSCHES REICH Pilsudski
Atlantik POLEN 1917
LUX . TSCHECHO- Lenin
SLOWAKEI
1934
FRANKREICH Dollfuß 1919
SCHWEIZ Horthy 1938
ÖSTERREICH König Carol II.
UNGARN
1926 RUMÄNIEN
ITALIEN 1929
Carmona König Alexander I.
PORTUGAL 1934 S c h wa r z e s M e e r
SPANIEN JUGOSLAWIEN Militärputsch
1939 1922 BULGARIEN
Franco Mussolini 1925
Zogu
ALBANIEN TÜ R K E I
M i t tel m e e r 1936
Metaxas
GRIECHEN-
LAND

Herrschaft hoch geachtet. Und er gilt als Garant für Besonders glühte der Hass dort, wo politische
Ruhe und Ordnung. und soziale Gegensätze entlang ethnischer Grenzen
Eine „Sanacja“, eine Heilung, versprach der Mar- verliefen, wie in Jugoslawien. Dort warfen sich Ser-
schall nach seinem Putsch den Polen. Er trat an, um ben und Kroaten gegenseitig vor, die Vorherrschaft
mit dem Hader der Parteien aufzuräumen. Den em- über das jeweils andere Volk errichten oder sich ab-
pfanden auch viele von Pilsudskis Landsleuten als spalten zu wollen.
unfruchtbar. Wie in vielen europäischen Ländern Im Baltikum, aber auch anderswo musste zudem
glaubten auch die Polen, dass die Demokratie schuld die angebliche Gefahr einer kommunistischen Macht-
sei an den gewaltigen wirtschaftlichen Problemen, an ergreifung als Begründung für das Ende der Demo-
der hohen Arbeitslosigkeit und an der außenpoliti- kratie herhalten. Im Schatten der gewaltigen So-
schen Machtlosigkeit ihres Landes. Ganz ähnlich tön- wjetunion mit ihrem Anspruch, die Revolution in
te es aus Estland, wo Konstantin Päts diktatorisch die ganze Welt zu tragen, könne man sich keine lan-
herrschte, aus dem Litauen des Diktators Antanas gen demokratischen Debatten leisten, lautete das Ar-
Smetona und von Karlis Ulmanis in Lettland: Die gument der neuen Alleinherrscher.
Demokratie gefährde die Nation, nur ein starker In Ungarn kämpfte Miklós Horthy zunächst eine
Führer bringe die Rettung. Er allein könne einen Räterepublik nieder, bevor er am 16. November 1919
notwendigen „Heilungs- und Gesundungsprozess“ an der Spitze seiner siegreichen Truppen auf dem
ins Werk setzen, an dessen Ende in ferner Zukunft Rücken eines weißen Pferdes in Budapest einritt.
das politische Erwachsensein und – vielleicht – die Die Angst vor den Roten, vor der Arbeiterrevolte,
Rückkehr zur Demokratie stehen werde. ließ Horthy kräftig schüren. Sich selbst präsentierte
In der Tat waren viele Parlamente der Zwi- er stets als Beschützer Ungarns vor revolutionärem
schenkriegszeit kaum handlungsfähig, die Regierun- Ungemach.
gen wechselten im Jahrestakt. Nach Jahrhunderten Wichtigstes Anliegen aller Zwischenkriegsherr-
unter der Knute des Zaren oder anderer reaktionä- scher war der „starke und effiziente nationale Staat“.
rer Monarchen hatte sich kaum irgendwo eine de- Um ihn zu erreichen, wählten die meisten eine ver- UNGARNS HERRSCHER
mokratische Kultur herausbilden können. Politische gleichsweise milde Form der Diktatur. In Lettland, Li- Miklós Horthy ließ zu,
Gegner standen sich hasserfüllt gegenüber, radikales tauen, Estland und Polen blieben die Parlamente we- dass Freischärler und
Freund-Feind-Denken beherrschte die Köpfe, und nigstens formell bestehen und die Parteien erlaubt. In bewaffnete Offizierskorps
der Kompromiss galt als Niederlage. Polen ging Pilsudski erst 1930 zur offenen Diktatur Jagd auf Kommunisten
Verschärft wurden die politischen Konflikte noch über. Etwa tausend Oppositionspolitiker kamen in und Juden machten.
durch gewaltige soziale Ungleichheiten. Nirgends in Haft. Die meisten wurden im Militärgefängnis Brest- Etwa 5000 Menschen
Ostmitteleuropa war die Industrialisierung so weit Litowsk festgesetzt und schikaniert. fielen dem Terror des
fortgeschritten, dass sich – außer in den großen Städ- Admiral Horthy griff zu brutaleren Mitteln. Er Diktators zum Opfer.
ten – ein stabiles, politisch selbstbewusstes Bürger- ließ zu, dass bewaffnete Offizierskorps und Freischär-
tum gebildet hatte. Stattdessen gaben vielerorts noch ler Jagd auf Kommunisten und Juden machten. Der
feudale Grundbesitzer den politischen Ton an, denen Kommunismus war in den Augen Horthys die von
eine zunehmend verarmende Bauernschicht ge- den Juden angestrebte Form der Weltherrschaft.
genüberstand. Etwa 5000 Menschen fielen dem „weißen Terror“ –
AKG

spiegel special geschichte 1 | 2008 59


WEIMARS ENDE
Die Pfeilkreuzler so genannt nach der Farbe des Pferdes, mit dem Hor- lung zu bekämpfen. Um sich dennoch ein Mindest-
thy einst in Budapest eingeritten war – zum Opfer, maß an Legitimität zu sichern, forcierten sie natio-
Die ungarische Partei
mehr als 70 000 Horthy-Gegner wurden in Lagern nalistische Propaganda. Sie vertraten ein romanti-
entstand aus der 1935
festgesetzt. sches, rückwärtsgewandtes Bild von der Nation als
gegründeten rechts-
Mit äußerster Härte ging auch Ioannis Metaxas, einer autonomen, harmonischen Gemeinschaft. Die
extremen „Partei des
der in Griechenland die Herrschaft an sich gerissen Kehrseite dieser Propaganda war, dass ethnische
Nationalen Willens“.
hatte, gegen Oppositionelle vor. „Der Polizeiapparat Minderheiten zu Sündenböcken gestempelt und ver-
Ihr Emblem ähnelte
bildete das Rückgrat des Regimes“, schreibt die His- folgt wurden.
dem Hakenkreuz der
torikerin Susanne-Sophia Spiliotis. Metaxas habe In Rumänien, Bulgarien, Ungarn und Serbien
deutschen Nazis: Ein
eine „beispiellose Entfesselung von Willkür und Bru- wurden Juden diskriminiert und mit Sondergeset-
schwarzes Kreuz in
talität“ erlaubt. Gegner des Regimes wurden ver- zen aus dem öffentlichen und wirtschaftlichen Leben
einem weißen Kreis auf
schleppt, gefoltert und nicht selten ermordet. gedrängt – jedoch nirgendwo in Konzentrations-
rotem Grund. Auch
Vielerorts versuchten die Diktatoren ihre Macht lager gepfercht. Erst als die Nazis Ungarn und den
ideologisch standen sie
abzusichern, indem sie sich eigene Parteien oder Balkan unter ihre Kontrolle gebracht hatten, wurde
den Nationalsozialisten
Sammlungsbewegungen schufen. So ließ Pilsudski in dort die systematische Judenvernichtung ins Werk
nahe. Als 1944 die
Polen den „Parteilosen Block zur Zusammenarbeit gesetzt.
Wehrmacht in Ungarn
mit der Regierung“ formen. Ähnliche Organisationen Marschall Pilsudski in Polen hatte sich zeilebens
einmarschiert war,
legten sich die Herrscher des Baltikums zu. Am wei- gegen eine antijüdische Politik gewandt. Nach seinem
machten sich die Pfeil-
testen ging Metaxas in Griechenland: Er versuchte Tod übernahmen seine Nachfolger den Antisemitis-
kreuzler zu Handlan-
die Gesellschaft nach faschistischem Muster gleich- mus der national-demokratischen Opposition.
gern der Nazis. Sie
zuschalten. Schlüsselpositionen in den Berufsver- Den Diktatoren Ulmanis, Päts und Smetona ließe
terrorisierten politische
bänden und Gewerkschaften wurden mit Gesin- sich als Verdienst anrechnen, dass sie faschistische
Gegner und beteiligten
nungsgenossen besetzt. Kinder und Jugendliche Bewegungen von der Macht fernhielten. Selbst Ad-
sich an der Deportation
mussten der Organisation Eon beitreten, die sie auf miral Horthy beteiligte die faschistischen Pfeilkreuz-
und Ermordung von
nationale Ziele einschwor. ler nicht an der Regierung. Erst nach seinem Sturz,
rund einer halben
Den Diktatoren und autoritär regierenden Köni- als sich Ungarn schon in einer hoffnungslosen Ab-
Million ungarischer
gen gelang es nirgends, politische Ruhe und nationale hängigkeit zum „Dritten Reich“ befand, gelangten sie
Juden.
Harmonie herbeizuführen. Mit Unterdrückung, Ver- an die Macht.
boten und nicht selten Gewalt versuchten sie, die Territorial vertrat keiner der Herrscher Mittelost-
Widersprüche der Zwischenkriegsgesellschaften zu europas expansive Pläne. Allein Ungarn strebte da-
beseitigen. Keiner der Herrscher in Mittelosteuropa nach, den Vertrag von Trianon zu revidieren, indem
konnte Millionen für eine Massenbewegung mobili- es 1920 zwei Drittel seines bisherigen Territoriums an
sieren – so wie es Mussolini in Italien oder Hitler in die Tschechoslowakei, Rumänien, Jugoslawien und
Deutschland gelungen war. Österreich verloren hatte.
Als Träger und Stützen der Zwischenkriegsdikta- Historiker wie der Osteuropa-Experte Erwin
ILLUSTRE GESELLSCHAFT turen fungierten die Eliten der Beamten und der Mi- Oberländer attestieren den autoritären Regimen der
Anfang der zwanziger Jahre litärs. Sie hatten ihre soziale Stellung vielerorts noch Zwischenkriegszeit eine „erstaunliche Konzep-
traf sich der polnische vor dem Krieg unter den Habsburgern, Romanows tionslosigkeit“. Päts, Smetona, Ulmanis, Horthy,
Marschall Józef Pilsudski oder Osmanen erklommen. Pilsudski, Metaxas und die Könige des Balkan lös-
(3. v. l) mit königlichen Deshalb unterblieben soziale Experimente. Nir- ten keinen bedeutenden Modernisierungsschub in
Hoheiten aus Rumänien und gendwo versuchten die Diktatoren, das gerade auf Richtung einer verstärkten Industrialisierung aus.
Griechenland. dem Land weitverbreitete Elend durch Umvertei- Sie ließen die soziale Frage unangetastet. Ihr Na-
tionalismus verhinder-
te, dass sie sich ge-
gen Hitlers Expan-
sionsdrang zusammen-
schlossen, und ihre
Diktaturen ließen eine
demokratische Kultur
gar nicht erst ent-
stehen.
Von diesem Mangel
sollte nach 1945 die
Sowjetunion profitie-
ren. „Die autoritären
Strukturen“, so Ober-
länder, „erwiesen sich
als ideale Vorausset-
zung für die Macht-
übernahme der Kom-
munisten.“ Kaum ir-
gendwo hatten sie sich
mit selbstbewussten
Bürgern herumzuschla-
gen, sie mussten nur
die einen Herrscher
GETTY IMAGES

durch die anderen er-


setzen. ✦

60 spiegel special geschichte 1 | 2008


HITLERS MACHTERGREIFUNG

Hitler-Gegner – unter ihnen der Sozialdemokrat


Friedrich Ebert (5. v. r.), der Sohn des ersten
Reichspräsidenten – im August 1933
bei der Einlieferung ins KZ Oranienburg

2 DER WEG
IN DIE
DIKTATUR
Vom 30. Januar 1933 an baute Hitler die Nazi-Herrschaft aus.
Das Land wurde gleichgeschaltet. Sozialdemokraten und
Kommunisten wurden verfolgt, missliebige Künstler verfemt.
Im März entstanden die ersten Konzentrationslager.
Die Reichswehr unterwarf sich dem Diktator freiwillig.
BPK

spiegel special geschichte 1 | 2008 61


DER WEG IN DIE DIKTATUR

62 spiegel special geschichte 1 | 2008


AUFMARSCH
Auf dem Nürnberger
Parteitag der NSDAP
1938 präsentiert sich die
deutsche Sportjugend.

DIE
UNTER-
WERFUNG
Einmal an der Regierung, machte sich Adolf
Hitler das Land in kurzer Zeit
untertan. Mit Terror und Notverordnungen,
unterzeichnet vom Reichspräsidenten.
Und mit Hilfe der vielen Deutschen, die
freiwillig kollaborierten.
Von Georg Bönisch

S
eit dem 30. Januar 1933 war Adolf Hitler nun also Reichs-
kanzler – ein Traum für seine Parteigänger, ein Alptraum für
seine Gegner. Die meisten anderen aber schienen davon
anfangs eher unberührt zu bleiben. Schulterzucken bei denen,
für die Hitler nicht der große Heilsbringer war. Und wer sich nicht als
Aktivist gegen die braune Partei verstand, lebte erst einmal sein Leben
weiter – die bösen Erfahrungen der letzten Jahre, die große Wirt-
schaftskrise, ließen die meisten Menschen zweifeln, dass es zu Ände-
rungen, also Verbesserungen, kommen könnte.
Manchen schien es einfach belanglos zu sein, dass es nun diesen Hit-
ler in der Reichskanzlei gab. Londons Botschafter Horace Rumbold
etwa beobachtete, dass die Ernennung des obersten Nationalsozialis-
ten vielerorts „phlegmatisch“ aufgenommen worden sei, und Karl
Barth, ein führender evangelischer Theologe, wollte nicht glauben,
dass jener Tag „in irgendeiner Richtung den Anbruch großer Neuig-
keiten bedeuten“ werde.
Andere wiederum waren überzeugt davon, der Ex-Gefreite Hitler
werde nicht länger Kanzler sein als sein Vorgänger Kurt von Schlei-
cher, der General: 57 Tage. Franz von Papen, Hitlers Stellvertreter im
Amt, legte sich sogar fest: „In zwei Monaten haben wir Hitler in die
Ecke gedrückt, dass er quietscht.“
Irrtümer, wie sie größer nicht hätten sein können.
Ein Irrtum war es auch, sich vorzustellen, Hitler im Kabinett auf die
Rolle des Juniorpartners festlegen zu können. In dieser Phantasie aber
GETTY IMAGES

lebten Hitlers konservative Gefährten. Gewiss, seine Macht schien eng


begrenzt: Die Reichswehr blieb Domäne des Reichspräsidenten Paul von
Hindenburg, das Reichskommissariat für Preußen, des größten und

spiegel special geschichte 1 | 2008 63


CHRONIK 1933–1934

DIE GLEICHSCHALTUNG
27. Februar 1933 Reichstagsbrand. Kommunis- Juni/Juli 1933 Auflösung aller Parteien mit
ten, Sozialdemokraten und andere Linke, darunter Ausnahme der NSDAP.
auch der spätere Friedensnobelpreisträger Carl von
Ossietzky, werden kurz darauf verhaftet. 14. Juli 1933 Die Neubildung von Parteien wird
per Gesetz verboten, das „Gesetz zur Verhütung
28. Februar 1933 Mit der „Notverordnung zum erbkranken Nachwuchses“ wird verabschiedet.
Schutz von Volk und Staat“, auch „Reichstags- Per Gesetz wird eingebürgerten Juden, vor allem
brandverordnung“ genannt, werden die wichtigsten aus Osteuropa, die deutsche Staatsangehörigkeit
Grundrechte der Weimarer Verfassung außer Kraft aberkannt.
gesetzt.
20. Juli 1933 Konkordat zwischen Deutschland
23. März 1933 Der Reichstag verabschiedet das und dem Vatikan.
sogenannte Ermächtigungsgesetz. Danach kann
die Reichsregierung Gesetze ohne Zustimmung des 26. Juli 1933 Juden werden zur Auswanderung
Reichstags erlassen. Nur die Sozialdemokraten gedrängt und sollen eine „Reichsfluchtsteuer“
stimmen gegen das Gesetz. zahlen.

1. April 1933 Julius Strei- 22. August 1933 Zahlrei-


cher und Joseph Goebbels che Orte schließen Juden
organisieren einen reichs- von Badestränden und
weiten Boykott jüdischer öffentlichen Bädern aus.
Geschäfte.
22. September 1933 Das
7. April 1933 Die Reichs- Reichskulturkammergesetz
regierung erlässt das „Ge- bestimmt, dass alle „Kultur-
setz zur Wiederherstellung schaffenden“ einer Kam-
des Berufsbeamtentums“, mer angehören müssen.
das sich gegen alle richtet, Juden sind ausgeschlossen.
die dem Regime nicht ge-
nehm sind, vor allem aber 29. September 1933
gegen „nichtarische“ Beam- Nach dem Reichserbhofge-
te, die es vom Staatsdienst setz kann nur Bauer sein, wer
ausschließt. Für jüdische deutscher Staatsbürger und
Frontkämpfer im Ersten „arischer“ Abstammung ist.
Weltkrieg gibt es bis zu den
Nürnberger Gesetzen (1935) 14. Oktober 1933
eine Ausnahmeregelung, Deutschland verlässt den
dann können auch sie keine Völkerbund.
Beamten mehr sein.
12. März 1934 Die
22. April 1933 „Nicht- Boykottaufruf im April 1933 Reichswehr führt den
arische“ Lehrer werden aus „Arierparagraphen“ ein.
den Lehrervereinen ausgeschlossen. „Nicht-
arische“ und „marxistische“ Ärzte verlieren ihre 20. April 1934 Heinrich Himmler wird Chef der
Kassenzulassung. Der Deutsche Apothekerverein Gestapo in Berlin.
schließt „Nichtarier“ aus.
24. April 1934 In Berlin wird der „Volksgerichts-
25. April 1933 Numerus clausus für jüdische hof“ als Sondergericht eröffnet.
Studenten und Schüler.
30. Juni bis 2. Juli 1934 Hitler lässt SA-Chef
2. bis 10. Mai 1933 Auflösung der Gewerk- Ernst Röhm und weitere SA-Anführer und poli-
schaften. Die unabhängigen Arbeiterorganisationen tische Konkurrenten verhaften und ermorden.
werden durch die nationalsozialistische Deutsche
Arbeitsfront (DAF) ersetzt. 2. August 1934 Reichspräsident Paul von Hin-
denburg stirbt. Die Ämter Kanzler und Präsident
10. Mai 1933 Auf dem Opernplatz in Berlin, werden zusammengefasst. Hitler nennt sich nun
aber auch in anderen Städten, werden Bücher ver- „Führer und Reichskanzler“. Am selben Tag wird
brannt, die die Nazis für „undeutsch“ halten. die Wehrmacht auf Hitler vereidigt.
ULLSTEIN BILD

64 spiegel special geschichte 1 | 2008


DER WEG IN DIE DIKTATUR

wichtigsten Landes, kontrollierte Vizekanzler Papen, Innerhalb von nur 14 Wochen wurden die Ge- ANDRANG ZUR WAHL
und Alfred Hugenberg, der Medienzar und Vorsit- werkschaften, die zu den mächtigsten der Welt ge- Vor einem Berliner Wahl-
zende der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP), hört hatten, aufgelöst. Innerhalb von nur 23 Wochen lokal steht Alfred Hugen-
genoss als Superminister – zuständig für Wirtschaft, waren die Oppositionsparteien verboten – oder sie berg (M.) in der Schlange,
Ernährung, Landwirtschaft – seinen vermeintlich hatten sich selbst aufgelöst. Übrig blieb nur noch um am 5. März 1933 seine
großen Einfluss. eine Partei: die NSDAP. Stimme abzugeben. Trotz
Doch Hitler war nicht der Mann, der sich mit der Wie ein böses Geschwür hatte sich der totalitäre aller Manipulationen schaff-
Rolle eines Juniorpartners begnügte. Der skrupellose Staat in fast sämtliche Lebensbereiche hineingefres- te die NSDAP nur zusam-
Machtmensch war getrieben von einem so brennen- sen. Am Ende, nach Hindenburgs Tod, hatten auch men mit Hugenbergs DNVP
den Ehrgeiz, und seine konservativen Steigbügelhal- die Streitkräfte nichts Eiligeres zu tun, als Hitler ewi- und dem „Stahlhelm“ den
ter waren ihm so wenig gewachsen, dass es systema- ge Treue zu schwören und „unbedingten Gehorsam“ Sprung über die 50-Prozent-
tischer Diktaturpläne gar nicht bedurfte. An Hitlers – zuvor waren Soldaten auf die Verfassung vereidigt Marke.
Griff zur Alleinherrschaft erscheint es Zeitgeschicht- worden.
lern deshalb heute nicht bemerkenswert, wie viel der Nur wenige erkannten offenbar die Bedeutung
Reichskanzler unternehmen musste, um die Auswei- dieses letzten Schritts, einer war der jüdische Ge-
tung und Festigung seiner Macht zu erreichen, lehrte Victor Klemperer. Nach Hindenburgs Tod „Der vollkom-
sondern wie wenig. „Die Diktatur Hitlers“, sagt der
britische Historiker Ian Kershaw, „kam ebenso sehr
schrieb er in sein Tagebuch: „Der vollkommene
Staatsstreich wird vom Volk kaum gemerkt. Ich
mene Staats-
durch andere zustande wie durch ihn selbst.“ möchte schwören, dass Millionen gar nicht ahnen, streich wird
Dieser Marsch in den totalitären Staat, Start am was für Ungeheures geschehen ist.“ vom Volk
30. Januar 1933, Ziel am 2. August 1934 mit dem To-
de Hindenburgs, war möglich durch eine, so Kershaw,
™ kaum bemerkt.
Ich möchte
H
„Mischung aus pseudogesetzlichen Maßnahmen, mas- itler hatte die Verfassung quasi außer Kraft
siver Propaganda, Terror, Manipulation und – be- gesetzt, aber er bediente sich ihrer eiskalt,
reitwilliger Kollaboration“. Für die praktische Um- wenn sie ihm Vorteile verschaffte – durch schwören, dass
setzung dieser braunen Revolution war schnell ein Notverordnungen, die der Reichspräsident in einsa- Millionen gar
Begriff gefunden, der aus dem Fachwortschatz der mer Entscheidung erließ, in den ersten 53 Tagen seit
Elektrotechnik stammt: Gleichschaltung. dem 30. Januar waren es glatte 20. Sie schufen, gleich
nicht ahnen,
Innerhalb von nur vier Wochen existierten die in zu Beginn, die „machtpolitischen Voraussetzungen was für
der Weimarer Verfassung geschützten Bürgerrechte
nicht mehr. Innerhalb von nur acht Wochen war
für die pseudoparlamentarische Legalisierung der
Diktatur“, analysierte der Geschichtsforscher Karl
Ungeheures
nicht mehr das Parlament Herr der Gesetzgebung, Dietrich Bracher. geschehen ist.“
sondern Hitler – viele seiner politischen Widerparts Thema Nummer eins war sofort nach Hitlers Re- VICTOR KLEMPERER,
auf sozialdemokratischer und kommunistischer Sei- gierungsantritt die Auflösung des Reichstags, waren Tagebucheintrag
te waren geflüchtet, inhaftiert oder ermordet. die Neuwahlen. Der neue Regierungschef hoffte, auf am 4. August 1934
BPK

spiegel special geschichte 1 | 2008 65


DER WEG IN DIE DIKTATUR
SPALIER
Joseph Goebbels, Adolf
Hitler und Rudolf Hess beim
Einzug am 24. Oktober 1933
in den Berliner Sportpalast.

diese Weise hinter die Reichsregierung die absolute Tage entgegenschwebt“. Eine Hoffnung, die trog; der
Mehrheit zu bekommen. In der pazifistischen Zeit- jüdische Journalist Wolff, heute Namensgeber eines
schrift „Weltbühne“ schrieb Herausgeber Carl von der renommiertesten Auszeichnungen seines Be-
Ossietzky: „Der Acheron schäumt.“ Acheron ist in rufsstandes, starb 1943 nach KZ-Haft in einem jüdi-
der griechischen Mythologie der Fluss der Unter- schen Krankenhaus in Berlin.
welt. Ossietzkys Bild passte genau. Auch die Sozialdemokraten glaubten noch, die
Im Kabinett machte Hitler keinen Hehl daraus, Braunen niederringen zu können. Die Arbeiter-
welche Absichten er verfolgte. In „bindenden Ver- schaft stehe bereit, hieß es aus der SPD-Führung,
sprechungen“ gab er, so ein Protokoll, die Marsch- „um den Abwehrkampf gegen alle reaktionären Be-
„Wir Männer richtung vor: „a) Der Ausgang einer Neuwahl zum strebungen mit allen zur Verfügung stehenden Mit-
Reichstag solle keinen Einfluss auf die Zusammen- teln zu führen“. Und die KPD rief auf zum General-
dieser Regie- setzung der jetzigen Reichsregierung haben, b) die streik in Berlin, in anderen Großstädten und im
rung fühlen nun bevorstehende Wahl zum Reichstag solle die Ruhrgebiet.
uns vor der letzte Neuwahl sein. Die Rückkehr zum parlamen-
tarischen System sei unbedingt zu vermeiden.“
Doch der Kampf der Arbeiterbewegung gegen
das braune Regime blieb aus. Warum? Sicher ist,
deutschen Neuwahlen, das hieß Wahlkampf, und Wahlkampf dass Hitler einen solchen Ausstand fürchtete, doch
Geschichte hieß in dieser Zeit: Auseinandersetzung bis zum
Bürgerkrieg, Angriff auf das demokratische System,
angesichts der Massenarbeitslosigkeit war von vorn-
herein fraglich, ob genügend Beschäftigte die Arbeit
verantwortlich Hetze gegen Sozialdemokraten und Kommunisten. niederlegen und ihren Job riskieren würden. Hinzu
für die Dazu: Verhöhnung auch der deutschnationalen Hu- kam, dass die Kommunisten die Sozialdemokraten
genberg-Partei, die zusammen mit Hitler regierte seit Jahren als „Sozialfaschisten“ erbittert bekämpf-
Wiederher- und deren parlamentarische Basis mit 52 von 584 ten, was eine gemeinsame Front gegen Hitler ver-
stellung eines Mandaten ohnehin ziemlich schwach war. hinderte.
Schon diese Zahl zeigte, wie wenig die konserva- So wurde am Ende nur an wenigen Orten wirk-
geordneten tiven Partner Hitlers in der Lage waren, den politi- lich gestreikt, etwa im 4200-Seelen-Städtchen Mös-
Volkskörpers.“ schen Aufsteiger im Zaum zu halten. Hugenberg soll- singen am nördlichen Rand der Schwäbischen Alb.
te recht behalten, als er nur kurz nach Antritt des Einige hundert Textilarbeiter riefen Parolen wie
ADOLF HITLER Hitler-Kabinetts mit sich selbst haderte: „Ich habe die „Hitler verrecke“ oder „Hitler bedeutet Krieg“, als
in seiner ersten Rundfunk-
ansprache am 1. Februar 1933 größte Dummheit meines Lebens begangen. Ich habe aber ein kleiner Trupp Polizisten aufkreuzte, wurde
mich mit dem größten Demagogen der Weltgeschich- die Erhebung abgeblasen.
te verbündet.“ ™
Am selben Tag, dem 31. Januar 1933, leitartikelte

A
im „Berliner Tageblatt“ der große Publizist Theodor m 1. Februar ordnete Hindenburg die Auf-
Wolff über Hitlers, über Deutschlands Zukunft. Ja, lösung des Parlaments an, „damit das deut-
man habe viel erreicht, ja, man werde „gewiss noch sche Volk durch Wahl eines neuen Reichs-
mehr“ erreichen. Aber: Man werde „nicht verhin- tages zu der neu gebildeten Regierung des natio-
ULLSTEIN BILD

dern, dass in einem großen Volke seelischer und geis- nalen Zusammenschlusses Stellung nimmt“. Als
tiger Widerstand wächst und wartet, seinem eigenen Termin für die Neuwahl wurde der 5. März festge-

66 spiegel special geschichte 1 | 2008


legt, und Hitler gab die
Wahlparole aus: „An-
griff gegen den Marxis-
mus“. Der Reichskanz-
ler meinte damit nicht
nur die KPD, sondern
die Linke insgesamt.
Am Abend, Punkt 22
Uhr, sprach Hitler erst-
mals im Radio, und die-
ses Medium sollte ihm
schon bald riesige Pro-
pagandaerfolge bringen.
Er trug einen dunkel-
blauen Anzug mit
schwarzweißer Krawat-
te, schwitzte stark vor
Aufregung und redete
ungewohnt langsam und
monoton.
„Vierzehn Jahre Mar-
xismus haben Deutsch-
land ruiniert“, sprach er
ins Mikrofon, „ein Jahr
Bolschewismus würde
Deutschland vernich-
ten.“ Deshalb habe der
Reichspräsident seiner
Regierung die „Mission“
übertragen, Deutschland
zu retten – die „schwers-
te, die seit Menschen-
gedenken deutschen
Staatsmännern gestellt
wurde“.
Anschließend kündig-
te Hitler zwei „Vierjah-
respläne“ an, um das
„große Werk der Reor-
ganisation der Wirt-
schaft“ zu starten. Ers-
tens müssten die Bauern
der „Verelendung entris-
sen“ werden, zweitens
müsse binnen vier Jah-
ren die „Arbeitslosigkeit
endgültig überwunden“
sein. Wie das allerdings
erreicht werden sollte,
blieb für das Publikum
an den Lautsprechern
zunächst ein Geheimnis.
Das Ergebnis der Wei-
marer Republik sei, so
Hitler, ein „Trümmer-
feld“, weshalb er jetzt
vier Jahre Zeit brauche.
Dann, sagte er an das
„deutsche Volk“ gewandt, dann „urteile und rich- würde“, sagte er – und fügte an, diese Worte gälten PERSONENKULT
te uns!“ Schließlich forderte er den Segen des All- „trotz unserer Liebe zu unserem Heere als Träger Mit einer gigantischen
mächtigen ein. unserer Waffen und Symbol unserer großen Ver- Militärparade wurde am
Und noch etwas war an dieser Rede bemerkens- gangenheit“. 20. April 1939 in Berlin
wert. Hitler versuchte, sich als Mann des Friedens Als Hitler zwei Tage später hohen und höchsten Hitlers 50. Geburtstag ge-
zu präsentieren, mit einer verschrobenen Formu- Reichswehroffizieren seine Aufwartung machte, feiert.
lierung indes. Die deutsche Regierung wäre „be- klang das ganz anders. Zwar wirkte der Reichs-
glückt, wenn die Welt durch eine Beschränkung kanzler in der Runde etwas linkisch, aber das ver-
GETTY IMAGES

ihrer Rüstungen eine Vermehrung unserer eige- wässerte keineswegs die Gewalt seiner Worte. End-
nen Waffen niemals mehr erforderlich machen lich müsse der „Krebsschaden der Demokratie“ be-
spiegel special geschichte 1 | 2008 67
SCHRECKENS- seitigt und müssten die innenpolitischen Zustände sarischer Leiter des preußischen Innenministeriums,
HERRSCHAFT völlig umgekehrt werden, kündigte er an, eine Op- verhehlte nicht, wie er die Durchsetzung dieser von
In einem der SA-Folterkeller, position sei nicht zu tolerieren. Kurzum: „Wer sich Hindenburg unterzeichneten Bestimmung umsetzen
die von den Nazis überall nicht bekehren lässt, muss gebeugt werden. Aus- wollte: „Hier habe ich keine Gerechtigkeit zu üben,
im Land eingerichtet rottung des Marxismus mit Stumpf und Stiel.“ hier habe ich nur zu vernichten und auszurotten.“
wurden, bewacht ein SA- Auch darüber, welche Rolle das Militär künftig zu Martialische Worte, die die Menschen im Wahlkampf
Mann gefangengenommene spielen habe, ließ er seine Zuhörer nicht im Unkla- noch öfter zu hören bekommen sollten.
Regimegegner. Nach dem ren: Weil der „Lebensraum“ für das deutsche „Volk Bald darauf ordnete Göring an, jedwede nationa-
Reichstagsbrand am 27. zu klein“ sei, müsse in anderen Kategorien gedacht le Propaganda zu unterstützen, jedwede feindselige
Februar 1933 wurden bis werden. Sein Vorschlag: „Eroberung neuen Le- Haltung gegen nationale Verbände wie den „Stahl-
April 1933 allein in Preu- bensraumes im Osten und dessen rücksichtslose helm“ strikt zu unterbinden, „wenn nötig“, mit der
ßen über 25 000 Menschen Germanisierung“. Schusswaffe.
festgesetzt. Deshalb sei der Ausbau der Streitkräfte vorran- Und er machte den Kommunisten klar, wen er in
giges Ziel, und dazu müsse die allgemeine Wehr- den „Todeskampf“ gegen sie führen werde – die
pflicht wieder eingeführt werden – was nach den „Braunhemden“ nämlich, 25000 Mitglieder der bru-
Bestimmungen des Versailler Vertrags verboten talen Eingreiftruppe SA, die in einem wahnwitzigen,
war. Und dann sagte er einen Satz, der den Herren aber für die Zeit nach Hitlers Machtantritt typischen
besonders gut tun musste: Die Wehrmacht sei die Verwaltungsakt zu preußischen Hilfspolizisten auf-
wichtigste Institution im Staate. gestiegen waren. Noch einmal so viele Schläger ka-
Lebensraum, Eroberung, Germanisierung, Rück- men vom „Stahlhelm“ und aus den Reihen von Hit-
sichtslosigkeit. Krieg? lers persönlichem Schutzkommando, der SS – alle
„Die Republik Hitler hatte der Generalität keinen konkreten trugen weiße Armbinden, eine Farbe, die diesmal
hat die Bataille Kriegsplan vorgelegt, aber wer nur ein bisschen mitnichten die Farbe der Kapitulation war.
verloren, weil Vorstellungskraft besaß, der wusste: „Lebensraum“ Da stand nun also eine Bürgerkriegsarmee.
im Osten konnte nur durch Krieg erreicht werden. Schlagkräftig im Sinne des Wortes, hörig, hasserfüllt
es ihr an dem Nach außen aber ließ Hitler weiter Schalmeien- – und schon deswegen allzeit bereit, weil die Nazis
notwendigen töne erklingen. Britischen, italienischen und ame-
rikanischen Journalisten diktierte er in den Block:
eine regelrechte antikommunistische Paranoia er-
zeugt hatten. Eine Terrorwelle überrollte das Land
Lebenswillen „Niemand wünscht den Frieden mehr als ich.“ – deutliches Zeichen für den Zivilisationsbruch, der
fehlte, über ™
dem „Dritten Reich“ seinen besonderen histori-
schen Charakter geben sollte.
den die Rechte
T
ags darauf, am 4. Februar, trat reichsweit eine Derweil gerierte sich Hitler ganz als konventio-
in hohem „Verordnung zum Schutze des deutschen Vol- neller Staatsmann. Die Parteiuniform hatte er ab-
SÜDDEUTSCHER VERLAG

kes“ in Kraft, euphemistischer hätte eine Titu- gelegt, seit er als Kanzler eines „Kabinetts der Na-
Maße verfügt.“ latur nicht sein können. Kommunistische und sozial- tionalen Konzentration“ in die traditionsreiche Wil-
CARL VON OSSIETZKY, demokratische Zeitungen wurden nach und nach helmstraße 71 gezogen war, an jenem historischen
Herausgeber der „Weltbühne“ verboten. Hitlers Adlatus Hermann Göring, kommis- Arbeitsplatz den würdigen Nachfolger Bismarcks

68 spiegel special geschichte 1 | 2008


DER WEG IN DIE DIKTATUR
mimend. Meist trug er FAMILIENIDYLL
einen Zweireiher, und Die Lehrertochter Eva
das „Abenteuer Regie- Braun arbeitete seit 1929
rung faszinierte ihn so bei einem Münchner Foto-
sehr“ (Heinz Höhne), grafen, durch den sie
dass er zunächst die Adolf Hitler kennenlernte.
üblichen Wochenend- Der „Führer“ und seine
flüge nach München Geliebte, die hier mit
zu seiner Freundin Eva Töchtern einer Braun-
Braun einstellte. Freundin posieren, heira-
Eva, 20, die als teten erst 1945, kurz
Sekretärin in einem vor ihrem gemeinsamen
Fotostudio arbeitete, Selbstmord.
hörte die Nachricht
von Hitlers Ernennung
von einer katholischen
Armenschwester, die
verkündete: „Welches
Glück, dass der freund-
liche Herr Hitler die
Macht übernommen
hat. Gott sei gelobt!“
Man muss sich die
politischen und sozia-
len Verhältnisse im Fe-
bruar 1933 so vorstel-
len: Parteien, die ver-
sagt hatten, ein alter
Reichspräsident, der
ratlos von Kanzler zu
Kanzler gesprungen
war, über sechs Millionen Arbeitslose, demorali- Brandes in Kraft trat – ein Freibrief, der wesentliche NAZI-KITSCH
siert, zermürbt, ein armseliges Leben führend. Grundrechte der (formal weiterexistierenden) Wei- Die Firma Steiff produzierte
Und zwischen allem und über allem einer, der marer Verfassung außer Kraft setzte. Fortan konn- eine Puppe, die einen
sich als Heilsbringer anpries: Hitler. te jeder ohne Anklage und Beweise verhaftet wer- SA-Mann mit Hitlergruß
In diese Welt der Gewalt, der Depression, der den, Wohnungen konnten durchsucht, Briefe geöff- darstellte.
aufgeheizten Propaganda und der Einschüchterung net, Telefone abgehört, Zeitungen zensiert werden.
schlug am 27. Februar eine Nachricht ein, die das Fortan befand sich das Land in einem permanenten
Leben in Nazi-Deutschland brutal verändern sollte Ausnahmezustand, konnte die Jagd auf Hitlers
– in Berlin brannte das Reichstagsgebäude. Gegner mit dem Anschein des Rechts ver-
War die Tat eine nationalsozialistische Provoka- nebelt werden.
tion? Hatte der niederländische Anarchokommunist Fast schon todesmutig schrieb damals
Marinus van der Lubbe, der als Täter gestellt und der Satiriker Walter Mehring: „Und dann
später hingerichtet wurde, Hintermänner, oder hat- kreiste zurück die Jahrhundertuhr / Zu
te er den Brand allein gelegt? Bis heute wird dar- ewiger Mitternacht / Und wenn die be-
über gestritten. Allerdings sind die meisten Histo- rauschte Kreatur / Vom Traum erwacht /
riker davon überzeugt, dass van der Lubbe, wie er Geht alles rückwärts und verquer / Rück-
selbst behauptete, auf eigene Faust gehandelt hat. wärts und verquer / Zu Hexenbränden und
Unstrittig jedoch ist, dass Hitler und die Seinen Judenpogrom.“
die Flammen im Reichstag sogleich für ihre Zwecke ™
zu nutzen wussten, um politische Gegner auszu-

S
schalten und bei den anstehenden Wahlen mit Will- onntag, 5. März 1933, Wahltag. Historiker
kür und Terror die absolute Mehrheit zu organisie- haben diese Wahl, die ja die letzte sein sollte,
ren. „Das ist ein gottgebenes Zeichen, Herr Vize- als „halbfrei“ bezeichnet. An den Urnen
kanzler!“, behauptete Hitler Papen gegenüber. herrschte beträchtlicher Andrang: 88,8 Prozent
„Wenn dieser Brand, wie ich glaube, das Werk der aller Wahlberechtigten stimmten ab, also knapp
Kommunisten ist, dann müssen wir diese Mörder- 40 Millionen Menschen, ein Rekord.
pest mit eiserner Faust vernichten.“ Hitlers NSDAP, im Wahlkampf inzwischen von
Noch in der Brandnacht begannen Polizei und der gesamten Großindustrie massiv gefördert, er-
SA, Kommunisten und andere Linke wie den spä- reichte bei weitem nicht die angestrebte absolute
teren Friedensnobelpreisträger Carl von Ossietzky Mehrheit, sie kam auf 43,9 Prozent – was im 647-
zu verhaften. SA-Männer schlugen ihre Opfer zu- köpfigen Reichstag 288 Sitze ausmachte. Erst die gut
sammen, folterten manche zu Tode. 8 Prozent von DNVP und „Stahlhelm“ verhalfen
ULLSTEIN BILD (O.); BPK (R.)

Und wieder war Hindenburg zur Stelle, der der Regierung zum Sprung über die 50-Prozent-
Reichspräsident, und spielte den Nationalsozialisten Marke und versetzten Hitler in die Lage, endgültig
in die Hände – mit der „Verordnung zum Schutz die Macht zu ergreifen. Denn nun riss der Regie-
von Volk und Staat“, der sogenannten Reichstags- rungschef, der den ihn enttäuschenden Wahlaus-
brand-Verordnung, die am Tag nach Entdecken des gang kurzerhand in eine „Revolution“ umdeutete,
spiegel special geschichte 1 | 2008 69
DER WEG IN DIE DIKTATUR

REICHSTAGSBRAND handstreichartig auch jene Länder des Reichs an Polizisten, eigentlich die Hüter der Ordnung, Kritik
Am 27. Februar 1933 schlu- sich, die noch nicht in seiner Gewalt waren: Ham- übten. Haft- und Folterstätten schossen wie Pilze
gen Flammen aus dem burg etwa oder Hessen, Baden und Bayern, Würt- aus dem Boden, und schon bald gehörte ein böser
Reichstag in Berlin. Als temberg oder Sachsen. Satz zum allgemeinen Sprachgebrauch: „Sei still,
Brandstifter wurde dem Die Selbständigkeit der Länder war ein prägendes sonst kommst du nach Dachau!“
holländischen Anarchokom- Erbe der deutschen Geschichte. Jetzt marschierten Jetzt schlug die Stunde des Joseph Goebbels, der
munisten Marinus van der SA- und SS-Truppen auf, umlagerten Amtsgebäude, nach den Wahlen aufgestiegen war zum Reichs-
Lubbe (stehend) vor dem Hakenkreuzfahnen wurden aufgezogen, Bürger- minister für Volksaufklärung und Propaganda –
Reichsgericht in Leipzig der meister, Polizeipräsidenten, ganze Regierungen ga- einer weltweit einzigartigen Behörde zur Kontrol-
Prozess gemacht. Er wurde ben nahezu widerstandslos auf, innerhalb von fünf le der öffentlichen Meinung und zur fast religiösen
am 10. Januar 1934 durch Tagen wurden die Länder linientreu gemacht – wo Überhöhung des NS-Regimes. Goebbels organi-
das Fallbeil hingerichtet. Im es sein musste, auch mit brachialer Gewalt. sierte am 21. März in Potsdam einen Staatsakt, den
Dezember vorigen Jahres „Wir sagen nicht: Aug’ um Auge, Zahn um „Tag von Potsdam“, der eines beweisen sollte: dass
wurde das Todesurteil als Zahn“, deklamierte der württembergische Gauleiter die Hitler-Bewegung in der Tradition des Bismarck-
unrechtmäßig aufgehoben. Wilhelm Murr. „Nein, wer uns ein Auge einschlägt, Reiches stand. Das neue Deutschland, aufgebaut
dem werden wir den Kopf abschlagen, wer uns ei- auf dem Ruhm der preußischen Vergangenheit.
nen Zahn ausschlägt, dem werden wir den Kiefer In der Garnisonkirche, wo Friedrich der Große
einschlagen.“ und sein Vater, der „Soldatenkönig“, ihre letzte
Mit der Reichstagsbrand-Verordnung waren alle Ruhestätte gefunden hatten, ging die Hauptzere-
Machtmittel direkt an den Reichskanzler und des- monie vonstatten, der Rundfunk übertrug live, die
sen Parteifreund, Innenminister Wilhelm Frick, ge- Kinder hatten schulfrei. Hindenburg erschien in
bunden – und nicht etwa an den Reichspräsidenten, der Uniform des preußischen Generalfeldmar-
dessen Unterschrift die Bestimmung nur trug. Auch schalls, vor dem leeren Thron des letzten Kaisers,
Hitlers Vize Papen und DNVP-Chef Hugenberg der im niederländischen Exil lebte, hob er grüßend
waren von diesem Zeitpunkt an nur noch Mehr- seinen Marschallstab. Hitler trug, ganz Staatsmann,
SÜDDEUTSCHER VERLAG (L.); AKG (R.)

heitsbeschaffer, und das auch nur für kurze Zeit. einen dunklen Cutaway.
Am 21. März brachte Hindenburg die Verord- An den Gräbern der Könige wurden Kränze nie-
nung „zur Abwehr heimtückischer Angriffe gegen dergelegt, Soldaten schossen Salut. „Dank Ihrem
die Regierung der nationalen Erhebung“ auf den Verstehen, Herr Reichspräsident“, predigte Hitler,
Weg – „unwahre“ Kritik an der Hitler-Regierung sei die „Vermählung vollzogen“ worden „zwischen
wurde formell unter Strafe gestellt. Die Zahl der den Symbolen der alten Größe und der jungen
Denunziationen stieg daraufhin so massiv an, dass Kraft“. Er, lobte Hitler den alten Herrn, habe die-

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sem „jungen Deutsch-
land am 30. Januar 1933
vom Verhalten des Zentrums und der Bayerischen
Volkspartei, den innerlich zerrissenen Parteien des
„Ich wollte
in großherzigem Ent- politischen Katholizismus – sie hätten den Weg den deutschen
schluss die Führung des in den Abgrund vielleicht verhindern können. Als Arbeitern ein
Reiches anvertraut“. Hitler, diesmal in brauner Uniform, versicherte,
Goebbels notierte: die christlichen Religionsgemeinschaften seien die Vorbild geben;
„Am Schluss sind alle „wichtigsten Faktoren zur Erhaltung unseres Volks- sie sollten
auf das tiefste erschüt- tums“ und deren Rechte würden nicht angetastet,
tert. Ich sitze nahe bei durfte er sich dieser Stimmen sicher sein. endlich ihre
Hindenburg und sehe, Um 18.16 Uhr trat der SPD-Vorsitzende Otto Wels Rechte durch-
wie ihm die Tränen in ans Mikrofon, in den Händen das Manuskript einer
die Augen steigen. Der Rede, die der Journalist Friedrich Stampfer für ihn drücken.“
Schild der deutschen aufgeschrieben hatte – diese Rede war das letzte MARINUS VAN DER LUBBE
Ehre ist wieder reinge- öffentliche Bekenntnis zur Demokratie. zur Erklärung, warum er den
waschen.“ Wels sprach ruhig, bedacht, und er ließ sich nicht Reichstag in Brand gesetzt
hatte

ablenken vom Gelächter der Nationalsozialisten,
das immer wieder im Sitzungsprotokoll vermerkt

D
er Propaganda- ist. „Sie“, wandte er sich an die NSDAP-Abgeord-
coup von Pots- neten, „wollen vorerst den Reichstag ausschalten,
dam diente nicht um Ihre Revolution fortzusetzen. Zerstörung von
nur dazu, die Symbiose Bestehendem“ aber, betonte Wels, sei längst „kei-
der revolutionär-natio- ne Revolution“.
nalsozialistischen Bewe- Bevor Hitlers Parteigänger „stürmische Heil-
gung (in der Figur Hit- Rufe“ (Protokoll) brüllten, bekannte sich der SPD-
lers) und des bürgerlich- Chef „in dieser geschichtlichen Stunde feierlich zu
konservativen Patriotis- den Grundsätzen der Menschlichkeit und der Ge-
mus (in der Figur Hin- rechtigkeit, der Freiheit und des Sozialismus“. Und
denburgs) vor den Au- er ging den Regierungschef an: „Kein Ermächti-
gen aller darzustellen. gungsgesetz gibt Ihnen die Macht, Ideen, die ewig
Er war darüber hinaus und unzerstörbar sind, zu vernichten.“
die emotionale Vorbe- Hitler schäumte vor Wut, auf dem Weg zum Red-
reitung auf ein Ereignis nerpult stieß er seinen Vize Papen, der ihn zu be-
zwei Tage später, das die sänftigen suchte, heftig beiseite. „Ich will auch gar
Selbstentmachtung der nicht, dass Sie dafür stimmen“, schrie er in Rich-
Parteien bedeutete – die tung Sozialdemokraten. „Deutschland soll frei wer-
Verabschiedung des Er- den, aber nicht durch Sie!“
mächtigungsgesetzes, dessen offizielle Bezeichnung, 444 Abgeordnete stimmten schließlich für das
„Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Ermächtigungsgesetz, eine ganz breite Mehrheit.
Reich“, viel dramatischer klingt. Der Zentrumsvorsitzende Ludwig Kaas, ein Theo-
Seit November 1932 schon stand ein solches Ge- loge, argumentierte mit der „brennenden Not, in
setz auf der Wunschliste Hitlers und seiner Entou- der Volk und Staat gegenwärtig stehen“. Die Libe-
rage. Seine Ziele: Ausschaltung des Parlaments, ralen – auch der Abgeordnete Theodor Heuss, spä-
Gesetzgeber sollte die Regierung sein. Ausschal- ter erster Bundespräsident – hatten ihre „ernsten
tung der Verfassung, Hitler wollte nicht mehr ab- Bedenken“ zurückgestellt „in der Erwartung einer
hängig sein von Hindenburgs Notverordnungen. gesetzmäßigen Entwicklung“.
Neue Gesetze brauchten nicht mehr verfassungs- Schon am nächsten Tag trat das Gesetz, das Hit-
konform zu sein. ler eine „Entscheidung über Frieden oder Krieg“
Die Reichstagssitzung am 23. März begann um genannt hatte, in Kraft. Der „Völkische Beobach- GAULEITER
14.05 Uhr. Ein riesiges Hakenkreuz prangte ein- ter“, das Zentralorgan der NSDAP, kommentierte, Wilhelm Murr war Statthal-
schüchternd an der Wand hinter der Rednertribü- Hitler könne nun „alles tun, was notwendig ist für ter Hitlers in Württemberg.
ne in der Berliner Kroll-Oper, die nach dem Reichs- die Rettung Deutschlands“. Gegnern drohte er mit der
tagsbrand als Ausweichquartier diente. Männer der Im Klartext hieß dies: Die Illusion, Hitlers Bewe- Anwendung brachialer
SA, der SS und des „Stahlhelm“ bewachten die gung nutzen zu können zur Errichtung eines auto- Gewalt. „Wer uns ein Auge
Eingänge, etliche brüllten: „Wir fordern das Er- ritären Staates im Sinne Papens und Hugenbergs, einschlägt“, deklamierte er,
mächtigungsgesetz, sonst gibt’s Zunder!“ hatte sich nach kürzester Zeit aufgelöst. Der Mann „dem werden wir den Kopf
Das Plenum war nicht vollzählig. 107 Abgeordne- war auf dem Weg zur Diktatur, endgültig. abschlagen.“
te der SPD und der KPD fehlten – sie saßen in Haft ™
oder hatten aus Angst um ihr Leben die Flucht er-

B
griffen. Hitler brauchte eine Zweidrittelmehrheit, ald schon war auch keine Rede mehr von der
und deshalb tricksten Innenminister Frick und „nationalen Revolution“ – sondern von der
Reichstagspräsident Göring. Unentschuldigt feh- nationalsozialistischen. Die Gleichschaltung,
lende Abgeordnete galten als „anwesend“, ein der Begriff tauchte erstmals auf in einem Gesetz
Boykott der Sitzung hätte also nichts genützt; die vom 31. März 1933, erfasste alle Bereiche der Poli-
KPD-Mandate wurden als nicht existent deklariert, tik und des sozialen Lebens, und mit Hitlers Macht-
so dass sich die „gesetzliche Mitgliederzahl“ des antritt war der Antisemitismus, die rassistisch be-
Reichstags um 81 verminderte. gründete Feindschaft den Juden gegenüber, Staats-
Dennoch, trotz dieser Manipulationen blieb die doktrin geworden. Am 1. April 1933 organisierte
Koalition aus NSDAP und Konservativen abhängig die NSDAP eine reichsweite Boykottaktion gegen
BPK

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GELÖBNISFEIER jüdische Kaufleute, Ärzte und Anwälte – „Deut- den.“ Erich Kästner war der einzige Autor, der bei
Jedes Mal am Jahrestag sche! Wehrt Euch!“ lautete die Parole, der Boykott der Vernichtung eigener Werke zugegen war: Ein-
des am 9. November 1923 wurde allerdings schon bald wegen zu geringer Re- gekeilt zwischen Studenten in SA-Uniform, „den
gescheiterten Hitler- sonanz und außenpolitischen Drucks abgebrochen. Blüten der Nation“, habe er den „schmalzigen Tira-
Putsches, den die NS-Pro- Vom 7. April an galt das „Gesetz zur Wiederher- den des kleinen abgefeimten Lügners“ zugehört,
paganda als „Marsch auf stellung des Berufsbeamtentums“, das im Wider- eine „theatralische Frechheit“.
die Feldherrnhalle“ verklär- spruch zu seinem Wortlaut politisch unliebsame Auch die Bücher eines Heinrich Heine wurden
te, wurden um Mitternacht Beamte aus dem Staatsdienst warf, vor allem Juden. zu Asche. Er hatte geschrieben: „Dort wo man
an der historischen Stätte Sie wurden ersetzt durch NS-Parteigänger. Ein neu- Bücher verbrennt, verbrennt man auch am Ende
SS-Männer vereidigt (wie er Begriff machte die Runde: „Arierparagraph“. Menschen.“ Eine Prophezeiung, die sich bald schon
hier 1938). Darin hieß es wörtlich: „Beamte, die nicht arischer bewahrheiten sollte.
Abstammung sind, sind in den Ruhestand zu ver- ™
setzen.“ Das klang recht harmlos, war aber in aller

W
Regel ein späteres Todesurteil. ar Hitler unmittelbar nach seiner Inthroni-
Die Zerschlagung der Gewerkschaften bedeute- sierung vielen noch gleichgültig, so nahm
te die zwangsweise Eingliederung ihrer Mitglieder der Hype um seine Person nun Formen
in die „Deutsche Arbeitsfront“, die unter der Füh- an, die, so Kershaw, „selbst den Kult um die Person
rung des Exzentrikers und NS-Organisationsleiters des Reichsgründers Bismarck bei weitem“ über-
Robert Ley zur Einheitsorganisation „aller schaf- traf. Etliche Bürgermeister beeilten sich, dem Kanz-
fenden Deutschen“ wurde und schon bald mit ler die Ehrenbürgerschaft anzutragen, Straßen und
23 Millionen Mitgliedern die größte NS-Massen- Plätze wurden nach ihm benannt, der historische
organisation war. Die Tarifhoheit, Kernstück ge- Nürnberger Hauptmarkt hieß bald schon „Adolf-
werkschaftlichen Handelns, war abgeschafft, staat- Hitler-Platz“, ein See bei Oppeln „Hitlersee“ und
„Das war ein liche „Treuhänder der Arbeit“ bestimmten Jobs ein ganzer Ort – nämlich Sutzken in Ostpreußen –
und Verträge. „Hitlershöhe“.
Vorspiel nur. Den Geist der neuen Zeit verkündeten auch Aka- Eine Kitschindustrie entstand – mit Büsten und
Dort wo demiker und solche, die es werden wollten. Am
10. Mai brannten in den deutschen Universitäts-
Reliefs, Hitler auf Postkarten, Hitler auf Taschen-
messern, Hitler auf Zinntellern. Das war selbst
man Bücher städten auf großen Scheiterhaufen die Bücher miss- einem Regime zu viel, das auf Gefühle setzte und
verbrennt, liebiger deutscher Dichter, Philosophen, Schrift- fast religiöse Hingabe: Kurzerhand verbot Goeb-
steller und Wissenschaftler – ein Akt der Barbarei bels, den Hitler-Kopf gewerblich zu nutzen.
verbrennt man wider den angeblich „undeutschen Geist“, organi- Gängigstes Zeichen der Anpassung wurde der
auch am Ende siert von Studenten und tatkräftig unterstützt von zum Hitlergruß ausgestreckte rechte Arm (über-
Professoren und Rektoren. nommen von Italiens Faschisten). Für alle Beamten
Menschen.“ Allein in Berlin warf die Meute 20 000 Bücher in war er seit Mitte Juli Pflicht, wer wegen einer kör-
GETTY IMAGES

HEINRICH HEINE die Flammen. „Hier sinkt“, jubelte Goebbels, „die perlichen Behinderung nicht den rechten Arm zum
in der Tragödie „Almansor“ geistige Grundlage der Novemberrepublik zu Bo- „Deutschen Gruß“ heben konnte, der musste es

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DER WEG IN DIE DIKTATUR
mit dem linken tun. Zwei Worte und ein Ausru- Rivale in der Partei, Zeuge und Mitwisser seines
fungszeichen – „Heil Hitler!“ – bildeten das äußer- Weges an die Macht.
liche Signum dafür, dass aus Deutschland ein Füh- Die Bilanz des ersten Massenmords im „Dritten
rerstaat geworden war, „und der Parteiführer war Reich“: mindestens 85 Tote, möglicherweise sogar
dabei, zum Symbol der nationalen Einheit zu wer- 200, unter ihnen auch Opfer von Verwechslungen.
den“, analysiert Kershaw. So gut es ging, wurden Spuren verwischt, das Er-
Zwei Probleme freilich galt es noch zu bewälti- mächtigungsgesetz erlaubte Hitler, im Nachhinein
gen, zwei große Probleme. das Blutbad zu legalisieren und auf diese Weise zu
Da war die mächtige, vier Millionen Mann star- demonstrieren, dass in Deutschland die Willkür des
ke Parteiarmee SA, deren Chef Ernst Röhm, einer Diktators nun oberstes Gesetz war. Die Regierung
der wenigen Duzfreunde Hitlers, immer massiver erließ ein Gesetz, das nur einen Paragrafen hatte:
nach oben drängte und überzeugt davon war, seine „Die zur Niederschlagung hoch- und landesverrä-
SA sei die eigentliche Armee des nationalsozialisti- terischer Angriffe am 30. Juni, 1. und 2. Juli 1934
schen Staates. Röhm fühlte sich, sehr zum Ärger ei- vollzogenen Maßnahmen sind als Staatsnotwehr
nes Göring oder eines Goebbels, als zweiter Mann rechtens.“
im Staat. Der Beifall der meisten Bürger war Hitler ge-
Und da war die wirkliche Armee, die Reichs- wiss. Die oft arroganten, aufsässigen und gewalt-
wehr, die, abgesehen von jüngeren Offizieren, Hit- tätigen SAler hatten sie gestört und auch geängs-
ler und seiner Partei immer noch skeptisch gegen- tigt. Deshalb nimmt es nicht wunder, dass niemand
überstand und die alle militärischen Ambitionen
der SA als freche Anmaßung empfand. Ihr Ober-
befehlshaber war Reichspräsident Hindenburg, und
in dieser Funktion wollte Hitler ihn beerben –
schließlich brauchte er die Reichswehr für seine ex-
pansionistischen Ziele.
Monatelang zögerte Hitler, es waren die kri-
tischsten seines Regimes, auch weil Deutschland
außenpolitisch ziemlich in die Isolation geriet; selbst
sein Vorbild Mussolini hielt Distanz. Auch Papen,
der Vizekanzler und Wortführer der Konservati-
ven, setzte ihm zu. „Mit ewiger Dynamik kann
nicht gestaltet werden“, kritisierte der Stellvertreter
am 17. Juni 1934 seinen Chef, „Deutschland darf
nicht ein Zug ins Blaue werden, von dem niemand
weiß, wann er zum Halten kommt.“
Dann schlug Hitler zu. Wie ein Ganove in einem
Schurkenstück.
Geschickt streuten Geheimdienstler das Gerücht,
Röhm und seine SA planten einen Putsch. Zwar
hatte Röhm sich hin und wieder über seinen „Füh-
rer“ beschwert („Hitler ist treulos und muss min-
destens auf Urlaub“), eine Verschwörung oder
einen Staatsstreich jedoch hatte er nie im Sinn ge-
habt. Für den 30. Juni ordnete Hitler eine Bespre-
chung im oberbayerischen Bad Wiessee an, wo sich
Röhm und einige seiner Gefährten gerade im Hotel
„Hanslbauer“ aufhielten.
Frühmorgens tauchte Hitler im Hotel auf, hinter aufbegehrte gegen die Tyrannei, die Kirchen nicht KONKURRENTEN
sich zwei Kripobeamte mit entsicherter Pistole. und auch die Reichswehr nicht, obschon zwei ihrer Die „Sturmabteilung“ (SA)
Röhm schlief noch. Hitler schrie, so schilderte es Generäle umgebracht worden waren. und die 1925 aus ihr
sein Fahrer Erich Kempka: „Röhm, du bist verhaf- Die Armee hatte, ganz im Gegenteil, die Mord- hervorgegangene
tet!“ Schlaftrunken stammelte der: „Heil, mein aktionen gegen die Konkurrenz SA sogar unter- „Schutzstaffel“ (SS) stan-
Führer!“, und Hitler brüllte ein zweites Mal: „Du stützt und auch Hitlers Begründung akzeptiert, den zueinander in Konkur-
bist verhaftet!“ er sei des „deutschen Volkes oberster Gerichts- renz – bis die SA 1934
Röhm wurde in ein Gefängnis nach München ge- herr“. So geriet deren Führung zum Komplizen entmachtet und deren
schafft und dort ermordet. Auch etliche seiner Leu- eines Unrechtsstaats, und Reichswehrminister Wer- Führer Ernst Röhm ermor-
te ließ Hitler liquidieren, die Mörder kündigten sich ner von Blomberg konnte die Absicht verkünden, det wurde. Bei einem SS-
so an: „Sie sind vom Führer zum Tod verurteilt „unmittelbar nach dem Ableben des Herrn Reichs- Treffen 1933 in Döberitz
worden. Heil Hitler!“ präsidenten die Soldaten der Wehrmacht auf westlich von Berlin traten
In Berlin leitete Göring die Blutaktion mit dem Hitler zu vereidigen“. Hindenburg starb am 2. Au- Röhm (r.) und der „Reichs-
Decknamen „Kolibri“ – und erweiterte sie gegen gust 1934. führer SS“ Heinrich Himmler
„die Reaktionäre“, wie Papens Gefolgsleute im Tags zuvor hatte Hitler das Amt des Reichspräsi- (M.) noch gemeinsam auf
Nazi-Jargon hießen. Papens Pressesprecher wurde denten qua Gesetz abgeschafft und ein anderes für (mit SS-Gruppenführer Kurt
ebenso getötet wie sein Redenschreiber, ein Schrift- sich geformt – „Führer und Reichskanzler“. Jetzt Daluege, l.).
BUNDESARCHIV KOBLENZ

steller; Hitlers Vorgänger Kurt von Schleicher: war er alles: höchster Soldat, höchster Richter, Chef
erschossen ebenso wie seine Frau und sein Ver- der Regierung. Oberhaupt des Staates, totalitärer
trau-ter, der Generalmajor Ferdinand von Bredow. Diktator – und fast auch Herrscher über die Köpfe
Erschossen auch Gregor Strasser, Hitlers ärgster von Millionen Menschen. ✦
spiegel special geschichte 1 | 2008 73
Begeisterte Nazi-Anhänger säumen vor dem NSDAP-Parteitag 1938 in Nürnberg die Straßen

Bei den letzten freien Wahlen der Weimarer Republik erhielt Hitler Stimmen
aus allen Schichten. Die NSDAP war die erste deutsche Volkspartei.

DAS KREUZ BEI DEN NAZIS


Von Florian Altenhöner

E
s gehört zu den historischen Binsenweishei- aufräumte. Der einem breiten Fernsehpublikum als
ten, dass Adolf Hitler 1933 nicht an die Parteienforscher bekannte Professor relativierte auch
Macht gewählt wurde. In keiner Reichstags- die Annahme, dass viele KPD-Wähler zur NSDAP
wahl erreichten die Nationalsozialisten übergelaufen wären und dass die Jugend besonders
während der Weimarer Republik eine absolute Mehr- anfällig für die Nazis gewesen war. Da die NSDAP
heit. Aber die enormen Erfolge der NSDAP bei den ihre Stimmen aus allen Schichten und aus allen
Urnengängen 1930 und 1932 waren eine Vorausset- politischen Lagern erhielt, sei sie, so Falter, die
zung, dass Reichspräsident Paul von Hindenburg Hit- erste deutsche Volkspartei gewesen. Mit diesem
ler im Januar 1933 zum Reichskanzler ernannte. Begriff war seit dem 19. Jahrhundert der Anspruch
Denn hinter Hitler standen nicht nur die braunen verbunden, nicht für einzelne Interessengruppen
Schläger der SA und der gutorganisierte Apparat sei- oder Schichten, sondern für das ganze Volk zu
ner Partei, sondern auch jene Millionen Deutsche, sprechen.
die ihm ihre Stimmen gegeben hatten. Ihre Zahl Gelungen war den Nazis dieser Aufstieg zu der
überstieg die der NSDAP-Mitglieder stets bei weitem. mit Abstand stärksten Partei der Weimarer Republik
HITLER-PLAKAT Lange hieß es, die NSDAP verdanke ihre Erfolge in nur wenigen Jahren. Noch 1928 war die NSDAP
Bei der Reichspräsidenten- vor allem den Frauen, die Arbeiter dagegen seien eine unbedeutende rechte Splitterpartei, die, hätte
GETTY IMAGES (O.); INTERFOTO (U.)

wahl im März 1932 trat weitgehend immun gewesen gegen die braune Pro- es eine Fünfprozenthürde gegeben, mit nur 2,6 Pro-
Hitler mit diesem Porträt paganda. Alles falsch: Die Nazis wurden von allen zent nicht ins Parlament gekommen wäre. Aber
gegen Amtsinhaber Paul Schichten der Gesellschaft gewählt. schon bei der Reichstagswahl am 14. September 1930
von Hindenburg an – und Es war der Mainzer Politikwissenschaftler Jürgen stiegen die Nationalsozialisten zur zweitstärksten
verlor mit 37 zu 53 Prozent. Falter, der 1991 in seiner Studie „Hitlers Wähler“, die Fraktion auf und waren klarer Sieger des Urnen-
inzwischen als Klassiker gilt, mit vielen Irrtümern gangs. Für den britischen Historiker Ian Kershaw

74 spiegel special geschichte 1 | 2008


DER WEG IN DIE DIKTATUR
war dies „das bemerkenswerteste Ergebnis in der sich als Protestbewegung und war so für Menschen
Geschichte des deutschen Parlamentarismus“. in allen Bevölkerungsgruppen attraktiv.
Hatte Hitlers Partei 1928 nur 800 000 Stimmen er- Das bedeutete allerdings nicht, dass sich die Stim-
halten, so verachtfachte sich im September 1930 de- men für Hitler gleichmäßig verteilten. 1930 waren
ren Anzahl auf fast sechseinhalb Millionen. Bei der unter den Wählern der NSDAP Selbständige, Bau-
Reichstagswahl am 31. Juli 1932 konnte die NSDAP ern, Rentner und Pensionäre überdurchschnittlich
ihr Ergebnis mit 13,8 Millionen sogar mehr als ver- häufig vertreten. Dagegen gaben die drei Millionen
doppeln. Arbeitslosen ihre Stimmen eher der KPD. Bei der
Dennoch waren die Parteispitzen enttäuscht, Wahl im Juli 1932 stimmten für die NSDAP:
für die absolute Mehrheit fehlten ihnen immer noch • rund 34 Prozent der Wahlberechtigten in Ge-
4,8 Millionen Stimmen. Und gegenüber der Wahl meinden mit weniger als 5000 Einwohnern. In
des Reichspräsidenten im Frühjahr 1932, bei der Hit- Großstädten mit über 100 000 Einwohnern waren
ler gegen Hindenburg kandidiert hatte, und der es nur 28 Prozent;
Landtagswahl in Preußen im April 1932 hatten sie ihr • rund jeder vierte Arbeiter, fast jeder fünfte
Ergebnis nur geringfügig verbessert. Als am 6. No- Angestellte und Beamte, jede dritte Hausfrau,
vember 1932 schon wieder ein neuer Reichstag ge- 39 Prozent der Selbständigen und Mithelfenden
wählt werden musste, erlitten die Nationalsozialisten und fast jeder zweite Berufslose (Rentner, Pen-
sogar empfindliche Verluste. Im Vergleich zur Juli- sionäre, Studenten mit eigenem Haushalt);
Wahl votierten zwei Millionen weniger für sie. • jeder achte arbeitslose Arbeiter, gut jeder vierte
Die nächste Reichstagswahl am 5. März 1933 fand arbeitslose Angestellte.
nach der Machtübergabe an die Nationalsozialisten Wichtiger noch als Beruf oder Wohnort war vor
statt. Aber auch Hitler als Reichskanzler und die 1933 der Faktor Konfession für die Wahlentschei-
brutale Unterdrückung politischer Gegner garan- dung der Deutschen, so Parteienforscher Falter. Bis
tierten der NSDAP keine absolute Mehrheit. Bei zum Urnengang im März 1933 erwiesen sich Katho-
dieser alles andere als freien Wahl stimmten über liken als weitgehend immun gegenüber der NSDAP.
17 Millionen und damit 43,9 Prozent der Wähler für Erst bei der Stimmabgabe im März 1933 nahm ihr
die NSDAP. Anteil deutlich zu.
Voraussetzung für die Wahlerfolge der Nazi-Partei Noch im Juli 1932 stammten nur 17 Prozent der
war ihre Öffnung für alle Schichten, Konfessionen und NSDAP-Wähler aus überwiegend katholischen Re-
Berufe. Schon 1928 hatte Hitler erklärt: Die NSDAP gionen, 83 Prozent waren Nichtkatholiken. Die
„ist keine Bewegung einer bestimmten Klasse oder Wahlkreise, in denen die NSDAP ihre besten Ergeb-
eines bestimmten Standes oder Berufes, sondern sie ist nisse erzielen konnte, lagen im überwiegend protes-
im höchsten Sinne des Wortes eine deutsche Volks- tantischen Mittelfranken: Rothenburg ob der Tau-
partei. Alle Schichten der Nation will sie erfassen, alle ber (76 Prozent) und Uffenheim (73 Prozent). Hätten
Berufsgruppen dabei umschließen, will an jeden Deut- bei diesem Urnengang nur Protestanten gewählt,
schen herankommen, der nur guten Willens ist, seinem dann hätte die NSDAP im Reichstag über eine knap-
Volke zu dienen und der mit seinem Volk leben will pe Mehrheit verfügt. WAHLKAMPF DER LINKEN
und blutmäßig zu seinem Volke gehört.“ Und noch etwas fällt bei der Analyse der Wahl- Die Wahl im März 1933 war
Das war neu für die Politik der Weimarer Repu- ergebnisse auf: Zwar wählten Großstädter insgesamt nicht mehr frei und
blik. Denn weitaus stärker als später in der Bundes- seltener als Menschen auf dem Land oder in Klein- demokratisch. Die politische
republik orientierten sich damals die Parteien entlang städten die NSDAP. Aber die Wähler, die in Betätigung der Linksparteien
bestehender gesellschaft- den Großstädten für die war erheblich einge-
licher Spannungslinien: Hitler-Partei votierten, schränkt, Funktionäre von
Zentrum und Bayerische Abschied von 30. Januar 1933: wohnten nach Feststel- SPD und KPD befanden sich
Volkspartei sprachen ka-
tholische Wähler an,
der Republik Hitlers „Macht-
ergreifung“
lungen des amerikani-
schen Soziologen Ri-
schon in „Schutzhaft“. Das
KPD-Plakat (u.) warb für
verschiedene Regional-
Ergebnisse der Reichstagswahlen chard Hamilton vor al- eine Einheitsfront mit
parteien bedienten die NSDAP lem in den Vierteln der der SPD.
in Prozent
Vorbehalte gegenüber 43,9 Wohlhabenden.
40 37,4
Preußen und dem Zen- Die Oberschicht sah
tralstaat, SPD und KPD 35 in der NSDAP vor allem
begriffen sich als Vertre- ein Bollwerk gegen die
tung der Arbeiterschaft 30 33,1 bolschewistische Bedro-
gegenüber den Besit- hung. Teile der Arbeiter-
zenden. 25 schaft wiederum hielten
Die NSDAP aber leg- sie für eine Alternative
te sich nicht auf ein ein- 20 18,3 zu SPD und KPD und
zelnes Milieu fest. Indem SPD hofften auf soziale Ver-
sie Verbände etwa für 15 besserungen.
Juristen, Arbeiter, Frau- KPD Für die Mittelschich-
en und Jugendliche 10 Zentrum ten war sie eine Partei,
schuf, gelang es ihr auch DNVP die gesellschaftlichen
besser als anderen Par- 5 und wirtschaftlichen Pro-
ULLSTEIN BILD (O.); BPK (U.)

teien, verschiedenste In- BVP test bündelte. Allen


teressengruppen einzu- 2,6 DVP NSDAP-Wählern ge-
binden. Getragen von ei- DDP (ab meinsam war die Ableh-
Mai Sept. Juli Nov. März 1930:
ner Koalition der Unzu- 1928 1930 1932 1932 1933 DStP) nung der verhassten
friedenen verstand sie Weimarer Republik. ✦
spiegel special geschichte 1 | 2008 75
EINSCHÜCHTERUNG
In den dreißiger Jahren
dominierten Einheiten der SA
das Straßenbild, so auch
1937 während des Besuchs
von Mussolini in Berlin.

Schon bald nach Hitlers Regierungsantritt überzogen SS, SA und Gestapo das Land mit
einem Zwangssystem, zu dem ab März 1933 auch Konzentrationslager gehörten.

HIMMLERS TERRORSYSTEM
Von Christian Habbe

K
rawalle gegen Professoren, Machtapparat aus der Gestapa formen. Dafür such-
Schläge für Kommilitonen – te er Gleichgesinnte, für die – wie für ihn selbst –
in den Hörsälen der späten „der Krieg, der Zusammenbruch und die Besetzung
Weimarer Republik randa- der Heimat durch fremde Truppen das bestimmende
lierten die Braunhemden und die Na- Erlebnis“ der Jugend waren.
tionalen. Besonders gewalttätig ging Schwer zu finden war dieses Personal nicht. Bei
es bei den Juristen zu. Wenn die „ein- den Juristen herrschte ein Mangel an Arbeitsplät-
mal ihre Talare anziehen, werden un- zen, allein in Preußen war von 4000 Gerichtsasses-
sere Kinder etwas erleben“, schrieb soren die Hälfte arbeitslos. Unter all den Enttäusch-
Kurt Tucholsky, führender Chronist ten und Radikalen konnte Best schon bald genügend
des zerrissenen Landes und selbst Kandidaten rekrutieren, die, statt in die Talare zu
Jurist. schlüpfen, lieber in den Kampf gegen „Reichsschäd-
Es ging alles viel schneller, als linge“ ziehen wollten. Die „innere Wehrmacht“, die
Tucholsky befürchtet hatte. Nach ih- Best sich erträumte, nahm Gestalt an.
HERBERT KRAFT / BPK (O.); WALTER FRENTZ COLLECTION, BERLIN (U.)

rer Machtübernahme begannen die Und so zog in das neue Amt eine „undoktrinäre
Nazis sogleich, die „Gefühlskalten Elite karrierebewusster neusachlicher Jungakademi-
und Erbarmungslosen“ (Tucholsky) ker“ ein, so der Flensburger Historiker Gerhard Paul.
zu umwerben. Das Preußische Gehei- Im Nu eroberte Bests Nachwuchstruppe, alle um die
me Staatspolizeiamt (Gestapa) sollte 30 Jahre alt („mein Assessorenkindergarten“), die
„HERRENMENSCHEN“ umgebaut werden, radikalisierte Universitätsabsol- Führungsstellen. Aus der ehemaligen preußischen
SS-Chef Heinrich Himmler venten waren da gefragt. Polit-Polizei wurde ein Horrorinstrument, das nach
(hier 1943 mit dem Verantwortlich für den Umbau war Werner Best, dem Ende der Nazi-Zeit vom Nürnberger Tribunal
Hitler-Vertrauten Martin ein Polizeirechtler, der zuvor für den Münchner Po- als „verbrecherische Organisation“ eingestuft werden
Bormann, r.) kultivierte lizeipräsidenten Heinrich Himmler den Sicherheits- sollte. Ob Totalkontrolle der Deutschen, Terror in
krude Phantasien über einen dienst organisiert hatte. Ab 1935 sollte der Mann, den besetzten Ländern, Massenmord an den Juden
„soldatisch bestimmten Jahrgang 1903, mit frischen Kräften – jung, schlau – immer stand die Geheime Staatspolizei, die Ge-
Orden nordischer Männer“. und skrupellos wie er selbst – einen linientreuen stapo, im Mittelpunkt.

76 spiegel special geschichte 1 | 2008


DER WEG IN DIE DIKTATUR
Schon der Repressionsapparat, den Best bei sei-
nem Amtsantritt vorfand, hatte gezeigt, welches Po-
tential an Brutalität in ihm steckte: Als das Berliner
Reichstagsgebäude knapp vier Wochen nach Hitlers
„Machtübernahme“ in Flammen aufging und die
neuen Machthaber die Kommunisten der Brandstif-
tung bezichtigten, begann eine Menschenjagd, wie sie
das Land noch nicht erlebt hatte. Allein in und um
Berlin nahm die Politische Polizei über 4000 Men-
schen fest, meistens Kommunisten, allen voran die
KPD-Abgeordneten, aber auch Sozialdemokraten,
Intellektuelle und Geistliche.
Binnen Tagen wurden im ganzen Land Tausende
Oppositionelle in „Schutzhaft“ gebracht. Dabei stütz-
ten sich die Nazis auf ein altes Polizeiinstrument zur
Gefahrenabwehr; es stammte aus der Mitte des
19. Jahrhunderts, geschaffen nach den Aufständen
von 1848. Im preußischen Ordnungsstaat allerdings büttel in Hamburg, wo 17 Schutzhäftlinge allein im GEWALTREGIMENT
war die „Schutzhaft“ vergleichsweise streng gere- Jahr 1933 ihr Leben ließen. Zu den Schikanen im
gelt und zeitlich auf 24 Stunden befristet. Doch die- Dennoch traf der NS-Terror hin und wieder noch Konzentrationslager Dachau
se Beschränkung schafften die neuen Herren ab. auf Reste rechtsstaatlichen Geistes. Vor allem das gehörte es, Häftlinge auf
Eine am Tage nach der Feuersbrunst erlassene überkommene Polizei- und Strafprozessrecht vertrug dem Appellplatz zu stun-
Notverordnung („Brandverordnung“) kappte die ver- sich nicht mit Hitlers Motto, die Bekämpfung des denlangem Stehen antreten
fassungsmäßigen Beschränkungen und legalisierte so politischen Gegners sei nicht mehr „von juristischen zu lassen. Für Art und
die „Schutzhaft“ als scharfe Waffe der Politischen Po- Erwägungen abhängig“ zu machen. Anwendung der Foltermaß-
lizei. Fortan hatten die Nazi-Verfolger weitgehend Unter jüngeren Staatsdienern war Distanz zur nahmen gab es präzise
freie Bahn. Weimarer Demokratie zwar verbreitet, vielfach sogar Vorschriften.
Zwischen 80 000 und 100 000 Personen kamen bis Feindschaft. Aber anfangs gab es dennoch Wider-
zum Herbst 1933 in die Prügelhaft. Allein Ende Juli willen im Beamtenapparat gegen die neuen Metho-
1933 saßen nach Polizeiangaben 26 789 Menschen in den – etwa den Ausschluss des Rechtswegs bei der
Gefängnissen und Lagern, über die Hälfte allein in „Schutzhaft“. Mancherorts saßen an den Schaltstel-
Preußen. Wer in den schnell überfüllten Gefängnis- len noch Bedenkenträger, denen missfiel, wie das
sen von Polizei und Justiz nicht mehr untergebracht Sanktionssystem des Staats völlig in die Hände von
werden konnte, wurde eilig in unterschiedlichen NS- SA-Schlägern zu geraten drohte. Auch das Justizmi-
Einrichtungen zusammengepfercht, mal in Parteige- nisterium protestierte zunächst noch gegen die Zu-
bäuden, mal in SA-Sturmlokalen. stände in den Konzentrationslagern und mahnte ein
Hauptverantwortlich für die Drangsalierung der Ende der Misshandlungen an.
Häftlinge war seit April 1933 Rudolf Diels, der Im Frühjahr 1933 kam es vereinzelt sogar vor,
erste von den Nazis eingesetzte Chef des Geheimen dass Gestapa-Beamte Beschwerden nachgingen. So
Staatspolizeiamts in Preußen. Der damals 32-Jäh- fuhr Hans Mittelbach, Staatsanwaltschaftsrat und
rige hatte vorher als Oberregierungsrat im preußi- „Schutzhaftreferent“ des Gestapa, im April ins Lager
schen Innenministerium bei der Überwachung Sonnenburg. Im dortigen „Polizeigefängnis“ sollte
der KPD mitgeholfen und war ein Günstling Her- die SA, so war gemeldet worden, gegen prominente
mann Görings. Gefangene aus dem Weimarer Kulturleben wüten.
In den ihm unterstellten Lagern herrschte eine Der Polizeikontrolleur beobachtete zwar „gute
bis dahin nie gekannte Brutalität. Vor allem promi- Disziplin“ und „gute Ordnung“ („Die Häftlinge mar- „Litten traf ich
nente linke Politiker brachte die Gestapo in die Prinz- schierten in Reih und Glied unter dem Gesang von mit völlig
Albrechtstraße Nr. 8, wo sie ihre Zentrale mit den Volksliedern“). Doch die Gewaltspuren waren bei
berüchtigten Verhörräumen hatte. Kommunisten wie den Gefangenen auch nicht zu übersehen. Der Pu- verquollenem
Ernst Thälmann und Erich Honecker wurden hier mit blizist Carl von Ossietzky, der Schriftsteller Erich Gesicht und
Zwangsverhören und Schikanen gequält, erlitten Mühsam, der republikanische Jurist Hans Litten –
„Fußtritte“ oder „Hiebe ins Gesicht und Peitschen- alle sichtbar malträtiert. geschwollenem
schläge über Brust und Rücken“ (Thälmann); auch Der Besucher notierte: „Litten traf ich mit völlig linken Auge
SPD-Nachkriegspolitiker wie Kurt Schumacher, Fritz verquollenem Gesicht und geschwollenem linken
Erler und Alfred Nau sind in die Prinz-Albrecht- Auge an. Mühsam war bei den Misshandlungen sein an. Mühsam
straße geschleppt und misshandelt worden. künstliches Gebiss zerschlagen worden.“ Per Brief an war bei den
Fürs Schlagen entwickelte die Gestapo sogar eine seinen Chef Rudolf Diels prangerte der „Schutzhaft-
Richtlinie: „Stockhiebe auf das Gesäß und zwar bis referent“ die Schläger an und forderte, dass „ener-
Misshandlun-
zu 25 Stück“. Vom zehnten Hieb an war ärztliche gisch für eine menschliche Behandlung der Gefan- gen sein künst-
Überwachung vorgeschrieben. Um, wie es in den
Anweisungen zynisch hieß, „jede Willkür auszu-
genen Sorge getragen wird“.
Solche Kritik preußischer Mitjuristen ließ Best
liches Gebiss
schalten“, war für die Prügelei ein „Einheitsstock“ nicht gern auf sich sitzen, man sei ja nicht bei der zerschlagen
vorgegeben. Doch dabei blieb es meist nicht, an der
Tagesordnung waren auch Dunkelhaft und das Fes-
„russischen Tscheka“. Es wurden einfach die Para-
grafen geändert. Mit zwei Gestapo-Gesetzen nach-
worden.“
BAPTISTE / INTERFOTO

seln der Gefangenen. Immer wieder wurden Häft- einander wurde die Spezialstellung der Geheimpoli- POLIZEIKONTROLLEUR HANS
linge totgeschlagen oder in den Selbstmord getrieben. zei abgesichert. Am Ende war sie als „selbständiger MITTELBACH
in einem Bericht über seinen
Eine weithin berüchtigte „Folterhölle“, so der Augs- Verwaltungszweig“ ausgewiesen, gänzlich von den Besuch bei Gefangenen im
burger Historiker Ludwig Eiber, war das Lager Fuhls- Einschränkungen des Polizeirechts frei. Vorsichts- Lager Sonnenberg

spiegel special geschichte 1 | 2008 77


MENSCHENJAGD halber aber verfügte Best noch, dass Hinweise auf die Mit Dachau wurde der Terror nunmehr zentral
Ob Kommunistensuche auf „Anwendung verschärfter Vernehmungsmethoden verwaltet. Verantwortlich dafür war SS-Chef Hein-
offener Straße oder nicht aktenkundig“ gemacht werden sollten. rich Himmler. Der machte den Dachau-Komman-
Misshandlung von Gefange- Um ihr Image, ein Hort roher Gewalt zu sein, zu danten Theodor Eicke, einen vorbestraften Bom-
nen im KZ: Das Unter- korrigieren, vor allem im Ausland, gab sich die Ge- benbastler, zum Inspekteur aller Konzentrationslager,
drückungssystem der SS stapo sogar eine Pressestelle. Diese hatte das trostlose das Gewaltregiment von Dachau wurde damit auch
lebte von der Einschüchte- Bild der Gestapo ins rechte Licht zu rücken und ge- auf alle anderen KZ ausgedehnt.
rung und Unterwerfung genteilige Berichte als „kommunistisch-jüdische Mitte 1934 hatte die erste Terrorwelle ihr Ziel er-
Andersdenkender. Hetzpropaganda“ abzukanzeln. Manchmal wurden reicht, viele Regimekritiker waren entweder verhaf-
ausländischen Journalisten prominente Häftlinge wie tet oder verstummten eingeschüchtert. So sank die
Ossietzky vorgestellt – allerdings nur im Polizei- Zahl der Inhaftierten auf 5000. Das Ende der provi-
gewahrsam, bevor man sie in die Prügellager ver- sorischen Lager war gekommen. Ein perfektioniertes
frachtete. Lagersystem allerdings wurde weiterhin gebraucht,
Bevorzugt brachte die Gestapo „Schutzhäftlin- schließlich gehörte das Wegsperren Unliebsamer zur
ge“, die sie oft nach einem Karteikartensystem als „Staatsräson“, wie Hermann Göring später vor dem
Staatsfeinde ausgewählt hatte, in Sammellager und Nürnberger Tribunal einräumte. Kriminelle, Bibel-
lieferte sie damit besonders brutalen Schikanen aus. forscher und Homosexuelle, Randständige, Priester
Das Lager hatte für die Nazis noch eine innenpoliti- – die Welt der Nazis war voller KZ-Kandidaten. Und
schen Funktion – es diente als Instrument der Ab- Himmler kündigte an: „Es wird sehr viele geben, die
schreckung. wir niemals herauslassen dürfen.“
Die Verliese der SA breiteten sich unkontrolliert Das Konzentrationslager als Instrument des NS-
über das Land aus. Bald gab es an die 70 „wilde Unterdrückungssystems war etabliert, bewacht
Konzentrationslager“ und über 30 „Schutzhaftabtei- überwiegend von Männern mit dem SS-Totenkopf

SCHERL/SÜDD. VERLAG (L. O.); NESTOR BACHMAN/DPA (R. O:); CINETEXT/HENSCHEL THEATER-ARCHIV (U.)
lungen“. Ein Wildwuchs, der einige in der NS- an der Mütze. Von ihnen forderte die Führung bru-
Führung störte – in München ließ Polizeipräsident tale Rücksichtslosigkeit – sie stünden als „einzige
Heinrich Himmler im März 1933 ein „Musterlager“ Soldaten auch in Friedenszeiten Tag und Nacht am
für 5000 Inhaftierte einrichten: Dachau. Feind, am Feind hinter dem Draht“. Die Aufseher
Das Konzentrationslager 20 Kilometer nördlich gehörten zu einer Untergruppe der SS, den „Toten-
von München hatte – erstmals – eine formale Lager- kopf-Verbänden“. Diese „innenpolitische Knochen-
VON NAZIS GEFOLTERT ordnung, allerdings war die unmenschlicher als alles brechergarde“ (Kogon) war eines der ganz alten
Der Schriftsteller und bisher Gekannte. Beispielsweise konnten „Aufwieg- Machtinstrumente der SS.
Nobelpreisträger Carl von ler“ und „Meuterer“ hingerichtet werden. Dafür war Hitler hatte die „Schutzstaffel“, kurz SS genannt,
Ossietzky, der in seiner Zeit- in den Paragrafen 11 und 12 der Lagerordnung ein 1925 aus Angehörigen seiner ersten Leibwachen bil-
schrift „Die Weltbühne“ für wahrer „Dschungel von Strafanlässen“ aufgeführt, den lassen und jahrelang der SA unterstellt. Seit 1929
Demokratie und Pazifismus wie Eugen Kogon, Verfasser des ersten Standard- war Heinrich Himmler „Reichsführer SS“ (RFSS).
stritt, erlitt in der KZ-Haft werks über den „SS-Staat“ beschrieb. „Erhängt“, Mit elitärem Selbstverständnis suchten die
so schwere Misshandlun- „auf der Stelle erschossen“ oder „nachträglich schwarzuniformierten Gruppen innerhalb der SA
gen, dass er 1938 an den gehängt“ werden konnte, wer nach Meinung der NS- Selbständigkeit zu demonstrieren. Lange Zeit mit
Folgen starb. Schergen politisiert hatte, Cliquen gebildet, bei der mäßigem Erfolg. Denn auch wenn der Chef wie ein
Arbeit gejohlt, Kassiber geschmuggelt oder Flucht- grotesker Führerverschnitt – mit Uniform, Bärtchen
tipps verbreitet hatte. „Jede Aktion im Lager konn- und Schaftstiefeln – durch Parteiveranstaltungen stol-
te den unmittelbaren Tod nach sich ziehen“, sagt der zierte – die braune Mutterorganisation SA blieb NS-
Historiker Johannes Tuchel, Leiter der Gedenkstät- Gewaltinstrument Nummer eins und beherrschte die
te Deutscher Widerstand. Knüppelszene nach innen und außen.

78 spiegel special geschichte 1 | 2008


DER WEG IN DIE DIKTATUR
Himmler hatte vor, die SS zum Elitekern der Be- Gestapo-Männer für die Praxis kamen aus den
wegung zu formen, als Neumitglieder waren Akade- politischen Polizei-Abteilungen aller Regionen; bis-
miker, Adelige und Künstler besonders gefragt – gern herige NS-Meriten waren meist nicht erforderlich,
mit Reckenmaß. Als studierter Agrarwissenschaftler der Wille zum kritiklosen Funktionieren reichte für
kultivierte der SS-Chef allerlei krude Phantasien die Berufung und verhalf manchem Praktiker zum
über Rassentypen und Züchtungsoptionen zur Schaf- Blitzaufstieg. Paradebeispiel war Heinrich Müller.
fung seines deutschen Idols – des auch äußerlich im- 1934 wurde der als junger Sachbearbeiter mit Kom-
ponierenden „Herrenmenschen“. Ein „soldatisch be- munismus-Kenntnissen von der Münchner Polizei
stimmter Orden nordischer Männer“ sollte Europa ins Berliner Gestapa berufen, obwohl die bayerische
aufrütteln wie einst die Germanen, sollte die Wie- NSDAP auf Distanz hielt, weil es dem Volksgenossen
derherstellung der mittelalterlichen Reichsherrlich- Müller auffallend an nationalsozialistischer Verve
keit verkörpern. gebrach.
„Tendenziöse Biologielehre und verballhornte Fünf Jahre später war Müller einer der meistge- Werner Best
deutsche Geschichte“, urteilte der Historiker Hans fürchteten Männer im Reichssicherheitshauptamt.
Buchheim 1965 über Himmlers Weltsicht. Zeitgenos- „Gestapo-Müller“ wurde Leiter des Amtes IV (Ge-
sen aber spotteten höchstens im Flüsterton über den stapo) und galt bei Mitarbeitern als „eiskalter Voll-
Harte-Männer-Wahn des obersten Rassenwarts mit strecker“ jeglicher Greuelbefehle Himmlers und
seiner äußerlich doch eher schlaffen Erscheinung. Heydrichs. Sein Amt IV organisierte die Einsatz-
Schließlich gebot der RFSS über einen angsterregen- gruppen für Morde in Osteuropa (verantwortlich für
den Sicherheitsdienst und war er auch „entschlossen, den Aufbau: Polizeiexperte Werner Best) und be-
überall verborgene Feinde zu entdecken“ (so der ame- stückte sie mit Gestapo-Leuten. Müller organisierte
rikanische Himmler-Biograf Richard Breitman). an der Seite von RSHA-Chef Heydrich im Januar
Widerstand fand Himmler somit kaum, wenn er 1942 die Wannseekonferenz in Berlin, auf der die
an seinem neuen Deutschenbild baute, Ideologie- Grundlagen der industriellen Vernichtung der eu-
Schulung auf Ordensburgen verfügte, sich als „Be- ropäischen Juden gelegt wurden; um deren Details
wahrer der Blutsreinheit“ aufspielte und seinen Män- kümmerte sich Adolf Eichmann von Abteilung 4B IV,
nern Ahnenpässe bis zurück ins 18. Jahrhundert ab- Müllers „Judenreferat“. Aus der Gestapo war eine Rudolf Diels
verlangte. Deutschnationale, die sich durch den Aus- Mordzentrale geworden.
gang des Weltkriegs erniedrigt fühlten, fanden Ge- Die emotionslose Bereitschaft zu funktionieren
fallen daran, dass die SS-Spitze die Germanisierung prädestinierte viele Gestapo-Männer für die Arbeit
Europas propagierte. Himmlers „Vision eines Son- unter Dienstherren aller Art. Weimarer Beamte, die
nenstaates im technokratischen Kleid der Moderne“ in der Gestapo aufstiegen, waren im Krieg ebenso gut
gefiel vielen, urteilt der Münchner Historiker Nor- bei der Menschenjagd im Osten zu verwenden; an-
bert Frei. Seinen schwarzgekleideten Schreckens- dere RSHA-Veteranen fanden zuhauf den Weg in die
männern schmeichelte Himmler: „Die Garde des Staatsorgane der Bundesrepublik. Viele schafften
neuen Deutschlands wird die SS sein.“ beides: Die 47-köpfige Führungsspitze des Bundes-
Unter Himmler stieg die Mitgliederzahl rasant, kriminalamts Anfang der fünfziger Jahre stammte
Allgemeine SS und zusätzliche Zweige wie Toten- fast geschlossen aus Himmlers Apparat, 15 von ihnen
kopfverbände und Verfügungstruppen (Kern der spä- kamen sogar von den Einsatzgruppen.
teren Waffen-SS) zählten 1933 knapp 60 000 Män- Rudolf Diels, der 1934 von Himmler abgelöst wor-
ner. Noch war die verhasste Mutterorganisation SA den war, verwies nach dem Krieg auf gesetztreues Theodor Eicke
um ein Mehrfaches kopfstärker. Aber das Problem Verhalten in der Amtszeit und präsentierte sich
löste Himmler im Juni 1934. Da ließ er den auch bei als Zeitzeuge gegen die Gestapo-Greuel in vielen
Hitler in Ungnade gefallenen SA-Chef Ernst Röhm Medien (auch im SPIEGEL).
entmachten und mitsamt Dutzenden von Mitstreitern Werner Best, der wegen Konflikten mit Heydrich
umbringen. Dachau-Kommandant Eicke persönlich als Reichsbevollmächtigter ins besetzte Dänemark
erschoss den SA-Führer. abgeschoben worden war, galt jahrzehntelang fast
Himmlers Weg nach oben war schon mit den Re- als Gutmensch in Schwarz – er habe, so die unkri-
pressionen nach dem Reichstagsbrand vorgezeich- tisch verbreitete Standardversion, die dänischen Ju-
net. An seiner Seite: Gefolgsmann Reinhard Hey- den nach Schweden entkommen lassen. Erst 1996
drich, ein wegen eines gebrochenen Eheversprechens enttarnte der Freiburger Historiker Ulrich Herbert in
aus der Marine geworfener Ex-Oberleutnant voller einer fulminanten Biografie den Gestapo-Planer als
SCHERL / SÜDD. VERLAG (2); W. FRENTZ / ULLSTEIN BILD; INTERFOTO; AP (V. O.)

Hass auf die alte Ordnung. Heydrich hatte den SS-Si- einen der blutigsten Schreibtischtäter. Best wurde in
cherheitsdienst und die Politische Polizei in Bayern der Bundesrepublik nie verurteilt. Heinrich Müller
geleitet. Binnen ein paar Monaten bekam das Duo BKA-Regierungskriminalrat Theodor Saevecke,
faktisch reichsweit den Befehl über die Politische Po- der 1962 die Durchsuchungen und Verhaftungen in
lizei, ab Juni 1936 dann war Himmler formal Chef der der Hamburger SPIEGEL-Redaktion leiten durfte,
gesamten Polizei im Reich. Eine beispiellose Macht- passte da gut ins Bild. Der RSHA-Ehemalige war
entfaltung war vollendet, der Polizeistaat stand. im Krieg bei der Judenverfolgung in Tunesien aktiv
Dessen Rückgrat, die nun ebenfalls Himmler un- gewesen und war später in Italien, wegen Verant-
terstellte Gestapo, hatte inzwischen öffentlich sicht- wortlichkeit für Deportationen und Erschießungen,
bar zugelegt. Dass der „Völkische Beobachter“ den zu lebenslanger Haft verurteilt worden, in Abwe-
Deutschen einbleute, wie effizient Himmlers Greifer senheit.
den „Vernichtungskampf gegen die Volksschädlinge“ Derart vielseitig verwendbare Effizienz war eine
führten, ließ die Menschen die auf über 2300 Be- Grundbedingung in Himmlers Zwangssystem. Ohne
schäftigte angeschwollene Behörde mit mythischem die Durchschlagskraft des allumfassenden Polizeiap-
Schauder betrachten, denn man wusste auch: Heere parats hätte es, so folgerte Terror-Forscher Eugen
von Denunzianten arbeiteten zu. Kogon, „nicht zu funktionieren vermocht“. ✦ Theodor Saevecke
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DER WEG IN DIE DIKTATUR

Schneller, als selbst Pessimisten fürchteten, unterwarf Hitlers Regime auch Kultur
und Kunst einer umfassenden Gleichschaltung. Wer sich der Gängelung nicht unterwarf,
musste emigrieren – oder im „inneren Exil“ zu überdauern versuchen.

RESIGNATION IN RATEN
Von Johannes Saltzwedel

I
KUNST UNTER ZENSUR n den Festsälen am Berliner Zoo herrschte am tiker Carl Zuckmayer. In „einer Mischung von be-
Mit Hass-Ausstellungen wie Abend des 28. Januar 1933 eine Stimmung zwi- klommenem Ernst und hektischer Lustigkeit“ habe
dieser in München 1937 schen Feiertrubel und Weltuntergang. Alle, die das Publikum den Abend begangen. Manch einer
stellten die nationalsozia- glaubten, in Kunst, Kultur und Politik etwas zu hatte vorsichtshalber seine Kriegsorden angelegt.
listischen Geschmackshüter sagen zu haben, waren zum Presseball gekommen. „Wer weiß, wann Sie wieder in einer Ullstein-Loge
alles an den Pranger, was Die Herren trugen meist Frack und Lackschuhe, die Champagner trinken werden!“, rief der Leiter des re-
der parteilich verordneten Damen edle Roben, Kellner schwirrten im hell- nommierten Verlags, Emil Herz, während er seinen
Ästhetik zuwiderlief. erleuchteten Saal herum. Nur eine Loge blieb leer: Gästen ein Glas nach dem anderen servieren ließ. Als
Dank ständiger Propaganda die des Reichskanzlers und seiner Minister. Der Re- zu vorgerückter Stunde dann die Nachricht umlief,
hatten die Verfemungs- gierungschef Kurt von Schleicher war am Nachmit- der neue Kanzler werde Adolf Hitler heißen, ver-
aktionen gegen die tag zurückgetreten, noch wusste niemand, wen der suchte sich die Gesellschaft mit „gezwungenen
Malerei der Avantgarde greise Präsident Paul von Hindenburg zu seinem Scherzen“ und „optimistischen Illusionen“ (Zuck-
großen Zulauf. Nachfolger berufen würde. mayer) krampfhaft bei Laune zu halten.
„Jeder spürte, was in der Luft lag, keiner wollte es Bei vielen sollte die Stimmung bald umschlagen.
ganz wahrhaben“, erinnerte sich später der Drama- Schon am Abend des 30. Januar „wälzte sich“, so

80 spiegel special geschichte 1 | 2008


Zuckmayer, „der endlose Fackelzug von SA- und zum Verzicht auf sein Amt, ja sogar zum Austritt VERFEMTE MODERNE
AKG (L.); A. KOCH / INTERFOTO (O. R.); HECKSCHER MUSEUM OF ART, HUNTINGTON, NEW YORK (R. U.); ALLE VG BILD-KUNST, BONN 2008

SS-Formationen zur Reichskanzlei, von deren Balkon aus der renommierten Institution zu bewegen. Bilder wie diese hatten bei
der neue Führer des deutschen Volkes seine Mannen „Das Wohl und Bestehen des Ganzen“ sei wichti- NS-Kunstwächtern keine
grüßte“. Auf den Straßen Berlins herrschte „reine Fa- ger, und er wolle der Akademie „aus einer schweren Chance: Max Beckmanns
schingsstimmung“, wie der Kulturmäzen und Poli- Lage“ heraushelfen, zitierte der Akademie-Präsident „Geschwister“ (l., 1933),
tikbeobachter Harry Graf Kessler in seinem Tage- Heinrich Mann anschließend auf der Vollversamm- Paul Klees „Kreuze und
buch notierte. lung des illustren Instituts. Nur ein Einziger aus der Säulen“ (o., 1931), George
Aber nicht einmal erfahrene Zeitzeugen wie Kess- verstörten Runde meldete sich mit Protest zu Wort. Grosz’ „Sonnenfinsternis“
ler vermochten vorauszusehen, wie rasch und brutal Alfred Döblin, Autor des großen Montage-Romans (1926).
sich die neuen Machthaber Presse, Kunst und Kultur „Berlin Alexanderplatz“, klagte, dieser Rücktritt sei
unterwerfen würden. Bereits am 14. Februar atta- hinter verschlossenen Türen abgekartet worden.
ckierte Bernhard Rust, der knapp zwei Wochen Berlins Zeitungen hingegen, schon unter natio-
zuvor kommissarischer preußischer Kultusminister nalsozialistische Kuratel gestellt, begrüßten andern-
geworden war, in einer Rede über den „national- tags nahezu einhellig die „Säuberung“. Unterwürfig
sozialistischen Kulturwillen“ Heinrich Mann. Der konnte Schillings dem Minister „unter Bezugnahme
Romancier, damals Vorsitzender der Dichtersektion
in der Preußischen Akademie der Künste, hatte
auf die mir gestern gewährte Unterredung“ Vollzug
melden. Am 21. Februar verließ Heinrich Mann, der
Für Joseph
zusammen mit anderen Kulturschaffenden einen mit seinen historischen und zeitkritischen Romanen Goebbels war
„dringenden Appell“ unterzeichnet, in dem zur
Zusammenarbeit zwischen SPD und KPD aufgerufen
zu den geachtetsten Literaten der Weimarer Republik
gezählt hatte, Deutschland; im August 1933 entzog die Presse
worden war, da das Land sonst „in die Barbarei
versinken“ müsse. Diesen Aufruf nahm Rust zum
das Hitlerregime dem nach Südfrankreich Exilierten
auch die deutsche Staatsbürgerschaft, 1940 musste er „sozusagen ein
Anlass, um über Heinrich Mann die Preußische Aka-
demie zu drangsalieren.
über Spanien und Portugal weiter in die USA fliehen.
Ähnlich wie seinem Bruder Thomas, der im Fe-
Klavier, auf
Anfangs hatte der Reichskommissar sogar gleich
die ganze Akademie schließen wollen oder doch zu-
bruar 1933 eine Auslandsreise antrat und nicht nach
München zurückkehrte, blieb Heinrich Mann damit
dem die
mindest die „Dichterakademie“. Um dies abzuwen-
den, entschied sich Akademie-Präsident Max von
wenigstens erspart, was vielen der Zurückgebliebe-
nen nun drohte: moralische Demütigung durch im-
Regierung
Schillings, ein Komponist, seinen Kollegen Mann mer neue Schikanen der braunen Reglementierer. spielen kann“.
spiegel special geschichte 1 | 2008 81
halber waren seine jun-
ge Frau und er deswe-
gen im Januar 1933 nach
Berlin gezogen. Dort-
hin also, wo nun Alfred
Flechtheim, ein wich-
tiger Wegbereiter von
Pablo Picasso, George
Grosz oder Paul Klee,
die Schließung seiner re-
nommierten Galerie vor-
bereitete, um nach Lon-
don zu emigrieren; dort-
hin, wo der 85-jährige
Maler Max Liebermann
auf die Frage, wie es ihm
gehe, berlinerisch direkt
erwiderte: „Ick kann jar-
nich so viel fressen, wie
ick kotzen möchte.“
Auch nachdem er im
April 1933 als Dozent
BÜCHERVERBRENNUNG Zeitungen, die den neuen Kurs nicht bejubeln der Frankfurter Städel-Kunstschule unter die „Ju-
„Wider den undeutschen mochten, waren schon von Mitte Februar 1933 an zu- denknechte“ gezählt und fristlos entlassen worden
Geist“ lautete die Parole, mindest zeitweise verboten oder unter massive Vor- war, vermochte sich Beckmann noch nicht zur
mit der am 10. Mai 1933 zensur durch SA-Kommandos gestellt worden. Nach Emigration durchzuringen. So musste er mitanse-
auf dem Berliner Opern- dem Reichstagsbrand am 27. Februar 1933 und nach hen, wie seine Werke vielerorts nicht nur abgehängt,
platz Tausende Bücher Hindenburgs Notverordnung vom folgenden Tag, mit sondern als „entartet“ in Hass-Ausstellungen vor-
verbrannt wurden – darun- der etliche Grundrechte außer Kraft gesetzt worden geführt wurden.
ter die Werke von Karl Marx waren, gab es binnen Tagen praktisch keine öffentli- „Zur Kunst muss man geboren sein“, verkündete
und Sigmund Freud. che Meinungsfreiheit mehr. Dass der Rundfunk der ehemalige Postkartenmaler Adolf Hitler in einer
fortan keinen echten Jazz – von den Nazis als „aus- Rede auf dem Nürnberger Parteitag vom September
schließlich auf Schlaginstrumenten beruhende 1933. „Die nationalsozialistische Bewegung und
negermusikartige Darbietungen“ verunglimpft – Staatsführung darf auch auf kulturellem Gebiet nicht
mehr senden durfte, war dabei noch eine der harm- dulden, dass Nichtskönner oder Gaukler plötzlich
ZUFLUCHT IM EXIL loseren Direktiven. ihre Fahne wechseln und so, als ob nichts gewesen
Prägende Intellektuelle der „Auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens be- wäre, in den neuen Staat einziehen.“
Weimarer Republik wie Kurt steht ein vollkommener Verfall“, erklärte Joseph Beckmann harrte noch bis 1937 in Deutschland
Tucholsky (o.) oder Heinrich Goebbels Mitte März kurz nach seinem Antritt als aus. Erst als mit der vielbesuchten Münchner Aus-
Mann waren seit Hitlers Minister für Volksaufklärung und Propaganda. Die stellung „Entartete Kunst“ in einem wahrhaft dia-
Machtübernahme geächtet. Regierung müsse deshalb „unpopuläre Maßnahmen“ bolischen Schlussstrich nahezu alle einst renom-
ergreifen und „schmerzhafte Einschnitte“ vorneh- mierten Avantgardisten noch einmal definitiv ver-
men. Was darunter zu verstehen war, ahnte, wer femt wurden – von Paul Klee bis Oskar Kokoschka,
Goebbels’ Definition für die Presse hörte: „sozusa- von Otto Dix bis Oskar Schlemmer –, entschloss sich
gen ein Klavier, auf dem die Regierung spielen Beckmann schweren Herzens, seine Heimat, für die
kann“. er im Ersten Weltkrieg freiwillig in den Krieg gezo-
Dabei diente das einst so vielstimmige Instrument gen war, für immer zu verlassen.
schon um diese Zeit oft genug bloß noch zur Unter- Zu dieser Zeit war längst auch der letzte Rest
malung des Grauens. So war bereits im Februar eine ästhetischer Unabhängigkeit verloren, war die Kunst
Horde braunbehemdeter junger Männer in die Ber- fest unter Kontrolle der staatlichen Organe. Im No-
liner Kunstschule eingedrungen. Die NS-Aktivisten vember 1936 hatte Goebbels verfügt, an die Stelle der
unterbrachen ein Examen, indem sie vier angeblich Kunstkritik – für die braunen Machthaber ein Bei-
„jüdische“ und „marxistische“ Professoren auf die spiel „jüdischer Überfremdung“ – solle ab sofort der
Straße trieben und anschließend die Studenten ver- „Kunstbericht“ treten. Nur noch „Kunstschriftlei-
prügelten, die ihre Lehrer hatten schützen wollen. ter“ mit „der Gesinnung der Nationalsozialisten“
Am folgenden Tag aber zitierte der „Berliner Lokal- durften sich mit der „Darstellung und Würdigung“
Anzeiger“ aus einer Stellungnahme des NS-Studen- ohnehin staatskonformer Werke beschäftigen.
tenbundes: „Das Anstoß erregende Verhalten ge- Die Schriftsteller hatten schon viel früher zu
wisser Lehrkräfte“ habe eben eine durchaus ver- spüren bekommen, wozu die Nationalsozialisten
ständliche „Erregung“ ausgelöst. fähig waren. Am 10. Mai 1933 – jenem Tag, an dem
KEYSTONE (O.); AKG (M.); ULLSTEIN BILD (U.)

Terror und Verunsicherung, Beschwichtigung und die Gründung der „Deutschen Arbeitsfront“ das
Propaganda-Lenkung – nach diesem Prinzip ver- Ende der freien Gewerkschaften besiegelte – waren
suchte der braune Apparat alle Andersdenkenden überall in Deutschland, beginnend auf dem Opern-
unter seine Kontrolle zu bringen. platz in Berlin, Zehntausende Bücher öffentlich ver-
Der Maler Max Beckmann, von kunstsinnigen brannt worden. „Aktion wider den undeutschen
Großbürgern in Frankfurt am Main geschätzt und Geist“ nannten die Nazis ihren Vandalismus, und er
gefördert, war schon lange vor Hitlers Machtantritt war der Beginn der zweiten Phase der kulturellen
ein Ziel brauner Hetzparolen gewesen. Sicherheits- Machtergreifung. Bücher von Karl Marx und Sig-

82 spiegel special geschichte 1 | 2008


DER WEG IN DIE DIKTATUR
mund Freud, aber auch von Kurt Tucholsky und Carl wurde Benn allmählich klar, wohin er sich verrannt
von Ossietzky verschwanden aus den Bibliotheken hatte. In einem Brief an seinen Vertrauensmann, den
und gingen in Flammen auf. Bremer Kaufmann Friedrich Wilhelm Oelze, seufzte
Der Nationalsozialismus, so Goebbels, wolle „die er kühl: „Ein deutscher Traum – wieder einmal zu
gesamte Kultur in eine Verbindung mit bewusster po- Ende.“ Mitte November 1934 erklärte Benn, er wer-
litisch-weltanschaulicher Propaganda setzen“, um sie de alles hinter sich lassen und ins Militär, wo er
„aus der verfallsnahen, individualistischen Bin- früher schon als Arzt gedient hatte, zurückkehren.
dungslosigkeit des jüdisch-liberalistischen Kunst- Die Reichswehr sei „die aristokratische Form der
betriebes“ zu befreien. Durch das Filmgesetz vom Emigrierung“.
14. Juli, am selben Tag wie das „Gesetz zur Verhütung 1938 ließ Goebbels ihn im Auftrag Hermann
erbkranken Nachwuchses“ verkündet, unterwarf die Görings aus der Reichsschrifttumskammer aus-
Regierung die Kinobranche als erste kompletter staat- schließen, da ihm „die für die Ausübung der schrift-
licher Gängelung. Im September folgte dann der ei- stellerischen Tätigkeit erforderliche Eignung“ nicht
gentliche Grundsatzbeschluss: Hitlers Kabinett ver- zugebilligt werden könne; um ein Haar hätte er auch
abschiedete das „Reichskulturkammergesetz“. seine Existenz als Militärarzt eingebüßt. Und doch
„Jede Art der geistigen Einwirkung“ liege im Zu- wirkt Benns Schicksal, verglichen mit dem der zahl-
ständigkeitsbereich des Propagandaministeriums, losen Emigrierten, Eingekerkerten und in Lagern Er-
hieß es unmissverständlich. Seither brauchten alle, mordeten, überaus erträglich.
die auf irgendeine Art einen künstlerischen Beruf Etliche linke Literaten hatten – wie Heinrich
ausüben wollten, die Billigung der Behörden. Ne- Mann – Hitlers Machtentfaltung gar nicht erst ab-
ben der schon existierenden Filmkammer wurden warten mögen und schon früh das Land verlassen. HELDISCHE SKULPTUREN
die Reichstheaterkammer, die Reichsmusikkammer, Kurt Tucholsky etwa emigrierte 1930 nach Schweden, Mit muskulösen Idealgestal-
die Reichskammer der bildenden Künste, die Reichs- Ernst Toller 1933 in die USA. Im August 1933 er- ten, oft in martialischer
rundfunkkammer, die Reichspressekammer und die kannten die Nazis beiden die deutsche Staatsbür- Pose und monumental
Reichsschrifttumskammer geschaffen, in denen je- gerschaft ab. vergrößert, erfüllten Bild-
der „Kulturschaffende“ Mitglied sein musste. Zwar mochte das Regime anfangs auf internatio- hauer wie Arno Breker
Maler, Schauspieler, Komponisten oder Bildhauer, nal bekannte Namen wie Gerhart Hauptmann nicht (1900 bis 1991) die Anfor-
die dem neuen System kritisch gegenüberstanden verzichten, doch auch der Literaturnobelpreisträger derungen der NS-Schön-
und das Land nicht verlassen hatten, waren fortan stand unter Beobachtung des Propagandaministeri- heitsdoktrin.
zum Balanceakt zwischen geheuchelten Ergeben- ums. Bald blieb allen, die als Juden, Demokraten
heitsbeweisen und Resignation verdammt. Am oder Linke gebrandmarkt werden konnten, nur noch
4. Oktober machte das „Schriftleitergesetz“, das völliges Verstummen oder die Flucht. Das totalitäre
alle Berichterstattung dem „nationalen und völki- System war durchgesetzt.
schen Interesse“ (Goebbels) unterordnete, die Kon- Prophetisch schrieb 1935 der Lektor, Kritiker und
trolle perfekt. Hatten nach der Machtergreifung noch Lyriker Oskar Loerke in sein Tagebuch: „In zehn
viele Künstler gehofft, sie könnten irgendwie ver- Jahren haben wir keine Kultur mehr.“ Wie umfas-
schont bleiben, so erwies sich das jetzt endgültig send die physische und moralische Niederlage wer-
als Illusion. den sollte, das hat der Berliner Humanist und Lite-
Bereits Mitte März 1933 hatte die Dichter-Abtei- rat nicht mehr erlebt: Zutiefst deprimiert über die HITLERS VENUS
lung der Preußischen Akademie ihre Mitglieder be- „Totengräber Deutschlands“, starb er schon 1941. „Völkisch“ drapiert waren
fragt, ob sie „unter Anerkennung der veränderten ge- In seinem Testament trat Loerke ausdrücklich „je- auch Aktbilder erlaubt: hier
schichtlichen Lage“ weiter zur „loyalen Mitarbeit“ dem entgegen, der behaupten wolle“, er sei „an die- der Maler Sepp Hilz mit
an den „nationalen kulturellen Aufgaben“ bereit ser oder jener Krankheit gestorben“, weil „eine jeg- Modell Annerl Meierhanser
seien. Den Fragetext hatte Gottfried Benn entworfen. liche Krankheit … durch die feindlichen Handlungen neben seinem Gemälde
Auch gute Bekannte des Dichters wunderten sich und Anschauungen veranlasst worden ist in langen „Bäuerliche Venus“, das
über diese Wendung. Benn, Jahrgang 1886 und prak- Jahren“. Die wenigen, die es lasen, wussten, was es Hitler für den „Tag der deut-
tizierender Hautarzt, hatte 1912 mit schockierenden bedeutete. ✦ schen Kunst“ auswählte.
Leichenhaus-Versen („Morgue“) seinen Weg als ex-
pressionistischer Lyriker begonnen und war auch
später hauptsächlich durch eine konsequent desillu-
sionierte Weltsicht aufgefallen. Nun gab er sich plötz-
lich beeindruckt von der „schöpferischen Wucht“
des Hitlerstaats. In einer Erwiderung auf Vorwürfe
der deutschen Emigranten – vor allem von Thomas
FOTOS: HUGO JAEGER / TIMEPIX / TIME LIFE PICTURES / GETTY IMAGES

Manns Sohn Klaus – verstieg er sich im Mai 1933 so-


gar zu der Formulierung, die Geschichte könne gar
nicht anders, „als an ihren Wendepunkten einen neu-
en menschlichen Typ aus dem unerschöpflichen
Schoß der Rasse zu schicken“. Was in Deutschland
geschehe, eiferte Benn, gehe weit über „politische
Kniffe“ hinaus: „Verstehen Sie doch endlich … die
Geschichte mutiert, und ein Volk will sich züchten.“
Ein Jahr darauf hätte der Dichter keine dieser Pa-
rolen mehr äußern mögen. Mit einem „Bekenntnis
zum Expressionismus“ war er Ende 1933 schon deut-
lich von der NS-Linie abgewichen; als der Schrift-
stellerkollege Börries von Münchhausen ihn dann
als „reinblütigen Juden“ anzuschwärzen suchte,
spiegel special geschichte 1 | 2008 83
DER WEG IN DIE DIKTATUR

Trägt die katholische Kirche eine Mitschuld am Holocaust? Dokumente im Geheimarchiv


des Vatikans zeigen: Die Päpste hatten vor allem das Wohl ihrer Gläubigen im Sinn.

PAKT ZWISCHEN
HIMMEL UND HÖLLE
Von Klaus Wiegrefe

S
ie waren die Stellvertreter Gottes auf Erden
FATALE NÄHE und Nachfolger des heiligen Apostels Petrus,
Der päpstliche Väter aller Gläubigen und gewählt nach gött-
Nuntius in Berlin, lichem Recht, um die Menschen auf das Him-
Erzbischof Orsenigo, melreich vorzubereiten: Dr. Dr. Dr. Achille Ratti, der
im Gespräch mit seit 1922 als Papst Pius XI. in Rom amtierte, und sein
Hitlers Außenminis- Kardinalstaatssekretär Eugenio Pacelli, der 1939 als
ter Ribbentrop. Papst Pius XII. geistliches Oberhaupt der mehr als
400 Millionen katholischen Christen auf allen Konti-
nenten wurde.
Der Führer der Deutschen hingegen beherrschte
ein irdisches Reich, das sich zeitweise vom Atlantik
bis zur Wolga erstreckte, erobert in einem Weltkrieg,
der über 50 Millionen Menschen das Leben kostete
– Adolf Hitler, der für die Ermordung von knapp
6 Millionen Juden verantwortlich war, wurde, wie
sein Biograf Joachim Fest befand, zur „Verkörpe-
rung des Bösen“.
Größer kann ein Gegensatz zwischen Akteuren
auf der Weltbühne kaum sein, und doch lastet auf
dem Verhältnis zwischen dem Kirchenstaat und Hit-
lers Regime der drückende Vorwurf einer skandalö-
sen Nähe.
Vom Nationalsozialismus fasziniert, mit dem Anti-
semitismus infiziert, habe der Heilige Stuhl von Be-
ginn an mit Hitler gemeinsame Sache gemacht. Es
vergeht kaum ein Jahr, in dem nicht eine neue dick-
leibige Klageschrift veröffentlicht wird. Etwa die des
US-amerikanischen Politologen Daniel Jonah Gold-
hagen, der die überzogene Behauptung aufgestellt
hat, die katholische Kirche habe den Juden „vor-
sätzlich, aktiv und konsequent Schaden zugefügt“.
Der Vatikan hat manches unternommen, um die
Vorwürfe zu entkräften. Rund 5000 Dokumente aus
der Kriegszeit wurden zwischen 1965 und 1981 ver-
öffentlicht. Außerdem ließ Johannes Paul II. unab-
hängige Forscher erstmals die Papiere sichten, die
päpstliche Archivare in den dunklen Schachteln der
Nuntiaturen München und Berlin oder in den grünen
Mappen mit der Aufschrift „Sacra Congregazione
degli Affari Ecclesiastici Straordinari“ (AES) aufbe-
wahren. AES war das kleine Außenministerium des
Vatikans, geleitet von einem Kollegium aus knapp 20
Kardinälen sowie einer Handvoll Mitarbeiter.
Die bisher einsehbaren Papiere entlasten den Va-
tikan von den schlimmsten Verdächtigungen. Weder
sympathisierten die Päpste mit den Nazis, noch war
der Kirchenstaat Hort eines mörderischen Antisemi-
tismus.
So findet sich in den Unterlagen etwa ein Bericht
vom April 1933. Der damalige Nuntius in Berlin, Erz-
KEYSTONE

bischof Cesare Orsenigo, bezeichnet darin kurz nach

84 spiegel special geschichte 1 | 2008


dem sogenannten Juden-Boykott den Rassenwahn Dieser Mann, Jude, sah
der neuen Herrscher als „Schandfleck auf den ersten aus, dass ich mich ab-
Seiten der Geschichte … die der Nationalsozialis- wenden musste. Ich
mus schreibt“. Ausdrücklich weist Pius XI. seinen Di- habe den Krieg an der
plomaten an, sich gegen den Boykott auszusprechen. Front erlebt, doch sol-
In der Folgezeit lässt der Papst aus dem Entwurf che Massacre sah ich
einer Rede, die sein Nuntius als Doyen des Diplo- nie! Viehisch, sadistisch!
matischen Corps zum Jahreswechsel 1936/37 in Ber- Was, wenn der Papst
lin zu halten hat, lobende Passagen über Hitler strei- sich solche Worte zu ei-
chen. Als Orsenigo zum 48. Geburtstag des Diktators gen gemacht hätte? Wäre
1937 an einer Ehrenveranstaltung teilnehmen will, Hitler, der sich mit dem
untersagt dies das Kirchenoberhaupt. katholischen Bürgertum
Es sind solche und ähnliche Archivalien, von de- zunächst arrangierte, um
nen sich der Vatikan Entlastung im Streit um seine es dann kaltzustellen,
Vergangenheit erhoffen kann. auf härteren Widerstand
Doch es gibt auch andere Funde, und sie werden bei der Errichtung sei-
dafür sorgen, dass am Ende der Debatte um die Ver- ner Diktatur gestoßen?
fehlungen des Vatikans kein Freispruch stehen wird. Hätte ein Fanal aus Rom
Denn die Dokumente bezeugen einen fatalen ihn womöglich hinweg-
Nichtangriffspakt zwischen Himmel und Hölle. Wie gefegt, noch ehe sein
aus den Quellen hervorgeht, notierte Pietro Gaspar- Machtapparat sich in je-
ri, Förderer von Eugenio Pacelli und dessen Vorgän- dem Winkel der Gesell-
ger als Kardinalstaatssekretär, am 30. Juni 1933 zur schaft festkrallen konn-
Verhandlungsstrategie gegenüber dem braunen Dik- te? Spätestens ab 1935,
tator: „Solange Hitler dem Heiligen Stuhl und den darin stimmen fast alle
katholischen Würdenträgern in Deutschland nicht Historiker überein, konn-
den Krieg erklärt … sollen der Heilige Stuhl und die te Hitler nur durch ein
katholischen Würdenträger in Deutschland darauf Attentat oder einen Putsch der Wehrmacht gestürzt KURSWECHSEL
verzichten, die Hitlerpartei zu verurteilen.“ werden. Noch bis 1933 stemmten
Und dabei blieb es. Die römischen Interessen waren andere. Dass Pius sich die katholischen
Durchdrungen von dem Bewusstsein, einer Insti- XI. es schon im März 1933 für nützlich befand, sich Bischöfe gegen die Nazis.
tution vorzustehen, die – wie Pius XI. betonte – „alle mit Hitler zu arrangieren, wird zu den bleibenden Doch schon bald nach
Stürme überdauerte, die seit Jahrhunderten über die Schandflecken in der Geschichte der katholischen der Machtübernahme er-
Welt dahinfegten“, sahen die beiden Pius-Päpste ihre Kirche zählen. mahnten sie die Gläubigen
Hauptaufgabe darin, die Interessen der römischen Die Nazis hatten sich in ihrem Parteiprogramm zur Treue gegenüber der
Kirche zu schützen – um beinahe jeden Preis. einem „positiven Christentum“ verschrieben. Schon „rechtmäßigen Obrigkeit“.
Ob Liberale oder Sozialdemokraten, Juden oder Jesus Christus, behauptete Hitler, habe „gegen das
Protestanten – den Diplomaten des Vatikans war ihr jüdische Gift“ gekämpft; von Saulus sei die christ-
Schicksal nicht gleichgültig, aber von untergeordne- liche Idee dann leider verfälscht worden. Der Öster-
ter Bedeutung. reicher, am 22. April 1889 in der katholischen Pfarr-
Dabei zeichnete sich schon 1933 ab, dass diese kirche in Braunau am Inn auf den Namen Adolfus
Strategie, die den Vatikanstaat und die europäischen getauft, forderte deshalb eine „Reinigung“ der Hei-
Bistümer über den Weltkrieg rettete, Quelle erbit- ligen Schrift – für Katholiken eine Todsünde.
terter Auseinandersetzungen sein würde. Denn kaum Der Nationalsozialismus, schrieb Pacelli wenige
hatte Hitler sein Regime etabliert, machten manche Tage nach Hitlers Putschversuch 1923, sei „eine anti-
Laien deutlich, dass sie vom Pontifex maximus mehr katholische Bewegung“, deren Anhänger „systema-
erwarteten, als nur Interessenvertreter zu sein, wie tisch gegen den katholischen Klerus aufwiegeln“ „Christen, wo
aus Briefen an den Papst ersichtlich ist. würden. seid ihr!
Mit einem aus Angst vor Verfolgung anonym ver- Über die Haltung der Kirche zum Aufstieg Hitlers
fassten Hilferuf wandte sich am 26. Juli 1933 eine findet sich in den Papieren des päpstlichen Geheim-
Christlich
„Frau der Gerechtigkeit“ an den „Heiligen Vater“: archivs eine Fülle von Vermerken. Den meisten deut- katholische
Hier in Düsseldorf befindet sich in einem Stamm- schen Bischöfen war die liberale Weimarer Republik Kirche, was
lokal der Nationalsozialisten (Bismarckstraße, Ge- fremd geblieben. Doch dem Triumphzug der Nazis
treidehaus) ein Keller, in dem die nachts aus dem stellten sich Rom und der deutsche Episkopat zum tust du für
Bett herausgeholten wehrlosen Menschen hinein-
geschleppt, gefesselt und verprügelt werden, bis
Teil offen entgegen.
Das Ordinariat Mainz verbot den Katholiken 1930
deine von Gott
das Blut ihnen am Körper herunterläuft, dann die NSDAP-Mitgliedschaft und erklärte, Nationalso- dir anvertrau-
werden sie wieder auf einen Wagen geladen und an zialisten dürften die heiligen Sakramente nicht emp- ten Seelen.
einen stillen Ort geworfen, wo sie meistens mor- fangen. Die anderen Ordinariate schlossen sich an.
gens besinnungslos oder tot aufgefunden werden. 1931 begründete die Berliner Bistumsverwaltung Ich bitte um
In den Akten mit Briefen an den Vatikan findet gegenüber NSDAP-Gauleiter Joseph Goebbels die Hilfe im
sich auch der Bericht des Lufthansa-Piloten Victor ablehnende Haltung in einem Brief, dessen Abschrift
Hafner aus Paris vom 29. Juni 1933: das Vatikanarchiv aufbewahrt: „Der deutsche Epi- Namen vieler
Es ist die größte Kulturschande der letzten Jahr- skopat hat … festgestellt, dass führende Vertreter Tausender.“
hunderte, die wir deutsche Katholiken erleben des Nationalsozialismus die Rasse höher stellen als
BETTMANN/CORBIS

müssen. Ich war in Schutzhaft in Spandau-Berlin. die Religion, dass sie die Offenbarungen des Alten Aus dem Brief einer Katholikin,
die nach den Regeln
Habe dort einen 65 Jahre alten Justizrat angetrof- Testaments ablehnen, dass sie den Primat des Papstes der Nazis als Halbjüdin galt,
fen, der 6 Tage in einer so gen. SA-Kaserne lag. nicht gelten lassen.“ an Papst Pius XI.

spiegel special geschichte 1 | 2008 85


DER WEG IN DIE DIKTATUR
Zwar wählte bis Ende lässt sich leider nicht bestreiten, dass die Katholi-
1932 nur jeder siebte ken, bis auf wenige Ausnahmen, sich dem neuen Re-
Katholik Hitlers Partei, gime mit Enthusiasmus zugewandt haben.“ Kurz dar-
doch dem Heiligen Stuhl auf schrieb er: „Es ist schon jetzt äußerst schwierig,
war auch das zu viel. Or- die Masse der Sympathisanten davon abzuhalten,
senigo rapportierte An- Mitglied der NSDAP zu werden. Es besteht bereits
fang 1933: „Leider muss die Gefahr, dass die katholischen Vereine geschlossen
ich berichten, dass die NSDAP-Mitgliedsausweise beantragen.“
Anweisungen des Epi- Heute weiß man, dass Orsenigo, der zeitweise mit
skopats nicht das Resul- den Nazis sympathisierte, übertrieb. Deutschlands
tat zeigen, das man er- Katholiken waren für den Nationalsozialismus deut-
wartet; vor allem die lich weniger empfänglich als die Protestanten. Da-
jungen Studenten wider- mals freilich müssen die Nachrichten aus Berlin die
setzen sich.“ Kompromissbereitschaft im Kirchenstaat noch er-
Zur fatalen Wende in höht haben. Die Laien liefen angeblich in Scharen zu
der Politik des Kirchen- den Nazis über, zugleich signalisierte das Regime
staats kam es bald nach Entgegenkommen – mit „ein bisschen gutem Wil-
Hitlers Machtantritt im len“, folgerte Nuntius Orsenigo, müssten doch die
Januar 1933. Anstatt für deutschen Oberhirten ihre „bedauerlichen Streitig-
Demokratie und Men- keiten“ mit den Nazis beilegen können.
schenrechte einzutreten, Und das taten sie dann auch. Am 28. März nahm
ging der Papst mit gro- die Fuldaer Bischofskonferenz ihre „allgemeinen
ßen Schritten auf den bis Verbote und Warnungen“ in puncto NSDAP zurück
dahin so scharf abge- und ermahnte die Katholiken zu Treue gegenüber
lehnten NS-Führer zu. der „rechtmäßigen Obrigkeit“. Anfang April began-
AUDIENZ IM VATIKAN Als Reichskanzler setzte Hitler umgehend den nen die Konkordatsverhandlungen zwischen Hitler
Als „ersten und einzigen Rechtsstaat außer Kraft und ließ Tausende Kommu- und dem Papst.
Staatsmann, der öffentlich nisten verhaften und teilweise foltern. Offenkundig Mit peinlichen Ergebenheitsadressen huldigten
gegen die Bolschewisten war es gerade das brachiale Vorgehen gegen die schon bald deutsche Bischöfe dem „Führer“. Nur
spricht“, lobte Papst Pius XI. KPD, das dem neuen Machthaber die Sympathien der spätere Berliner Oberhirte Konrad von Preysing
Hitler im März 1933. des Antikommunisten in Rom eintrug. und wenige andere erkannten hellsichtig, dass Hitlers
Wenige Wochen später Er habe seine Meinung korrigiert, so erklärte der Weg in Krieg und Völkermord führte.
empfing er dessen Stell- Papst Anfang März 1933 einem Gesprächspartner: Welche Rolle spielte in jenen entscheidenden
vertreter Hermann Göring. „Der Hitler ist der erste und einzige Staatsmann, der Tagen der Mann, der viele Jahre als päpstlicher
öffentlich gegen die Bolschewisten spricht.“ Dem so Botschafter in Deutschland gelebt hatte und nun in
Gelobten ließ er ausrichten, dass er dessen „entschie- Rom auf einer Schlüsselposition saß? Pacellis Ver-
denes Vorgehen“ anerkenne. Für Hitler ergab sich da- teidiger behaupten bis heute, der spätere Papst ha-
mit eine einmalige Chance. Die Katholiken im Reich be mit der Selbstgleichschaltung seiner Glaubens-
fühlten sich dem Zentrum verbunden, einer konfes- brüder nichts zu tun gehabt. Die Akten bieten ein
sionellen Volkspartei, die bis 1932 in jeder Weimarer anderes Bild.
Regierung vertreten gewesen war. Hitler wollte das Die erste Nachricht an Pacelli über den sich ab-
Zentrum nun zerschlagen, um die katholischen Wäh- zeichnenden Kurswechsel der deutschen Bischöfe
ler für sich zu gewinnen. Das sei nur möglich, wenn leitete Orsenigo am 26. März mit dem Hinweis ein,
die Kurie die Partei „fallen lasse“. Den Vatikan lock- er glaube, dem Kardinalstaatssekretär „eine Freude
te er im März 1933 mit der Aussicht auf ein Reichs- machen“ zu können; offenkundig wünschte der va-
konkordat, für das es während der Weimarer Repu- tikanische Chefdiplomat den Schwenk.
blik im Reichstag keine Mehrheit gegeben hatte. In der gleichen Akte findet sich ein handschrift-
Deutschlands Katholiken, ungefähr ein Drittel der licher Entwurf Pacellis, den dieser verfasst hatte,
Bevölkerung, unterhielten ihre eigenen Verbände bevor ihn Orsenigo von der Wende des Episkopats
und Gewerkschaften, Verlage und Vereine. Der Papst informierte. Darin wies der Römer den Botschafter
wünschte sehnlichst, diese mit einem Reichskonkor- an, die deutschen Bischöfe „vertraulich und münd-
dat vor dem Zugriff des Staates zu schützen und den lich“ daran „zu erinnern, dass es vernünftig ist, neue
Einfluss seiner Kirche, insbesondere auf die Erzie- Direktiven auszugeben“. Pacelli muss den Kirchen-
hung, zu wahren. fürsten nördlich der Alpen also schon zuvor signa-
Für ein solches Vorgehen gab es einen Präze- lisiert haben, dass er einen neuen Kurs befürworte.
denzfall. 1929 hatte Pius XI. von Italiens Diktator Er hätte Hitler kaum einen größeren Gefallen tun
Benito Mussolini eine Bestandsgarantie für den Ein- können. Wohl keinem Vertrag widmete der Diktator
fluss der Kirche in gesellschaftlichen und religiösen so viel Zeit wie der Vereinbarung mit dem Heiligen
Fragen erhalten. Der Vatikan stimmte dafür dem Stuhl: Sie sollte den „kleinen Gefreiten“ des Ersten
ULLSTEIN BILD (O.); OLYMPIA / SIPA PRESS (U.)

DIREKTIVE AUS ROM Verbot aller politischen Tätigkeiten für Geistliche Weltkriegs auch im Ausland salonfähig machen; und
Als Kardinalstaatssekretär ausdrücklich zu; Mussolini löste den Partito popola- das gelang.
in Rom signalisierte der re, eine dem Zentrum vergleichbare Partei, auf. Das Konkordat habe „eine Vertrauenssphäre ge-
spätere Papst Pius XII. Diesen Deal mit Hitler zu wiederholen – dazu schaffen, die bei dem vordringlichen Kampf gegen
den Kirchenfürsten in waren Pius XI. und Pacelli bereit. Allerdings mussten das internationale Judentum besonders bedeutungs-
Deutschland, dass er einen vorher die deutschen Bischöfe ihr Verdikt gegen den voll“ sei, jubilierte Hitler in der Kabinettssitzung am
Kurswechsel wünsche: Nationalsozialismus zurücknehmen. 14. Juli 1933, sechs Tage nach der Paraphierung des
Kooperation mit dem Nazi- In Rom liefen damals beunruhigende Berichte aus Vertrags und neun Tage nachdem sich das Zentrum
Regime statt Ablehnung. Berlin ein. Am 22. März meldete der Nuntius: „Es unter dem Druck der Nazis selbst aufgelöst hatte.

86 spiegel special geschichte 1 | 2008


Dass der Pontifex
mit dem braunen Füh-
rer verhandelte, aber
gleichzeitig dessen Het-
ze gegen die Juden ab-
lehnte, bezeugt die ei-
gentümliche Ambiva-
lenz der vatikanischen
Diplomatie. Der Schlin-
gerkurs führte unwei-
gerlich in eine Mit-
verantwortung für die
dauerhafte Etablierung
der Hitler-Diktatur.
Ansätze, dem Trei-
ben der Nazis klar ent-
gegenzutreten, waren
immerhin vorhanden.
Pius XI. hatte schon
1928 den „Hass gegen
das vor Zeiten von Gott
erwählte Volk, den man
Antisemitismus nennt“,
öffentlich „besonders
verurteilt“. Im August
1933 bezeichnete er die Judenverfolgung durch die Zum lauten Protest des Vatikans gegen das Re- RASSENWAHN
Nazis als eine „Beleidigung nicht nur der Moral, son- gime kam es bezeichnenderweise erst, als endgültig Nach Erlass der Nürnberger
dern auch der Kultur“. deutlich wurde, dass Hitler nicht bereit war, die Rassengesetze eskalierten
Nach dem Boykott von Geschäften deutscher Ju- Rechte der katholischen Kirche zu respektieren. 1936 die Repressionen. Nicht-
den am 1. April schrieb Kardinalstaatssekretär Pacelli bot Pius XI. den deutschen Bischöfen an, gegen den jüdischen Frauen, die mit
dem Berliner Nuntius, es sei in der Tradition des Hei- Diktator öffentlich Stellung zu beziehen, und die Juden eine Liebesbeziehung
ligen Stuhls, seine „universale Botschaft des Friedens Oberhirten rangen sich dazu durch. hatten, wurde der Kopf
und der Barmherzigkeit allen Menschen zuzuwenden, Blass, ausgemergelt und mit halbgeschlossen Au- geschoren. Die katholische
aus welchen sozialen Verhältnissen sie auch kommen gen empfing der herzkranke 79-jährige Achille Ratti Kirche schwieg dazu.
mögen und welcher Religion sie auch angehören“. im Januar 1937 eine Bischofsdelegation aus dem
Vor allem aber ging es dem Vatikan um die eige- braunen Reich. Zum Abschied erklärte er: „Der Na-
nen Leute. Noch ehe das Abkommen mit Berlin un- tionalsozialismus ist nach seinem Ziel und seiner
terschrieben war, gingen im Kirchenstaat Berichte Methode nichts anderes als der Bolschewismus. Ich
über Attacken auf katholische Geistliche ein. Er habe würde das dem Herrn Hitler sagen.“
genug davon, schimpfte der Papst, dass in Rom mit In einer Enzyklika, einem öffentlichen, für alle
den Nazis „verhandelt“ werde und in Deutschland Katholiken verbindlichen Sendschreiben, prangerte
seine Priester „misshandelt“ würden. Das Reichs- Ratti nun den Nationalsozialismus „mit brennender
konkordat sollte auch als Schutzwall wirken. Eine Sorge“ an; am Palmsonntag 1937 wurde die Botschaft Konrad
Pistole, erklärte Pacelli, sei „gegen meinen Kopf ge- in fast allen 11 500 Pfarreien des Reiches verlesen. von Preysing
richtet worden“ – da habe er für das Wohl seiner Der Rassismus der Nazis war nur ein untergeordne- Anders als die meisten
Klientel keine Alternative gesehen. ter Kritikpunkt. katholischen Würden-
Es war das Gefühl von Schwäche und Erpress- Möglich scheint es immerhin, dass der Vatikan träger erkannte der
barkeit, gepaart mit der Hoffnung, Hitler werde viel- sich neu orientiert hätte, wenn Pius XI. nicht 1939 1880 geborene Konrad
leicht doch noch auf die Interessen der römischen gestorben wäre. Denn als der NS-Terror sich immer von Preysing von An-
Kirche ähnlich Rücksicht nehmen wie Mussolini, die blutiger auf die jüdischen Deutschen und Österrei- fang an den totalitären
den Vatikan fortan schweigen ließ. cher konzentrierte, begann der Papst deutlicher Stel- Charakter des Hitler-
Zwar schickte Pacelli fast jeden Monat Briefe, Me- lung zu beziehen. Regimes. 1933 meldete
moranden, Noten an Hitlers Diplomaten, in denen er Als Achille Ratti am 10. Februar 1939 starb, lag auf er als Bischof von Eich-
gegen Angriffe auf die katholische Kirche und gele- seinem Schreibtisch der Entwurf für eine neue En- stätt starke Bedenken
gentlich gegen den Antisemitismus protestierte. Die zyklika gegen Rassismus und Antisemitismus. Zwar gegen das Reichs-
„Verabsolutierung des Rassegedankens“ sei „ein Irr- war die Vorlage nicht frei von den im Katholizismus konkordat an. 1938
weg, dessen Unheilsfrüchte nicht auf sich warten las- verbreiteten Verurteilungen des Judentums („das gründete Preysing,
sen werden“, mahnte er etwa in einem Promemoria unglückliche Volk, dessen verstockte Führer den nunmehr Bischof in
an die Reichsregierung vom 14. Mai 1934. Aber: Nach göttlichen Fluch auf ihre eigenen Häupter herab- Berlin, ein Hilfswerk,
außen drang davon nichts. beschworen“), aber in nie gekannter Klarheit wurde das „Nichtariern“ bei
Als die Nazis 1935 mit den Nürnberger Rassenge- auch die Diskriminierung angeprangert: Die „ekla- der Ausreise half.
setzen jüdische Deutsche zu Bürgern zweiter Klasse tante Verweigerung elementarer Rechte gegenüber Gleichzeitig sammelte
BAYERISCHE STAATSBIBLIOTHEK

machten, prophezeite Nuntius Orsenigo: „Wenn, wie den Juden treibt Millionen völlig mittellos über die- die Organisation Nach-
es scheint, die nationalsozialistische Regierung noch se Erde“. richten über die Juden-
lange an der Macht bleibt, ist es den Juden vorher- Warum Rattis Nachfolger Eugenio Pacelli, der doch deportationen, die
bestimmt, aus dieser Nation zu verschwinden.“ Doch die Nationalsozialisten so gut kennengelernt hatte, Preysing an Rom
selbst da mochte Pius XI. nicht öffentlich seine Stim- den Entwurf nicht veröffentlichte, gehört noch zu den weiterleitete, um den
me erheben. Geheimnissen der päpstlichen Diplomatie. ✦ Papst zu informieren.
spiegel special geschichte 1 | 2008 87
Der Widerstand einer protestantischen Minderheit verstellt der Nachwelt den Blick auf die
zwiespältige Rolle der Amtskirche nach 1933: Antijüdisch und deutschnational
geprägt, kämpfte sie eher für die Wahrung ihrer eigenen Rechte als für die Andersdenkender.

HAKENKREUZ AM ALTAR
Von Jochen Bölsche

N
TRAUUNG IN BRAUN ie zuvor haben die Deutschen den Partei- tums“ und verspricht, ihre Rechte würden „nicht
Nach der Machtübernahme chef der NSDAP so inbrünstig den Herr- angetastet“ werden. Die Botschaft kommt an,
unterwanderten Nazis gott anrufen hören. Am Abend des 1. Fe- mancherorts kennt der Jubel in der Kirche Martin
im Talar die Kirchengemein- bruar 1933, am zweiten Tag nach seiner Luthers kaum noch Grenzen.
den. Parteigenossen Machtübernahme, beendet Adolf Hitler seine erste Hakenkreuzfahnen flankieren die Altäre, Pastoren
organisierten, wie 1933 in Rundfunkansprache mit einem salbungsvollen Satz: verkünden: „Christus ist zu uns gekommen durch
der Berliner Lazarus- „Möge der allmächtige Gott unsere Arbeit in seine Adolf Hitler.“ Von bayerischen Kanzeln schallt es:
kirche, Massentrauungen in Gnade nehmen, unseren Willen recht gestalten, un- „Ein Staat, der wieder anfängt, nach Gottes Gebot zu
Uniform. sere Einsicht segnen und uns mit dem Vertrauen un- regieren, darf in diesem Tun nicht nur des Beifalls,
seres Volkes beglücken.“ sondern auch der freudigen und tätigen Mithilfe der
Als der Rundfunk sieben Wochen später, am Kirche sicher sein.“ Der Staat, so die Geistlichkeit,
21. März, die Rede Hitlers zur Konstituierung des wehre nunmehr der Gotteslästerung und sorge „mit
Reichstags aus der Potsdamer Garnisonkirche über- starker Hand“ für Zucht und Ordnung. Gleichzeitig
trägt, eingebettet in Glockengeläut, Orgelmusik und sei „heiße Liebe zu Volk und Vaterland nicht mehr
SCHERL / SÜDDEUTSCHER VERLAG

feierliche Choräle – da kann es kaum noch Zweifel verfemt“, sondern werde „in tausend Herzen ent-
geben: Die Nazis haben den Segen der evangelischen zündet“.
Kirche. Für die meisten Protestanten sind das Töne, die in
In seiner Regierungserklärung setzt Hitler seinen ihr Weltbild passen, hatte Martin Luther sie doch
Vertrauensfeldzug fort, umschmeichelt die Kirchen gelehrt, der Obrigkeit gehorsam untertan zu sein.
als „wichtigste Faktoren der Erhaltung unseres Volks- Außerdem sind sie – wie viele in der Weimarer Re-

88 spiegel special geschichte 1 | 2008


DER WEG IN DIE DIKTATUR
publik – deutschnational und antidemokratisch ge-
prägt und sehnen sich seit dem Ende des Kaiser-
reichs nach einem starken Mann.
So nimmt es die Amtskirche schweigend hin, dass
gleich nach der Machtübernahme Bürgerrechte außer
Kraft gesetzt und linke Oppositionelle gefoltert und
liquidiert werden – etwa in Dachau, wo seit dem
22. März eines der ersten Konzentrationslager des
„Dritten Reiches“ existiert. Erst sehr viel später wird
der Berliner Pfarrer Martin Niemöller als einer der
wenigen Kirchenmänner mit seinem inzwischen le-
gendären Schuldbekenntnis das Versagen der Kir-
che eingestehen:
Als die Nazis die Kommunisten holten, habe ich
geschwiegen, ich war ja kein Kommunist. Als sie
die Sozialdemokraten einsperrten, habe ich ge-
schwiegen, ich war ja kein Sozialdemokrat. Als sie
die Gewerkschafter holten, habe ich geschwiegen,
ich war ja kein Gewerkschafter. Als sie mich hol-
ten, gab es keinen mehr, der protestieren konnte.
Auch Niemöller hatte 1924 die Nationalsozialisten schen Union, der größten Landeskirche, erhielten Schweigende Kirche
gewählt und 1933 noch hoffnungsfroh den „Führer- die DC fast ein Drittel der Stimmen. Am 10. März 1933 wurde
staat“ begrüßt. „SA Jesu Christi“ nennen sie sich, und statt mit der jüdische Rechts-
Spätestens nach Hitlers kirchenfreundlicher Re- „amen“ beenden sie ihre Gebete mit „Heil“. Die anwalt Michael Siegel
gierungserklärung vom 23. März 1933, resümiert der Gruppe fordert einen „Arierparagrafen“ für Pfar- in München von der
bayerische Kirchenhistoriker Björn Mensing, steht rer, eine „Entjudung“ der kirchlichen Botschaft und SA mit einem Schild um
„der deutsche Protestantismus fast geschlossen hin- die Abschaffung des lockeren Bündnisses souveräner, den Hals durch die
ter der ,nationalen Erhebung‘“. Auch als sich spä- teils parlamentarisch verfasster Landeskirchen. Künf- Straßen getrieben und
ter mit der Bekennenden Kirche Protest gegen die tig soll es nach ihrem Willen nur noch eine straff misshandelt, weil er
nationalsozialistische Gleichschaltung regt, geht es nach dem Führerprinzip organisierte „Reichskirche“ sich über antisemitische
zunächst mehr um die Wahrung innerkirchlicher geben, gemäß dem Motto: „Ein Volk, ein Reich, ein Ausschreitungen
Machtstrukturen als um Widerstand gegen die Ver- Führer, ein Gott, ein Glaube, eine Kirche.“ beschwert hatte. Die
folgung von Minderheiten. Kirchenmänner, die sich Die Folge ist ein innerkirchlicher Machtkampf, protestantische Kirche
der Vernichtungsmaschinerie aktiv widersetzen, blei- der sich an der Wahl eines „Reichsbischofs“ ent- schwieg dazu nicht
ben während der NS-Herrschaft eine Ausnahme. zündet. Der existiert zwar in der Kirchenverfassung nur, sondern machte
Pfarrer Hermann Umfrid aus Niederstetten bei noch gar nicht, aber Traditionschristen, die den sich auch zum Kom-
Heilbronn ist einer, der die Komplizenschaft seiner Kandidaten der DC verhindern wollen, wählen den plizen der Nazis. Über
Kirche mit den braunen Machthabern früh zu spüren populären Betheler Pastor Friedrich von Bodel- ihr „Evangelisches
bekommt. Nachdem SA-Horden Ende März 1933 die schwingh in dieses Amt. Doch Bodelschwingh gibt Gemeindeblatt“ forder-
Juden der Stadt mit Stahlruten barbarisch misshan- schon nach vier Wochen Amtszeit entnervt auf, weil te sie die Gläubigen
delt haben, spricht der Pastor die Grausamkeiten in die Nationalsozialisten wegen angeblichen Verfas- auf, in privaten Briefen
seiner Predigt an. Anschließend bedrohen ihn nicht sungsbruchs gegen ihn hetzen. ihre ausländischen
nur die Nazis, auch sein Stuttgarter Oberkirchenrat Am 23. Juli 1933 gelingt den DC ein Erdrutschsieg. Freunde und Bekann-
rügt ihn. Umfrid nimmt sich das Leben. Landesweit bekommen die Nazi-Christen gut zwei ten „aufzuklären“, dass
Überall in Deutschland ist der Protestantismus zu Drittel der Stimmen, in Städten wie Köln sind es es in Deutschland keine
dieser Zeit tief geprägt vom klassischen kirchlichen sogar bis zu 90 Prozent. Zuvor hatte Hitler eine neue Judenpogrome gebe.
Antijudaismus, dem schon Martin Luther anhing. In Kirchenverfassung in Kraft gesetzt und mit einer
seinem Spätwerk hatte der Reformator behauptet, Rundfunkansprache in den Kirchenwahlkampf ein-
die Juden seien seit „1400 Jahren unsere Plage, Pes- gegriffen.
tilenz und alles Unglück“. Diese Tradition wird nun Nun ist der Weg endgültig frei für den Reichs-
zum Wohlgefallen der braunen Machthaber fort- bischofskandidaten der „SA Jesu Christi“, den weit-
gesetzt – etwa vom bayerischen Landesbischof hin unbekannten Militärpfarrer Ludwig Müller. Eine
Hans Meiser, der im Gemeindeblatt über die Juden Nationalsynode in der Lutherstadt Wittenberg wählt
schreibt, sie seien „rassisch unterwertige Misch- den Hitler-Günstling einstimmig zum „Reibi“, wie
lingsbildungen“. der Reichsbischof im Volksmund genannt wird.
Hitlers Strategie für das Jahr der Machtübernah- Bald darauf tritt Müller die Evangelische Jugend
me besteht darin, den antichristlichen Charakter der an den Hitlerjugend-Führer Baldur von Schirach ab,
NSDAP zu kaschieren und fürs Erste jede offene in den DC-majorisierten Landeskirchen wird für
Konfrontation mit der einflussreichen evangelischen Pfarrer und Kirchenbeamte der „Arierparagraf“ ein-
SCHERL / SÜDDEUTSCHER VERLAG (O.); DPA (U.)

Kirche zu vermeiden, der 63 Prozent der Deutschen geführt.


angehören. Unterdessen sollen braune Parteigänger Ausgerechnet mit dieser Regelung aber machen
die Landeskirchen unterwandern, um sie so voll- die Nazis im Talar Hitlers Absicht zunichte, die
ständig dem Regime untertan zu machen. evangelische Kirche ohne viel Aufhebens auf Vor- HITLERS GEFANGENER
Bereits vor der Machtübernahme, im Mai 1932, dermann bringen zu lassen. Denn die Geistlichkeit 1933 hat Pfarrer Niemöller
hatten Nationalsozialisten, unter ihnen der Berliner ist zwar bereit, die zunehmende Schikanierung von den „Führerstaat“ begrüßt.
Pfarrer Joachim Hossenfelder, die „Glaubensbewe- Bürgern jüdischen Glaubens durch den Staat schwei- Als er Kritik übte, warf ihn
gung Deutsche Christen“ (DC) gegründet. Bei Kir- gend hinzunehmen, doch das Ansinnen der NS- Hitler als seinen „persön-
chenwahlen im September 1932 in der Altpreußi- Parteigänger, auch zum Christentum konvertierte lichen Gefangenen“ ins KZ.
spiegel special geschichte 1 | 2008 89
„alle treu lutherisch Ge-
sinnten zu flammendem
Protest“ auf. Gleichzei-
tig versichert er dem Re-
gime seine Loyalität und
laviert so zwischen Na-
tionalsozialisten und Be-
kenntnischristen.
Einerseits darf unter
Meisers Regiment das
Dominanzstreben der
Deutschen Christen an-
gegriffen werden. Ande-
rerseits lässt er es zu,
dass der Hitler-Gruß im
Religionsunterricht ein-
geführt und Haken-
kreuzfahnen an Pfarr-
häusern gehisst werden.
Kritik an der fortschrei-
tenden Entrechnung und
Terrorisierung der Juden
bleibt unerwünscht.
Wie wenig die Kirche
für die bedrängte Min-
derheit zu tun bereit ist,
erfährt der Jurist und
Bankdirektor Wilhelm
Freiherr von Pechmann.
Der Münchner hatte
HEIL UND HEILAND Juden als „Nichtarier“ aus den Pfarrämtern zu nach den ersten angeblich spontanen, in Wahrheit
Bischof Ludwig Müller (M.) jagen, werten viele als Eingriff in ureigenste Kirchen- organisierten Angriffen auf jüdische Bürger im April
zeigt sich im September belange. 1933 in den kirchlichen Spitzengremien eine öffent-
1933 nach Eröffnung der Im September 1933 gründen Martin Niemöller liche Protestkundgebung beantragt und war mit sei-
Evangelischen National- und Dietrich Bonhoeffer den „Pfarrernotbund zum nem Ansinnen „ganz allein“ geblieben. Als die evan-
synode mit SA-Sturmtrupps Schutz der bedrohten Amtsbrüder jüdischer Her- gelischen Bischöfe später „einmütig ihre unbedingte
vor dem Wittenberger kunft“ – Vorläufer der 1934 entstehenden Beken- Treue zum Dritten Reich und seinem Führer“ be-
Rathaus. nenden Kirche. Der Notbund erklärt den inner- kräftigen, tritt Pechmann aus der Kirche aus, in der
kirchlichen Arierparagrafen für unvereinbar mit er lange Zeit hohe Ehrenämter wie etwa den Kir-
dem Glaubensbekenntnis und widersetzt sich dem chentagsvorsitz bekleidet hat.
Totalitätsanspruch der DC-beherrschten Kirchen- Besonders bedrückt ihn, dass sich nicht einmal
führungen. Bereits nach wenigen Wochen gehört im Pfarrernotbund Mitstreiter gefunden haben. Des-
dem Notbund jeder dritte evangelische Pfarrer in sen Mitglieder, darunter auch überzeugte Hitler-
Deutschland an. Anhänger, widersetzen sich zwar aus kirchenrecht-
Die Popularität der Deutschen Christen schwindet lichen Gründen einem Ausschluss der vom Arier-
Rassisten der Kirche auch, weil sie immer unverhüllter ihre zugleich anti- paragrafen bedrohten rund 40 evangelisch getauften
In Predigten der Deut- jüdische und antichristliche Weltanschauung offen- Pfarrer jüdischer Herkunft. Die Ausgrenzung der Ju-
schen Christen (DC), baren. Vor allem eine Großkundgebung im Berliner den aus dem öffentlichen Leben dagegen gilt ihnen
die 1933 zwei Drittel Sportpalast öffnet vielen die Augen für den wahren zunächst als legitime Aufgabe des Staats, gegen die
der Protestanten hinter Charakter des sogenannten positiven Christentums, kirchliche Einmischung nicht statthaft sei.
sich hatten, hieß es: das die NSDAP propagiert. Einer, der das schon früh anders sieht, ist Not-
„Das Hakenkreuz ist Vor rund 20 000 Teilnehmern verkündet DC-Gau- bund-Mitglied Dietrich Bonhoeffer. Den Pfarrer be-
Sehnsucht, das Chris- leiter Reinhold Krause gleichsam ein neues Glau- lastet, dass er selbst auf Druck der NS-nahen Kir-
tenkreuz Erfüllung. bensbekenntnis: „Unsere Religion ist die Ehre der chenleitung dem jüdischen Schwiegervater seiner
Darum: Das Haken- Nation.“ In schrillen Tönen ruft er dazu auf, für „Ju- Zwillingsschwester 1933 die Trauerrede versagt hat.
kreuz auf der Brust und denchristen“ abgesonderte Gemeinden einzurichten Vehement vertritt er nun die Ansicht, die Kirche
das Christuskreuz in und das gesamte Alte Testament mit seiner „jüdi- müsse allen „Opfern des Staatshandelns“ beistehen,
der Brust!“ In ihren schen Lohnmoral“ und seinen „Viehhändler- und „auch wenn sie nicht der christlichen Gemeinde zu-
Richtlinien forderten Zuhältergeschichten“ aus der Kirche zu verbannen. gehören“. Im Extremfall habe ein Christ gar die
die DC Schutz des Dieser Frontalangriff auf das christliche Bekennt- Pflicht, „dem Rad selbst in die Speichen zu fallen“.
Volkes vor „fremdem nis hat Abertausende von Austritten aus den DC zur Entschieden widerspricht Bonhoeffer dem Theo-
Blut“ und vor „Untüch- Folge und fordert sogar den judenfeindlichen bayeri- logen Karl Barth, der auf die Frage, wie die Kirche
tigen und Minderwerti- schen Landesbischof Meiser heraus. Meiser kämpft dem zunehmend mörderisch agierenden braunen Re-
gen“ – Formulierungen nun um die Unabhängigkeit seiner Landeskirche, die gime begegnen solle, zur politischen Passivität rät:
der nationalsozialisti- ebenso wie die von Hannover und Württemberg „Weitermachen wie die Mönche in Maria Laach.“
schen Rassenideologie, noch nicht von der „SA Jesu Christi“ überrannt wor- Bonhoeffer hält scharf dagegen: „Nur wer für die Ju-
die zur Euthanasie und den ist. Angesichts der „unerhörten Erschütterung den schreit, darf auch gregorianisch singen“ – und
KEYSTONE

zum Holocaust führten. der Bekenntnisgrundlagen unserer Kirche“ ruft er wendet sich schließlich dem Widerstand zu, als des-

90 spiegel special geschichte 1 | 2008


DER WEG IN DIE DIKTATUR
sen Mitstreiter er auf Befehl Hitlers am 9. April 1945
im KZ Flossenbürg gehenkt wird.
Für den Notbund aber sucht Pfarrer Niemöller
1933 noch einen Kompromiss mit den braunen
Machthabern. Um „Ärgernis“ zu vermeiden, so
Niemöller, könnten „Nichtarier“ freiwillig darauf
verzichten, kirchliche Leitungsfunktionen anzustre-
ben. Ende des Jahres erkennt die Hitler-Regierung
die „schwerwiegenden dogmatischen Bedenken“ des
Notbundes an und verzichtet auf ein entsprechendes
staatliches Pfarrergesetz.
Zugleich aber entlassen DC-gesteuerte Kirchen verletzungen des Regimes und die Existenz von Kon- IM GLEICHSCHRITT
aufgrund eigener Regelungen und aus eigenem An- zentrationslagern anzuprangern, verstärken Gestapo Auch die Evangelische
trieb die ersten Pastoren jüdischer Herkunft. In Ber- und SS die Repressalien. Allein 1937 werden fast 800 Jugend huldigt – wie hier
lin etwa verweigert der Oberkirchenrat am 10. No- Pfarrer und Kirchenjuristen der Bekennenden Kirche 1934 im Berliner Dom –
vember 1933 dem zuvor in Köln gefeuerten Pfarrer vor Gericht gestellt. Hitler, nachdem Reichs-
Ernst Flatow mit der Begründung die Anstellung, Im folgenden Jahr gründet der Berliner Propst bischof Müller sie in die
Flatow habe „in seinem Äußeren und seinem Wesen Heinrich Grüber eine Organisation, die Juden zur Hitlerjugend eingegliedert
so sehr in die Augen springend diejenigen Merkma- Emigration verhilft. Das „Büro Grüber“ wird 1940 hat.
le an sich, die von dem Volke als der jüdischen Ras- geschlossen, der Propst und seine Mitarbeiter werden
se eigen angesehen werden, dass eine Beschäftigung in Konzentrationslager verschleppt.
in einer Gemeinde unmöglich ist“. Wie ambivalent das Verhältnis zwischen manchen
Hitler allerdings sind die Deutschen Christen bald Kirchenvertretern und dem nationalsozialistischen In die Opposition
nach den erfolgreichen Kirchenwahlen lästig gewor- Staat war, dafür ist das Schicksal Martin Niemöllers Der kurmärkische
den. Der innerkirchliche Streit, den sie angezettelt ein eindringliches Beispiel. Hitler betrachtet den Generalsuperintendent
haben, passt nicht in sein Konzept. Schon in „Mein Deutschnationalen, der von sich sagt, „mein Körper Otto Dibelius – nach
Kampf“ hatte er sich über die „religiösen Reforma- gehört Deutschland und meine Seele der Kirche“, dem Krieg Bischof von
toren auf altgermanischer Grundlage“ mokiert. De- seit dem Wortwechsel in der Reichskanzlei als seinen Berlin-Brandenburg
ren Tätigkeit führe „das Volk vom gemeinsamen persönlichen Feind, den er nur aus Rücksicht auf und Präsident des Welt-
Kampf gegen den gemeinsamen Feind, den Juden, das Ausland zunächst schont, dem aber ein Predigt- kirchenrats – begrüßte
weg, um es stattdessen seine Kräfte in ebenso un- verbot erteilt wird. zunächst den „natio-
sinnigen wie unseligen inneren Religionsstreitigkeiten Niemöller hält sich nicht daran, wird mehrmals nalen Aufbruch“. Der
verzehren zu lassen“. verhaftet und kommt schließlich als „persönlicher Mann, der später zu
Auch das Verhältnis zur Bekennenden Kirche ver- Gefangener“ Hitlers ins Konzentrationslager Sach- einer Symbolfigur der
schlechtert sich. Als Hitler 1934 die Spitzenvertreter senhausen. Von hier meldet sich der Gottesmann, Kirchenopposition
der Deutschen Christen und deren Widersacher, dar- der im Ersten Weltkrieg als U-Boot-Kommandant wurde, reichte dem
unter Pfarrer Niemöller, in der Berliner Reichskanz- gedient hat, nach Beginn des Zweiten Weltkrieges Reichsminister
lei empfängt, kommt es zu einem heftigen Wort- freiwillig zur Kriegsmarine. Sein Antrag wird abge- Hermann Göring noch
wechsel zwischen Niemöller und dem Diktator. lehnt. 1945 befreien ihn die Amerikaner aus den am 21. März 1933, dem
Während der Kirchenmann von der Freiheit und Händen der SS. „Tag von Potsdam“, mit
Reinheit der Verkündigung spricht, sieht Hitler im Wer nach Beweisen für Schuld und Versagen der einem „warmen Wort
Kirchenkampf einen Angriff auf den nationalsozia- Christen suche, resümiert der Berliner Kirchenge- des Dankes“ die Hand.
listischen Staat. schichtler Klaus Scholder das Verhalten der Protes- Am selben Abend
SCHERL / SÜDDEUTSCHER VERLAG

Die verschärfte Kontrolle der Lutheraner über- tanten im „Dritten Reich“, „wird sie ebenso finden verteidigte er auf Kurz-
trägt er von 1935 an einem Kirchenminister, er selbst wie Beweise für Standhaftigkeit und Bewährung“. Es welle gemeinsam mit
verliert das Interesse an der Thematik. Als die Be- habe „blinde Gutgläubigkeit“ gegeben, „fanatischen Joseph Goebbels den
kennende Kirche im August 1936 dazu übergeht, Nationalismus und hemmungslosen Opportunismus NS-Staat gegen die
nicht nur den braunen Kirchenleitungen den Ge- ebenso wie hellsichtige Warnungen, freimütiges Be- „Gräuelpropaganda“
horsam zu versagen, sondern auch Menschenrechts- kennen und entschlossenen Widerstand“. ✦ des Auslands.
ORTSTERMIN

Die einen haben gelitten, die anderen wollen nichts davon bemerkt
haben. Das Beispiel der niedersächsischen Kleinstadt Northeim zeigt, wie es war, als die
Nationalsozialisten die deutsche Provinz eroberten. Von Andrea Brandt

„ALLE HABEN ES GEWOLLT“


A n den 2. April 1933 erinnert sich Gertrude Schul-


ze-Ballin, 93, noch genau. An jenen Tag, der wie
viele andere begann. Mit einem Familienfrüh-
stück in der ersten Etage des roten Backstein-
hauses, bevor Vater und Mutter eine Treppe tiefer zur Arbeit
in die Praxis gehen wollten. Und der mit einer schrecklichen
Erkenntnis endete.
Allen befragte Anfang der sechziger Jahre Bürger von Northeim
– und stieß auf eine Menge Menschen, die angeblich nichts ge-
sehen, nichts gewusst hatten und die für nichts verantwortlich
gewesen sein mochten: „Das haben wir nicht gewollt!“, so Ti-
tel und Fazit seines Buchs, das von wenigen bösen Nazis und ei-
ner verführten Mehrheit erzählt.
Zeitzeugin Schulze-Ballin erlebte anderes, womöglich Typi-
Eine zweispaltige Anzeige, erschienen in der „Göttingen- sches über die Grenzen ihrer Kleinstadt hinaus. Die meisten
Grubenhagenschen Zeitung“ war es, die diesen Tag für sie zu Northeimer seien zumindest anfangs begeisterte Nationalso-
einem traumatischen Erlebnis werden ließ. Ein Erlebnis, wie es zialisten gewesen, hätten es selbstverständlich gefunden, dass
sich die damals 19-Jährige nie hätte träumen lassen. Gerade plötzlich Juden und Sozialdemokraten ausgegrenzt wurden:
hier, in Northeim nicht, dieser niedersächsischen Kleinstadt „Eigentlich haben es alle gewollt“, sagt sie.
zwischen den Wäldern und Hügeln des Leineberglandes. Wo Schon in den sechziger Jahren entwickelten Historiker um
sich die Fachwerkhäuser aneinanderschmiegen. Und viele der Hans Mommsen die Theorie, der NS-Staat sei eine „Herrschaft
damals knapp 10 000 Einwohner sich persönlich kannten. der vielen“ gewesen – errichtet und aufrechterhalten von zahl-
„Northeimer! Meidet diese Juden!“, stand da. Darüber, wie reichen gesellschaftlichen Gruppen. Götz Aly („Hitlers Volks-
ein Befehl: „Ausschneiden! Aufbewahren!“ Dann eine Liste staat“) sprach später sogar von einer „Zustimmungsdiktatur“ –
mit 34 Namen. An sechster Stelle, hinter dem Viehhändler Blu- ein umstrittener Begriff, auch weil er suggeriert, dass Terror
menbaum, vor dem Bankier Müller und dem Schneidermeister und Angst nicht zu den Machtinstrumenten der NSDAP gehört
Spanier: Marta Ballin – ihre Mutter. hätten.
Die war zwar Christin, aber verheiratet mit dem jüdischen Doch man muss die Schreckensmethoden der Nazis nicht
Kaufmann Leopold Ballin, Gertrudes Vater. Mit ihm betrieb kleinreden, um die NS-Diktatur heute wie Harald Welzer als
die Heilpraktikerin eine „Gesellschaftsverbrechen“
gutgehende Praxis samt Blick auf die niedersächsische Kleinstadt Northeim zu beschreiben: „Die Na-
Labor in der Northeimer zis waren das Volk – vom
Altstadt. An diesem Tag, kleinen Arbeiter bis zum
erinnert sich Schulze-Bal- hochangesehenen Bür-
lin, harrte die Familie zu ger“, sagt der Sozialpsy-
Hause aus, „schockiert, chologe und Erinnerungs-
geradezu erstarrt“. Sie forscher. Jeder habe zu
wartete. Wartete darauf, Beginn auf seine Weise
dass sich Freunde melde- mitgeholfen, dass sich der
ten, Stammkunden, ir- NS-Staat etablieren konn-
gendjemand, der ihnen te – „der eine engagierter,
sagte, dass er weiter zu ih- der andere skeptischer
nen hielt. Niemand melde- und gleichgültiger“.
te sich, den ganzen Tag In Northeim wurde be-
lang nicht. „Da wusste ich, sonders eifrig mitgemacht.
dass wir nicht mehr dazu- Bei der Reichstagswahl
gehörten“, sagt Gertrude 1930 schnellte der Stim-
Schulze-Ballin. menanteil der NSDAP von
Deutschland, die Jahre 2,3 Prozent (1928) hoch
zwischen 1930 und 1935. auf 28,2 Prozent – das
Wie war das damals, in ei- waren im Ergebnis fast
ner ganz normalen Klein- 10 Prozentpunkte mehr als
stadt? Wie kamen in der im Reichsdurchschnitt.
Provinz die Nationalsozia- Stadtarchivar Ekkehard
listen an die Macht? Wer Just sieht die Gründe
waren sie? Wie sicherten vor allem in Northeims
sie ihre Herrschaft, wie Strukturen: eine Zucker-
FOTOS: ULRICH BAATZ

veränderte sich der Alltag? fabrik, eine Brauerei, sonst


Es gibt wenige regionale wenig Industrie. Die Men-
Studien dazu. Der Ameri- schen waren Anfang der
kaner William Sheridan Zeitzeugin Schulze-Ballin Zeitzeuge Fahlbusch dreißiger Jahre vor allem

92 spiegel special geschichte 1 | 2008


Aufmarsch der Bürger von Northeim am 1. Mai 1933

beschäftigt im Öffentlichen Dienst (19 Prozent), im Handel Es spielte keine Rolle, dass die Eltern sie noch hatten taufen
(14 Prozent) und im Dienstleistungsgewerbe (10 Prozent). und konfirmieren lassen, „wegen der Verhältnisse“. Von nun an
Wenig Arbeiter, wenig Katholiken. Die wichtigsten Vertei- war sie trotzdem die „Halbjüdin“.
diger der Weimarer Republik – Sozialdemokraten und das Es sind kleine Szenen, die die alltägliche Diskriminierung be-
Zentrum mit traditionell katholischer Wählerschaft –, in Nort- schreiben. Da ist der Wirt im Ausflugslokal, der die Ballins Kaf-
heim seien sie, sagt Just, strukturell schwächer gewesen als fee und Kuchen bezahlen lässt – sie dann aber hinauswirft, be-
anderswo. vor sie zugreifen können. Da ist die Schneidermeisterin, die
Die wenigen erhaltenen Dokumente aus dem Stadtarchiv ihren Lehrling Gertrude plötzlich nicht mehr beschäftigen mag.
zeugen davon, wie vollkommen Northeim schon bald im Bann Da ist der Kino-Pächter, der das junge Mädchen aus dem Saal
der Nazis stand. Der Leiter der katholischen Volksschule schrieb holt, als „unerwünschte Person“.
Mitte der dreißiger Jahre in einem Bericht über die Entwicklung An ähnliche Schmach erinnern sich die jüdischen Zwillinge
seiner Schule: „Ab 1933: Fahnen wurden beschafft, jede Klasse Lotte und Liese Oppenheim, die noch bis 1937 das städtische
schaffte ein Führerbild an, Handgranaten gekauft. Die Schul- Mädchengymnasium Richenzaschule besuchten. In den dreißi-
wandbilder wurden vermehrt durch Rassebilder, Hakenkreuz. ger Jahren liefen die Kinder immer über einen Schleichweg an
Die Bücherei wurde von marxistischen Schriften gesäubert.“ der Stadtmauer entlang nach Hause. In der Innenstadt „wurden
Dann der Satz: „Die Schule erhielt am 4.2. 1936 als einzigste (sic) wir als Juden beschimpft und angepöbelt“, berichtet eine der
und erste Volksschule in der Stadt Northeim die Genehmigung Schwestern, die heute unter dem Namen Lotte Seidel in einem
zum Hissen der HJ-Fahne.“ israelischen Altenheim lebt. 1935 zeigten Nationalsozialisten
War es echte Begeisterung? War es Anpassung? Für Stadt- das Mädchen bei der Polizei an – weil sie, die „Nicht-Arierin“,
archivar Just machen solche Dokumente jedenfalls deutlich, bei einem Waldspaziergang deutsche Wanderlieder geträllert
dass in Northeim „das Hakenkreuz vielfach und gerne stolz hatte.
vorangetragen wurde“. In Northeim habe es weniger antisemitische Ausschreitungen
In Marta Ballins Praxis, erinnert sich die Tochter, blieben die gegeben als anderswo, betonen Allen und andere Forscher.
Patienten nach und nach weg. Gute Freunde wie die Betreiber Vielleicht, weil man sich doch genierte in einer Kleinstadt, in der
des traditionsreichen „Café am Markt“ besuchten die Eltern sich viele seit Generationen kannten. Von den rund 120 Juden
plötzlich nicht mehr. Der Vater blieb dem Männergesangverein gehörte etwa der angesehene Privatbankier oder der Leiter des
fern, die Tochter dem Turnclub, wo sie bis dahin allwöchentlich Festausschusses des Männergesangvereins von 1850 längst zu
Kinder in Geräteturnen und Gymnastik unterrichtet hatte: „Die den Honoratioren der Stadt.
Menschen schwiegen plötzlich, wenn wir den Raum betraten, sa- Spätestens ab Mitte der dreißiger Jahre jedoch hatte die neue
hen weg – da haben wir uns dann ebenso zurückgezogen“, „Volksgemeinschaft“ die von Hitler Verfemten fast völlig aus
schildert Gertrude Schulze-Ballin. dem gesellschaftlichen Leben verdrängt. „Sie haben uns in

spiegel special geschichte 1 | 2008 93


ORTSTERMIN

Northeim nicht gleich umgebracht“, sagt Gertrude Schulze-Bal- Trotz der Weltwirtschaftskrise – die Mehrheit lebte in Northeim
lin, „aber der Alltag war die Hölle.“ recht gut, als sie die Republik abwählte. 7259 Sparkonten mit ei-
Treue Parteigänger dagegen konnten hoffen, für ihren Eifer nem durchschnittlichen Guthaben von rund 300 Reichsmark ver-
mit einem der 46 staatlich geförderten Eigenheime in einer zeichnet die Northeimer Sparkasse 1933 – nur rund 175 Reichsmark
Neubausiedlung der Stadt belohnt zu werden. Diese Siedlung, pro Kunde weniger als 1929. Auch in den Krisenjahren hatten die
nunmehr das Aushängeschild der NSDAP, war schon in der Northeimer insgesamt im Schnitt 2,2 bis 2,3 Millionen Reichsmark
Weimarer Republik geplant, damals aber ausgerechnet von den allein bei der Sparkasse auf der hohen Kante. Es waren offenbar
Nazis im Stadtrat blockiert worden. eher gutsituierte Bürger als Verzweifelte von der Straße, die in
Nicht alle Deutschen wurden bis 1939 fanatische Parteigän- Northeim die Nationalsozialisten an die Macht beförderten.
ger Hitlers, resümiert der Historiker Richard Evans, der auch die Bürger wie der allseits beliebte Buchhändler Wilhelm
Northeimer Verhältnisse untersucht hat. Aber der „tiefe Wunsch Spannaus. Sein Vater habe den Nationalsozialismus gewollt, weil
der großen Mehrheit nach Ordnung, Sicherheit, einem Ar- er gehofft habe, dass die NSDAP „den Staat wieder in Ordnung
beitsplatz“, nach sozialem Aufstieg und beruflichem Fortkom- bringt“, sagt Günther Spannaus, 80. Den Vater beschreibt er als
men habe dazu geführt, dass sie zumindest anfangs das NS-Sys- nationaldeutschen Intellektuellen. Einer, der Brahms liebte, der
tem unterstützten. mit dem evangelischen Pastor vierhändig Klavier spielte. Die
Die Familie von Irmgard Holst hat die NS-Herrschaft ge- Jahre des Ersten Weltkriegs hatte er als Lehrer in Peru ver-
wollt, „weil es uns mit dem Nationalsozialismus endlich besser- bracht. Als er zurückkehrte, Anfang 1920, sah er im Rheinland
ging“. Für die 86-Jährige mit dem grauen Kurzhaarschnitt und durchs zerbrochene Zugfenster heruntergekommene Straßen-
den wachen blauen Augen waren die letzten Jahre der Weima- züge und war „entsetzt, was aus dem alten Kaiserreich gewor-
rer Republik eine „traurige Zeit“: Der Vater, ein Architekt, war den war“, so der Sohn.
nach dem Konkurs einer örtlichen Baufirma seit Jahren ar- Bildungsbürger Spannaus trat als einer der ersten Northeimer
beitslos. Die Mutter nähte am Küchentisch unermüdlich Kleider, in die NSDAP ein. Bald Kreiskulturwart mit Amtswalter-Uni-
die sie bei Nachbarn gegen ein paar Möhren oder Kartoffeln ein- form und goldenem Parteiabzeichen, soll er daheim am Mit-
tauschte. Sie selbst, die Zwölfjährige, musste in geflickten Blu- tagstisch über allzu rohe Praktiken des NSDAP-Ortsgruppen-
sen zur Schule. „Du hast ja schiefe Absätze“, sagte eine Klas- leiters gelästert haben, dem er nach dem römischen Despoten
senkameradin. Sie hat den abschätzigen Blick des Mädchens bis den Spottnamen „Caligula“ verpasste. Auch fand Spannaus ju-
heute nicht vergessen. nior in der Holzkommode im Biedermeier-Zimmer allerlei Be-
Irmgard Holst weiß noch, wie die Familie am 30. Januar schwerdebriefe des Vaters über Günstlingswirtschaft im Rat-
1933 abends am Radio saß. Wie der Vater sagte, dass nun „eine haus, adressiert an eine Schlichtungskommission der Partei.
gute Zeit anfängt“. Im gleichen Jahr machte er sich selbständig Doch der Buchhändler blieb in der NSDAP, stützte weiter das
mit einem kleinen Baugeschäft. Er bekam Aufträge, weil die System – wenn auch am Ende eher halbherzig.
Branche, angekurbelt durch Zuschüsse, plötzlich boomte. Er trat Weite Teile des Northeimer Bürgertums liefen zur NSDAP
in die Partei ein und bekam noch mehr Aufträge. Vom ersten über, weil sie die als linke Revoluzzer verschrienen Sozialde-
Geld kaufte er Irmgard ein Fahrrad. Später konnte die Familie mokraten loswerden wollten. Die „Bürgerliche Vereinigung“,
sich kleine Reisen leisten. Man fuhr ins Theater nach Göttingen. ein Zusammenschluss konservativer Parteien auf kommunaler
Mutter und Tochter bekamen lange Taft- und Seidenkleider, Ebene, wurde zum Wegbereiter der Nazis, indem sie die Angst
für die Winterbälle des Gesangvereins im Hotel „Sonne“. vor den Linken schürte.
Begeistert habe sie bei den Jungmädeln der NSDAP mitge- Bei der Kommunalwahl 1933 hatte die NSDAP die Bürgerli-
macht, sagt Irmgard Holst: „Endlich waren mal alle gleich.“ chen dann im Griff. Statt der „Bürgerlichen Vereinigung“ trat
Dass einige nicht mehr gleich waren, dass ihre jüdische Freun- eine „Nationale Einheitsliste“ unter Führung der NSDAP an, die
din Ruth aus der Nachbarwohnung bald nicht mehr zum Spie- nicht einmal die Namen ihrer Kandidaten bekanntgab. Fast
len kam, dass sie selbst nicht mehr mit Ruths Vater, einem Kauf- 73 Prozent wählten die NSDAP-Liste, gut ein Viertel die SPD.
mann, in der Küche Walzer tanzen übte – das „war dann einfach Zur ersten Ratssitzung erschienen alle 15 Einheitslisten-Abge-
so, da haben wir nicht viel drüber nachgedacht“. ordneten in Braunhemden.
Schikaniert durch Pöbeleien, Verhöre und
willkürliche Verhaftungen zogen sich die SPD-
Abgeordneten nach und nach aus der Politik
zurück.
Nur in Kirchenfragen regte sich in Nort-
heim noch so etwas wie passiver Widerstand.
Als der NSDAP-Ortsgruppenleiter Northeim
zur ersten Stadt im Deutschen Reich ohne
Kirchenmitglieder machen wollte, gingen vie-
le Bürger demonstrativ noch öfter zum Got-
tesdienst – auch wenn Polizisten ihre Namen
notierten und Hitlerjungen das Kruzifix der
Stadtkirche mit Schneebällen bewarfen.
In der Stadtverwaltung arbeiteten schon
vor der Machtübernahme etliche NSDAP-Mit-
glieder. Heinz Gleitz, 94, damals Sachbear-
beiter im Hauptamt, trat 1931 mit 17 in die
Partei ein. Er habe den Nationalsozialismus
gewollt, weil er von „Sportsgeist und Kraft
Untertertia der Richenzaschule 1934, vorn l. und r.: die Oppenheim-Zwillinge der jungen Bewegung begeistert war“, sagt

94 spiegel special geschichte 1 | 2008


gen in die Stadt, kauften ein Braunhemd
und zogen es ihren Männern einfach an.
Nur sechs Monate nach der „Macht-
ergreifung“, resümiert Allen, hatte die
NSDAP die Stadt fest im Griff. Das Volk
feierte die neuen Verhältnisse: Die Schüt-
zengemeinschaft freute sich über einen 300-
Meter-Schießstand, den die neuen Macht-
haber genehmigten. Auf der Breiten Straße
brachte ein Schlachter in seinem Schau-
fenster ein Abbild von Hitler aus Schmalz,
Petersilie und Wurstenden zustande.
Dass die Nazis in Northeim offenbar
schneller Fuß fassten als anderswo, lag
auch an NSDAP-Ortsgruppenleiter Ernst
Girmann. Der Mann, der schon Anfang
der zwanziger Jahre mit seinem Bruder
Karl über den nationalen Verband „Jung-
deutscher Orden“ zur NSDAP gekom-
men war, erwies sich als effektiver Orga-
nisator, ehrgeiziger Strippenzieher und
mitreißender Versammlungsredner – ge-
Buchhandlung Spannaus im Juli 1936, hinten M.: Wilhelm Spannaus, 2. v. l.: Sohn Günther nau der Richtige also, um der Partei eine
Massenbasis zu verschaffen.
der adrett gekleidete Senior mit Golduhr, Siegelring und straff So waren diejenigen, die in Northeim die Nationalsozialisten
zurückgekämmtem weißen Haar. Und vielleicht auch, aber das nicht wollten, bald gesellschaftlich isoliert und politisch mundtot.
verneint er, weil das Parteibuch ihm Karrierechancen eröffnete. Zwar hatten bei der Reichstagswahl 1930 noch über ein Drittel
Es nicht zu haben war jedenfalls schädlich. Das bekam auch der Northeimer für die Sozialdemokraten gestimmt. Und SPD-
Gleitz’ damaliger Chef, der oberste Stadtbedienstete Adolf Gal- Chef Carl Querfurt, unehelicher Sohn einer Arbeiterin und In-
land, zu spüren. Er wurde 1933 unter einem Vorwand entlassen, haber eines Zigarrenladens, galt als scharfzüngiger Anwalt der
weil ein Nazi seinen Posten haben wollte. Gleitz, ein fähiger Ver- kleinen Leute. Doch Querfurt und seine Partei kämpften bis
waltungsmann, brachte es unter dem NSDAP-Regime zum Lei- zum Schluss auf der Straße gegen einen Gegner, der längst er-
ter des Hauptamtes. Er würde heute alles genauso machen wie folgreich den Weg über die Institutionen eingeschlagen hatte.
früher, sagt der alte Herr offenherzig, denn in Northeim sei „ja Ernst Fahlbusch, 96, SPD-Mann und Mitglied der parami-
nicht viel Schlimmes passiert unter der NSDAP“. litärischen Kampftruppe Reichsbanner, war dabei, als NSDAP-
Das dürften die Opfer der NS-Herrschaft gänzlich anders Gegner am 19. Februar 1933 auf dem Marktplatz zur Kundge-
sehen. Rund 45 Arbeiter, Angestellte und Beamte der Stadt wur- bung aufmarschierten. 400 Menschen, Musiker, Spielleute. Mit-
den 1933 aus politischen Gründen entlassen. Zuerst SPD-Mit- tendrin Fahlbusch, ein arbeitsloser Maurer, mit der schwarz-rot-
glieder: ein Angestellter der Gaswerke, ein Buchhalter, ein Ba- goldenen Fahne in der Hand.
demeister des städtischen Freibads. Später 15 Arbeiter des Bau- Doch die Polizei hatte den Umzug angehalten und ihn um-
hofs. Die Letzten, die hinausgeworfen wurden, weil die neuen geleitet in ein Gartenlokal am Stadtrand, angeblich, um Krawalle
Machthaber sie als Feinde ansahen, waren ein Sparkassenbote zu vermeiden. Dort, abgeschirmt von der Öffentlichkeit durch
und ein Nachtwächter. hohe Mauern und Uniformierte, durften die Demonstranten re-
Gesäubert und gleichgeschaltet wurden auch die Ver- den – während SA-Leute ungehindert in der Stadt marschierten.
eine und Institutionen der Stadt. Die als „rot“ verrufene Orts- „Da wusste ich, dass wir verloren hatten“, sagt Fahlbusch.
krankenkasse bekam eine neue Führung. Die Gewerkschaften, Es war die letzte politische Versammlung der Northeimer So-
die Sportvereine wurden aufgelöst oder in Unterorganisatio- zialdemokraten für die nächsten zwölf Jahre.
nen der Partei umgewandelt. Viele Handwerkerinnungen nah- Von den Northeimer Juden lebten Anfang der vierziger Jah-
men den Wandel pragmatisch: Sie luden ihre Mitglieder zu re nur noch drei in der Stadt: der 70-jährige Jonas Rosenbaum,
großen Sausen ein – um wenigstens ihre Kassen schnell noch seine 84-jährige Frau Jenny und die 70-jährige Lina Rosenthal. Sie
leerzufeiern. wurden ins Konzentrationslager Theresienstadt deportiert. „Kei-
Im März 1933 bekam die Polizei Verstärkung von 30 SA- ner kehrte von dort zurück“, heißt es in einer Dokumentation.
und SS-Männern, befördert zu Hilfspolizisten. Gemeinsam mit Gertrude Schulze-Ballin und ihre Familie überlebten die
NSDAP-Ortsgruppenleiter Ernst Girmann, der den alten Bür- Nazi-Diktatur nur mit Glück. Gertrude kam bei den Eltern ih-
germeister entließ und sich selbst zum Stadtoberhaupt ernann- res christlichen Verlobten unter, Juniorchef einer kleinen Ver-
te, etablierten sie ein subtiles Terror-System. Mit nächtlichen sicherungsagentur. Heiraten durfte sie Kurt Schulze wegen der
Hausdurchsuchungen, SA-Posten vor Geschäften politischer Rassengesetze erst nach 1945.
Gegner, stundenlangen Verhören. Im November 1933 wurden Schulze-Ballins Vater wurde 1945 von den Besatzungstruppen
zwei Frauen festgenommen. Laut Lokalzeitung wegen „alber- aus Theresienstadt befreit. Den leitenden Polizeibeamten, der
nen Geschwätzes über Nationalsozialisten“. ihn in der Reichspogromnacht morgens früh um 7 Uhr aus der
Gleichzeitig schwoll die NSDAP-Ortsgruppe an, von weniger Wohnung in Northeim abgeholt hatte, kannte Gertrude Schul-
als 100 Mitgliedern im Januar 1933 auf fast 400 im März und 1200 ze-Ballin gut: Es war der Ehemann einer Stammkundin der
im Mai. Menschen, die sich schützen wollten, die sich Vorteile Mutter – „beide waren früher oft sonntags zu uns zum Kaffee
versprachen oder die dabei sein wollten. Einige Ehefrauen gin- eingeladen“. ✦

spiegel special geschichte 1 | 2008 95


VERBÜNDETE
Hitler und Mussolini im August 1941 bei
einem Truppenbesuch an der Ostfront.

Der Faschismus Benito Mussolinis war in vielem Vorbild für die Nationalsozialisten.

HITLERS LEHRMEISTER
Von Georg Bönisch

E
s war immer schon ein besonderes Schau- Es ist bizarr, und es erklärt sich nur schwerlich
spiel, gleich einem Ritual für Ewiggestri- den Nachgeborenen der Hitler-Zeit, die doch eng Der Mann, der
ge. Wenn sich die Dunkelheit auf Rom legt, verwoben war mit dem Regime südlich der Alpen.
strahlt gewöhnlich auf dem Foro Italico Erst ging Hitler bei Mussolini in die Lehre, dann alles auslöste,
nahe dem Olympiastadion ein starker Scheinwerfer
den 17 Meter hohen Obelisken aus Marmor an, und
Mussolini bei Hitler, und um die „Achse“, die bei-
de Diktatoren 1936 geschmiedet hatten, sollte sich kam aus
dann schimmert gut sichtbar eine monumentale In-
schrift – MUSSOLINI DUX.
nach einem gemeinsamen Tatplan die europäische
Politik drehen. Sie drehte sich hinein in den Ver-
dem gesell-
Führer Benito Mussolini – der „Duce“, Erfinder
einer Politik, die Millionen Menschen faszinierte,
nichtungskrieg – und in den Genozid.
Nicht, dass die Italiener in der Wolle gefärbte
schaftlichen
weil sie ihnen in der Zerfallsphase nach dem Ersten
Weltkrieg eine bessere Zukunft versprach. Erfinder
Antisemiten gewesen wären oder bösartige Rassis-
ten, nein. Aber der Satz „Italiani brava gente“,
Nichts, aus
jener rechtsextremen Ideologie, die eine nationale
Wiedergeburt verhieß, dabei jedwede demokrati-
Italiener sind doch stets nette Menschen, ist eben
doch frommer Selbstbetrug. Mit ihm wollten und
der Provinz –
sche Idee zerstörte, mit autoritären, ja totalitären wollen die meisten Italiener vergessen machen, dass fernab der
Mitteln. Millionen wurden unterdrückt, Unzählige
getötet. Diese Politik hat einen Namen: Faschis-
sie erheblich eingespannt waren in die Diktatur
Mussolinis. Bis vor wenigen Jahren erhielten sie Kapitale Rom,
mus.
Und doch gibt es nicht viele, die sich stören an
indirekt sogar noch Unterstützung aus der Histori-
kerzunft, die den Faschismus „klein schrieb“, kons- dem Nerven-
italienischer Erinnerungskultur wie auf dem Foro
Italico. Im Gegenteil, Mussolini gehört ganz selbst-
tatiert der Geschichtswissenschaftler und Italien-
Kenner Wolfgang Schieder, „nach dem Motto: Das
zentrum der
verständlich zu diesem Land wie Augustus oder
Dante oder Garibaldi. Und natürlich Berlusconi.
war alles ganz normal, das war alles nicht so dra-
matisch, das war alles nicht verbrecherisch“.
antiken Welt.
96 spiegel special geschichte 1 | 2008
DER WEG IN DIE DIKTATUR
Erst seit wenigen Jahren rollt die italienische tisch, am besten mys-
Forschung den „Ventennio nero“ auf, die schwarzen tisch verbrämt, emo-
zwei Jahrzehnte. Und auch die Publizistik, lange tionsbeladen.
beeinflusst von einer seltsamen Mischung aus fa- Am 23. März 1919
schistischen Mythen und antifaschistischen Mythen, trafen sich in einem Saal
wird merklich sensibler. Die Zeit also scheint vor- an der Mailänder Piazza
bei zu sein, über die ein italienischer Historiker gar Santo Sepolcro ein paar
nicht zynisch urteilte: „Wir verstecken unser Böses Dutzend Interessierte,
hinter dem noch Böseren.“ Ein Satz, der auf wun- die an diesem Tag noch
derbar intelligente Weise die italienische Relativi- die „Fasci di com-
tätspraxis entlarvte. battimento“ schlossen,
Der Mann, der alles auslöste, kam aus dem ge- Kampfbünde, und sich
sellschaftlichen Nichts, aus der Provinz – fernab auf ein politisches Pro-
der Kapitale Rom, dem Nervenzentrum der antiken gramm verständigten,
Welt. Benito Mussolini wurde 1883 nahe Predappio das sich aufaddierte zu
geboren, einem Dorf in der Emiglia Romagna, die einem seltsamen Kon-
Mutter war Lehrerin, der Vater ein oft arbeitsloser glomerat pazifistischer, sozialistischer und demo- MARSCH AUF ROM
Schmied mit bemerkenswertem Interesse an anar- kratischer Ideen. Ende Oktober 1922 riss
chistischer Literatur. Auch der Sohn, recht klein, Wenig später nur blieb von diesem eher linken Mussolini, unterstützt von
untersetzt, ein aufsässiger, ruheloser, egozentri- Ideologiegeschwafel, und das war dann die dop- Führungsgruppen aus Wirt-
scher Bursche, tendierte in die ganz linke Ecke und pelte Volte, nur noch der Name übrig, den sich die schaft, Heer, Verwaltung
studierte das Lehramt wie die Mutter. Mussolini-Adepten gegeben hatten. Den Faschisten und Kirche, mit dem Marsch
Sein pädagogisches Interesse reichte freilich war nämlich schnell klar geworden, dass sie nur auf Rom die Macht an sich.
nicht für den Beruf, und Mussolini verdingte sich erfolgreich werden konnten, wenn sie im bürger- Der „Duce“ selbst reiste
deshalb als Journalist mit eigens formuliertem Spe- lichen Lager fischten – und damit in scharfer Front- allerdings mit dem Zug an.
zialauftrag, nämlich auf radikale und maßlose Wei- stellung gegen Sozialisten und Kommunisten. Der
se den liberalen Staat und dessen „kapitalistisches“ programmatische Kitt, der den heterogenen Haufen
System zu attackieren, mit dem Ziel, eine Diktatur zusammenhielt, war eine Mischung aus extremem
des Proletariats zu errichten. Als Chefredakteur Nationalismus, radikalem Antisozialismus und blin-
des sozialistischen Parteiorgans „Avanti!“ hatte er der Führergläubigkeit.
ein Stück weit publizistische Macht, und er schrieb Und je weniger die Faschisten tönten gegen den
an gegen den drohenden Krieg in Europa – weil König und die Kirche, desto schneller fraßen sich
doch die Arbeiter in diesem Krieg ihre Köpfe hin- ihre Ideen durch – erst Julisch-Venetien, dann die
halten müssten für den Profit der Kapitalisten. Poebene, die Lombardei, die Toskana und Um-
So war Mussolini 1914, dank klassenkämpferi- brien. Schon 1921 konnten sie die ländlichen Ge-
schen Engagements, auf dem besten Wege zur genden Nord- und Mittelitaliens weitgehend be-
Nummer eins der immer stärker werdenden Sozia- herrschen, auch physisch: Ihre Schlägertrupps, die
listen in Italien. halbmilitärischen „Squadristen“, gingen, wie später
Und dann folgte, in schreiendem Gegensatz zum die SA-Horden in Deutschland, mit ungeheurer
pazifistischen Kurs der Sozialisten, die Kehrtwen- Brutalität gegen politische Gegner vor. Oft unter
dung. Jetzt forderte er seine Parteigänger auf, dem Beifall vor allem der Großgrundbesitzer, die
„beim Ringen der Völker nicht abseits zu stehen“ ihre Macht durch eine gutorganisierte Arbeitneh-
und auf Seiten der Entente, dem Bündnis von Bri- merschaft geschmälert sahen.
ten, Franzosen und Russen, zu den Waffen zu grei- Präfekten, Offiziere und Polizisten schauten meis-
fen, gewissermaßen als Vorspiel zur Revolution. tens weg, quasi in abwartender Neutralität, die
Erklärungen für diese Volte gibt es viele, auch „nicht weit von Komplizenschaft entfernt war“
die, dass er vielleicht korrupt war. Denn plötzlich (Woller). Die stupende, rücksichtslose Kraftentfal-
bekam er von kriegsinteressierten Industriellen so tung der Faschisten mag ihnen häufig genug un-
viel Geld, dass er im November 1914 eine eigene heimlich vorgekommen sein, aber sie hielten die
Zeitung gründen konnte, den „Popolo d’Italia“. „Schwarzhemden“, wie die Mussolini-Anhänger
Wahrscheinlich aber war dem genialen Populis- wegen ihrer Uniform bald hießen, im Vergleich mit
ten kein Mittel zu verächtlich und kein ideologi- den Linken für das geringere Übel.
scher Schwenk zu gewagt, um endlich an die Schalt- Der Begriff „Fascio“ war im Übrigen abgeleitet
hebel der Macht zu kommen. Mussolini „sah, wo aus dem lateinischen „fascis“, also jenem Ruten-
die kleinen Leute, die Kriegsheimkehrer und ver- bündel mit Richtbeil, das in den Zeiten der römi-
ängstigten Bürger, der Schuh drückte“, schreibt der schen Republik Liktoren vor den Konsuln und
Münchner Historiker Hans Woller, „er spürte, wo Prätoren einhertrugen, als Symbol für deren Amts-
COLIN GOLDNER (L.); ACPIX (O.); BETTMANN / CORBIS (U.)

die nationalen Frustrationen saßen und wie sie ge- gewalt und damit für Gewalt über Leben und Tod.
lindert werden konnten“. Italien war, wie andere Fasci, Bünde, so nannten sich schon im 19. Jahr-
Staaten am Ende des Weltkriegs auch, ein Heer- hundert die Zusammenschlüsse sozialrevolutionär SCHLECHTES BENEHMEN
lager politisch Obdachloser, sozial Entwurzelter Gesinnter vor allem auf Sizilien. Mussolini war als Teenager
und Existenzloser. Mussolini ist nicht Urheber dieses Begriffes, das ein jähzorniger Schüler,
Und Mussolini wusste, dass die meisten nicht Substantiv „Faschismus“ war wohl zuerst eine fehlte oft und benahm
nach mehr Mitsprache und mehr Rechten verlang- Wortschöpfung politischer Gegner. Jedoch hat er sich schlecht. Er flog sogar
ten – sondern in schwieriger Zeit nach energischer erkannt, dass aus der römischen Vergangenheit her- von der Schule, nachdem
Führung. Und er wusste, dass sachlich formulier- vorragend Kapital zu schlagen war. Ganz deutlich er mit einem Messer
te Inhalte seiner Politik eher schadeten. Argumen- wurde dies, als er, wie einst Caesar, zur Übernah- auf einen Mitschüler
te mussten anders vorgetragen werden: apodik- me der Macht auf Rom marschieren ließ. losgegangen war.
spiegel special geschichte 1 | 2008 97
JUBEL FÜR HITLER
Bei einer siebentägigen Italien-Reise 1938
besuchte Hitler Florenz, wo ihm sowohl Mussolinis
Soldaten als auch Bürger zujubelten.

Schon im Frühjahr 1921 saßen die ersten Faschis- che Aktion eher politische und propagandistische
ten – 35 Mann – im Parlament, als Partei („Partito Bedeutung („Wer Rom hat, hat die Nation“),
Nazionale Fascista“) gründete sich die Bewegung schließlich war er mitnichten davon überzeugt, sei-
erst im November, und sie war auf Anhieb mit über ne Kämpfer, immerhin 40 000, könnten sich gegen
250 000 Mitgliedern die stärkste in Italien. Um sein die Armee durchsetzen.
Ziel zu erreichen, die Machtübernahme, setzte Tatsächlich war ein Militärschlag gar nicht mehr
„Die Faschis- Mussolini auf eine Mehrfachstrategie, er war kein nötig, gereicht hatte eine über Wochen aufgebaute
Mann der Prinzipien, sondern ein Taktiker, der von Drohkulisse und die beständig geschürte Angst vor
ten haben Tag zu Tag dachte. der „roten Gefahr“: Ende Oktober 1922 ernannte
durch einen So gab er dem Drängen gemäßigter Faschisten der König den „duce del fascismo“ zum „capo del
Staatsstreich nach, Fronten zu begradigen und sich auf lange governo“, zum Regierungschef.
Zeit zu arrangieren mit jenen, die außer ihm und Nur wenige schätzten die historische Bedeutung
die Gewalt an seinen Gefolgsleuten noch Einfluss hatten und bis dieses Marsches, der in der geplanten Form ja gar
sich gerissen in zum Ende haben sollten: dem Königshaus und den
Industriebossen. Plötzlich entdeckte Mussolini, der
nicht stattfand, richtig ein. Wenn die Faschisten die
Gewalt behielten, schrieb der deutsche Diplomat
Italien. Wenn radikale Kirchengegner, seine katholische Seite – und Schriftsteller Harry Graf Kessler in sein Tage-
sie sie behal- und ließ dem Papst bedeuten, das Verhältnis zwi- buch, „so ist das ein geschichtliches Ereignis, das
schen Kirche und Staat entgiften zu können; die La- nicht bloß für Italien, sondern auch für ganz Euro-
ten, so ist das teranverträge von 1929 verschafften dann dem Va- pa unabsehbare Folgen haben kann“, vielleicht wer-
ein geschicht- tikan Souveränität. de jetzt „eine Periode neuer Wirren und Kriege“
Andererseits ließ er zu, dass die Squadristen im- einsetzen.
liches Ereignis, mer brutaler wurden; bis heute gibt es keine ver- Kessler sollte recht behalten. In Italien aber
das nicht bloß lässliche Zahl ihrer Opfer. Zwang und Terror blie- blieb, trotz der Umwälzungen, zunächst vieles beim
ben, abgesehen von wenigen Jahren der Milde, Mit- Alten. Alle, die den Aufstieg des Faschismus – ob
für Italien, tel staatlichen Handelns. aus Schwäche, Resignation oder aus falschem Kal-
HUGO JAEGER / TIME LIFE PICTURES / GETTY IMAGES

sondern auch Und der kalkulierte Rückgriff auf die Geschich- kül – begünstigt und Mussolini zur Macht verholfen
für ganz Euro- te – statt Händeschütteln der „römische Gruß“ mit hatten, durften in ihren oftmals einflussreichen Po-
erhobenem rechten Arm (den die Nazis übernah- sitionen bleiben. Und die Zusammensetzung des
pa unabseh- men), römischer Marschschritt der Schwarzhem- ersten Kabinetts nährte die Hoffnung, dass es auch
bare Folgen den, Adaption römischer Soldatengrade – war eine
durchaus erfolgreiche Reminiszenz an eine große
so bleiben würde: Lediglich fünf Faschisten saßen
mit zehn Vertretern der Liberalen, Demokraten,
haben kann.“ Vergangenheit. Konservativen, Nationalisten und der katholischen
HARRY GRAF KESSLER,
Die strategische Planung des „Marsches auf Volkspartei am Tisch.
deutscher Diplomat und Rom“, das Praktische, hatte Mussolini einem Qua- Doch bald schon änderten sich Ton und Gehabe.
Schriftsteller, im Jahr 1922 drumvirat überlassen. Für ihn selbst hatte eine sol- Offen sprach Mussolini im Parlament davon, dass er

98 spiegel special geschichte 1 | 2008


DER WEG IN DIE DIKTATUR
„dieses triste, graue Haus“ ohne weiteres in ein sei auch der „Meister
„Feldlager“ hätte verwandeln können, sein Kabi- des Glaubens“, der
nett stehe „außerhalb“ und „oberhalb“ des Parla- „Messias des Vaterlan-
ments – ungeheuerliche Äußerungen in einem des“ und, schlimmer
Land, das seit der Einheit im Jahr 1861 ein parla- ging es eigentlich nicht,
mentarisches System (mit einflussreichem König der „erhabene Heiland
natürlich) besaß. in den Himmeln Roms“.
Die neue Regierung schränkte die Pressefreiheit Derlei Hymnen zeig-
ein, vertrieb Gewerkschafter ins Exil und feuerte ten auch anderswo Wir-
unbequeme Beamte aus dem Dienst – und Musso- kung, ganz zu schwei-
linis Koalitionäre hielten still, weil sich ein Traum gen von Hitler und Tei-
erfüllte: Es ging aufwärts mit der Wirtschaft, die len seiner Entourage.
schließlich boomte, vor allem in modernen Bran- Konrad Adenauer, spä-
chen wie Energie, Stahl oder Chemie. Aber es war ter der erste Bundes-
ein Aufschwung zu Lasten der kleinen Leute. kanzler und damals
Und mit dem Erfolg änderten sich Struktur und Oberbürgermeister in
Profil des Faschismus. Dominierten anfangs frühe- Köln, lobte 1932 Musso-
re Soldaten, Arbeitslose und das „Strandgut der linis staatsmännisches
Dissidentenszene“ (Woller), bekannten sich bald Format.
Angestellte, Lehrer oder Handwerker zu Mussolini, Jener „dritte Weg
sein Führungspersonal bestand zu 90 Prozent aus zwischen Kapitalismus
bürgerlichen Schichten. und Kommunismus“, so
Im Frühjahr 1923 machten sich die Faschisten der Düsseldorfer Histo-
daran, den liberal-demokratischen Staat endgültig riker Frank Vollmer, endete im Juli 1943, weil Mus- PAKT MIT DER KIRCHE
aus den Angeln zu heben. Sie schufen einen Groß- solinis militärische Misserfolge an Hitlers Seite Pietro Gasparri, Kardinal-
rat („Gran consiglio“), der als „höchstes und ge- selbst seinen Konfidenten als nicht mehr tragbar staatssekretär für außer-
heimes Organ“ die Richtlinien der Politik festlegte, erschienen. Derselbe König, der die Faschisten an ordentliche kirchliche Ange-
eine direkte, in der Verfassung nicht vorgesehene die Regierung gebracht hatte, setzte Mussolini ab legenheiten, unterzeichnete
Konkurrenz zu Parlament und Kabinett. Jetzt war und konnte sich dabei auf ein überwältigendes Vo- am 11. Februar 1929 in
Mussolini schon ganz Diktator: Er allein ernannte tum des Großrats stützen. Knapp 19 Monate noch Rom mit Mussolini die
die Ratsmitglieder, er allein bestimmte die Rats- durfte Mussolini, nun Hitlers Marionette, der radi- Lateranverträge, die dem
termine, er allein entschied über die Ratsthemen. kalfaschistischen Phantomrepublik von Salò am Vatikan Souveränität
Der zweite Schritt in die Diktatur war, die Par- Ufer des Gardasees vorstehen; als seine NS-Be- verschafften.
teimiliz in einen staatlichen Truppenverband um- schützer vor den heranrückenden Alliierten flohen,
zuwandeln. Und der dritte, im November 1923, be- überließen sie Mussolini italienischen Widerständ-
deutete eine Änderung des Wahlrechts, weg vom lern – am 28. April 1945 wurde er mit seiner Ge-
Verhältniswahlrecht, hin zu einer bemerkenswerten liebten Clara Petacci liquidiert.
Variante des Mehrheitswahlrechts – die Partei mit Ohne Mussolinis Faschismus, schreibt der His-
den meisten Stimmen oberhalb eines Quorums von toriker Brunello Mantelli, wären die ihm nachfol-
25 Prozent sollte zwei Drittel der Parlamentssitze genden Modelle, auch das nationalsozialistische,
bekommen. Vor allem die Katholi- „nicht denkbar“ gewesen. Aller-
ken machten Front gegen den Plan, dings war die NS-Vernichtungsma-
bis die Squadristen deren Wider- schinerie viel radikaler und der An-
stand mit brutalen Terrorakten tisemitismus für die Herrschaftspra-
brachen. xis des Hitler-Regimes, anders als
Bei der Parlamentswahl im April für Mussolini, von zentraler Bedeu- ERINNERUNGSKULTUR
BIANCHETTI STEFANO / PICTURE-ALLIANCE / MAXPPP / DPA (O.); ROBERTO CACCURI / CONTRASTO / LAIF (U.)

1924 erhielten die Kandidaten Mus- tung. Der italienische Faschismus Den Marmor-Obelisken ließ
solinis 66 Prozent der Stimmen, und diskriminierte und verfolgte die Ju- Mussolini zu Ehren seines
der Chef selbst adelte seine Ideo- den, jedoch nicht mit der Konse- faschistischen Regimes
logie als „Doktrin der Kraft, der quenz der Nazis. Die italienische errichten. Er steht auf dem
Schönheit, der Disziplin, des Ver- Zurückhaltung sei dennoch weniger Foro Italico in Rom und wird
antwortungsbewusstseins und der einem „von Natur aus gemäßigteren derzeit als ein Stück Erinne-
Ablehnung aller Gemeinplätze der Charakter“ des italienischen Fa- rungskultur von Spezialisten
Demokratie“. schismus zu verdanken, sagt Man- restauriert.
Und stellte in mystifizierender telli. Vielmehr hätten „strukturelle
Art klar, dass der Faschismus „nicht Schwächen des Staates“, aber auch
nur eine Partei“ sei: „Er ist ein Re- Teile der Gesellschaft die Faschisten
gime. Er ist nicht nur ein Regime, um Mussolini daran gehindert, „ihr
er ist ein Glaube; er ist nicht nur ein Herrschafts- und Eroberungsbestre-
Glaube, er ist eine Religion.“ ben bis in seine letzten Konsequen-
Um diese Religion als Opium un- zen zu verfolgen“.
ters Volk zu bringen, überschlugen Vielleicht fällt es deshalb leichter,
sich die gleichgeschalteten Massen- die Erinnerungskultur so zu pflegen,
medien und erzeugten einen Duce- wie es in Italien geschieht. Und pfle-
Mythos, der heute noch nachwirkt. gen ist ganz wörtlich zu nehmen:
Der Führer Italiens wurde nicht nur Derzeit restaurieren Spezialisten
hochgejubelt zum „totalen Genie“ den Mussolini-Obelisken auf dem
und „Motor des Jahrhunderts“, er Foro Italico. ✦
spiegel special geschichte 1 | 2008 99
HITLERS MACHTERGREIFUNG

Begeisterte Hitler-Anhänger in
Graz, kurz nach dem „Anschluss“
Österreichs im März 1938

3 DER
TOTALITÄRE
STAAT
Zwischen 1933 und 1938 gelang es Hitler, die große Mehrheit
der Deutschen hinter sich zu scharen – auch viele, die einst
gegen ihn gestimmt hatten, ließen sich von wirtschaftlichen
und außenpolitischen Erfolgen blenden. Aber die Aufrüstung
führte in den Krieg, die Judenverfolgung in den Holocaust.
GETTY IMAGES

spiegel special geschichte 1 | 2008 101


DER TOTALITÄRE STAAT

102 spiegel special geschichte 1 | 2008


JUDENVERFOLGUNG
SS-Schergen und Polizis-
ten führen im November
1938 in Baden-Baden
Juden ab, neugierige
Bürger schauen zu.
In weiten Teilen der
Bevölkerung herrschte
das Gefühl, dass Juden
in Deutschland keinen
Platz mehr hätten.

DER
HITLER-
MYTHOS
Militärische Erfolge und eine Propaganda,
die den „Führer“ zum treusorgenden
Übervater aller Deutschen stilisierte,
machten Hitler bald zum
vergötterten Idol – auch für viele, die
zunächst noch skeptisch waren.
Von Ian Kershaw

H
eute ist Hitler ganz Deutschland“ – diese Schlagzeile vom
4. August 1934 verdeutlichte, welche entscheidende Macht-
verlagerung soeben stattgefunden hatte. Beim Tod von
Reichspräsident Paul von Hindenburg zwei Tage zuvor hat-
te Adolf Hitler sogleich die Reichspräsidentschaft abgeschafft, und die
Reichswehrsoldaten hatte er einen persönlichen Eid schwören lassen, mit
dem sie ihm als „Führer des Deutschen Reiches und Volkes“ unbe-
dingten Gehorsam gelobten.
Nun war Hitler Staatsoberhaupt, Oberster Befehlshaber der Streit-
kräfte, Regierungschef und Führer der Monopolpartei NSDAP in einer
Person. Seine Macht in Deutschland war total, da keinen Verfassungs-
beschränkungen unterworfen. Die Schlagzeile deutete aber nicht nur die
wesentlich veränderte Machtkonstellation an, sondern setzte Hitler mit
dem von ihm regierten Land gleich und besagte, dass er und das deut-
sche Volk aufs Engste miteinander verbunden
seien. IAN KERSHAW,
Die „Volksabstimmung“, die am 19. August Jahrgang 1943, ist
1934 den machtpolitischen Wandel nachträglich Professor für Neue-
legitimieren sollte, zielte darauf ab, diese Über- re Geschichte an
einstimmung zu demonstrieren. „Hitler für der Universität
Deutschland – ganz Deutschland für Hitler“ lau- Sheffield und Autor
tete die Parole. Wie das Abstimmungsergebnis einer zweibändigen
ADN

jedoch zeigte, blieb die Wirklichkeit hinter der Hitler-Biografie.

spiegel special geschichte 1 | 2008 103


CHRONIK 1935 – 1939

DER NS-STAAT
13. Januar 1935 Volksabstimmung im franzö- Gebiete in der Tschechoslowakei an Hitler-
sisch verwalteten Saargebiet, 91 Prozent der Deutschland abzutreten sind.
abgegebenen Stimmen sind für die Rückkehr zu
Deutschland. 1. Oktober 1938 Deutsche Truppen marschieren
in die sudetendeutschen Gebiete ein, 20 Tage
16. März 1935 Die Wehrpflicht wird wieder ein- später gibt Hitler Weisung zur „Erledigung der
geführt. Hitler bricht damit den Versailler Vertrag. Resttschechei“.

26. Juni 1935 Männer zwischen 18 und 25 Jahren 7. November 1938 Der jüdische Emigrant Her-
müssen ein halbes Jahr Arbeitsdienst leisten. schel Grünspan verübt ein Attentat auf den Lega-
tionssekretär an der deutschen Botschaft in Paris,
15. September 1935 In den „Nürnberger Geset- Ernst vom Rath, der zwei Tage später stirbt.
zen“ wird den Juden die deutsche „Reichsbürger-
schaft“ aberkannt, sie gelten nur noch als Staats- 9. November 1938 Organisierte Ausschreitungen
angehörige. Ehen zwischen Juden und „Ariern“ gegen Juden in der von den Nazis sogenannten
werden verboten, Reichskristallnacht.
außereheliche sexuel- Geschäfte werden
le Kontakte unter geplündert und
Strafe („Rassen- Synagogen in Brand
schande“) gestellt. gesetzt, Juden er-
mordet und in KZ
7. März 1936 Ein- deportiert.
marsch deutscher
Truppen in das ent- 12. November
militarisierte Rhein- 1938 Verordnungen
land. bestimmen, dass die
deutschen Juden eine
25./26. Juli 1936 Milliarde Reichsmark
Hitler entscheidet, „Sühneleistung“
dass Nazi-Deutsch- zahlen und für alle
land in den Spani- Schäden aus der
schen Bürgerkrieg Pogromnacht selbst
eingreift, der seit dem aufkommen müssen.
17. Juli auf der Iberi- Gleichzeitig werden
schen Halbinsel tobt. alle jüdischen Ge-
schäfte und Hand-
1. August 1936 In werksbetriebe ge-
Berlin beginnen die schlossen, Juden
Olympischen Spiele. wird der Besuch von
Theatern, Kinos,
25. Oktober 1936 Konzerten und Aus-
Der deutsch-italieni- stellungen verboten.
sche Vertrag begrün-
det die „Achse Ber- Deutscher Bomber im Spanischen Bürgerkrieg 15./16. März 1939
lin–Rom“. Einmarsch deutscher
Truppen in die Tschechoslowakei, Bildung des
25. November 1936 Abschluss des Antikom- „Reichsprotektorats Böhmen und Mähren“.
internpakts zwischen Japan und Deutschland.
22. Mai 1939 Militärbündnis zwischen Deutsch-
12./13. März 1938 Deutsche Truppen marschie- land und Italien.
ren in Österreich ein. Per Gesetz wird Österreich
Nazi-Deutschland zugeschlagen („Anschluss“). 23. August 1939 Deutsch-sowjetischer
Nichtangriffspakt („Hitler-Stalin-Pakt“); Auf-
29. September 1938 Auf der Münchner Konfe- teilung Polens in einem geheimen Zusatz-
renz zwischen Hitler, Mussolini, dem britischen protokoll.
Premier Neville Chamberlain und dem französi-
schen Regierungschef Édouard Daladier wird unter 1. September 1939 Deutscher Angriff auf
anderem beschlossen, dass die sudetendeutschen Polen, Beginn des Zweiten Weltkriegs.
AMW

104 spiegel special geschichte 1 | 2008


DER TOTALITÄRE STAAT
Propaganda zurück. Den
offiziellen Zahlen zu-
folge hielten fast ein
Sechstel der Wählerin-
nen und Wähler dem im-
mensen Konformitäts-
druck stand und stimm-
ten nicht mit Ja. In
manchen großen von der
Arbeiterschicht bewohn-
ten Gebieten versagte bis
zu ein Drittel der Wäh-
lerinnen und Wähler Hit-
ler ihre Stimme.
Dabei war Hitlers
persönliche Anziehungs-
kraft, wie aus manchen
Anzeichen zu ersehen,
um einiges stärker als die
des NS-Regimes und er-
heblich größer als die der
Partei. „Für Adolf Hitler
ja, aber tausendmal nein
für die braunen Bon-
zen“, lautete zum Bei-
spiel ein handschriftli-
cher Zusatz auf einem Abstimmungszettel in Pots- und das Sudetenland vier Jahre später tatsächlich INSZENIERUNG
dam. Die gleiche Meinung war auch an anderen Or- die Unterstützung der großen Mehrheit des deut- In Berlin ist die Straße
ten zu vernehmen. schen Volks zu gewinnen vermochte. Dieser Rückhalt Unter den Linden mit
Es gibt zahlreiche Anhaltspunkte dafür, dass Hit- sollte sich für den katastrophalen Kurs der an- Säulen und Fahnen für den
ler – selbst in der rückblickend oft als „gut“ erin- schließenden deutschen Politik als überaus wichtig Besuch des italienischen
nerten Zeit Mitte der dreißiger Jahre – bei weitem erweisen. Vielleicht abgesehen von der Zeit unmit- Diktators Benito Mussolini
keine totale Anziehungskraft besaß, auch wenn die telbar nach dem überraschenden Sieg über Frank- Ende September 1937
gleichförmige Propaganda der Massenmedien mit reich im Sommer 1940 war der „Führer“ niemals po- geschmückt.
ihren ständigen Jubelarien auf den „Führer“ einen pulärer als auf dem Höhepunkt seiner außenpoliti-
anderen Eindruck vermittelte. Starke Kritik an Hit- schen Erfolge im Jahr 1938.
ler wird zum Beispiel aus einem Berliner Gestapo- Laut Sebastian Haffners plausibler Einschätzung
Bericht vom März 1936 ersichtlich. In einer Zeit, in gelang es Hitler bis 1938, „die große Mehrheit der
der die meisten Deutschen noch mit einem schlech- Mehrheit, die 1933 noch gegen ihn gestimmt hatte“,
ten Lebensstandard zu kämpfen hatten, stießen der für sich einzunehmen. Haffner glaubt sogar, Hitler
luxuriöse Lebensstil und die Korruptheit der Partei- habe bis dahin fast das gesamte deutsche Volk hinter
bonzen vielen Leuten sauer auf, und sie fragten sich sich gebracht, so dass über 90 Prozent der Deut-
dem Bericht zufolge: „Warum duldet der Führer schen 1938 „Führergläubige“ gewesen seien. Doch da
das?“ Offenbar, so folgerte die Gestapo, mache „das es damals keine echten Meinungsumfragen gab, die
Vertrauen der Bevölkerung zu der Persönlichkeit des vorhandene öffentliche Meinung ausschließlich von
Führers z. Zt. eine Krise durch“. nationalsozialistischen Stellen stammte und jeder,
Dann jedoch marschierten deutsche Truppen in der die offizielle Propaganda hätte in Frage stellen „Jede Propa-
die entmilitarisierte Zone des Rheinlands ein. Mit wollen, mit Einschüchterung und Repression zu rech- ganda hat
diesem spektakulären Schachzug, der die westlichen nen hatte, bedeutet die genannte Zahl nicht mehr als
Demokratien in ihrer Schwäche bloßstellte, konnte eine vage Vermutung – und ist wahrscheinlich zu volkstümlich
Hitler seinen bislang größten außenpolitischen Tri- hoch gegriffen. zu sein und
umph feiern. Die innenpolitischen Probleme der
Vormonate – die Lebensmittelknappheit, die hohen
™ ihr geistiges
Niveau ein-
G
Preise, die niedrigen Löhne und der von den Ka- leichzeitig lässt sich kaum bestreiten, dass
tholiken heftig abgelehnte Kirchenkampf des Re- das NS-Regime seit 1933 an Ansehen gewon- zustellen nach
gimes – waren in der um sich greifenden Euphorie nen hatte und der größere Rückhalt im Volk
vorübergehend vergessen. Selbst wenn man das zu einem Gutteil auf Veränderungen beruhte, die als der Aufnahme-
absurde Ergebnis der am Ende des Monats abge-
haltenen manipulierten „Wahl“ (bei der nach offizi-
Hitlers persönliche „Leistung“ angesehen wurden.
Diese Sicht war vor allem das Ergebnis unablässiger
fähigkeit des
ellen Zahlen 98,9 Prozent „für die Liste und damit propagandistischer Bemühungen, die bewusst auf Beschränktes-
für den Führer“ stimmten) außer Acht lässt, war die die Schaffung und Stärkung eines heroisch-genialen ten unter de-
Remilitarisierung des Rheinlands zweifellos ein Hitler-Bilds zielten; entsprechend konnte Joseph
äußerst populärer Akt, der ganz wesentlich Hit- Goebbels 1941 die Schaffung des „Führer“-Mythos nen, an die sie
lers kühner und geschickter Führung zugeschrieben mit einiger Berechtigung als seine bis dahin größte sich zu richten
wurde. Propagandaleistung bezeichnen.
Vieles deutet darauf hin, dass Hitler in der Zeit Besonders treffend hat Hitler selbst das Propa- gedenkt.“
zwischen Hindenburgs Tod im August 1934 und der gandabild von den ganz persönlichen „Leistungen“ ADOLF HITLER
Ausweitung des Deutschen Reichs auf Österreich auf den Punkt gebracht. In seiner (ebenfalls von in „Mein Kampf“
BPK

spiegel special geschichte 1 | 2008 105


IMAGEPFLEGE Haffner zitierten) Reichstagsrede vom 28. April 1939 folge des „Führers“ darstellten, ist jedoch, dass es
Hitler bei seiner ersten sagte er: dabei um nationale „Errungenschaften“ ging und
Rundfunkansprache als Ich habe das Chaos in Deutschland überwunden, nicht um zentrale Grundsätze der Hitlerschen Welt-
Reichskanzler 1933 in die Ordnung wiederhergestellt, die Produktion auf anschauung.
Berlin. Der Hitler-Mythos allen Gebieten unserer nationalen Wirtschaft un- Die mit krankhafter Besessenheit betriebene „Be-
hatte in den Friedensjahren geheuer gehoben … Es ist mir gelungen, die uns al- seitigung“ der Juden und der „Kampf um Lebens-
der Diktatur eine enorme len so zu Herzen gehenden sieben Millionen Er- raum“ werden dort mit keinem Wort erwähnt. Die
Integrationskraft in der werbslosen restlos wieder in nützliche Produktio- Wiederherstellung der Ordnung, der Wiederaufbau
deutschen Gesellschaft. nen einzubauen … Ich habe das deutsche Volk der Wirtschaft, die Beseitigung der Arbeitslosigkeit,
nicht nur politisch geeint, sondern auch militärisch die Aufkündigung der vom verhassten Versailler Ver-
aufgerüstet, und ich habe weiter versucht, jenen trag auferlegten Restriktionen und die Herstellung
Vertrag Blatt um Blatt zu beseitigen, der in seinen der nationalen Einheit stießen nicht nur bei einge-
448 Artikeln die gemeinste Vergewaltigung enthält, fleischten Nazis, sondern weit darüber hinaus, wenn
die jemals Völkern und Menschen zugemutet wor- auch auf unterschiedliche Weise, in praktisch jedem
den ist. Ich habe die uns 1919 geraubten Provinzen Bereich der deutschen Gesellschaft auf ein großes po-
dem Reich wieder zurückgegeben, ich habe Millio- sitives Echo. Meinungsumfragen, die lange nach
nen von uns weggerissenen, tiefunglücklichen Kriegsende gemacht wurden, belegen, dass viele
Deutschen wieder in die Heimat geführt, ich habe Deutsche diese „Leistungen“ nach wie vor positiv
die tausendjährige historische Einheit des deut- mit Hitler in Verbindung brachten.
schen Lebensraumes wiederhergestellt, und ich Angesichts des Zustands, in dem sich Deutsch-
habe … mich bemüht, dieses alles zu tun, ohne land sechs Jahre zuvor befunden hatte, vertraten die
Blut zu vergießen und ohne meinem Volk oder an- Menschen, die 1939 die „Führer“-Rede anhörten, –
deren daher das Leid des Krieges zuzufügen. Ich und sogar viele frühere Nazi-Gegner – zwangsläufig
habe dies … als ein noch vor 21 Jahren unbekann- die Ansicht, Hitler habe Außergewöhnliches erreicht.
ter Arbeiter und Soldat meines Volkes aus meiner Nur wenige lehnten die ungeheure Unmenschlich-
eigenen Kraft geschaffen … keit, auf der Deutschlands Wiederaufbau fußte, nach-
Die Behauptung, Deutschlands Schicksal allein drücklich ab. Und nicht viele waren in der Lage,
und eigenhändig geändert zu haben, ist natürlich ab- hellsichtig zu analysieren, was hinter den „Leistun-
surd. Faszinierend an dieser litaneihaften Aufzäh- gen“ steckte, und etwa zu bemerken, dass das Deut-
lung von Punkten, die für die meisten einfachen sche Reich finanziell ruiniert und die Regierungs-
SPIEGEL TV

deutschen Zeitgenossen erstaunliche persönliche Er- strukturen untergraben wurden.

106 spiegel special geschichte 1 | 2008


DER TOTALITÄRE STAAT
Vor allem vermochten nur wenige zu begreifen,
welches kolossale Risiko mit dem vom NS-Regime
eingeschlagenen Weg verbunden war. Und kaum je-
mand war so informiert, dass er die Behauptung, Hit-
ler sei die ganze Zeit bemüht, seinem Volk (und an-
deren Völkern) Kriegsleiden zu ersparen und Blut-
vergießen zu vermeiden, nachhaltig Lügen strafen
konnte. Das, was die meisten Deutschen im Frühjahr
1939 als eigenständige, von Hitler erfolgreich verwirk-
lichte Ziele betrachteten, bildete nur die Grundlage für
den rassistisch-imperialistischen Eroberungskrieg, den
die nationalsozialistische Führung vorbereitete.
So sehr die in dieser Rede aufgestellten Behaup-
tungen auch auf tönernen Füßen standen, lässt sich
ihnen doch entnehmen, in welchen Bereichen die
Masse der Bevölkerung dazu gebracht werden konn-
te, Hitler zu unterstützen. Zwar sind Verallgemeine-
rungen zum Rückhalt des NS-Regimes mit Vorsicht
zu genießen, weil so gut wie alle Regimegegner zu
schweigen gezwungen waren, aber es ist sicherlich
nicht falsch zu sagen, dass die Integrationskraft des
Hitler-Mythos in den Friedensjahren der Diktatur
einen weitgehenden Konsens zementiert hat.
Allerdings war es ein künstlich fabrizierter Kon-
sens; die andere Seite dieses Propagandakonstrukts
bildete die Unterdrückung der politischen Gegner,
„Rassenfeinde“ und anderer Außenseiter der pro-
klamierten „Volksgemeinschaft“. Zentraler Bestand-
teil dieses Konstrukts war Hitlers „Supermann“-
Image, das Goebbels mit seiner damals hochmoder-
nen und äußerst erfolgreichen politischen Ver-
marktungsstrategie schon vor der „Machtergreifung“
geschaffen hatte.
Als dann den Nazis 1933 das staatliche Propagan-
damonopol in die Hände fiel, stand einer raschen
Verbreitung des Hitlerschen „Charismas“ durch die
Massenmedien nichts mehr im Wege. Allerdings hät-
ten die ausgeklügelten, äußerst raffinierten Techni- nen, dass er scheinbar nicht in einseitig parteipoliti- INDUSTRIEPRODUKTION
ken zur Schaffung des „Führer“-Mythos keine Wir- schem, sondern in nationalem Interesse handelte und Arbeiterinnen montieren im
kung entfalten können, wenn dazu nicht schon lan- sich weniger als Partei- denn als Staatsführer gab. Juni 1940 Autolampen bei
ge vor Hitlers Reichkanzlerschaft der fruchtbare Bo- Seine wachsende Popularität wurde auch von sei- Opel in Rüsselsheim. Die
den bestellt worden wäre. Eine nationale Errettung nen Gegnern gesehen. Die von Prag aus agierende Schaffung von Arbeits-
sehnten 1933 nicht nur NS-Anhänger herbei; derar- Sopade (SPD im Exil) betonte im April 1938 wie plätzen nahm auch viele
tige Hoffnungen waren damals weit verbreitet und schon in früheren Berichten, in Deutschland sei die Arbeiter für Hitler ein. Dabei
auch bereits mit Hitlers Person verknüpft. Als er die Ansicht weit verbreitet, „dass Hitler in zwei wesent- fußte der wirtschaftliche
Macht übernahm, hatten schon über 13 Millionen lichen Punkten auf die Zustimmung einer Mehrheit Aufschwung vor allem auf
Wählerinnen und Wähler zumindest teilweise jenen des Volkes rechnen könne: 1) er hat Arbeit geschaf- der Rüstung.
„Führer“-Kult verinnerlicht, den sich die große fen und 2) er hat Deutschland stark gemacht“.
(wenn auch fluktuierende) Masse der zur NSDAP In der Anfangszeit des „Dritten Reiches“ spürten
und ihren Unterorganisationen gehörenden Mitglie- die meisten Deutschen nach Jahren düsterer Hoff-
der zu eigen gemacht hatte. Damit war die organisa- nungslosigkeit eine neue Zielrichtung, Energie und
torische Grundlage zur weiteren Verbreitung des Dynamik. Viele hatten das Gefühl, nun endlich eine
„Führer“-Kults vorhanden. Regierung zu haben, die Deutschland wieder auf die
Angesichts des Scheiterns der Weimarer Demo- Beine bringen würde. Natürlich sorgte Hitler, der
kratie und der Krisensituation, in der die Hitler-Re- nur über rudimentäre Wirtschaftskenntnisse verfüg-
gierung an die Macht kam, war es klar, dass der neue te, nicht persönlich dafür, dass sich die Wirtschaft in
Reichskanzler durch ein paar rasch erzielte Erfolge den ersten Jahren des „Dritten Reiches“ erholte. Für
seine Popularität wesentlich vergrößern könnte. Al- den raschen Aufschwung gab es verschiedene kom-
les war bereit, damit die Bewunderung für Hitler plexe Gründe, und falls die wirtschaftliche Erholung
schnell um sich greifen und die „Mehrheit der Mehr- überhaupt der Planung eines einzelnen Menschen
heit“, die im März 1933 noch nicht für ihn gestimmt zu verdanken gewesen sein sollte, dann derjenigen
hatte, gewonnen werden konnte. Die Geschwindig- von Reichsbankpräsident und Reichswirtschafts-
keit, mit der sich der Hitler-Kult nun verbreitete, minister Hjalmar Schacht. Hitlers Beitrag bestand
muss vor diesem Hintergrund und in Bezug auf die vor allem darin, das politische Klima zu verändern
meisterlich eingesetzte Propagandametaphorik ge- und die Zuversicht zu verbreiten, dass es in Deutsch-
sehen werden. land wieder aufwärts gehe. Von der Propaganda
ULLSTEIN BILD

In ausschlaggebenden gesellschaftlichen Berei- wurde der Wirtschaftsaufschwung jedoch als Hitlers


chen konnte Hitler dadurch großen Rückhalt gewin- persönliche Leistung dargestellt, und der „Führer“
spiegel special geschichte 1 | 2008 107
DER TOTALITÄRE STAAT

„Ich kann war nur zu gern bereit, sich dafür in den höchsten Tö-
nen loben zu lassen. Die meisten Leute meinten, er
schen Lager verbreitet. Dass das deutsche Heer nur
noch 100 000 Mann umfassen durfte, galt als dauer-
nicht so viel habe das Lob verdient. haftes Zeichen nationaler Schwäche.
fressen, wie Dieser Schachzug trug wesentlich dazu bei, auch Die tollkühnen außenpolitischen Schachzüge, mit
jene Deutschen für Hitler zu gewinnen, die ihn 1933 denen Hitler die Knebelung durch den Versailler
ich kotzen nicht gewählt hatten. Es sah fraglos so aus, als habe Vertrag beseitigen und Deutschland wieder Stärke
möchte.“ der „Führer“ Deutschland von der Geißel der Mas- und Ansehen verschaffen wollte, stießen im Volk auf
senarbeitslosigkeit, an der andere europäische Län- massenhafte Zustimmung, solange sie nicht mit Blut-
MAX LIEBERMANN (1847 bis der (und auch die USA) weiterhin schwer zu tragen vergießen verbunden waren. Der Austritt aus dem
1935), deutscher Maler, beim
Betrachten eines Fackelzugs zu hatten, befreit und für eine Art „Wirtschaftswunder“ Völkerbund 1933, das Plebiszit im Saarland 1935 so-
Hitlers Machtübernahme 1933 gesorgt. Im Spätsommer 1934 stellte ein Sopade-Be- wie die im selben Jahr in Aussicht gestellte neue
in Berlin richt aus dem Ruhrgebiet fest, dass selbst „die indif- große Wehrmacht, die Remilitarisierung des Rhein-
ferente Arbeiterschaft … größtenteils hitlergläubig“ lands 1936 und der „Anschluss“ Österreichs 1938 gal-
sei. Weiter hieß es dort: „Der Umstand, dass durch ten als – noch wenige Jahre zuvor unvorstellbare –
die ‚Arbeitsbeschaffung‘ Arbeitslose in wenn auch triumphale nationale Großtaten, die allein durch Hit-
noch so schlecht bezahlte Arbeit gekommen sind, lers staatsmännisches „Talent“ ermöglicht worden
hat sie sehr beeindruckt. Sie trauen Hitlers ‚schnel- waren. Sie offenbarten die Schwäche der West-
ler Entschlusskraft‘ zu, dass er, wenn er ‚richtig in- mächte, die in Deutschland seit Kriegsende das Sa-
formiert‘ wird, eines Tages das Steuer über Nacht zu gen gehabt hatten.
ihren Gunsten herumwerfen wird.“ Über die Reaktionen auf die Einführung der
Ähnliches bestätigte kein Geringerer als Willy Wehrpflicht im März 1935 wusste die Sopade zum
Brandt, nachdem er von seinem norwegischen Exil Beispiel zu berichten:
aus in der zweiten Hälfte des Jahres 1936 Deutsch- Begeisterung am 17. März ungeheuer. Ganz Mün-
land einen heimlichen Besuch abgestattet hatte. Auch chen war auf den Beinen. Man kann ein Volk zwin-
seiner Meinung nach hatte das NS-Regime durch die gen zu singen, aber man kann es nicht zwingen, mit
Arbeitsbeschaffung selbst in den Kreisen jener Deut- solcher Begeisterung zu singen. Ich habe die Tage
schen an Rückhalt gewonnen, die früher links ge- von 1914 miterlebt und kann nur sagen, die Kriegs-
wählt hatten. erklärung hatte auf mich nicht den Eindruck ge-
Ab 1936 herrschte Vollbeschäftigung. Antriebs- macht wie der Empfang Hitlers am 17. März …
motor für den Arbeitsmarkt war inzwischen die Auf- Das Vertrauen in politisches Talent und ehrlichen
rüstung, die allerdings ernste Gefahren für die Zu- Willen Hitlers wird immer größer, wie überhaupt
kunft mit sich brachte. Doch nur wenigen Deutschen Hitler wieder im Volk außerordentlich an Boden
bereitete die Herkunft der Arbeitsplätze wirklich gewonnen hat. Er wird von vielen geliebt.
Sorgen. Tatsache war, dass es jetzt Arbeit gab, wo Das von Hitler gepflegte Image eines Staatsman-
früher aufgrund der Massenarbeitslosigkeit unge- nes, der das Ansehen seines Landes in der Welt wie-
heure Not geherrscht hatte. Dieser Wandel wurde derherstellte, die Deutschland zustehenden Rechte
größtenteils Hitler persönlich zugeschrieben. Moch- fanatisch verteidigte und dabei Blutvergießen ver-
te dieses propagandistische Bild auch stark von der mied, wurde mit der Sudetenkrise und der dadurch
Realität abweichen, so war es doch von nachhaltiger im Sommer 1938 heraufbeschworenen Kriegsgefahr
Wirkung. Noch lange nach dem Krieg glaubten vie- erstmals wesentlich in Frage gestellt. Daraufhin er-
le Deutsche ungeachtet der von ihnen durchlebten möglichten die Westmächte Hitler in München Ende
Katastrophe, dass die Beseitigung der Massenar- September einen letzten großen außenpolitischen
beitslosigkeit und das Ende der tiefen Wirtschafts- Triumph – der ihm aber aufgrund seiner Kriegsbe-
krise im Wesentlichen Hitler zu verdanken gewesen reitschaft eigentlich gegen den Strich ging.
seien. Aus dem Umstand, dass dann der Kriegsbeginn im
Wie Meinungsumfragen Ende der vierziger Jahre September 1939 im Volk weniger auf Begeisterung als
in der amerikanischen Besatzungszone festhielten, auf Resignation stieß, ist wiederum zu ersehen, dass
gehörten zu den positiven Dingen, die man mit Hit- Hitler die Vergrößerung seiner Anhängerschaft
ler assoziierte, gute Lebensbedingungen sowie Voll- während der Friedensjahre des „Dritten Reiches“
beschäftigung, und auch rund zehn Jahre später zeig- mit Hilfe falscher Versprechungen erreicht hatte. Die
IM WIDERSTAND ten sich junge Leute in Norddeutschland überzeugt, meisten Menschen waren für die Erhaltung des Frie-
Der spätere Bundeskanzler Hitler habe durch die Beseitigung der Arbeitslosig- dens. Hitler aber strebte die ganze Zeit nach Krieg
Willy Brandt mit einer keit viel Gutes getan. Noch in den siebziger Jahren und war dabei überzeugt, die Öffentlichkeit über sei-
Freundin 1934 im Exil in dachten Arbeiter im Ruhrgebiet gern an die Frie- ne wahren Absichten täuschen zu müssen, wie er in
Oslo. Bei einem heimlichen denszeit im „Dritten Reich“ zurück, die in ihrer Er- einer vertraulichen Rede vor deutschen Pressever-
Besuch in Deutschland innerung mit Vollbeschäftigung und mit vergnügli- tretern im November 1938 zugab:
1936 stellte auch Brandt chen Ausflügen im Rahmen der nationalsozialisti- Die Umstände haben mich gezwungen, jahrzehn-
fest, dass die Nazis durch schen Freizeitorganisation „Kraft durch Freude“ ver- telang fast nur vom Frieden zu reden. Nur unter
die Schaffung von Arbeit bunden war. der fortgesetzten Betonung des deutschen Frie-
selbst in politisch linken Der zweite Punkt, den die Sopade als Grund für denswillens und der Friedensabsichten war es mir
Kreisen zahlreiche Anhän- Hitlers Rückhalt hervorhob, war zweifellos ein möglich, dem deutschen Volk … die Rüstung zu
ger gewonnen hatten. Schlüsselfaktor. Hitler hämmerte den Deutschen pau- geben, die immer wieder für den nächsten Schritt
senlos ein, dass Deutschland durch die – angeblich als Voraussetzung notwendig war.
von den „Novemberverbrechern“ herbeigeführte – Die große Mehrzahl der Deutschen betrachtete
Niederlage von 1918 und durch den Versailler Vertrag die Wiederherstellung des Nationalstolzes und der
von 1919 schwer gedemütigt worden sei. Die vehe- militärischen Stärke, die Hinwegsetzung über den
mente Ablehnung des als ungerecht empfundenen Versailler Vertrag und die Ausweitung des Deutschen
Vertrags war in Deutschland quer durch alle politi- Reichs auf Österreich und das Sudetenland als ei-

108 spiegel special geschichte 1 | 2008


genständige Ziele. Die meisten Deutschen konnten Hitler hob besonders auf die ausschweifende, un- PERSONENKULT
oder wollten nicht begreifen, dass die Verwirklichung gezügelte Lebensweise der SA-Führung und Ernst Anhängerinnen bewundern
dieser Ziele für Hitler und die NS-Führung nur das Röhms Homosexualität ab und machte sich dabei Adolf Hitler 1939 in
Vorspiel zu einem grenzenlosen deutschen Erobe- weit verbreitete Vorurteile zunutze. Es gelang ihm, Österreich. Viele verehrten
rungskrieg darstellte. sich unangefochten über grundlegende Rechtsprin- den Diktator, weil er
Ein weiterer Punkt, der Hitler neben seinen an- zipien hinwegzusetzen, da er mit seiner Behauptung angeblich Moral, Recht und
geblichen außenpolitischen Leistungen zweifellos viel durchkam, er habe als „oberster Gerichtsherr“ des Ordnung durchsetzte.
Unterstützung einbrachte, war die Wiederherstel- deutschen Volks in wohlverstandenem Staatsinter-
lung der „Ordnung“ im Innern – oder was als solche esse gehandelt. Statt heftig dafür verurteilt zu wer-
empfunden wurde. den, dass er einen Massenmord in Auftrag gegeben
In den krisengeschüttelten letzten Jahren der Wei- hatte, erntete er für sein skrupelloses Vorgehen gegen
marer Republik hatte die nationalsozialistische Pro- vorgebliche staatsgefährdende Missstände und Un-
paganda wesentlich dazu beigetragen, einem Groß- taten große Zustimmung. „Der Führer hat bei der Zerschlagung der
teil der Bevölkerung einen übertriebenen Eindruck breiten Masse, insbesondere bei jenen, welche der Gewerkschaften
von der vorhandenen Kriminalität, der angeblichen Bewegung noch abwartend gegenüberstanden, durch Am 1. Mai 1933 feierte
Dekadenz und den gewalttätigen Unruhen zu ver- sein tatkräftiges Handeln ungeheuer gewonnen; man die NSDAP noch mit
mitteln (die zu einem nicht geringen Teil von den Na- bewundert ihn nicht nur, er wird vergöttert“, urteil- den Gewerkschaften
zis selbst angezettelt worden waren). Einmal an der te eine untere NS-Dienststelle in einer vertraulichen den neu ausgerufenen
Macht, kam es Hitler sehr zugute, dass er als Reprä- Meldung. „Feiertag der nationa-
sentant der „Volksjustiz“ und des „gesunden Volks- Viele andere Berichte kamen zum gleichen len Arbeit“. Einen Tag
empfindens“ galt. Er wurde als Staatsmann darge- Schluss. Auch sozialdemokratische Oppositionskrei- später besetzten Natio-
stellt, der für die Aufrechterhaltung der öffentlichen se, denen eher daran gelegen war, das NS-Regime zu nalsozialisten gewalt-
Moral sorgte und gegen jeden vorging, der Recht kritisieren, vermerkten Hitlers wachsenden Rück- sam Gewerkschafts-
und Ordnung gefährdete. halt in der Bevölkerung. So hieß es etwa aus Bayern: häuser und verhafteten
Als Hitler Ende Juni 1934 die SA-Führung zer- „Allgemein muss man leider feststellen: Die Leute führende Gewerk-
schlug, betrachteten das viele als zwar skrupellose, denken nicht politisch; sie denken, jetzt hat Hitler schaftsvertreter. Am
doch notwendige Vorgehensweise, da sich dieser Teil Ordnung gemacht, jetzt geht es wieder aufwärts; die 10. Mai wurde die
der NS-Bewegung äußerst unbeliebt gemacht hatte. Saboteure, die sein Aufbauwerk gestört haben, sind „Deutsche Arbeitsfront“
In seiner Reichstagsrede vom 13. Juli 1934 übernahm vernichtet.“ Und aus Berlin wurde ergänzend be- (DAF) gegründet, eine
Hitler die persönliche Verantwortung für die statt- richtet: „Die Autorität Hitlers ist in weiten Kreisen Zwangsvereinigung von
gefundenen Morde. Aus einem an Machiavelli erin- gestärkt. Immer wieder hört man die Leute sagen: Unternehmern, Ange-
nernden brutalen, machtpolitischen Coup wurde in ‚Hitler greift doch durch.‘“ stellten und Arbeitern.
der öffentlichen Darstellung eine unumgängliche Die Meinung, Hitler habe in Deutschland für Ord- Die Gewerkschaften
Maßnahme zur Beseitigung einer drohenden innen- nung gesorgt, war auch noch Jahre nach dem Krieg und ihre Organisatio-
GETTY IMAGES

politischen Gefahr und zur Beseitigung von Korrup- im Land verbreitet. Zum „Führer“-Mythos gehört nen wurden verboten
tion und Unmoral. nicht nur, dass Hitler die Beseitigung der Massen- und zerschlagen.
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DER TOTALITÄRE STAAT
Die von Goebbels wie Beschwörungsrituale all-
jährlich zu „Führers Geburtstag“ veröffentlichten
Lobgesänge auf „unseren Hitler“ und die populären,
in hohen Auflagen verkauften Fotobände, in denen
Heinrich Hoffmann scheinbar den „privaten“ Hitler
zeigte – Hitler, wie ihn keiner kennt (1932), Jugend
um Hitler (1934), Hitler in seinen Bergen (1935) und
Hitler abseits vom Alltag (1937) –, zielten alle dar-
auf ab, die „menschliche“ Seite des „Führers“ zu
präsentieren und hervorzuheben, dass er als „Mann
des Volkes“ „heroische“ Eigenschaften entwickelt
habe.
Wie viele Menschen damals dem widerlichen Per-
sonenkult mit Haut und Haaren verfallen waren,
lässt sich natürlich nicht sagen. Es waren auf jeden
Fall nicht wenige. Hitlers Adjutanten mussten Berge
von Briefen, unbeholfenen Gedichten und Lobprei-
sungen, Fotografien und Geschenken bewältigen –
unter letzteren auch ein Sack Kartoffeln, deren Sor-
te der „Führer“ anscheinend besonders mochte.
In den Anfangsjahren des „Dritten Reiches“ nann-
te eine wachsende Zahl von Eltern ihren männlichen
Nachwuchs „Adolf“, obwohl die Standesbeamten
schon 1933 die Anweisung erhalten hatten, eine
solche Namensgebung möglichst zu unterbinden, um
den Namen des „Führers“ zu schützen.
Derartige Auswüchse des „Führer“-Kults be-
schränkten sich zweifellos überwiegend auf eine fa-
natische, nazifizierte Minderheit. Doch selbst Men-
schen, die die Personenkultexzesse nicht mit-
trugen, übernahmen oftmals zumindest Teile des
positiven Bilds, das die Propaganda von Hitler
zeichnete.
Die „Volksgemeinschaft“ definierte sich durch
die Ausgrenzung bestimmter Bevölkerungsgruppen,
weshalb die nationalsozialistische Interpretation die-
ses Begriffs zwangsläufig auf Rassendiskriminierung
hinauslief.
REICHSPOGROMNACHT arbeitslosigkeit und der Bau der Autobahnen zuge- Da die Maßnahmen zur Herstellung von „Ras-
Vom 9. auf den 10. Novem- schrieben wird. Untrennbar mit diesem Mythos ver- sereinheit“ – wie die spätere Verfolgung von Ho-
ber 1938 wütete ein antise- bunden ist auch die Ansicht, der „Führer“ habe zwar mosexuellen, Roma und „Asozialen“ – vorhandene
mitischer Mob in ganz „Fehler“ gemacht (wohl jene Schritte, die seinem Vorurteile ausnutzten und scheinbar die Stärkung
Deutschland: Hunderte Land den ruinösen Krieg brachten, der für Millionen eines homogenen Volksstaats bezweckten, stützten
Menschen starben, Tausen- Tod und Vernichtung bedeutete), habe aber immer- sie den öffentlich vermittelten Eindruck, Hitler ver-
de jüdischer Geschäfte hin in Deutschland „aufgeräumt“, moralische Nor- körpere die „Volksgemeinschaft“.
wurden zerstört, über 1400 men gestärkt, das Chaos beendet und die Krimina- Darüber hinaus verstärkte auch die unablässige
Synagogen und Betstuben lität beseitigt, so dass man abends auf den Straßen Anprangerung der angeblichen mächtigen Volks-
angezündet oder zerstört. wieder sicher unterwegs sein konnte. feinde – Bolschewismus, westliche „Plutokratie“ und
Neben der Erholung der Wirtschaft sowie der vor allem die (in der Propaganda mit beiden ver-
Wiederherstellung von „Ordnung“ und militärischer bundenen) Juden – Hitlers Anziehungskraft als Ver-
Stärke gab es noch einen anderen Umstand, durch teidiger der Nation und Bollwerk gegen alles, was de-
den Hitler an Rückhalt gewann: Er verkörperte jene ren Überleben von außen oder innen bedrohte. Zwar
„positiven“ Werte, die man damals mit nationaler teilte ein Großteil der Bevölkerung keineswegs Hit-
Einheit und „Volksgemeinschaft“ verband. Die Pro- lers antisemitische Paranoia, betrachtete den Anti-
paganda stellte den „Führer“ unablässig als strenges, semitismus allerdings auch nicht als so gravierenden
aber verständnisvolles Oberhaupt dar, das bereit- Makel, dass dadurch die dem „Führer“ mehrheitlich
willig auf ein zufriedenstellendes normales Leben zugeschriebenen positiven Eigenschaften überwogen
verzichtete, um Tag und Nacht zum Wohle des hätten. Da eine latente Abneigung gegen Juden
Volkes zu arbeiten. Bei aller Kritik an unteren Char- schon vor Beginn der nationalsozialistischen Hass-
gen und dem negativen Eindruck, den die Öffent- propaganda weit verbreitet war, konnte dem bei
lichkeit von den im Alltag oft als unzulänglich er- einer großen Minderheit anzutreffenden „dynami-
lebten Parteifunktionären – den „kleinen Hitlern“ – schen“ Hass kein Einhalt geboten werden – erst recht
hatte, war der „Führer“ in den Augen eines Großteils nicht, als diese Minderheit ab Januar 1933 an der
der Bevölkerung jemand, der sich nicht von Parti- Macht war.
kularinteressen und materiellen Bestrebungen leiten Dass es damals – inzwischen gut erforschte – un-
ließ und dessen Selbstlosigkeit einen deutlichen terschiedliche Einstellungen zur Judenverfolgung
Gegensatz zur Habgier und Korruptheit der Partei- gab, wurde durch die verschiedenen Reaktionen auf
bonzen bildete. die Verkündung der Nürnberger Gesetze im Sep-
AKG

110 spiegel special geschichte 1 | 2008


tember 1935 und auf die „Reichskristallnacht“ im tungen und Nöte die betroffene unbeliebte Minder- HASS AUF JUDEN
November 1938 deutlich sichtbar. Immerhin aber heit deshalb zu ertragen hatte. SA-Männer agitieren 1933
scheint es den Nazis gelungen zu sein, den meisten Die scheinbar endlose Kette von Erfolgen, die in Berlin gegen jüdische
Menschen die Existenz einer „Judenfrage“ weißzu- Hitler in den „Friedensjahren“ der NS-Zeit für sich Geschäftsleute. Der „Juden-
machen und in einer Zeit wachsender Kriegsgefahr verbuchen konnte, hatte einen weiteren verstärken- boykott“ konnte an einen
die vorhandenen antisemitischen Gefühle noch zu den Nebeneffekt. Ab 1933 konnten die Unterorgani- in der Bevölkerung weit-
vertiefen. sationen der NSDAP ihre Fangarme in fast alle Ge- verbreiteten Antisemitismus
Als sich die in der „Reichskristallnacht“ offen zu- sellschaftsbereiche ausstrecken. Auf die eine oder appellieren.
tage tretende Gewalt sogar in Nazi-Kreisen als un- andere Weise waren schließlich Millionen von Deut-
populär erwies, distanzierte Hitler sich öffentlich von schen in der NS-Bewegung „organisiert“ und konn-
dem Pogrom, das er selbst in Auftrag gegeben hatte.
Doch trotz weitgehender Ablehnung derartiger Me-
ten sich kaum ganz dem Klammergriff des „Führer“-
Kults entziehen. Scharen von kleinen Funktionären
Materiell
thoden herrschte inzwischen das allgemeine Gefühl,
dass Juden in Deutschland keinen Platz mehr hätten.
und Karriereristen verdankten dem von Hitler gelei-
teten „System“ Aufstieg und Stellung.
profitierten
Indem Hitler die Juden mit der (vor allem von ihm
selbst heraufbeschworenen) wachsenden internatio-
Die besondere Betonung von „Führung“ und
„Leistung“ machte sich den menschlichen Ehrgeiz
viele Leute
nalen Gefahr in Verbindung brachte, bekräftigte er zunutze und lud zu skrupellosem Konkurrenzkampf davon, dass die
sein Image als fanatischer Verteidiger der Interessen
seines Volkes.
ein. Angesichts der unerhörten Möglichkeiten, die
sich nun zu eröffnen schienen, wurde viel Energie Juden aus der
Materiell profitierten ebenfalls viele Leute davon,
dass die Juden aus der deutschen Gesellschaft aus-
darangesetzt, die in Hitler verkörperte nationale Er-
neuerung voranzutreiben. Auf sämtlichen Ebenen
deutschen
geschlossen, enteignet und vertrieben wurden. Zahl-
reiche Deutsche zogen ihren Vorteil aus der „Boy-
des Regimes verfuhren viele Leute im wörtlichen
oder metaphorischen Sinne nach dem Motto, das
Gesellschaft
kottbewegung“, die – mit Hitlers Reichskanzlerschaft
einsetzend – in Wellen die Juden aus dem Ge-
der Staatssekretär im preußischen Landwirtschafts-
ministerium Werner Willikens im Februar 1934 ver-
ausgeschlossen,
schäftsleben verdrängte und den Weg dafür bereite-
te, sie mit Hilfe des „Arisierungs“-Programms von
kündet hatte:
Jeder, der Gelegenheit hat, das zu beobachten,
enteignet
1938 auszurauben. Auch hier hatten viele Menschen weiß, dass der Führer sehr schwer von oben her al- und vertrieben
das Gefühl, Hitler dankbar sein zu müssen, und ver-
schwendeten keinen Gedanken daran, welche Belas-
les das befehlen kann, was er für bald oder für
später zu verwirklichen beabsichtigt. Im Gegen- wurden.
spiegel special geschichte 1 | 2008 111
DER TOTALITÄRE STAAT
Dennoch war die affektive Integration, die un-
zweifelhaft auf Hitlers wachsende Popularität in den
ersten Jahren der Diktatur zurückzuführen ist, von
enormer Bedeutung. Die Lobgesänge auf Hitler hat-
ten ein und dieselbe Funktion, ob sie nun echt oder
(wie zweifellos in vielen Fällen) gekünstelt waren.
Millionen von Deutschen, die sich sonst vielleicht
gegen das Regime und die NS-Doktrin gestellt, Zwei-
fel gehabt oder nur am Rande mitgewirkt hätten, un-
terstützten Hitler nun in aller Öffentlichkeit. Das war
für die Dynamik der NS-Herrschaft ganz entschei-
dend.
Auf der unteren Ebene bedeutete der wachsende
„Führer“-Kult, dass Hitler zu unpopulären Poli-
tikbereichen auf Abstand gehen und immense per-
sönliche Unterstützungsreserven praktisch nach Be-
lieben ausnutzen konnte. So wurde der „Kirchen-
kampf“ mit seinen negativen Auswirkungen unter-
gebenen NS-Führern wie Goebbels und Rosenberg
und nicht Hitler angelastet. Als im Frühjahr 1936 die
positive Stimmung in der Bevölkerung nachließ,
diente das – direkt auf Hitlers „große Leistung“ kon-
zentrierte – Rheinland-Spektakel dazu, die Unter-
stützung für das Regime von neuem zu beflügeln.
Zweck der Reichstags-„Wahl“ vom 29. März 1936
war, nach innen und außen zu demonstrieren, dass
das Volk einig hinter Hitler stand. Dies war nicht
das letzte Mal, dass sich Regimegegner in der Zeit des
„Dritten Reiches“ enttäuscht sahen und isoliert fühl-
ten; und Hitler hatte den Rückhalt, den er für die
weitere Verfolgung seiner Expansionsziele benötigte.
„Der Diktator lässt sich vom Volke verpflichten zu
der Politik, die er gewollt hat!“, hieß es dazu treffend
in einem Sopade-Bericht.
Durch die Volksabstimmungen, die Hitler bei sol-
chen Gelegenheiten anberaumen konnte, wurde sei-
ne Stellung gegenüber den verschiedenen Gruppie-
rungen innerhalb der Machtelite des Regimes enorm
gestärkt. Im engeren Kreis der NS-Führung sorgte
Hitlers immense Popularität dafür, dass er mit seinen
dogmatischen Ansichten und seinem politischen Kurs
selbst dann nicht in Frage gestellt werden konnte, als
Göring und andere NS-Führer 1938/39 wegen der
wachsenden Gefahr eines Kriegs gegen die West-
mächte kalte Füße bekamen.
Die große Beliebtheit machte Hitler außerdem,
und das war noch wichtiger, für jene Gruppierungen
innerhalb der nationalkonservativen Machtelite –
„ANSCHLUSS“ teil, bis jetzt hat jeder an seinem Platz im neuen vor allem in der Wehrmachtsführung und teilweise
ÖSTERREICHS Deutschland dann am besten gearbeitet, wenn er im Auswärtigen Amt – unantastbar, deren Angst vor
Mitte März 1938 marschie- sozusagen dem Führer entgegenarbeitet. einem zukünftigen katastrophalen Krieg 1938 zu
ren deutsche Truppen nach Und mit dem anschließenden Satz, es sei „die ersten Anzeichen einer Opposition gegen den ge-
Österreich ein (hier in Pflicht eines jeden, zu versuchen, im Sinne des Füh- fährlichen außenpolitischen Kurs führte. Als die
Kufstein). Ursprünglich rers ihm entgegenzuarbeiten“, lieferte Willikens ei- Westmächte dem „Führer“ in die Hände spielten
hatte Hitler vor, Österreich nen Schlüssel zum Verständnis der Funktionsweise und ihm einen weiteren „Triumph ohne Blutver-
im Rahmen einer Union mit des „Dritten Reiches“ und zur Bedeutung der zwischen gießen“ ermöglichten, stand Ende September 1938
Deutschland zu verbinden. „Führer“ und Gesellschaft bestehenden Bindung. für die entstehenden Oppositionskreise fest, dass je-
Angesichts des beim Diese Bindung war natürlich nicht bei allen Be- der Versuch, Hitler abzusetzen, zum Scheitern ver-
Einmarsch erlebten Jubels teiligten gleich stark. Neben den Fanatikern gab es urteilt wäre. Und diese Erkenntnis trug während der
entschied er sich jedoch Skeptiker und – auch wenn sie ihre Ansichten nicht siegreichen ersten Kriegsphase zur Lähmung des
spontan, das Nachbarland auf sinnvolle Weise zum Ausdruck bringen konnten konservativen Widerstands bei.
per „Anschluss“ mit – Dissidenten. Außerdem war es nicht möglich, die Indem Hitler die Massen für sich gewann, ver-
BAYERISCHE STAATSBIBLIOTHEK

Deutschland zu vereinen. Begeisterung für Hitler ständig und unverändert mochte er seine Autonomie zu erweitern, die sonst
hochzuhalten. Einen Höhepunkt erreichte der Enthu- in manchen Regimebereichen möglicherweise Be-
siasmus jeweils in triumphalen Momenten wie bei der schränkungen unterlegen hätte. Und das bewirkte
Verkündung der Remilitarisierung des Rheinlands wiederum, dass die ideologischen Vorstellungen, auf
1936 – um anschließend bei den meisten Menschen die Hitler seit Beginn seiner politischen „Karriere“
wieder dem „grauen Alltag“ Platz zu machen. zwanghaft fixiert war – die „Beseitigung“ der Juden

112 spiegel special geschichte 1 | 2008


und das Streben nach „Lebensraum“ –, gegen Ende spätestens Mitte der dreißiger Jahre dazu, dass Hit- HULDIGUNG
der dreißiger Jahre nicht einfach als ferne, utopische ler unverrückbar daran glaubte, Deutschlands Die Mitglieder des Reichs-
Wunschgedanken, sondern als realisierbare politi- Schicksal liege in seiner Hand, und er allein könne tags entbieten Adolf Hitler
sche Ziele in Erscheinung traten. Durch die Bereit- sein Land bei der bevorstehenden großen Auseinan- am 28. April 1939 den
schaft, dem „Führer“ „entgegenzuarbeiten“, war die- dersetzung zum „Endsieg“ führen. „Wesentlich hängt „deutschen Gruß“, nach-
ser Prozess auf allen Ebenen des Regimes gefördert es von mir ab, von meinem Dasein, wegen meiner dem der Diktator in einer
worden. Schon das spiegelte die Dominanz, die Hit- politischen Fähigkeiten“, bedeutete er seinen Ge- Rede den Aufruf zum
ler nach der Machtübernahme so schnell erreicht, nerälen kurz vor dem Zweiten Weltkrieg. In diesem Frieden des US-Präsidenten
gefestigt und erweitert hatte, wobei er in entschei- Zusammenhang sprach er von der „Tatsache, dass Franklin D. Roosevelt
denden Momenten durch die von seiner wachsenden wohl niemand wieder so wie ich das Vertrauen des zurückgewiesen hat.
Popularität erzeugte Zustimmung aus dem Volk ge- ganzen deutschen Volkes“ haben werde. „In der Zu-
stützt worden war. kunft wird es wohl niemals wieder einen Mann ge-
Letzter Punkt ist die Wirkung des erweiterten ben, der mehr Autorität hat als ich. Mein Dasein ist
„Führer“-Kults auf Hitler selbst. Menschen aus sei- also ein großer Wert-Faktor … Niemand weiß, wie
nem engeren Umfeld haben später gesagt, sie hätten lange ich noch lebe. Deshalb Auseinandersetzung
um 1935/36 herum bei Hitler eine Veränderung fest- besser jetzt.“
gestellt. Er sei stärker als früher von seiner eigenen Zu diesem Zeitpunkt, im August 1939, hatten alle
Unfehlbarkeit überzeugt gewesen und habe kaum Teile des Regimes ebenso wie die Massen, die jeden
noch Kritik an sich herangelassen. Seine Ansprachen „Erfolg“ Hitlers bejubelten, ihr Schicksal fest an die
bekamen einen stärker messianischen Unterton. Die Entscheidungen des „Führers“ gebunden. Und so
schon lange bei ihm zu beobachtende Tendenz, sich sollte es bis 1945 auch bleiben. Als im Laufe des Krie-
für etwas Besonderes zu halten, nahm nun derart ges aus scheinbar ruhmreichem Sieg eine unerbittlich „Gut, dass
übertriebene Züge an, dass er sich für von der Vor- wachsende Katastrophe wurde, die zunehmenden Hitler nicht
sehung auserwählt hielt. Niederlagen zwangsläufig Hitlers charismatische
Als er nach dem erfolgreichen Rheinland-Coup Führungsgrundlage unterminierten und schließlich Kräuter heißt,
bei einer seiner „Wahl“-Reden sagte: „Ich gehe mit
traumwandlerischer Sicherheit den Weg, den mich
erkennbar war, dass er Deutschland in den Abgrund
führte, sorgte die verhängnisvolle, in der „guten“
sonst müsste
die Vorsehung gehen heißt“, da war das mehr als Zeit der dreißiger Jahre besiegelte Hitler-Bindung man ihn mit
bloße Rhetorik. Hitler glaubte fest daran. Er hatte dafür, dass es keinen Weg zurück gab. Das deutsche ‚Heil Kräuter‘
zunehmend das Gefühl, unfehlbar zu sein. Seine Volk hatte Hitlers Triumphe unterstützt und war nun
narzisstischen Charakterzüge, die kriecherischen dazu verdammt, die Katastrophe zu durchleiden, in grüßen.“
GETTY IMAGES

Schmeicheleien seiner Entourage und der ihn im- die der „Führer“ es geführt hatte. KARL VALENTIN (1882 bis
mer wieder stimulierende Jubel der Massen führten Übersetzung: Jürgen Peter Krause 1948), bayerischer Humorist

spiegel special geschichte 1 | 2008 113


DER TOTALITÄRE STAAT

In Nürnberg sanktionierte der Reichstag im September 1935 die legale Ausgrenzung und
Diskriminierung der Juden – ein entscheidender Schritt auf dem Weg zum Holocaust.

ENTRECHTUNG PER GESETZ


Von Michael Sontheimer

W
PAAR AM PRANGER egen eines „fortgesetzten Verbrechens le Äpfel, Bananen und dergleichen der Frau ins Ge-
Ein jüdischer Kinobesitzer der Rassenschande“ verurteilte das sicht und an den Kopf geflogen“, berichtete andern-
und seine Freundin müssen Landgericht Bayreuth am 15. März 1939 tags das „Kulmbacher Tageblatt“.
sich vor dem Hotel „Vier den Kulmbacher Viehhändler Karl Strauß war einer von etwa 15 000 Männern, ge-
Jahreszeiten“ in Cuxhaven Strauß zu acht Jahren Zuchthaus. Das Gericht sah es gen die deutsche Strafverfolger in den Jahren 1935
im Juli 1933 – weit vor als erwiesen an, dass der Witwer, ein verdienter Ve- bis 1945 auf der Grundlage des „Gesetzes zum Schut-
Inkrafttreten der Nürn- teran des Ersten Weltkriegs und Deutscher jüdischen ze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre“
berger Gesetze – die öffent- Glaubens, drei Jahre lang eine sexuelle Beziehung wegen „Rassenschande“ Ermittlungsverfahren ein-
liche Zurschaustellung als mit einer nichtjüdischen Mitbewohnerin gepflegt leiteten.
sogenannte Rassenschänder hatte. Das Gesetz gehörte ebenso wie das „Reichsbür-
gefallen lassen. Ein halbes Jahr vor seiner Verurteilung, am Tag gergesetz“ zu den sogenannten Nürnberger Geset-
nach dem Pogrom vom 9. November 1938, war zen, mit denen die Nationalsozialisten 1935 die Ent-
Strauß zusammen mit vier weiteren Juden der Stadt rechtung und Ausgrenzung der Juden vorantrieben.
von Kulmbacher Kriminalbeamten in „Schutzhaft“ Durchgepeitscht wurden sie am 15. September, einem
genommen worden. Zwei Tage darauf trieben SS- Sonntag. Adolf Hitler hatte zwei Experten des
Männer seine Freundin durch die Straßen der frän- Reichsinnenministeriums nach Nürnberg einfliegen
kischen Kleinstadt. lassen, zum „Reichsparteitag der Freiheit“, wie die
Auf einem Schild, das die verstörte Frau tragen NSDAP ihr Propagandaspektakel diesmal nannte. In
musste, stand: „Ich artvergessenes Schwein habe mit Nachtsitzungen erarbeiteten die Beamten die Ge-
dem Juden Karl Strauß seit Jahren bis heute Ras- setzentwürfe; der eilends in Nürnberg einberufene
senschande getrieben.“ An die 500 Kulmbacher folg- Reichstag beschloss die Regelungen anschließend
KEYSTONE

ten johlend dem Umzug. „Vielfach kamen auch fau- einstimmig. „Der Ekel macht einen krank“, schrieb

114 spiegel special geschichte 1 | 2008


der Dresdner Romanist Victor Klemperer zwei Tage Deutschland; deutsche Firmen verloren wichtige Ex-
später in sein Tagebuch. portmärkte.
Das „Blutschutzgesetz“ verbot die Heirat und den Hitlers Wirtschaftsminister Hjalmar Schacht über-
„außerehelichen Verkehr“ zwischen „Juden“ – ei- gab Hitler deshalb Anfang Mai 1935 eine Denkschrift,
nerlei welcher Staatsangehörigkeit – „und Staatsan- in der er auch Vorschläge zum Vorgehen in der
gehörigen deutschen oder artverwandten Blutes“. „Judenfrage“ formulierte: „Man stempele die Ju-
Wer dagegen verstieß, musste mit bis zu 15 Jahren den in jedem gewünschten Maße zu Einwohnern
Zuchthaus rechnen. Zudem durften Juden keine minderen Rechts durch entsprechende Gesetze“,
„weiblichen Staatsangehörigen deutschen oder art- riet Schacht, „aber für Rechte, die man ihnen lassen
verwandten Blutes unter 45 Jahren“ in ihrem will, gewähre man ihnen staatlichen Schutz gegen
Haushalt beschäftigen oder die Hakenkreuzfahne Fanatiker und Ungebildete.“ Bei bürgerlichen und
hissen. auf Ordnung bedachten Nazi-Anhängern stieß das
Das Reichsbürgerge-
setz bestimmte, dass nur
„Staatsangehörige deut-
schen oder artverwand-
ten Blutes“ Reichsbürger
mit „vollen politischen
Rechten“ sein konnten.
Es diente als Grundlage
zur kommenden Ausrau-
bung der Juden bis hin
zur „Endlösung“. In ei-
ner späteren Verordnung
zu dem Gesetz hieß es:
„Nach dem Tode eines
Juden verfällt sein Ver-
mögen dem Reich.“
Die Idee, jüdische
Deutsche auf legalem
Wege auszusondern, war
nicht neu. Der NS-Pro-
pagandist Alfred Rosen-
berg hatte bereits in sei-
nem 1930 erschienen
Buch „Der Mythus des
20. Jahrhunderts“ gefor-
dert, für die „Reinerhal-
tung der Rasse“ das
Strafrecht zu nutzen.
„Geschlechtlicher Ver-
kehr, Notzucht usw. zwi-
schen Deutschen und
Juden ist je nach Schwe-
re des Falles mit Ver-
mögensbeschlagnahme,
Ausweisung, Zuchthaus und Tod zu bestrafen“, ver- willkürliche Vorgehen gegen Juden ebenfalls auf NAZI-ANFÜHRER
langte der braune Ideologe. Missfallen. Hermann Göring, Adolf
Die SS-Wochenzeitung „Das Schwarze Korps“ Die Nürnberger Gesetze legalisierten die vorher Hitler und Alfred Rosenberg
forderte im April 1935 ein Gesetz, um „dem rasse- schon allenthalben praktizierten antisemitischen Ak- (rechts hinter Hitler) in der
schänderischen Verbrechen des Juden an deutschen tionen von Parteiaktivisten. Mit ihnen instrumenta- Uniform der „Sturm-
Frauen und Mädchen ein Ende“ zu bereiten. Beson- lisierten die Nationalsozialisten das Strafrecht für abteilung“ (SA) bei einer
ders der „Stürmer“, das Hetzorgan des fränkischen ihre Rassenideologie. Damit war auch mit der theo- NS-Gedenkfeier in
Gauleiters und fanatischen Antisemiten Julius Strei- retischen Gleichheit vor dem Gesetz Schluss. München. Bereits 1930
cher, startete im Sommer 1935 eine Kampagne gegen Unmittelbar nach Erlass der Gesetze begann ein hatte der antisemitische
„Rassenschande“. makabres Tauziehen zwischen den Bürokraten des Hetzer Rosenberg in einem
Schon vor der förmlichen Gesetzgebung hatten Reichsinnenministeriums einerseits und den Partei- Buch dazu aufgefordert,
sich SA- und SS-Leute an jüdisch-„arischen“ Paaren aktivisten und Rassenfanatikern andererseits um die das Strafrecht für die
vergriffen. „Prangerumzüge“ gehörten in etlichen Vorschriften zur Ausführung der Gesetze. Wer sollte „Reinerhaltung der Rasse“
deutschen Städten schon bald nach Hitlers Macht- als Jude verfolgt werden? Schon den Antisemiten in zu nutzen und allen, die
übernahme zum gewohnten Bild. der Weimarer Republik war es nicht gelungen, sich sich nicht daran hielten, die
Übergriffe des entfesselten SA- und SS-Pöbels und auf eine Definition zu verständigen, wer Jude sei. Todesstrafe anzudrohen.
BAYERISCHE STAATSBIBLIOTHEK

zunehmend auch der Hitlerjugend hatten jedoch für Parteigenossen und Rassenforscher schlugen vor,
das neue Regime unerwünschte Nebenwirkungen. auch Menschen, die einen jüdischen Urgroßelternteil
Auslandskorrespondenten befeuerten mit ihren Be- hatten, als „Achteljuden“ einzubeziehen. Die Minis-
richten über willkürliche Verfolgung und Demüti- terialbeamten hingegen wollten es pragmatischer
gung jüdischer Deutscher in vielen Ländern die For- handhaben; Jude sollte sein, wer mindestens drei jü-
derung nach einem Wirtschaftsboykott gegen Nazi- dische Großeltern hatte.
spiegel special geschichte 1 | 2008 115
DER TOTALITÄRE STAAT
Hitler folgte weitgehend den auf Zwei Beamte des Reichsinnenministeriums – Wil-
problemlose Umsetzung der Geset- helm Stuckart und Hans Globke, der später in der Bun-
ze bedachten Beamten. In der Ers- desrepublik unter Regierungschef Konrad Adenauer
ten Verordnung zum Reichsbürger- Staatssekretär im Kanzleramt wurde – ließen sich eine
gesetz vom 14. November 1935 hieß andere Verschärfung einfallen. In einem Gesetzes-
es deshalb: „Jude ist, wer von min- kommentar plädierten sie dafür, auch „beischlaf-
destens drei der Rasse nach volljü- ähnliche Handlungen, z. B. gegenseitige Onanie“ zu
dischen Großeltern abstammt.“ verfolgen, was das Reichsgericht als oberstes Straf- und
Und: „Als Jude gilt auch der von Zivilgericht des Hitlerstaates prompt sanktionierte.
zwei volljüdischen Großeltern ab- Darüber, ob auch im Ausland vollzogener außer-
stammende staatsangehörige Misch- ehelicher Geschlechtsverkehr verfolgt werden solle,
ling.“ Hinzu kamen die sogenann- bestand zunächst Unsicherheit. Wiederum war es
ten Geltungsjuden, Menschen, die Freisler, der sich als Scharfmacher hervortat. Im April
der jüdischen Religionsgemein- 1936 befand der spätere Präsident des Volksgerichts-
schaft angehörten oder mit einem hofs, „das gesunde Volksempfinden“ fordere „in
Juden verheiratet waren. derartigen Fällen Bestrafung“.
Die Anwendung der Gesetze Die Gerichte sollten auf Anweisung Hitlers nur
durch die Gerichte erschien vielen Männer wegen „Rassenschande“ verfolgen. Frauen al-
Antisemiten zunächst zu lasch. So lerdings wurden meist in „Schutzhaft“ genommen,
beschwerte sich im März 1936 die der Fürsorge übergeben oder anderweitig drangsaliert.
Gestapo beim Justizministerium, Häufig waren es, so der Historiker Götz Aly,
dass die für „Rassenschande“ ver- „missgünstige Nachbarn und Sexualneider“, die Be-
hängten Strafen – „zwischen sechs schuldigte denunziert hatten. Da viele Anzeigen halt-
HETZE AUF DEM LAND Wochen und anderthalb Jahren Gefängnis“ – keine los waren oder es an Beweisen fehlte, kam es nur bei
Eine fränkische Bauernfami- abschreckende Wirkung hätten. Roland Freisler, gut 15 Prozent aller Ermittlungsverfahren zu Ankla-
lie betrachtet das Schild damals Staatssekretär im Reichsjustizministerium, gen. Mit Beginn der Deportationen Richtung Osten
„Der Vater der Juden ist der sorgte bald dafür, dass die Gerichte härtere Urteile sparte man sich dann viele Prozesse ganz.
Teufel“, das auf Initiative sprachen. Außerdem ging die Gestapo dazu über, Den Viehhändler Karl Strauß übergaben die Jus-
eines lokalen Nazi-Führers „Rassenschänder“, nachdem sie ihre Freiheitsstra- tizbehörden im Dezember 1942 der Gestapo. Der
1935 an einem Ortseingang fe verbüßt hatten, umgehend in „Schutzhaft“ zu Kulmbacher wurde nach Auschwitz deportiert und

KEYSTONE
aufgestellt wurde. nehmen. dort ermordet. ✦
FLUGZEUGMONTAGE
Wie hier in der Fertigungshalle von Messer-
schmitt, wo die Jagdflugzeuge Me 109 G
hergestellt wurden, war es vor allem die
Produktion von Rüstungsgütern, die im
„Dritten Reich“ Arbeitsplätze schuf.

Die Arbeitslosigkeit sank, der Konsum stieg. Sogar im Ausland wurden die Nazis dafür
gelobt. Doch von Anfang an waren Rassismus, massive Aufrüstung
und eine rigide Zwangswirtschaft die Grundlage für Hitlers Wirtschaftspolitik.

ÖKONOMIE DES GRAUENS


Von Adam Tooze

D
ie Zahl klang verheißungsvoll. Schon ein Und im Jahr darauf, 1937, gab es ernsthaften Arbeits- ADAM TOOZE,
Jahr nach Adolf Hitlers Machtantritt mel- kräftemangel. Jahrgang 1967, ist
deten die Statistiker, die Arbeitslosigkeit Schon im Mai 1932 hatte Parteitheoretiker Gregor Historiker an der
habe sich von sechs Millionen auf weniger Strasser im Reichstag versprochen, die „große anti- Universität Cambridge
als vier Millionen reduziert. kapitalistische Sehnsucht“ des deutschen Volkes mit (Jesus College) und
Deutsche Familien, so schien es, konnten dank einem riesigen Arbeitsbeschaffungsprogramm zu stil- Autor des Buches
des neuen Regimes wieder normal leben. Männer len. Mit Siedlungsprojekten und der Erschließung „Ökonomie der
und auch viele Frauen fanden Arbeit. Die Regierung landwirtschaftlicher Böden wollte Strasser zudem Zerstörung. Die
sorgte für Ausbildungschancen. Zum ersten Mal hat- das Problem der Verstädterung und der Ernährung Geschichte der
ten alle männlichen Jugendlichen die Aussicht, zu Deutschlands aus heimischem Boden sichern. In sei- Wirtschaft im
Facharbeitern aufzusteigen. Und selbst um das klei- ner ersten Radioansprache am 1. Februar 1933 ver- Nationalsozialismus“.
ne Glück daheim schien sich der „Führer“ zu sorgen: sprach auch Hitler einen „umfassenden Angriff ge-
Frischvermählte erhielten zinslose Darlehen für die gen die Arbeitslosigkeit“.
Wohnungseinrichtung. Als die Nationalsozialisten am 30. Januar 1933 an
HANNS HUBMANN / BPK

Mochten die Daten der Arbeitslosenstatistik auch die Macht kamen, konnten sie noch auf Finanzmit-
nicht ganz der Wahrheit entsprechen, an den ele- tel zurückgreifen, die in der Endphase der Weimarer
mentaren Tatsachen war nicht zu zweifeln: 1936 war Republik von der Regierung Kurt von Schleicher per
in Nazi-Deutschland die Vollbeschäftigung erreicht. Kredit für den Kampf gegen die Arbeitslosigkeit be-
spiegel special geschichte 1 | 2008 117
FAMILIENLEBEN schafft worden waren. Die Gelder wurden nun be- nicht wie keine deutsche Regierung zuvor um den
Zunächst waren die schleunigt ausgegeben, und sie reichten, um auf loka- Lebensstandard der Volksgenossen? Schon im Fe-
Menschen zufrieden. Es gab ler Ebene einiges in Bewegung zu setzen. Aus Ost- bruar 1933, bei der Internationalen Automobilaus-
zinslose Darlehen für Ehe- preußen meldete Gauleiter Erich Koch im August stellung in Berlin, schwärmte Hitler von einem künf-
paare, neue Wohnungen 1933, in seinem Einflussgebiet gebe es keine Arbeits- tigen Volkswagen. Doch der blieb für Durchschnitts-
wurden gebaut. Doch bald losen mehr. Um das zu erreichen, war man aller- verdiener ein unerfüllter Traum.
führte die Zwangswirtschaft dings in der Wahl der Methoden nicht zimperlich. Motorräder etwa oder Radios waren da für ge-
zu Knappheit bei Zur Not sperrte man Betroffene einfach in Arbeits- wöhnliche Deutsche schon eher als bescheidene
den Konsumgütern. lager oder deklarierte die ersten „wilden“ Konzen- Statussymbole zu erwerben. Der sogenannte Volks-
trationslager als förderungswürdige Arbeitsbeschaf- empfänger stand rechtzeitig zur Deutschen Funk-
fungsmaßnahmen. ausstellung im August 1933 in den Läden. In Wohn-
Im Juni, nachdem Hjalmar Schacht Präsident der zimmern, Schulen oder Betrieben sollte den Fanfa-
Reichsbank geworden war, floss auch im ganzen Land ren der NS-Propaganda fortan gelauscht werden.
das Geld. Eine Milliarde Reichsmark gab es für das Die Wirtschaftspolitik des „Dritten Reiches“ er-
sogenannte Reinhardt-Programm, benannt nach Fritz regte auch international Aufsehen. Auf der Weltaus-
Reinhardt, dem nationalsozialistischen Staatssekretär stellung 1937 in Paris wurde Hitlers Regierung als
im Finanzministerium. Mit Musterdiktatur gepriesen. Zwischen dem brutalen
diesen Mitteln sollte finanziert kommunistischen Regime des Josef Stalin und dem
werden, was Gregor Strasser unbarmherzigen englischen Liberalismus hatte Hitler
1932 gefordert hatte: Sied- scheinbar einen dritten Weg gefunden – den deut-
lungsprojekte, Straßen- und schen, nationalen Sozialismus. Der Cambridge-
Wohnungsbau. Ein Großpro- Volkswirt John Maynard Keynes, der nach dem Krieg
gramm zum Bau von Auto- die Marktwirtschaften der westlichen Demokratien
bahnen folgte binnen Wochen, entscheidend beeinflusste, scheute sich nicht, zu er-
und um die Baukonjunktur klären, dass sich seine bahnbrechende Theorie der
über den Winter nicht ab- Nachfragesteuerung in einem „totalen Staat“ wie
sacken zu lassen, wurde ein Deutschland wesentlich einfacher realisieren ließe
zweites Reinhardt-Programm als im liberalen England. Seine Kollegin in Cam-
aufgelegt, diesmal über 800 bridge, Joan Robinson, verstieg sich später sogar zu
Millionen Reichsmark. der Behauptung, dass „Hitler bereits eine Kur für die
AKG (0. L.); SOBOTTA / BPK (O. R.); GEORGE KSANDR / INTERFOTO (U.)

Am 21. März 1934 insze- Arbeitslosigkeit gefunden hatte, bevor Keynes mit
nierte Hitler eine Begehung seiner Erklärung fertig war“.
des Autobahnabschnitts Mün- Und nicht nur in Sachen Arbeitslosigkeit beein-
chen–Salzburg. Der sorgfältig druckte die Politik Hitlers. In seiner Radioansprache
choreografierte Festakt sollte am 1. Februar 1933 hatte der „Führer“ versprochen,
RADIO FÜRS VOLK den Deutschen demonstrie- auch die Bauern zu retten. Und tatsächlich wurde der
Der auch für Normal- ren, wie nachdrücklich ihre Regierung das Land ver- „Reichsnährstand“ schon bald zu einer wichtigen
verdiener erschwingliche änderte. Tausend Arbeiter standen an der Baustelle Stütze der Nationalsozialisten. Während seiner kur-
„Volksempfänger“ war Spalier, darunter viele ehemals Arbeitslose. Hitlers zen Amtszeit als Landwirtschafts- und Wirtschafts-
beliebt. Im internationalen Rede wurde im Radio landesweit übertragen. minister setzte sich Alfred Hugenberg, der Vorsitzen-
Handel waren jedoch Und die Propaganda, so schien es vielen, log de der zunächst mit Hitler regierenden Deutsch-
Geräte in besserer nicht. Hitlers Wirtschaftswunder war ein Positivum, nationalen Volkspartei, energisch für einen umfassen-
Qualität für weniger Geld das die dunklen Seiten des Regimes in den Hinter- den Schutz des Bauernstands ein. Der Agrarimport
zu haben. grund drängte. Bemühten sich die neuen Machthaber wurde zugunsten der deutschen Bauern radikal ge-

118 spiegel special geschichte 1 | 2008


DER TOTALITÄRE STAAT
kappt. Nach Hugenbergs Sturz regelte sein Nachfol- sident Schacht, der Hitler-Vertraute Hermann Göring
ger Walter Darré, ein strammer Nationalsozialist, und Reichswehrminister Werner von Blomberg auf Schon die
per Gesetz die bäuerliche Erbfolge und machte im den Finanzrahmen für die Rüstung: 35 Milliarden
Herbst 1933 der Marktwirtschaft auf dem Lande ein Reichsmark, verteilt über acht Jahre. Dabei sollten Regierung
Ende. Preise und Lieferquoten wurden nun vom
Staat kontrolliert.
vier Jahre für den Aufbau der Verteidigungskapazität
genutzt werden und weitere vier Jahre für die Schaf- Schleicher
Für die Menschen war oft schwer zu durchschau-
en, was die Nazis tatsächlich bewirkt hatten und was
fung einer Offensivarmee. In ihrer Größenordnung,
ihrer Langfristigkeit und in ihrer strategischen Be-
hatte gegen
nur braune Propaganda war. Hitler war sich der ver-
führerischen Wirkung seiner Wirtschaftspolitik sehr
deutung stellte die Aufrüstung alles in den Schatten,
was in Sachen Arbeitslosigkeit jemals diskutiert wor-
Ende der
bewusst. Um die technischen Details kümmerte er
sich nicht, aber er hatte einen Kopf für Zahlen. Nur
den war.
Ideal für die Regierung wäre natürlich gewesen,
Weimarer
zu gern präsentierte er sich als Herr über eine
schier endlose Litanei an statistischen Rekorden.
die zivile Arbeitsbeschaffung und die Aufrüstung
gleichzeitig voranzutreiben, dafür aber reichten die
Republik
In allen Grundsatzfragen der Wirtschaftspolitik Finanzmittel nicht. So verordnete Schacht für die Aufrüstungs-
hatte der Diktator das letzte Wort. Wer aber sein
Buch „Mein Kampf“ gelesen hatte, dem musste von
laufenden zivilen Staatsausgaben äußerste Disziplin.
Geld, das den Gemeinden zustand, wurde radikal programme als
vornherein klar sein, dass Produktion, Arbeit und
Export für Hitler eigentlich keinen Ausweg aus der
zusammengestrichen, und am 6. Dezember 1933,
zehn Monate nachdem Hitler den Kampf gegen die Arbeits-
Krise darstellten. Er hielt dies vielmehr für eine Irr-
lehre des „jüdischen Liberalismus“, die Deutschland
Arbeitslosigkeit zum Kernstück seiner Regierungs-
politik erklärt hatte, fiel die Entscheidung, in die Ar-
beschaffungs-
an den Rand des Abgrunds geführt habe. Die Ret-
tung des deutschen Volkes konnte für den obersten
beitsbeschaffung nichts mehr zu investieren.
Nur in Ausnahmefällen, etwa in Großstädten wie
maßnahmen
Nationalsozialisten einzig und allein in kämpferi-
scher Selbstbehauptung bestehen, in der Auseinan-
Berlin und Hamburg, wo die Not besonders groß
war und die Nazis politischen Widerstand befürch-
getarnt.
dersetzung um Lebensraum. teten, wurden noch Mittel bewilligt.
Kampf, nicht Arbeit war der Schlüsselbegriff der Das alles beherrschende Thema war zu diesem
Nazi-Ideologie, und das hatte praktische Konsequen- Zeitpunkt die Frage, wie der wirtschaftliche Auf-
zen für die Politik des Hitler-Regimes. Priorität hatte schwung und die dramatische Umlenkung der Wirt-
nicht der zivile Wirtschaftsaufschwung, sondern die schaft für Staatszwecke mit den Zwängen der Zah- REICHSARBEITSDIENST
Aufrüstung, was bedeutete, dass sich hinter der glän- lungsbilanz vereinbart werden konnten. Im Som- Seit 1935 wurden Männer
zenden Fassade des NS-Wirtschaftswunders ein Kri- mer 1932 waren die Reparationsforderungen Frank- zwischen 18 und 25 für
senpotential verbarg, das die Nazis ständig zu immer reichs und Englands fallengelassen worden, aber Hit- ein halbes Jahr zum para-
schärferen Anpassungen zwang – Anpassungen, die ler erbte von der Weimarer Republik riesige Aus- militärischen Arbeitsdienst
für den zivilen Sektor Konsequenzen hatten. landsschulden – langfristige, zu zahlen hauptsäch- eingezogen. Sie halfen beim
Öffentlich sprach man 1933 natürlich nicht von lich an die USA, kurzfristige bei europäischen Han- Autobahnbau oder kultivier-
den weitgesteckten aggressiven Absichten der Regie- delspartnern. ten Ackerland. Ihr Lohn
rung. Aber in Geheimkonferenzen mit der Genera- Die Nationalsozialisten hätten natürlich versu- war kaum höher als das
lität nahm Hitler kein Blatt vor den Mund. Schon am chen können, die Handelsbilanz durch höhere Au- Arbeitslosengeld.
3. Februar erklärte er
hinter verschlossenen Tü-
ren, dass man sich vom
Außenhandel keine Zu-
kunft versprechen solle.
Nur die kämpferische Er-
oberung von Lebens-
raum biete eine Chance.
Das aber bedeutete Auf-
rüstung.
Schon die Regierung
Schleicher hatte Auf-
rüstungsprogramme als
Arbeitsbeschaffungsmaß-
nahmen getarnt. Doch
um Hitlers Militarisie-
rungsvorstellungen um-
zusetzen, musste viel
Geld für die Rüstung be-
reitgestellt werden.
Im Juni 1933 war man
so weit. Eine Woche
nachdem eine Milliar-
de Reichsmark für das
Arbeitsbeschaffungspro-
gramm des Staatssekre-
tärs Reinhardt angekün-
digt worden war, einig-
SPIEGEL TV

ten sich Reichsbankprä-


spiegel special geschichte 1 | 2008 119
DER TOTALITÄRE STAAT
ßenhandelsquoten zu verbessern. 1931 war es Reichskanz-
ler Heinrich Brüning gelungen, durch eine drakonische Keine NS-Propaganda hat sich so hartnäckig
Kürzung der Einfuhren einen Exportüberschuss von über
zwei Milliarden Reichsmark zu erwirtschaften. Seither aber gehalten wie die Behauptung, Hitler habe als
hatten sich die Handelsbedingungen radikal verändert. Die Erster Autobahnen gebaut und so die Massen-
überwiegende Zahl der Währungen war gegenüber der
Reichsmark drastisch abgewertet worden – zuerst das Pfund
arbeitslosigkeit beseitigt. In Wahrheit waren
im September 1931, dann stürzte im Frühjahr 1933 der US- nur einige zehntausend Arbeiter im Einsatz –
Dollar jäh ab. und eine Autobahn gab es auch schon vor 1933.
Die Folgen für den deutschen Export waren dramatisch.
Und dazu kam die Importfrage: Wenn die deutsche Regie-
rung mit der Absicht Ernst machen wollte, die Binnenwirt-
schaft anzukurbeln, musste das zwangsläufig zu einer Er- DIE AUTOBAHN-
höhung der Rohstoff- und Nahrungsmittelimporte führen.
Berlin steckte in einer Klemme.
Statt klein beizugeben und sich dem finanziellen Schick-
LEGENDE
sal zu fügen, nutzte Hitler die Verwerfungen der Weltwirt-
schaftsordnung für einen Ausbruchsversuch. Während die

D
Aufrüstung streng geheim gehalten wurde, ging das NS-
Regime in der internationalen Finanzpolitik in die Offensive. ie Feier am 23. Septem-
Im Juni 1933 kündigte Deutschland einseitig ein Schulden- ber 1933 zählt zu den
moratorium an. Ausländischen Gläubigern, vor allem in den wirkungsvollsten Insze-
USA, gestand man zwar weiter Zahlungen zu, aber nur in nierungen, die sich das
Reichsmark, die aufgrund der im Sommer 1931 in Kraft ge- Propagandaministerium der National-
tretenen Devisenbeschränkungen nicht ohne weiteres gegen sozialisten ausgedacht hat. Am Morgen
Dollar eingetauscht werden konnten. werden 720 „Arbeiter der Faust“ (Nazi-
Zahlungen in ausländischer Währung wollten die Natio- Jargon) vom Frankfurter Arbeitsamt
nalsozialisten erst wieder aufnehmen, wenn der deutsche zum Autobahnbau abgeordnet. In Ar-
Außenhandel einen deutlichen Überschuss erwirtschaftet beitsuniformen marschieren die Män-
hatte. Ob die ausländischen Gläubiger Geld bekamen, hing ner durch die Straßen, vorbei an flat-
ternden Hakenkreuzfahnen zur Frank-
furter Börse, an deren Portikus ein
Banner mit der Parole „Arbeit und Ingenieur Todt
Friede“ prangt.
Fritz Todt, Generalinspektor für das deutsche Straßenbau-
wesen, begrüßt die Ankömmlinge mit den Worten: „Kameraden,
soeben kommt ihr vom Arbeitsamt. Es ist der Wille unseres Füh-
rers, dass ihr diese Stätte nicht mehr betretet. Wir gehen nicht
mehr stempeln, sondern wir bauen Straßen.“
Vor Todt stehen – in Ständer geklemmt – Hunderte Schaufeln,
die nun ausgegeben werden; anschließend setzt sich der Gene-
ralinspektor an die Spitze der Kolonne und führt diese zur Bau-
stelle im Frankfurter Stadtwald, wo bald auch Adolf Hitler ein-
trifft. Da auf Weisung des Propagandaministeriums ab 10.45 Uhr
im ganzen Land die Arbeit ruht, damit niemand die Radio-
übertragung verpasst, verfolgt vermutlich ein beträchtlicher Teil
Luftfahrtminister Hermann Göring mit Landwirtschaftsminister Walter der Deutschen, wie der Diktator vom „Zeitalter der Autobah-
AKG (L.); WALTER FRENTZ / ULLSTEIN BILD (M. L.); SÜDD. VERLAG (M. R.); SCHERL / SÜDD. VERLAG (R.)

Darré (M.) 1937 auf der Grünen Woche in Berlin nen“ schwadroniert.
Anschließend greift Hitler selbst zum Spaten und startet mit
somit von ihnen selbst ab – nämlich davon, ob sie deutsche einem Stich den Bau der Reichsautobahn Frankfurt–Mann-
Waren kauften. Genau das war aber angesichts der hoff- heim–Heidelberg. Das Foto vom zupackenden und sich volksnah
nungslosen Überbewertung der deutschen Reichsmark kaum gebenden „Führer“ wird in den folgenden Jahren millionenfach
zu erwarten, und an eine Abwertung war nicht zu denken, gedruckt.
seit Hitler die Stabilität der Währung zu einem Glaubenssatz Den Deutschen hat sich diese Szene nachhaltig eingeprägt.
seiner Regierung erklärt hatte. Keine Propagandalüge der Nationalsozialisten erwies sich als
Für die Schwierigkeiten, die aus alldem für den Export derart langlebig wie jene, Hitler habe als Erster – und ohne Ver-
erwuchsen, fanden die braunen Propagandisten eine Erklä- brechen – Autobahnen bauen lassen und auf diese Weise die
rung ganz in ihrem Sinne. Verschiedene jüdische Organisa- Massenarbeitslosigkeit beseitigt.
tionen hatten als Reaktion auf die ersten antisemitischen Nichts davon trifft zu: Der Autobahnbau brachte nur wenige
Ausschreitungen in Deutschland zu einem Boykott deutscher zehntausend Menschen in Lohn und Brot, dafür aber jene ins KZ,
Waren aufgerufen. Propagandaminister Joseph Goebbels und die unter politischem Verdacht standen und sich der Maloche zu
andere nutzten dies freudig als Ausrede – das „Weltjuden- hartnäckig widersetzten. Und erfunden hat Hitler die Autobah-
tum“ war schuld daran, dass die deutsche Wirtschaft krän- nen schon gar nicht – die erste war noch in der Weimarer Repu-
kelte. blik eröffnet worden, im Sommer 1932 von Konrad Adenauer,
Nüchternen Geistern in Wirtschaftsministerium und dem späteren ersten Kanzler der Bundesrepublik, der damals
Reichsbank schien das Problem des deutschen Exports doch Oberbürgermeister in Köln war. Um sich als erster Autobahn-
eher eine Frage des Preises zu sein. Um die Konkurrenz-
fähigkeit der deutschen Exporteure zu steigern, dachte man

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WIE ES WIRKLICH WAR

PERFEKTE INSZENIERUNG
Eine Fahrzeugkolonne mit
Hitlers Wagen an der Spitze
fährt im Juni 1937 über den
neu eingeweihten Autobahn-
abschnitt Dresden–Meerane

bauer feiern zu lassen, ließ


Hitler diese sogenannte
Adenauer-Autobahn zwi-
schen Köln und Bonn zur
Landstraße herabstufen.
Adenauer hatte mit sei-
nem Projekt allerdings
auch noch den Zeitgeist
gegen sich. Kritiker wie
der Soziologe Werner
Sombart gaben vor 1933
den Ton an; Autobahnen,
bemängelte der Wissen-
schaftler, dienten nur der
„Steigerung der Bequem-
lichkeit oder der Befriedi-
gung eines Luxusbedürf-
nisses“. Großartige Pläne weitblickender Ingenieure – insbe- Immerhin warb Todt für das Projekt auch mit dem Argu-
sondere aus dem „Verein zum Bau einer Straße für den Kraft- ment, damit 600 000 Arbeiter von der Straße zu holen. Anfang
wagen-Schnellverkehr von Hamburg über Frankfurt a. M. nach 1933 war das ein gewichtiges Argument; über sechs Millionen
Basel“ – scheiterten, weil die Reichsregierung solche „Luxus- Menschen suchten einen Job, viele von ihnen mussten sogar
straßen“ (Reichsverkehrsminister Theodor von Guérard) ab- hungern. Mit dem Hinweis auf die Erwerbslosen verkaufte Hit-
lehnte. ler das Projekt denn auch der Öffentlichkeit, später garniert mit
Auch die Nazis hielten während ihrer Oppositionszeit wenig der lockenden Aussicht, bald könnten alle Deutschen mit einem
von mehrspurigen und kreuzungsfreien „Nur-Autostraßen“, „Volkswagen“ über den frischen Beton brausen.
wie es damals hieß. Und so überraschte es viele, als der gerade Kein Wunder, dass viele gern glaubten, das Vorzeigeprojekt
zum Reichskanzler ernannte Hitler am 11. Februar 1933 bei der des Regimes – „Hitler-Programm“ genannt – habe etwas damit
Eröffnung der Internationalen Automobilausstellung in Berlin zu tun, dass schon 1934 die Arbeitslosigkeit drastisch zurückging
den Bau eines gigantischen Autobahnnetzes ankündigte: „Wenn und bald ganz verschwand. Jahrelang trommelte die Nazi-Pro-
man früher die Lebenshöhe von Völkern oft nach der Kilo- paganda in diesem Sinne bei jeder Einweihung eines größeren
meterzahl der Eisenbahnschienen zu messen versuchte, dann Bauabschnitts.
wird man in Zukunft die Kilometerzahl der für den Kraftverkehr Doch für die Autobahnen malochten Ende 1933 gerade ein-
geeigneten Straßen anzulegen haben.“ mal knapp 4000 Arbeiter; auch später wurden es nie mehr als
Der Chef-Nazi hatte sich von seinem Adlatus Todt beein- ungefähr 125 000.
drucken lassen, der bald das Bauprogramm leitete und dafür auf Und besonders gut erging es den von den Arbeitsämtern zu-
die vorliegenden Pläne aus der Weimarer Republik zurückgriff. gewiesenen „Arbeitskameraden“ nicht. Sie mussten oft in schä-
Dem Ingenieur Todt, ei- bigen Baracken und sogar in Ställen hausen; zehn Mann teilten
nem üblen Antisemiten sich manchmal Räume von 13 Quadratmetern. Die Löhne blie-
und frühen Parteigänger ben armselig, viele Arbeiter erkrankten, weil sie den Anstren-
Hitlers, ging es dabei je- gungen nicht gewachsen waren. Das sei eine „Vorstufe zur Frem-
doch nicht um die Be- denlegion“, schimpften einige. Wer sich weigerte, riskierte eine
kämpfung der Massen- Einweisung ins KZ, wie die Experten Erhard Schütz und Eck-
arbeitslosigkeit, sondern hard Gruber ermittelt haben („Mythos Reichsautobahn“, Links-
um das „nationalsozialis- Verlag).
tische Aufbauprogramm“ Von den 6000 Kilometern, die Todt geplant hatte, wurden am
– sprich um die Aufrüs- Ende knapp 4000 Kilometer gebaut (zum Vergleich: In der Bun-
tung. In den Autobahnen desrepublik gibt es heute gut 12 000 Kilometer). 1941 stellte Hit-
sah Todt „Lebensadern“ ler das Programm ein, weil er alle Männer an der Front brauch-
eines Verteidigungssys- te. Für die meisten Deutschen machte das freilich keinen Un-
tems. Er träumte davon, terschied, denn allen Ankündigungen vom Wagen fürs Volk
300 000 Soldaten in nur zum Trotz blieben Autos im „Dritten Reich“ ein Luxusgut für
zwei Nächten von der die oberen Zehntausend. Fotos aus der Zeit zeigen meist leere
Ost- an die Westgrenze zu Autobahnen.
verlegen. Kurioserweise Ein bisschen profitierten die Volksgenossen am Ende dann
ERSTER SPATENSTICH hielten die Militärs davon aber doch noch von Hitlers Betonprojekt. Weil so wenige die
Hitler am 23. September 1933 beim wenig; sie bevorzugten „Straßen des Führers“ nutzten, gab dieser sie im August 1943
Baubeginn der Autobahn in Frankfurt weiterhin die Eisenbahn. frei: für Radfahrer. Klaus Wiegrefe

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DER TOTALITÄRE STAAT
NS-PROPAGANDAPLAKAT sich verschiedene schikanö- den Hugenberg-Nachfolger Kurt
Eine Milliarde Reichsmark se Exportförderungsverfahren Schmitt als Wirtschaftsminister
wendete das Regime für aus, allesamt zu Lasten der aus und gab dann der Reichs-
Siedlungsprojekte auf und ausländischen Kreditoren. bank die verwaltungstechni-
um Straßen und Wohnun- Aber auch das half nichts. schen Vollmachen, den Import
gen zu bauen. Während der Import durch genauestens zu regulieren, ein
den Wirtschaftsaufschwung in Schritt, den Hitler im August
die Höhe getrieben wurde, fiel 1934 persönlich gebilligt hatte.
die Exportstatistik von Monat Damit war ein weiterer Grund-
zu Monat schlechter aus. Im baustein für die NS-Lenkungs-
Sommer 1934 war das „Dritte wirtschaft gelegt.
Reich“ in einer handfesten Der Bevölkerung blieben
Wirtschaftskrise. Zur gleichen die Engpässe nicht verborgen.
Zeit, als Wehrmacht und SS Gestapo-Berichte zeigten, wie
blutig gegen die aufrührerische sehr die Außenhandelskrise
SA und deren Anführer Ernst das Vertrauen der Bevölkerung
Röhm vorgingen, drohte Hit- in die Wirtschaftsführung er-
lers Wirtschaftswunder zu zer- schütterte.
platzen. Die Devisenreserven Da importierte Rohstoffe
waren auf ein absolutes Mini- fehlten, gab es vieles nicht mehr
mum gefallen. Vom 23. Juni an zu kaufen, ganze Wirtschafts-
verteilte die Reichsbank Devi- zweige mussten ihre Produktion
sen nicht mehr im Monats- drosseln und Arbeitnehmer ent-
rhythmus, sondern täglich an lassen. Die Textilbranche, die
die verzweifelten Importeure. damals mehr Menschen be-
Die gesamten Reserven reichten nur für wenige Tage schäftigte als Chemieindustrie oder Kohlebergbau,
– in einer Volkswirtschaft, die von importierten Roh- ging zu Kurzarbeit über. Auch die einst umworbenen
stoffen und Lebensmitteln existentiell abhängig war, Bauern hatten sich an eine härtere Gangart zu ge-
eine Katastrophe. wöhnen. Bei sinkenden Importen aus Übersee muss-
Nachdem ausländische Gläubiger bereits vor den ten sie den Milch- und Fleischertrag allein mit inlän-
Kopf gestoßen worden waren, Deutschland sich mit dischen Futtermitteln auf Rekordhöhe bringen.
den USA in einem unausgesprochenen Wirtschafts- Zudem sanken die Ernteerträge zwischen 1934
krieg befand und die Beziehungen zu Großbritannien und 1937 aufgrund schlechter Witterung. Die Ausga-
vor dem Zusammenbruch standen, mussten die Na- be von Brotmarken verbot sich zwar aus politischen
zis sich entscheiden: Entweder sie kehrten zu einer Gründen, aber man ging zunehmend zu einer Ratio-
liberalen Wirtschaftspolitik zurück und befreiten die nierung über, zunächst für Butter und Fleisch.
HÜTER DES GELDES Ökonomie von den riesigen neuen Staatsausgaben, Von einer echten Nahrungsmittelknappheit wa-
In einem Tresor der Berliner was eine Einschränkung der Rüstungsprogramme ren die Deutschen allerdings weit entfernt. Es gab
Reichsbank wurden die bedeutet hätte, oder sie führten eine rigide Zwangs- genug zu essen im „Dritten Reich“. Dennoch sah
Goldbarren verwahrt (Repro wirtschaft ein. sich Goebbels aufgrund der anschwellenden Unzu-
eines Drucks von 1941). Zeitgleich mit dem staatlich sanktionierten Ge- friedenheit zu einer Propagandaaktion gegen „Mies-
Hjalmar Schacht war unter metzel gegen die SA-Führung fiel in der Wirtschafts- macher und Kritikaster“ veranlasst. Tenor: Alle
den Nazis von 1933 bis politik die Entscheidung für die Zwangswirtschaft. Mit müssten Opfer bringen, vor allem die Juden, die zu
1939 Reichsbankpräsident. Hilfe der Militärs bootete Reichsbankpräsident Schacht lernen hätten, wie man sich als „Gast“ verhalte.

LEONE / ULLSTEIN BILD (O.); AKG (U. L.); BPK (U. R.)

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Dies war die zwanghafte Logik der Planwirtschaft: unübersehbar, dass sich ein Großteil der deutschen PRODUKTIONSENGPÄSSE
Weil die Lebensmittelpreise aus politischen Grün- Wirtschaft bis zum Winter 1935/36 eine Rückkehr Weil Devisen fehlten, um
den eingefroren worden waren, stieg die Nachfrage zum Weltmarkt offenhalten wollte. Erst mit dem Ein- Rohstoffe einzukaufen,
mit zunehmendem Familieneinkommen rasant an. dringen Hermann Görings in die Sphäre der Wirt- mussten ganze Wirtschafts-
Weil die Produzentenpreise nicht stiegen, fehlte den schaftspolitik, erst mit der immer rasanter betriebe- zweige ihre Produktion
Bauern der Anreiz, mehr zu produzieren. Weil De- nen Aufrüstung und dem Vierjahresplan im Herbst drosseln. Das Bild zeigt
visen knapp waren, konnte die Nachfrage nach Nah- 1936 war die Entscheidung endgültig, dass Deutsch- einen Betrieb, in dem
rungsmitteln nicht auf dem Importweg befriedigt land gegen den Rest der Welt wirtschaften würde. Reifen vulkanisiert wurden.
werden. Die Devisenknappheit wiederum ergab sich Schacht hatte 1934 die Devisenkrise genutzt, um
aus der Überbewertung der Reichsmark, die den Ex- die wirtschaftspolitische Macht an sich zu reißen.
port hemmte. Rationierung und Produktionsengpäs- Nun fand er sich an der Jahreswende 1935/36 mit den
se waren die logische Folge, bei den Bauern ebenso ausufernden Importforderungen der Wehrmacht, Gö-
wie im Krämerladen, im Radiogeschäft oder in der rings und der Landwirtschaft konfrontiert. In der
Automobilproduktion. Hoffnung, dass seine Autorität bestätigt würde, woll-
Goebbels’ Volksempfänger war zwar ein Renner te Schacht bei Hitler eine Konsolidierung der Finan-
und brachte in viele deutsche Haushalte zum ersten
Mal ein Radio. Aber im internationalen Handel
zen erreichen.
In Paris sondierte er die Möglichkeit, die Reichs- In Paris
waren erheblich bessere amerikanische Geräte für
weniger Geld zu bekommen. Der primitive deutsche
mark und den Franc koordiniert abzuwerten. Mit
dieser Währungsangleichung und einer Beschrän-
sondierte
Empfänger wiederum ließ sich im Ausland kaum ver-
kaufen.
kung der Aufrüstung sollte das weltwirtschaftliche
Gleichgewicht wiederhergestellt werden.
Schacht die
Wie eine Wirtschaftserholung ohne die National-
sozialisten ausgesehen hätte, lässt sich natürlich nicht
Doch für Hitler kam eine Kooperation nicht in
Frage. Er entschied sich gegen Schacht, protegierte
Möglichkeit,
präzise beschreiben. Aber es ist kaum zu bestreiten, stattdessen riesige neue Aufrüstungspläne des Hee- Reichsmark
dass eine weniger aggressive Politik für den Lebens-
standard der meisten Deutschen wesentlich vorteil-
res und ernannte Göring zum Herrn über den Vier-
jahresplan, mit dem Deutschland bis 1940 „kriegs- und Franc
hafter gewesen wäre, eine Politik, bei der die Aufrüs-
tung nicht den größten Teil der Staatsmittel ver-
fähig“ sein sollte. Um die akute Devisenknappheit zu
meistern, schränkte man die wirtschaftliche Freiheit koordiniert
WOLFF & TRITSCHLER / ULLSTEIN BILD

schlungen und die Deutschland nicht in einen Wirt-


schaftskrieg mit den Vereinigten Staaten und Groß-
weiter ein.
Vier Jahre nach der „Machtergreifung“ hatte Hit-
abzuwerten.
britannien verwickelt hätte. Hitlers „Wirtschafts-
wunder“ war also alles andere als eine unzweideutige
ler zwar die Vollbeschäftigung erreicht. Eine „Wohl-
fühl-Diktatur“ war das NS-System jedoch nur bei
Aber Hitler
Erfolgsgeschichte.
Und obwohl diese Alternativen im „Dritten Reich“
oberflächlicher Betrachtung. Die wirtschaftlichen
Grundlagen waren schon seit 1933 Militarismus, Ras-
hielt nichts von
natürlich nicht offen diskutiert werden konnten, ist sismus und Zwang. ✦ Kooperation.
spiegel special geschichte 1 | 2008 123
DER TOTALITÄRE STAAT

Manche Maßnahmen, die der amerikanische Präsident Franklin D. Roosevelt während der
Großen Depression ergriff, ähneln Regelungen, die es auch in Nazi-Deutschland
oder im faschistischen Italien gab. Doch in den USA war die Demokratie nie in Gefahr.

ARBEIT FÜR DIE ARMEN


Von Axel Frohn

I
n großen und klei- Er strahlte Tatkraft, Optimismus und Wärme aus,
nen Städten über- und er zeigte Mitgefühl für die „Vergessenen“ der
all im Land stan- Gesellschaft. Wichtiger noch war, dass er seinen Mit-
den abgehärmte bürgern einen „New Deal“ versprach, eine neue, ge-
Männer Schlange. Nie- rechtere Verteilung der Chancen.
dergeschlagen warteten 22,8 Millionen oder 57,4 Prozent der Wähler
sie auf Almosen aus stimmten für ihn, während auf die beiden Kandida-
den Armenküchen. Die ten der Sozialisten und Kommunisten, die eine
Löcher in ihren Schu- grundlegende, wenn nicht revolutionäre Verände-
hen waren mit Zei- rung des kapitalistischen US-Systems anstrebten, nur
tungspapier zugestopft. knapp eine Million Stimmen entfielen.
Es war 1931/32, der In seiner Inaugurationsrede am 4. März 1933 kün-
dritte Winter der Gro- digte Roosevelt dunkel an, dass er für seinen „Feld-
ßen Depression in den zug zur Bewältigung der Krise“ dieselben Not-
USA, wie ihn der ame- standsbefugnisse beanspruchen werde, wie sie dem
rikanische Historiker Präsidenten im Krieg oder „bei der Invasion durch
PANIK IN NEW YORK David M. Kennedy schildert. Die Löhne sanken in einen äußeren Feind“ zustünden. Auf diese Andro-
Im Oktober 1929 sackten der Krise um 55 Prozent, 15 Millionen Amerikaner hung eines diktatorischen Regimes auf Zeit kam er
die Kurswerte innerhalb waren ohne Jobs – ein Viertel der arbeitsfähigen Be- indes nie zurück, denn seine Gesetzesvorlagen
einer Woche um 40 Prozent völkerung. Allein in Chicago lebten damals 700 000 stießen im Kongress ohnehin auf keinen nennens-
ab. Aufgeregte Anleger mittellose Menschen. werten Widerstand.
versammelten sich vor der Präsident Herbert Hoover, ein Republikaner aus Gleich nach seinem Amtsantritt, als Not und
Börse in der Wall Street. Iowa, der sein Amt 1929 angetreten hatte, setzte vor Elend der Großen Depression ihren Höhepunkt er-
allem auf die Selbstheilungskräfte des Marktes, reicht hatten, begann der Präsident die Finanz-, Wirt-
Steuererhöhungen und einen ausgeglichenen Staats- schafts- und Sozialpolitik zu reformieren. Anders als
haushalt. Als 1930 Rufe nach einer staatlichen Ar- im bisher unangefochtenen Laisser-faire-Kapitalis-
beitslosenversicherung laut wurden, lehnte Hoover mus der USA, bei dem der Staat dem freien Unter-
ab, weil er keine „wohlfahrtsabhängige Klasse“ schaf- nehmertum fast völlig freie Hand ließ, übernahm
fen wollte. Die Barackenlager, die Obdachlose an nun die Bundesregierung Verantwortung für das
den Stadträndern errichteten, trugen im Volksmund wirtschaftliche Wohlergehen der Bürger.
bald schon seinen Namen: „Hoovervilles“. Zunächst galt es, das Vertrauen in die Banken
Dennoch blieben die Amerikaner, wie Beobach- wiederherzustellen. Um Kreditvergaben zu Speku-
ter erstaunt feststellten, duldsam und passiv. Mas- lationszwecken zu unterbinden, wurden Investitions-
senproteste waren selten und meist gewaltlos. Ein und Geschäftsbanken voneinander getrennt. Eine
Landarbeiter aus South Dakota erklärte diese Hal- neue Börsenaufsichtsbehörde brachte Licht in den
tung später: „Wir sprachen nicht von der Revolution; völlig undurchsichtigen Wertpapierhandel, und eine
wir sprachen von Jobs.“ Versicherung der Einlagen beruhigte die Sparer. Hat-
Zum heftigsten Protest kam es im Juni 1932 in ten schon vor dem Börsenkrach jedes Jahr Hunder-
Washington. Dort versammelten sich an die 15 000 te von Banken Konkurs anmelden müssen, so sank
Demonstranten, gegen die Hoover reguläre Truppen die Zahl jetzt auf jährlich weniger als zehn. „In acht
einsetzte. Mit aufgepflanzten Bajonetten wurden die Tagen“, meinte ein Berater Roosevelts, „wurde der
Demonstranten vertrieben und ihr Lager am Rand Kapitalismus gerettet.“
der Hauptstadt niedergebrannt. In der Öffentlich- In der Währungspolitik gab die Regierung den
keit verstärkte dieser Militäreinsatz den Eindruck, Goldstandard auf, wertete den Dollar ab und erhöh-
dass es dem Präsidenten an jeglichem Mitgefühl für te damit die Importpreise. Durch diese Schutzmaß-
ULLSTEIN BILD (O.); TOPHAM PICTUREPOINT (U.)

die Opfer der Krise mangelte. nahmen für den Binnenmarkt schotteten sich die USA
FRANKLIN D. ROOSEVELT Die Quittung bekam Hoover bei den Wahlen im vom Welthandel ab und verstärkten bereits existie-
Im November 1932 wurde November 1932. Der Demokrat Franklin D. Roose- rende Autarkiebestrebungen in anderen Ländern, vor
der Demokrat zum neuen velt wurde neuer Präsident der USA. Roosevelt, ein allem in Hitlers Deutschland und Mussolinis Italien.
Präsidenten der Vereinigten aus reicher, alteingesessener Familie stammender Nach Ansicht der New-Deal-Experten lag das
Staaten gewählt. Er hatte und durch Kinderlähmung gehunfähiger Mann Kernproblem der Landwirtschaft in der Überpro-
sich schon als Gouverneur von damals 50 Jahren, hatte sich bereits als Gouver- duktion. Um die Agrarüberschüsse abzubauen, er-
des Staates New York durch neur des Staates New York mit Sozialreformen her- sannen sie Produktionskontrollen und Prämien für
Sozialreformen hervorgetan. vorgetan. Produktionsbeschränkungen. Da diese Maßnahmen

124 spiegel special geschichte 1 | 2008


nicht sofort greifen konnten, mussten 1933 Millio- Eine Reihe von Gesetzen des New Deal wurde mit BITTERES LEID
nen Hektar Baumwolle untergepflügt werden. Mil- dieser Begründung aufgehoben. Der Konflikt zwi- Die Große Depression
lionen Ferkel wurden abgeschlachtet und verscharrt. schen Präsident und Supreme Court eskalierte veränderte auch die
Der zuständige Landwirtschaftsminister bezeichnete schließlich so sehr, dass Roosevelt drohte, zusätzliche Wohnquartiere. Wie in
diese höchst unpopuläre Kampagne hinterher als Richter zu ernennen, die seine Politik positiver be- Brockton, Massachusetts,
„Zivilisationsskandal“. Farmer empfanden sie ange- urteilten. Auf diesem Weg allerdings mochten dem verfielen vielerorts die
sichts des Mangels an Kleidung und des Hungers in Präsidenten nicht einmal die liberalen Demokraten Häuser, Autos blieben
den Städten als „völlig idiotisch“. folgen, die ihn bislang stets unterstützt hatten. Von kaputt am Straßenrand
Ein früher Schwerpunkt des New Deal war ein diktatorischen Vollmachten, die der erste Mann im liegen. Im ganzen Land
Gesetz, das den Industriesektor wiederbeleben und Staate anstrebe, war empört die Rede. eröffneten Gemeinde-
profitabel machen sollte. Jede Branche hatte einen Seinen Abschluss fand der New Deal mit einer vertretungen und
Verhaltenskodex auszuarbeiten, um ruinösen Wett- Reihe von Gesetzen zugunsten der Arbeitnehmer, Wohlfahrtsorganisationen
bewerb zu verhindern, Produktions- und Preisab- der Gewerkschaften, der Alten und sozial Schwa- Suppenküchen, die an
sprachen waren danach zulässig, aber auch das Recht chen. Erstmals bildeten sich Industriegewerkschaften, Bedürftige kostenlos warme
der Arbeiter auf gewerkschaftliche Organisation und die auch ungelernte Arbeiter repräsentierten. Wo- Mahlzeiten verteilten.
kollektive Tarifverhandlungen wurde festgeschrie- chenarbeitszeiten, Mindestlöhne und ein Verbot der
ben. Gegner dieser Vorgaben fühlten sich vage an Kinderarbeit, die zuvor am Einspruch des Obersten
den Wirtschaftsdirigismus in Nazi-Deutschland oder Gerichtshofs gescheitert waren, konnten jetzt durch-
Mussolinis korporative Vorstellungen erinnert und gesetzt werden.
sprachen böse von „Handelskammerfaschismus“. Die bedeutendste Reform und den Anfang eines
1935 hob das Oberste Bundesgericht das Industrie- nationalen Sozialversicherungssystems in den USA
gesetz als verfassungswidrig auf. brachte der Social Security Act, der – gegenüber
Auch bei den Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen Deutschland um ein halbes Jahrhundert verspätet –
gab es Ähnlichkeiten zwischen den USA und die Altersrente, Arbeitslosenunterstützung und So-
Deutschland. Das Civilian Conservation Corps, eine zialhilfe für erwerbslose alte Menschen, bedürftige
Art freiwilliger Arbeitsdienst, der sich großer Be- Mütter mit Kindern und Behinderte einführte.
liebtheit erfreute, beschäftigte etwa drei Millionen
junge Männer. Sie arbeiteten in den Nationalparks,
Eines jedoch schaffte Roosevelt in den fünf Jahren
seiner New-Deal-Politik nicht: die Wirtschaft zu be- 5000 Banken
im Landschafts- und Naturschutz. Mit anderen Pro-
grammen wurde der Bau von Straßen, Schulen und
leben und die Arbeitslosigkeit entscheidend zu sen-
ken. Auch folgte der amerikanische Präsident keinem
mussten in
Krankenhäusern vorangetrieben. Der Flughafen La
Guardia in New York ist ein Ergebnis dieser New-
vorgefassten Plan, sondern versuchte, das Land mit
einer Vielzahl pragmatischer Maßnahmen zu verän-
den USA als
Deal-Initiativen wie auch viele der Monumental-
bauten im Washingtoner Regierungsviertel.
dern, die nach Einschätzung des US-Historikers Ken-
nedy vor allem ein Leitmotiv verband – Sicherheit zu
Folge des
Das kühnste Vorhaben war die Regulierung des
Tennessee River und seiner Nebenflüsse. Das Projekt
schaffen für Kapitaleigner und Verbraucher, für Ar-
beiter und Unternehmer, Industrieunternehmen und
Börsenkrachs
schließen,
DELANO/FAS/LIBRARY OF CONGRESS (L.);RUSSEL/FSA/LIBRARY OF CONGRESS (R.)

erstreckte sich über sieben Staaten und verband Ar- Farmen. Vor allem die wirtschaftlichen und sozialen
beitsbeschaffung mit Strukturentwicklung in dieser
wirtschaftlich zurückgebliebenen Region. Dämme,
Strukturreformen hält Kennedy für die bleibenden
Errungenschaften des New Deal. Millionen
Schleusen und Elektrizitätswerke dienten dazu, den
Fluss schiffbar zu machen, Hochwasser und Erosion
Doch ebenso wichtig sind die Verdienste um die
Erhaltung der Demokratie in den USA. Gibt es auch
Sparer verloren
zu kontrollieren und aus Wasserkraft billigen Strom
zu erzeugen.
Ähnlichkeiten bei den Methoden, die Roosevelt und
die totalitären Regime in Europa zur Bekämpfung
ihr Geld.
Eigentlich hatte Roosevelt noch sechs ähnliche der Wirtschaftskrise anwandten, so wiegen die poli-
Unternehmungen geplant, doch im Kongress fand er tischen Unterschiede doch weitaus schwerer.
dafür keine Unterstützung. Immer wieder tauchte In den Vereinigten Staaten gab es keinen staatlich
bei Reformprojekten des Präsidenten die Frage auf, gedeckten Terror uniformierter Privatarmeen wie
ob sie noch verfassungsgemäß seien. Wiederholt be- Hitlers SA oder Mussolinis Schwarzhemden. Die
fanden die Obersten Bundesrichter, der Kongress US-Verfassung und die Gewaltenteilung blieben in-
habe zu viele Vollmachten an die Exekutive abge- takt, die Bürgerrechte unangetastet.
treten und die Zentralregierung mische sich un- Der New Deal gefährdete nie die Demokratie in
zulässig in die Belange der Einzelstaaten ein. Amerika – er sicherte ihr Überleben. ✦
spiegel special geschichte 1 | 2008 125
NAHAUFNAHME

Mit den Olympischen Spielen 1936 präsentierten die Nationalsozialisten der Welt ein gigantisches
Täuschungsmanöver. Das Sportspektakel wurde Hitlers größter Propagandaerfolg.

DIE GLADIATOREN DES DIKTATORS


F ritz Schilgen war ein schöner


Mann. Er war schlank und
blond, mit vollem Haar, drah-
tig und durchtrainiert, Typ
Modellathlet. Nur sportlich war der
Kronberger nicht ganz so vorbildhaft. Auf
der Mittel- und Langstrecke lief er zwar
gen und Sportspiele“ betrieb, begründete
der Despot dem SS-Mann Dietrich ge-
genüber mit der Sorge um sein Image: Er
könne sich „nicht erlauben, sich selbst an
irgendeinem Sport zu beteiligen, wenn er
nicht in dieser Konkurrenz der Erste sei“.
Vor allem aber passten internationale
oft vorn mit, zu einem wirklich großen Sportvergleiche nicht ins ideologisch ver-
Sieg aber reichte es nie. stellte völkische Rassenbild der Nazis.
Darauf kam es auch nicht an, als er Die Vorstellung, deutsche „Arier“ müss-
1936 im Berliner Olympiastadion seinen ten sich mit Juden und Schwarzen mes-
größten Auftritt hatte. Als Schlussmann sen und könnten womöglich gar den Kür-
des Fackellaufs trug Schilgen die olympi- zeren ziehen, war für sie ungeheuerlich.
sche Flamme in die monumentale Kalk- Olympische Spiele seien „gestaltet und
steinarena und entzündete dort das olym- getragen von einem Geist, aus dem die
pische Feuer. Über 100 000 Menschen Welt geboren ist, die der Nationalsozia-
jubelten ihm unter Hakenkreuzfahnen lismus im revolutionären Aufbruch über-
und Fanfarenklängen begeistert zu. Für wand“, hieß es in braun durchwebten
den damals 29-Jährigen war und blieb es Theorieschriften.
„ein unvergessliches Erlebnis“. Welcher Geist gemeint war, daraus
Es war Leni Riefenstahl, Hitlers Lieb- machten die Nazis in ihrem Rassenwahn
lingsfilmerin und Olympiachronistin, die schon frühzeitig keinen Hehl. Dass „der
Schilgen die Bühne bereitet hatte, ge- freie Mann oft sogar mit unfreien Schwar-
meinsam mit den nationalsozialistischen zen, mit Negern, um die Siegespalme
Olympiamachern. Die Wahl fiel auf ihn, kämpfen muss“, schrieb der „Völkische
wegen seines germanischen Aussehens Beobachter“ 1932, sei „eine Schändung
und des spielerisch leichten, beinah Griechischer Läufer beim Start in Olympia, 1936 und Entwürdigung des olympischen Ge-
„schwebenden Schritts“. dankens ohnegleichen“.
Das Bild war wohlkalkuliert. Denn es war vor allem der Als bei den Olympischen Spielen in Los Angeles im gleichen
schöne Schein, der Hitler und die Nazis an dem Sportspektakel Jahr zum ersten Mal ein schwarzer Athlet Gold im 100-Meter-
so faszinierte. Schnell nach der Machtübernahme hatten der Sprint holte, legte Hitlers Parteiblatt noch eins drauf: „Neger
„Führer“ und seine engsten Berater, allen voran Joseph Goeb- haben auf der Olympiade nichts zu suchen.“
bels, den Propagandawert der Spiele für sich erkannt. Gleich nachdem Hitler an die Macht gekommen war, er-
Hitler sah die einmalige Gelegenheit, „durch große kulturelle suchte Lewald, Sohn eines jüdischen Justizrats, deshalb vor-
Leistungen die Weltmeinung für sich zu gewinnen“ und allen sorglich bei ihm um Audienz. Zu seiner Überraschung präsen-
Verdächtigungen und Anfeindungen von außen ein Bild vom tierte sich ihm am 16. März ein aufgeräumter „Führer“, der
„glücklichen, friedliebenden“ Deutschland entgegenzusetzen. wider Erwarten „lebhaftes Interesse“ an den Spielen zeigte,
Und zu demonstrieren, wie Goebbels sagte, „welche Kräfte die
Idee der deutschen Volksgemeinschaft auszulösen imstande
ist“. Dafür verleugnete Hitler sich und seine fanatischen Ziele
vorübergehend fast bis zur Selbstaufgabe.
Dabei hatten Theodor Lewald und Carl Diem, die wichtigsten
deutschen Olympiafunktionäre aus der Weimarer Republik,
nach Hitlers Ernennung zum Reichskanzler am 30. Januar 1933
SAMMLUNG RAUCH / INTERFOTO (O.); KEYSTONE (U.)

zunächst voller Sorge um ihr Prestigeprojekt gebangt. Denn


Olympia und Nationalsozialismus – das passte eigentlich zu-
sammen wie Engel und Beelzebub.
Hitler selbst hatte mit sportlicher Ertüchtigung und Wett-
kampf überhaupt nichts im Sinn. Seine Natur war „dem Sport
völlig fremd“, schrieb „Reichspressechef“ Otto Dietrich in
einem Buch über seine „12 Jahre mit Adolf Hitler“ später: „Für
sportliche Höchstleistungen hatte er wenig Verständnis.“
Seinen unmittelbaren Mitarbeitern untersagte der Ober-Nazi
ausdrücklich, das Sportabzeichen zu machen – „wegen der Un-
fallmöglichkeiten“. Und dass er selbst „keinerlei Körperübun- Leni Riefenstahl bei den Dreharbeiten für einen Olympiafilm

126 spiegel special geschichte 1 | 2008


Die deutsche Mannschaft bei der Eröffnung der Olympischen Spiele am 1. August 1936 in Berlin

wie ein offizielles Kommuniqué vermerkte. So perplex war und Spaßmacher eines Diktators, der sich bereits als Herrscher
Lewald, dass er sein bestechendstes Argument, das er sich zur dieser Welt fühlt.“
Überredung zurechtgelegt hatte, glatt vergaß und nur schriftlich Angesichts zunehmenden Drucks von außen sah sich Hitler
nachreichte: Mindestens tausend aus aller Welt entsandte zum Handeln gezwungen. Flankiert von den deutschen Sport-
Journalisten versprächen doch eine „ungeheure Propaganda- funktionären und hilfreich unterstützt durch großzügiges
wirkung für Deutschland“, versicherte er Hitler. Augenzudrücken des Internationalen Olympischen Komitees,
Davon war der offenbar längst überzeugt. Seine Spiele soll- organisierte Hitler ein gigantisches Täuschungsmanöver.
ten größer, bombastischer und erfolgreicher werden als alles bis- Um das Ausland zu beschwichtigen, sicherte Berlin dem
her Dagewesene, ordnete er an – das neue Olympiastadion für Internationalen Olympischen Komitee zu, dass „grundsätzlich“
100000 Zuschauer, das Hitlers Leibarchitekt Albert Speer schnell auch Juden im deutschen Olympiateam stehen könnten – ob-
skizzieren musste, sollte das Symbol sein. schon die doch nach der „Machtergreifung“ systematisch aus
Hitlers größtes Problem waren nicht die Spiele oder die 100 den Sportvereinen gedrängt wurden.
Millionen Reichsmark, die für das Spektakel am Ende verbaut Obwohl gleichwertige Trainingsmöglichkeiten damit längst
wurden. Es war der zunehmende internationale Widerstand nicht mehr möglich waren, verbreitete das deutsche Olympia-
gegen das Nazi-Regime, der in der Idee eines Olympiaboykotts komitee 1934 die öffentlichkeitswirksame Nachricht, 21 jüdi-
ein probates politisches Signal sah. sche Athleten seien für den Olympiakader vorgesehen – keiner
Das „Ermächtigungsgesetz“ vom März 1933, der „Röhm- von ihnen startete später. Lediglich der Eishockeyspieler Rudi
Putsch“ 1934, die Nürnberger Rassengesetze 1935 und die anti- Ball und die Fechterin Helene Mayer, die als sogenannte Halb-
jüdische Pogromstimmung – die internationale Akzeptanz für juden noch die uneingeschränkte Reichsbürgerschaft besaßen,
ein sportliches „Fest des Friedens“ unter dem Hakenkreuz war wurden demonstrativ nominiert.
im Ausland denkbar schlecht. Eine breite Boykottbewegung, an- Die jüdische Hochspringerin Gretel Bergmann, Top-Athletin
geführt von den USA, aber auch in Frankreich, Spanien, den von internationalem Format, schaffte es noch bis in den vor-
Niederlanden oder England, fand rasanten Zulauf bei europäi- läufigen Kader. Kurz vor Beginn der Spiele, als das amerikani-
schen Gewerkschaften, Arbeitersportvereinen, Linksparteien sche Team bereits auf dem Seeweg nach Deutschland und eine
SAMMLUNG RAUCH / INTERFOTO

und natürlich jüdischen Verbänden und Organisationen, was die Absage nicht mehr zu befürchten war, wurde Bergmann kurz-
Spiele bis zuletzt gefährdete. fristig wegen angeblich schlechter „zuletzt gezeigter Leistungen“
Zusätzlich munitioniert wurden die Kritiker von deutschen gestrichen. Einen Monat vor Beginn der Spiele war sie mit
Intellektuellen im Exil. Heinrich Mann beschwor das Ausland in 1,60 Meter deutschen Rekord gesprungen – das hätte für eine
einem flammenden Appell aus Frankreich: „Glauben Sie nur: Medaille gereicht.
Diejenigen der internationalen Sportler, die nach Berlin gehen, Rechtzeitig vor Eröffnung der Winterspiele in Garmisch-Par-
werden dort nichts anderes sein als Gladiatoren, Gefangene tenkirchen am 6. Februar und vor dem Einsetzen des Besu-

spiegel special geschichte 1 | 2008 127


NAHAUFNAHME

cherstroms aus dem Ausland mussten judenfeindliche Schil-


der („Juden betreten diesen Ort auf eigene Gefahr“) auf An-
ordnung von oben aus dem Straßenbild entfernt werden.
Antijüdische Hetzartikel verschwanden quasi über Nacht,
ebenso Schauprozesse gegen Nazi-Gegner. Das militanteste
Hetzblatt gegen Juden, „Der Stürmer“, durfte nicht mehr
am Kiosk verkauft werden, Marschmusik wurde aus dem
Radio verbannt. Und um den schönen Schein auch am
Rande von Laufbahnen und Spielstätten zu wahren, wurde
Mitgliedern der Nazi-Sturmtruppen eingebläut, im Publi-
kum „nach Möglichkeit sportliche Kleidung und nicht Uni-
form zu tragen“.
Damit war der Weg frei für eine noch nie dagewesene
Propagandaschau. Hitlers Planer dachten sich den mythi-
schen Fackellauf aus: 3075 Läufer trugen die olympische
Flamme vom antiken Olympia quer durch Europa bis nach Fechterin Mayer (r.) bei der Siegerehrung 1936
Berlin zu den Sommerspielen.
Der berühmte Komponist Richard Strauss schrieb eine merfort wird dem Volk und den Fremden eingetrichtert,
Olympiahymne. Massenaufmärsche und Großveranstal- dass man hier den Aufschwung, die Blüte, den neuen Geist,
tungen, Fackelaufzüge und pompöse diplomatische Gelage die Einigkeit, Festigkeit und Herrlichkeit, natürlich auch
bildeten den Rahmen für eine Orgie an sportlicher Begeis- den friedlichen, die ganze Welt liebevoll umfassenden Geist
terung, nationaler Besessenheit und Massenlenkung, die des Dritten Reiches sehe.“
alles in den Schatten stellte, was die Welt bisher erlebt hatte. Zu allem Überfluss wurden die Nazi-Spiele sportlich zu
Übertragungen in mehr als 3000 Radioprogrammen einem nationalen Triumph. Die deutsche Mannschaft ge-
sicherten dem Regime einen „gewaltigen Propaganda- wann mehr Medaillen als jemals zuvor. Mit 33 Gold-, 26- Sil-
ber- und 30 Bronzemedaillen lag sie erstmals deutlich vor
den USA mit 24-mal Gold, 20-mal Silber und 12-mal Bron-
ze. Das alles befeuerte den Fanatismus von der Überlegen-
heit der arischen Rasse.
Selbst die boykottbewegten Gesellschaften in den USA,
England oder Frankreich zeigten sich beeindruckt von dem
„größten Fest, das das neue Deutschland allen friedlieben-
den Völkern der Welt“ („Kölnische Zeitung“) da scheinbar
präsentierte.
Der Londoner „Daily Express“ schwärmte von einem
„wunderbaren Wandel im Denken des deutschen Volkes“.
Britische Beobachter kamen zu dem Schluss, dass „das
Nazi-Regime gar nicht so schlimm“ sein könne, „wie es die
Gerüchte behaupteten“.
Unter dem Propagandafeuer der Nationalsozialisten
konnte offenbar nichts diesen Eindruck nachhaltig er-
schüttern. Nicht der Einmarsch deutscher Truppen in das
Sportfunktionäre Lewald (M.), Diem (r.), 1931 entmilitarisierte Rheinland nur drei Wochen nach den
Winterspielen. Nicht der Baubeginn für das KZ Sachsen-
erfolg“, so Hitler-Biograf Ian Kershaw. Hitler war fast täg- hausen oder ein „Zigeunerlager“ in Marzahn nur wenige
lich im Olympiastadion. Er tätschelte Medaillengewinner, Tage vor Eröffnung der Spiele. Nicht die deutsche Hilfe
badete in der Menge, zeigte sich als begeisterter Sport-Fan. für die faschistischen Putschtruppen des Generalissimo
Und in schöner Regelmäßigkeit gingen die Berichte über ihn Franco in Spanien: In der Nacht bevor im Berliner Olym-
und die Spiele unter dem Hakenkreuz in 50 Sprachen hin- piastadion die Flamme entzündet wurde und die Fanfaren
aus in die Welt, allein in den USA ausgestrahlt von mehr als erklangen, schifften sich in Hamburg erste Truppen für
hundert Radiostationen. Franco ein.
Film- und Fotorechte lagen sämtlich beim Propaganda- Die Euphorie, die Orgiastik der kühl kalkulierten und
ministerium, ausländische Berichterstatter mussten sich aus bestens organisierten Propagandashow zog alle in den Bann
sorgfältig ausgewählten Aufnahmen bedienen. Ähnlich war und übertünchte das wahre Gesicht des Regimes. „Ohne das
es mit der „Wochenschau“ der Ufa, die ins Ausland verkauft ausgeklügelte Fest, das den Nazismus von Anfang bis
wurden. Die Bilder, allen voran Leni Riefenstahls Opus Ende verhüllte“, seien „alle Erfolge Hitlers undenkbar“ ge-
„Olympia“, verherrlichten eine nationalsozialistische wesen, schrieb später der amerikanische Olympiachronist
„Ästhetik der Macht“ und sendeten sie hinaus in die Welt. Richard Mandell.
Wie nie zuvor wurde Sport so zum „Werkzeug national- Ohne den „Glanz der erfolgreich durchgeführten Spiele“,
sozialistischer Politik und Propaganda“, schreibt Kershaw urteilt auch der Göttinger Sporthistoriker Arnd Krüger, sei
später in seiner Hitler-Biografie. „das Prestige der nationalsozialistischen Regierung nach
Der jüdische Romanist Victor Klemperer, der in Dresden innen und somit indirekt auch nach außen“ nicht so gefestigt
FOTOS: ULLSTEIN BILD

lebte, sprach indigniert von einem „ganz und gar politi- worden.
schen Unternehmen“, das den Nazis da geglückt war: „Im- Der Schrecken nahm seinen Lauf. Manfred Ertel

128 spiegel special geschichte 1 | 2008


DER TOTALITÄRE STAAT

Die Organisation „Kraft durch Freude“ sollte mit günstigen Freizeitangeboten


vor allem die Proletarier für die „Volksgemeinschaft“ ködern.

„DER DEUTSCHE
ARBEITER REIST“
Von Karen Andresen

E
ine sanft geschwungene Bucht, feiner weißer
Sand, auf dem sich Kiefernbäume wiegen.
Die Prorer Wiek mit der „Schmalen Heide“
war in den dreißiger Jahren des vorigen
Jahrhunderts sicher einer der schönsten Strände auf
der Ostseeinsel Rügen.
Ausgerechnet dieses Kleinod unberührter Natur
suchten sich die Nationalsozialisten aus, um am
2. Mai 1936 mit dem Bau eines gigantischen See-
bades zu beginnen. Zwei Gebäudeflügel mit je vier
Bettenhäusern, sechs Stockwerke hoch, fast fünf Ki-
lometer lang, alle Zimmer mit Meerblick. Dazu zwei
Wellenbäder, ein Schlachthof, eine Konservenfabrik,
ein Kraftwerk und eine monumentale Festhalle mit
20 000 Sitzplätzen.
Adolf Hitler selbst soll die Idee zu diesem Mam-
mutprojekt für 20 000 Feriengäste gehabt haben. Man
müsse, so wird der Diktator zitiert, „ein Riesenbad
bauen, das Gewaltigste und Größte von allem bisher
Dagewesenen“.
Inzwischen mag man sich an mächtige Betonbur-
gen für Urlaubermassen gewöhnt haben, damals aber
war, was die Nazis vorhatten, eine Sensation.
Zur feierlichen Grundsteinlegung reisten neben
Parteiprominenz auch Vertreter von Kriegsmarine
und Luftwaffe an. Robert Ley, der Leiter der natio-
nalsozialistischen Pseudogewerkschaft Deutsche Ar-
beitsfront (DAF), hielt eine Ansprache, die landes-
weit vom Radio übertragen wurde, und im Kino ver-
kündete die „Deutsche Wochenschau“: „Auf der In-
sel Rügen entsteht das größte und schönste Seebad
der Welt. Hier werden später Tausende und Aber-
tausende schaffende deutsche Menschen Erholung
und Kraft zu neuer Arbeit finden.“
Die Nationalsozialisten hatten vor allem Indu-
striearbeiter im Visier, denn, so DAF-Chef Ley,
„Tausende Urlauber mit schwieligen Händen sind
die beste Propaganda für das neue Deutschland, die
man sich denken kann“.
Da war es selbstverständlich, dass schon das Da-
tum für die Grundsteinlegung, der 2. Mai 1936, mit
Bedacht gewählt worden war. Auf den Tag genau
drei Jahre zuvor hatten die Nazis überall in Deutsch-
land die Gewerkschaftshäuser gestürmt. In der Fol-
ge waren führende Funktionäre verhaftet, das Ver-
mögen konfisziert und die Mitglieder zwangsweise in gen. Sie heißt: Vernichtung des Marxismus“, hatte SONNE UND HAKENKREUZ
die Arbeitsfront eingegliedert worden. Adolf Hitler seine Gefolgsleute angefeuert. Ein Urlaubspaar ganz nach
Ein Streikrecht gab es fortan nicht mehr, die Löh- Was aber sollte aus den vielen tausenden einfa- den Wünschen der
ne wurden niedrig gehalten. Sozialdemokraten muss- chen Mitgliedern von SPD, KPD und Gewerkschaf- NS-Führung. Denn die
ten ebenso wie Kommunisten um ihr Leben fürchten ten werden, deren Arbeitskraft dringend gebraucht wollte auch auf die Freizeit
ULLSTEIN BILD

oder waren bereits aus dem Land geflohen. „Lasst wurde in der schon auf Hochtouren laufenden der Deutschen möglichst
euch in keiner Sekunde von unserer Parole abbrin- Kriegswirtschaft? Allein mit Verboten und Gewalt, viel Einfluss nehmen.
spiegel special geschichte 1 | 2008 129
DER TOTALITÄRE STAAT
„Wilhelm Gustloff“ das wussten die Machthaber, war das Proletariat te und – wenige – Arbeiter für sich die Fahrt in die
nicht gefügig zu machen. Sommerfrische.
Das Kreuzfahrtschiff
Also zeigte das Regime sein anderes, sein ver- Seit Mitte der zwanziger Jahre schmückte sich
wurde in den dreißiger
meintlich fürsorgliches Gesicht. Soziale Wohltaten jede größere Tageszeitung mit einer eigenen Rubrik
Jahren bei Blohm &
sollten die Arbeiter in die nationalsozialistische „Reisen, Bäder, Kurorte, Wandern“. Und selbst im
Voss in Hamburg für
„Volksgemeinschaft“ einbinden. sozialdemokratischen „Vorwärts“ tauchten vermehrt
die DAF gebaut.
Im November 1933 gründeten die Nazis im Fest- Reiseberichte und Ferienvorschläge auf.
Namensgeber war ein
saal des einen Monat zuvor aufgelösten Preußischen Sieben Tage Sächsische Schweiz waren für 105
1936 in der Schweiz
Staatsrates an der Leipziger Straße in Berlin die NS- Reichsmark (RM) zu haben, der Norddeutsche Lloyd
ermordeter Antisemit
Organisation „Nach der Arbeit“, die sich schon bald bot eine Nordlandreise ab 140 RM an. „Im reichen
und Landesgruppen-
in „Kraft durch Freude“ (KdF) umbenannte. Worum Wortschatz unserer deutschen Sprache“, schwärmte
leiter der NSDAP. Ab
es den braunen Machthabern dabei ging, machte ein Mitglied der „Naturfreunde“, habe nichts „ei-
1939 war es Lazarett-
DAF-Chef Ley in seiner Festrede ziemlich unver- nen so poetischen Klang für den Arbeitsmenschen
schiff und schwimmende
blümt deutlich: Der „schaffende deutsche Mensch“ wie das Wort ‚Urlaub‘“.
Kaserne. Im Januar
dürfe sich, so Ley, in seiner arbeitsfreien Zeit nicht 1929 beschlossen auch SPD und Gewerkschaften,
1945 nahm die „Wilhelm
selbst überlassen bleiben, denn „aus der Langewei- eine eigene Arbeiter-Reiseorganisation zu gründen.
Gustloff“ in Goten-
le entspringen dumme hetzerische, ja letzten Endes „Die werktätige Bevölkerung, ganz gleich ob sie in
hafen (dem heutigen
verbrecherische Gedanken“, und nichts sei gefährli- der Fabrik oder in der Schreibstube tagein, tagaus
Gdynia in Polen) rund
cher für einen Staat. So gesehen, fügte der DAF-Lei- schwer arbeiten muss, hat Anspruch darauf, sich die
10 000 Flüchtlinge und
ter hinzu, sei „sogar der Kegelclub staatserhaltend“, Schönheiten dieser Erde zu erobern und sich wenigs-
Soldaten an Bord. Nach
weil die Menschen wüssten, „wo sie am Abend hin- tens einmal im Jahr über die Mühsal des Alltags zu
russischem Torpedo-
zugehen haben“. erheben“, verkündete der sozialdemokratische
Beschuss sank das
Bald darauf hatte sich KdF erfolgreich der Freizeit Reichsausschuss für Bildungsarbeit, der auch Stu-
Schiff. Rund 9000
der Deutschen bemächtigt. Von der Wandertour bis dienreisen für Proletarier anbot.
Menschen starben.
zur Schiffsreise, vom Schachspielen bis zum Tau- Doch die meisten Arbeiter hatten weder genug
benzüchten gab es kaum etwas, was die NS-Organi- Geld – der durchschnittliche Jahresverdienst lag 1928
sation nicht im Programm hatte. Sie sorgte für Brei- bei 2300 Reichsmark – noch genug freie Zeit, um
tensport und „weltanschauliche“ Erziehung, organi- von den Angeboten Gebrauch zu machen. Zwar wur-
sierte Theaterbesuche und bunte Abende. de ihnen in der Weimarer Republik erstmals auch ein
1934 starteten zum ersten Mal fahnengeschmück- Recht auf Jahresurlaub tarifvertraglich zugesichert,
te KdF-Urlauberzüge, zwei Jahre später lief das doch viele arbeiteten ohne Tarifvertrag, oder sie
erste KdF-Schiff vom Stapel. Hatten Urlaubsfahrten ließen sich, wenn ihnen Urlaub zustand (oft waren es
bisher vor allem als Pri- ohnehin nur magere drei Tage), diesen lieber aus-
vileg begüterter Schich- zahlen, um die Familienkasse aufzubessern.
MASSENBAD ten gegolten, so wurde Hinzu kam, dass sich besonders bei älteren
Das NS-Mammutprojekt jetzt die Parole ausgege- Funktionären in SPD und Gewerkschaften hartnäckig
Prora auf Rügen wurde ben: „Der deutsche Ar- das Ressentiment hielt, Urlaubsfahrten seien vor
nie als Ferienanlage beiter reist.“ allem Ausdruck eines kleinbürgerlichen Individua-
genutzt. Begonnen allerdings lismus, von dem sich ein klassenbewusster Proletarier
hatte die allgemeine Rei- besser fernzuhalten habe. Und so war die Forderung
selust viel früher. Schon nach mehr Urlaub nie zu einem wichtigen Anliegen
1840 hatten in Großbri- des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes
tannien einzelne wohl- geworden.
tätig gesinnte Unterneh- Die Nationalsozialisten erkannten schnell, welch
mer bei den Privatbah- große propagandistische Chance für sie in dem The-
nen Züge gebucht, um ma steckte. Hitler selbst versprach, der nationalso-
ihren Arbeitern und de- zialistische Staat werde sich bemühen, seinen „Volks-
ren Familien Ausflüge ins genossen alles das zugänglich zu machen, was früher
Grüne zu ermöglichen. Vorrecht einer begrenzten Lebens- und Volksschicht
1841 schickte Thomas war“. Er wünsche, so zitierte DAF-Chef Ley einen
Cook, der britische Pio- „Führerbefehl“ des Diktators, dass der deutsche Ar-
nier des Massentouris- beiter eine Erholungszeit bekomme, „weil ich ein
mus, seinen ersten Son- nervenstarkes Volk will, denn nur allein mit einem
derzug mit 570 Arbeitern Volk, das seine Nerven behält, kann man wahrhaft
auf die Reise. große Politik machen“.
In Deutschland waren Was damit gemeint war, zeigte sich im faschisti-
es bis zum Ende des schen Italien, wo es seit 1925 mit „Opera Nazionale
Ersten Weltkriegs vor al- Dopolavoro“ eine ähnliche Organisation gab, die
lem die zahlungskräfti- KdF als Vorbild gedient hatte. Die körperliche und
gen Oberschichten, die moralische Ertüchtigung der Massen, ließ man hier
sich eine Auszeit, etwa in ganz unverklausuliert verlauten, solle auch dazu die-
einem der feinen Seebä- nen, die Menschen „für die eventuellen Anforde-
der, leisten konnten. Erst rungen einer kriegerischen Zukunft tauglich zu ma-
in der Weimarer Repu- chen“.
blik setzte eine Demo- KdF stieg bald zu einem der mächtigsten Reise-
STEFAN SAUER / DPA

kratisierung des Reisens veranstalter in Deutschland auf. Die Organisation,


ein. Nun entdeckten die zur Deutschen Arbeitsfront gehörte und die dank
auch Angestellte, Beam- hoher Beitragseinnahmen und der konfiszierten Ge-

130 spiegel special geschichte 1 | 2008


werkschaftsgelder finanziell gut bestückt war, trom- In den Ferienregionen allerdings war man oft we- HITLER AN BORD
melte in den Betrieben für ihr Reiseprogramm, setz- niger angetan von den in Massen anreisenden Billig- Sonnenbaden auf dem
te Sonderurlaube durch und zahlte Zuschüsse aus touristen. Zahlungskräftige Kunden sahen sich nach Kreuzfahrtschiff „Robert
einer KdF-Ausgleichskasse. Auch manche Betriebe, KdF-fernen Reisezielen um, Hotels fürchteten um Ley“ gehörte zu den beson-
wie die Thyssen AG in Königsberg, gingen dazu über, ihren Ruf, private Reiseveranstalter beklagten, sie ders begehrten Zerstreu-
sich finanziell an den KdF-Unternehmungen ihrer könnten durch KdF in den Ruin getrieben werden, ungsmöglichkeiten des KdF-
Mitarbeiter zu beteiligen. und einige Gemeinden gingen sogar dazu über, die Programms. Im April 1939
Urlaubstage galten jetzt nicht mehr als etwas, das Aufnahme der Pauschalreisenden zu verweigern. zeigte sich auch Adolf Hitler
den Beschäftigten für geleistete Arbeit zustand, son- Mancherorts wurde KdF-Gästen schon beim Früh- auf dem Promenadendeck
dern als eine Wohltat der nationalsozialistischen Be- stück gezeigt, dass man sie für Kunden zweiter Klas- des KdF-Schiffes. Links
triebsführer, die anzunehmen im Interesse des se hielt. So hatte ein bayerischer Gasthof zweierlei neben ihm sitzt Inga Ley,
„Volksganzen“ geradezu Pflicht war. Kaffee im Angebot: den „Guten“ und „KdF“. die Ehefrau von DAF-Chef
Bei vielen Deutschen kam das gut an. Vertreter Die Nationalsozialisten waren in der Klemme. Ei- Robert Ley.
von Gestapo und SD, die sich unter die Reisenden nerseits war es ihr vornehmliches Ziel, den Deut-
mischten, um die Stimmung zu erkunden und zu schen zu vermitteln, dass die „Volksgemeinschaft“
melden, wer bei der Nationalhymne nicht mitsang mit bürgerlichen Privilegien aufräume, andererseits
oder beim Fahnenappell sitzen blieb, berichteten von sollten die Reisebranche und deren begüterte Klien- Der KdF-Wagen
einer „zufriedenen und dankbaren Stimmung über tel nicht verärgert werden. Also trat KdF mit seinem Schon in der Weimarer
das Gebotene“. Reiseprogramm Schritt für Schritt den Rückzug aus Republik träumten die
Als besonderer Knüller erwiesen sich die Kreuz- den traditionellen Urlaubsgebieten in weniger be- Menschen vom Volks-
fahrten. Nach Norwegen etwa für 60 Reichsmark kannte Regionen an. automobil nach US-
oder – begehrter noch – nach Madeira, dem bevor- Auch der Bau des Massenbads Prora war ein Ver- Vorbild. Hitler machte
zugten Winterdomizil der englischen Upperclass, für such, die kleinen Leute von den feinen Seebädern sich das Projekt zu
120 RM. KdF-Paradestücke waren auch die zwei ei- fernzuhalten. Der deutsche Arbeiter, versuchte DAF- eigen. Weil die Löhne
genen Passagierschiffe, „Wilhelm Gustloff“ und Chef Ley die Hintergründe zu verbrämen, fühle sich im NS-Staat niedrig
HUGO JAEGER / TIME LIFE PICTURES/GETTY IMAGES (L.); BAYERISCHE STAATSBIBLIOTHEK (R.)

„Robert Ley“. in den vorhandenen Bädern nicht vollständig wohl, waren, schien die
Zwar nahmen Arbeiter immer noch sehr viel sel- weshalb der „Führer“ für sie eigene Anlagen wolle. Realisierung des Volks-
tener an den Urlaubsfahrten teil als Angehörige des Weitere Großprojekte, etwa an der Kurischen Nehrung wagens lange Zeit
Mittelstands, und insgesamt wurde auch nur jede in Ostpreußen, waren geplant, wurden aber nie gebaut. fraglich. 1937 übernahm
zehnte Reise von KdF organisiert. Dennoch war die Auch in Prora sollten nie Touristen eintreffen. Bei es die DAF, für einen
propagandistische Wirkung, vor allem in den ersten Ausbruch des Zweiten Weltkrieges stellten die Nazis preisgünstigen „KdF-
Jahren nach der „Machtergreifung“, enorm. den Bau ihres Vorzeigebades ein. Die Arbeiter wur- Wagen“ in Wolfsburg
KdF, meldeten Sozialdemokraten ihrer Partei- den von dem Rohbau auf Rügen zur Raketenver- ein Werk bauen zu
führung ins Prager Exil, sei eine „geschickte Speku- suchsanstalt nach Peenemünde und zum „Westwall“ lassen. Doch vom
lation auf die kleinbürgerlichen Neigungen der abgezogen. KdF widmete sich fortan der Truppen- Volkswagen gab es bis
unpolitischen Arbeiter“ und insgesamt eine „gute betreuung, organisierte Bunkerabende und Theater- Kriegsende nur einige
Propaganda für das System“. Bitter vermerkt ein Be- aufführungen an der Front. Die beiden Passagier- Vorzeigemodelle. In
richt an die Sopade, wie sich die Exilanten nannten: schiffe „Wilhelm Gustloff“ und „Robert Ley“ gingen dem DAF-Werk wurden
„Manche sagen: Ja, so etwas hat uns der Staat früher als Lazarettschiffe auf große Fahrt, in Prora wurden stattdessen Militär-
nicht geboten, da sind wir aus unserem Nest nicht sowjetische Kriegsgefangene und osteuropäische fahrzeuge hergestellt.
herausgekommen.“ Vor allem die Frauen würden oft Zwangsarbeiter interniert. Wer den KdF-Wagen
noch monatelang von ihren Reisen erzählen und da- Im Krieg, ließ die NS-Propaganda nun die Deut- bereits angezahlt hatte,
mit ihre Umgebung begeistern. schen wissen, erfahre KdF „ihre schönste Krönung“.✦ verlor sein Geld.
spiegel special geschichte 1 | 2008 131
DER TOTALITÄRE STAAT

Seinen Aufstieg verdankt Adolf Hitler der Verbreitung von Hass und Verleumdung. Für
seine Agitationsmethoden hat er sich vieles bei seinen politischen Gegnern abgeschaut.

VERWIRRTE
EMPFINDUNGEN
Von Michael Sontheimer

D
ie Tätigkeit der Propaganda“, berichtete Als „berufsmäßigen Werberedner“ führte ihn der
Adolf Hitler später, habe ihn schon polizeiliche Nachrichtendienst. Und tatsächlich war
„außerordentlich interessiert“, als er noch der Mann aus dem österreichischen Braunau als Red-
GESCHULTER ein „armer namenloser Teufel“ war. Im ner in den verqualmten Bierkellern der bayerischen
SELBSTDARSTELLER September 1919 trat der spätere Reichskanzler in Hauptstadt in seinem Element. Vor alkoholisierten
Um bei seinen Reden gut München der Deutschen Arbeiterpartei (DAP) bei Männerrunden schrie er seinen über Jahre ange-
anzukommen, nahm Adolf und übernahm sogleich den Posten des Obmanns für stauten Hass heraus, hetzte gegen Juden und Marxis-
Hitler Schauspielunterricht. Werbung und Propaganda. ten, fabulierte von Verrätern, die dem im Felde un-
Seine Posen waren einstu- Dem DAP-Mitbegründer Anton Drexler, einem besiegten Heere in den Rücken gefallen seien.
diert. Die NSDAP bediente Werkzeugschlosser, war Hitlers rhetorisches Talent Über eine Rede, die er einen Monat nach seinem
sich modernster Propagan- auf einer Versammlung aufgefallen. Dort hatte der Eintritt in die DAP gehalten hatte, schrieb er später:
damethoden: So waren die berufslose Gefreite einem Redner so furios Paroli „Was ich früher, ohne es irgendwie zu wissen, einfach
Wahlkampfkampagnen der geboten, dass dieser umgehend aus dem Saal schlich. innerlich gefühlt hatte, wurde nun durch die Wirk-
Partei ganz auf eine Person, „Mensch, der hat a Gosch’n“, stellte Drexler fest, lichkeit bewiesen: Ich konnte reden!“
Hitler, abgestellt, was „den kunnt ma braucha.“ Auch bei der Münchner Hitler lernte schnell, sich bei seinen Auftritten
damals nicht üblich war. Polizei wurde Hitlers Begabung bald aktenkundig. mit aggressiver Melodramatik zu inszenieren. „Die

132 spiegel special geschichte 1 | 2008


Propaganda war für Hitler die höchste Form politi- verstanden, wie wichtig es war, mit seiner Agitation
scher Aktivität“, urteilt der britische Historiker und auf den Straßen präsent zu sein. Schließlich gab es
Hitler-Biograf Ian Kershaw. noch kein Fernsehen, und auch Radios fanden sich
Aber nicht nur für Hitler, auch für die im Fe- nur in wenigen Haushalten.
bruar 1920 von DAP in NSDAP umbenannte Partei, Beeinflusst von Vordenkern der Massenpsycho-
war Massenbeeinflussung die zentrale Aufgabe. logie wie dem französischen Mediziner Gustave Le
Schließlich mussten die „Bewegung“ und ihre Ziele Bon, entwarf Hitler seine Propagandagrundsätze.
der Öffentlichkeit bekanntgemacht, mussten Auf- Für eine gute Wirkung, lautete einer, komme es vor
merksamkeit erregt und Anhänger gewonnen wer- allem auf schlichte Botschaften an. „Die Aufnahme-
den, um zur dominierenden Kraft der Rechten auf- fähigkeit der großen Masse ist nur sehr beschränkt“,
steigen zu können. „Die NSDAP der Weimarer heißt es in „Mein Kampf“, „das Verständnis klein,
Republik“, so der Historiker und NS-Experte Peter dafür jedoch die Vergesslichkeit groß.“
Longerich, „war eine Propagandabewegung von Wichtiger als das rationale Argument sei die emo-
Grund auf.“ Hitler selbst sah es 1922 so: „Was durch tionale Ansprache: „Das Volk ist in seiner überwie-
Papierkugeln zu gewinnen ist, braucht dereinst nicht genden Mehrheit so feminin veranlagt und einge-
durch stählerne gewonnen zu werden.“ stellt, dass weniger nüchterne Überlegung als viel-
Die Prinzipien, wie die Massen zu manipulieren mehr gefühlsmäßige Empfindung sein Denken und
seien, legte Hitler in seiner programmatischen Schrift Handeln bestimmt.“
„Mein Kampf“ fest. Ein ganzes Kapitel widmete er Hitlers Propagandaideen wurden dank des „Füh-
darin der seiner Meinung nach jämmerlichen deut- rerprinzips“ schnell Parteidoktrin. Der wachsende
schen Propaganda im Ersten Weltkrieg. Deren Un- Erfolg der NSDAP und ihres Anführers beruhte al- VERKLÄRUNG
terlegenheit gegenüber der britischen sei verheerend lerdings weniger auf innovativen Vermittlungskon- Der von kommunistischen
gewesen. zepten als auf der Popularität der Botschaft: der Ne- Kämpfern ermordete SA-
Als Inspiration und Vorbild dienten Hitler in die- gation des Bestehenden, etwa des Parlamentarismus Mann Horst Wessel wurde
sen Anfangsjahren vor allem seine politischen Geg- und Kapitalismus, sowie der Verunglimpfung von von den Nazis zu einem
ner. Das wirkungsvolle Verbreiten politischer Ideen, Juden, Marxisten und aller, die für die Weimarer Märtyrer stilisiert und unter
schrieb er, beherrschten „gerade die sozialistisch- Republik standen. Dazu kam das Versprechen, das anderem mit einem Denk-
marxistischen Organisationen mit meisterhafter deutsche Volk aus der Zerrissenheit in Klassen und mal in Bielefeld gefeiert.
Geschicklichkeit“. In Wien hatte er die Aufmärsche Parteien zu befreien. Diese Melange traf zielgenau
der Sozialdemokraten beobachtet und die gemein- die verwirrten Empfindungen vieler von Existenz-
schaftsstiftende Wirkung von Demonstrationen und angst geplagter Arbeiter und vor allem Kleinbürger.
Massenversammlungen erlebt. Auch hatte er schnell Zunächst jedoch waren der nationalsozialistischen
Propaganda enge Grenzen gesetzt. Für die Verbrei-
tung ihrer Botschaften standen der Partei nur weni-
ge auflagenschwache Zeitungen zur Verfügung. Es
galt also, Ereignisse und Skandale zu inszenieren,
über die auch die etablierte Presse berichten würde.
Zu früher Meisterschaft in der Kunst, durch Pro-
vokation öffentliches Interesse zu erregen, brachte es
Joseph Goebbels. Der als Literat und Journalist ge-
scheiterte Germanist wirkte ab 1925 als Geschäfts-
führer des NSDAP-Gaus Rheinland-Nord und
Schriftleiter der „Nationalsozialistischen Briefe“.
„Welch eine Stimme, welche Gesten, welche Lei-
denschaft“, notierte Goebbels in sein Tagebuch,
nachdem er erstmals eine Rede Hitlers erlebt hatte.
„Ich kann mich kaum halten. Mir steht das Herz
still.“ Ein Jahr später schickte ihn sein „Führer“ nach
Berlin, um als Gauleiter die in der Reichshauptstadt
schwache und zerstrittene Partei aufzubauen. MANIPULATION
Hier zeigte sich schnell sein agitatorisches Ge- DER MASSEN
schick. In schwarzer Lederjacke auf einem Auto ste- Schon im ersten Band
hend und von uniformierten SA-Leuten umringt, trat seines 1924 in Festungs-
Goebbels in den von Linken beherrschten Berliner haft geschriebenen Buches
Arbeitervierteln auf. Bald kam es zu Saal- und „Mein Kampf“ beschäftigte
Straßenschlachten mit Kommunisten, über die in der sich Adolf Hitler ausführlich
Presse prominent berichtet wurde. mit der großen Bedeutung
Als kommunistische Rotfront-Kämpfer Anfang der Propaganda.
FOTOS: BPK / HEINRICH HOFFMANN (L.); BPK (R.)

1930 den Jurastudenten und SA-Sturmführer Horst


Wessel erschossen, hatte Goebbels endlich einen
Märtyrer. In seiner Grabrede verklärte der Gauleiter
den Verstorbenen wie eine Christusfigur: „Einer
muss Beispiel werden und sich selbst zum Opfer brin-
gen.“ Ein von Wessel hinterlassener Liedtext wurde
zur Hymne der NSDAP: „Die Fahne hoch, die Rei-
hen fest geschlossen …“
Bevorzugtes Opfer von Goebbels’ Propaganda
war Berlins jüdischer Vizepolizeipräsident Bernhard
spiegel special geschichte 1 | 2008 133
DER TOTALITÄRE STAAT
Bernhard Weiß Weiß, den Hitlers späterer Propagandaminister be-
ständig attackierte und als „Isidor“ verhöhnte. In
Der jüdische Vizepoli-
fast jeder Ausgabe der von ihm begründeten Zei-
zeipräsident von Berlin,
tung „Der Angriff“ beleidigte er den Sozialdemo-
Jahrgang 1880,
kraten und veröffentlichte schließlich einen Sam-
entstammte einer wohl-
melband mit dem Titel „Das Buch Isidor – Ein Zeit-
habenden Familie und
bild voll Lachen und Hass“. Als Weiß sich mit Straf-
hatte im Ersten Welt-
anzeigen zur Wehr zu setzen versuchte, nutzte Goeb-
krieg als Reserve-
bels die Prozesse, um seine antisemitische Hetz-
offizier gedient. Sein
kampagne weiterzutreiben.
Amt im Polizeipräsidium
Während Hitler glaubte, er sei dazu ausersehen,
trat er im Sommer 1918
das deutsche Volk zu retten, hatte Goebbels ein
an. Er war klein von
durchaus zynisches Verhältnis zu seiner Propaganda
Wuchs und trug eine
und deren Adressaten. Es gehe darum, schrieb er,
dicke Hornbrille. Wohl
den Empfänger der nationalsozialistischen Botschaf-
auch deshalb machten
ten „ganz mit den Ideen der Propaganda zu durch-
ihn die Nazis zum Ziel
tränken, ohne dass er überhaupt merkt, dass er
ihrer antisemitischen
durchtränkt wird“.
Hetzkampagne.
Doch es war nicht Goebbels allein, der die NS-
Weiß wurde 1932 seines
Agitation organisierte. Er hatte von Anfang an Riva-
Postens enthoben, 1933
len, mit denen er sich um Kompetenzen und die
entkam er knapp den
Gunst Hitlers stritt, etwa den Journalisten und
Nazi-Schergen. Über
Reichspressechef der NSDAP, Otto Dietrich; oder „Appell an die Nation“ gepresst und verteilt sowie
Prag flüchtete er nach
Max Amann, den Direktor des Parteiverlags, in dem Werbefilme produziert. Schon zuvor hatten Partei-
London ins Exil.
unter anderem der „Völkische Beobachter“ erschien; aktivisten gern ein Plakat geklebt, das nur ein Foto
schließlich Goebbels’ Intimfeind Alfred Rosenberg, und den Namen Hitlers zeigte. Eine derartige Perso-
der sich als Chefideologe der Partei sah. nalisierung war im Vergleich zum altbackenen Wahl-
Ihr Meisterstück lieferten die Propagandamanager kampf der bürgerlichen Parteien hochmodern.
der NSDAP 1932 ab. In diesem Jahr galt es, in einer Dennoch unterschätzten viele in der Weimarer
Serie von Wahlkämpfen auf sich aufmerksam zu ma- Republik die Wirkung von Hitlers Propagandafeld-
chen: für zwei Reichstagswahlen, die Wahl des zügen. „Politik im Groteskstil“, spottete Thomas
Reichspräsidenten und mehrere Landtagswahlen. Mann, „mit Heilsarmeeallüren, Massenkrampf, Bu-
Der Wahlkampfstab, bei dengeläut, Halleluja und derwischmäßigem Wieder-
dem Hitler auch in De- holen monotoner Schlagworte, bis alles Schaum vor
tails mitbestimmte, hatte dem Mund hat.“
sich dafür eine beson- Die Machtübernahme am 30. Januar 1933 wurde
dere Sensation ausge- mittels ruch- und rastloser Propaganda erreicht, und
dacht. Während seine danach verfügten die Nationalsozialisten über alle
Konkurrenten brav mit Möglichkeiten, die öffentliche Meinung zu kontrol-
der Bahn durch die Lan- lieren. Gleichzeitig galt es nun, die aggressive Agita-
de reisten, kam der tion durch seriösere Beeinflussung zu ergänzen. Hit-
NSDAP-Anführer gewis- ler, dessen „Führermythos“ Goebbels und andere
sermaßen vom Himmel: bereits begründet hatten, sollte den Deutschen als
Er reiste im gecharterten würdiger Staatsmann präsentiert werden.
Flugzeug an. Unter dem Für die Umsetzung der neuen Strategie war, wenn
Motto „der Führer über auch nicht allein und nicht unumstritten, wiederum
Deutschland“ absolvier- Joseph Goebbels zuständig. Seit dem 13. März 1933
te er viermal ausgedehn- amtierte der mit 35 Jahren Jüngste in Hitlers Kabinett
AGITATOR te „Deutschlandflüge“. Hitler hatte mittlerweile als Reichsminister für Volksaufklärung und Propa-
Dem Propagandaminister Stimm- und Schauspielunterricht genommen. Bei ganda. In Vorgesprächen mit seinem „Führer“ hatte
Joseph Goebbels war jedes seinem dritten Deutschlandflug trat er in 53 ver- er noch versucht, in den offiziellen Namen seines
Mittel und jedes Medium schiedenen Städten und Orten auf. Oft ließ er die Ressorts das Wort „Kultur“ anstelle von „Propagan-
recht, um die Ideologie der erwartungsvollen Massen über Stunden warten, bis da“ aufnehmen zu lassen, da Letzteres, so Goeb-
Nazis unter die Bevölkerung er mit seiner Entourage einmarschierte und seinen bels, einen „bitteren Beigeschmack“ habe. Hitler
zu bringen. Sein Ziel war es, Auftritt wie eine Messe zelebrierte. weigerte sich, und der neugekürte Minister fand sich
den Menschen „ganz mit Nach den Landtagswahlen vom 24. April 1932, damit ab. Drei Tage später verkündete er forsch,
den Ideen der Propaganda bei denen die NSDAP in Preußen mit 36,3 Prozent jetzt gehe es darum, die Massen so lange zu „bear-
zu durchtränken“. stärkste Partei wurde, schrieb Goebbels in sein Ta- beiten, bis sie uns verfallen sind“.
gebuch: „Es ist ein phantastischer Sieg, den wir er- Nach dem Reichstagsbrand im Februar 1933 wa-
rungen haben. Wir müssen in absehbarer Zeit an die ren die linken Zeitungen ausgeschaltet worden. Dro-
Macht kommen. Sonst siegen wir uns in Wahlen tot.“ hend schrieb Goebbels Mitte März im Anschluss an
Der Reichspropagandaleiter wusste durchaus, dass die tägliche Pressekonferenz in sein Tagebuch: „Vie-
sich eine permanente Mobilisierung der Massen auf le von denen, die hier sitzen, um öffentliche Meinung
Dauer nicht aufrechterhalten ließ. zu machen, sind dazu gänzlich ungeeignet. Ich wer-
Bei ihrer nächsten Kampagne für die Reichstags- de sie sehr bald ausmerzen.“
wahl Ende Juli 1932 ließen sich die nationalsozialis- Dies erledigte er gründlich mit dem Anfang Ok-
SPIEGEL TV (L.)

tischen Wahlkampfmanager etwas Neues einfallen. tober 1933 erlassenen Schriftleitergesetz, in dessen
Erstmals wurden 50 000 Schallplatten von Hitlers Folge rund 1300 „marxistische“ und jüdische Jour-

134 spiegel special geschichte 1 | 2008


nalisten ihre Jobs verloren. Kurz zuvor hatten Hitler nerte sich später der jüdische Emigrant Jakob Schloß, PARADE
und Goebbels schon das Reichskulturkammergesetz der bis 1938 in Fürth lebte. „Das fand ich wunder- Im offenen Wagen
erlassen und damit den gesamten Kulturbetrieb und schön.“ begrüßte Hitler im Juni
alle Medien gleichgeschaltet. Nicht nur Journalisten, Dennoch war Goebbels klar, dass die ständige 1939 in Berlin Mitglieder
auch bildende Künstler, Schriftsteller, Schaupieler Wiederholung simpler Agitation nicht reichen wür- der Legion Condor, einer
und Regisseure mussten fortan in der für sie zustän- de, um die Menschen bei Laune zu halten. Also setz- Truppe, die im Spanischen
digen Reichskammer organisiert sein, wollten sie ihre te er zunehmend auf Unterhaltung, besonders im Bürgerkrieg auf Seiten des
Berufe weiter ausüben. Um Mitglied zu werden, war Film, den er für das „modernste Beeinflussungsmit- Diktators Franco kämpfte
ein „Ariernachweis“ Voraussetzung. tel“ überhaupt hielt. Nur ein Fünftel aller Filme aus und dort im April 1937 die
Wichtiger als das geschriebene Wort waren für der NS-Zeit sind reine Propagandastreifen. Stadt Guernica zerstört
Goebbels die modernen Technologien. Nachdem er Auch wenn sich die Nazis den gesamten Kultur- hatte.
im August 1933 die Funkausstellung in Berlin be- betrieb nach und nach unterwarfen, ein Problem
sucht hatte, notierte der Technikbegeisterte eupho- blieb für sie schwer lösbar: Die gleichgeschalteten
risch in sein Tagebuch: „Fernsehen ist die große Zu- Medien drückten nicht die Stimmung des Volkes aus.
kunft.“ Und während für Hitler die Presse den „weit- Allenfalls die „Meldungen aus dem Reich“ des Si-
aus stärksten und eindringlichsten“ Einfluss auf die cherheitsdienstes gaben den Herrschenden Hinwei-
Massen hatte, begriff Goebbels das Radio als wich- se darauf, was hinter vorgehaltener Hand an Kritik
tigstes Massenmedium. Der Rundfunk sei „seinem und Unwillen im Volk kursierte. Ganz freima-
Wesen nach autoritär“, befand der Propagandaminis- chen von Volkes Stimme aber konnten
ter und ließ auf Straßen und Plätzen „Reichslaut- sich auch die Nationalsozialisten
sprechersäulen“ aufbauen. Gleichzeitig förderte er nicht. So schwächte Goebbels
die Entwicklung und Verbreitung des auch für Nor- die antisemitische Propaganda
malverdiener erschwinglichen „Volksempfängers“. zeitweise ab, nachdem er erfah-
Das Nachfolgemodell, der nur 35 Reichsmark teure ren hatte, dass die Gewalttaten
„Deutsche Kleinempfänger“, hieß im Volksmund der Reichspogromnacht des 9. No-
HUGO JAEGER/TIMEPIX/TIME LIFE PICTURES/GETTY IMAGES (O.); HERMANN HISTORICA/INTERFOTO (R. U.)

bald „Goebbels’ Schnauze“. vember 1938 auf keine große Zu-


Als die ersten Exemplare 1933 auf den Markt ka- stimmung gestoßen waren.
men, gab es in ganz Deutschland gerade mal 4,3 Mil- Gewöhnlich wird Hitlers Propa-
lionen Radios; 1939 waren es 10,8 Millionen. Damit gandachef als Genie und dämonischer
auch der letzte Volksgenosse in den Genuss von Hit- Verführer zugleich gesehen. Bei einer
ler-Reden kommen konnte, warb die Propaganda seiner wichtigsten Aufgaben indessen
zudem für den „Gemeinschaftsempfang“. versagte er: Er sollte die Deutschen
Ebenso wichtig wie der „Volksempfänger“ im kriegsbereit machen. Doch der schmäch-
Wohnzimmer waren für die NS-Propagandisten die tige Mann mit dem Klumpfuß hatte selbst
Massenveranstaltungen. Sie sollten die Menschen Angst vor dem Krieg. UMFASSENDE
zur Volksgemeinschaft zusammenschweißen. Also Als Hitler die Wehrmacht am 1. September 1939 MEDIENSTRATEGIE
überzogen die Nationalsozialisten das Land mit einer in Polen einfallen ließ, gab es keine Begeisterung Vom gedruckten Parteipro-
Vielzahl von zum Teil neu eingeführten Fest- und Fei- wie im August 1914. Der amerikanische Berlin-Kor- gramm über Schallplatten
ertagen – Großveranstaltungen, die, wie etwa der respondent William L. Shirer beobachtete, wie am mit Hitlers Reden bis hin zu
1. Mai, bombastisch zelebriert wurden, mit Fahnen, 3. September 1939 ein paar hundert Passanten auf Radiosendungen und
SA-Spalieren, Fackelzügen. Höhepunkt nationalso- dem Wilhelmplatz unweit des Propagandaministe- Massenaufmärschen – die
zialistischer Selbstinszenierung und totalitärer Ästhe- riums über Lautsprecher von der Kriegserklärung Nationalsozialisten versuch-
tik waren die NSDAP-Parteitage in Nürnberg mit Großbritanniens und Frankreichs erfuhren. Statt ten auf allen Wegen, die
ihren von Albert Speer entworfenen Lichtdomen. Jubel hörte er „nicht einmal ein Murmeln“, die Menschen zu manipulieren.
„Als Kind haben mir die Fahnen und Farben bei Menschen, so Shirer, „standen unverändert dort.
den Aufmärschen der Nazis so gut gefallen“, erin- Betäubt“. ✦
spiegel special geschichte 1 | 2008 135
DER TOTALITÄRE STAAT

Waren Holocaust und Krieg nach dem Machtantritt Adolf Hitlers unvermeidbar?

VOLK OHNE GRENZEN


Ein Essay von Michael Wildt

N
ur vier Tage nach seiner Ernennung zum Im Juni 1933 kündigte die Hitler-Regierung ein-
Reichskanzler traf sich Adolf Hitler mit AUFSCHWUNG AUF PUMP seitig ein Moratorium aller Auslandsschulden an, was
den Befehlshabern der Reichswehr in der Aufwendig wurde Hitlers die Gläubigerstaaten zu Recht als aggressiven Af-
Privatwohnung des Chefs der Heereslei- Besuch am 26. Mai 1938 in front verstanden.
tung, General der Infanterie Kurt Freiherr von Ham- Fallersleben inszeniert, wo Im Oktober trat das Deutsche Reich mit Aplomb
merstein. Was er den zwei Dutzend versammelten er den Grundstein für ein aus dem Völkerbund aus und zog sich aus allen in-
Generälen am Abend dieses 3. Februar zu sagen hat- Volkswagenwerk legte. ternationalen Abrüstungsverhandlungen zurück, um
te, bildete den Kern seines politischen Programms: Die wachsende Rüstungs- sich sämtlicher völkerrechtlicher Verpflichtungen zu
„Völlige Umkehrung der gegenwärtigen innenpoliti- produktion wurde vor allem entledigen und die Aufrüstung ungehemmt voran-
schen Zustände in Deutschland“, so notierte Gene- durch Schulden finanziert. treiben zu können.
ralleutnant Curt Liebmann Hitlers Ausführungen.
„Keine Duldung der Betätigung irgendeiner Gesin-
nung, die dem Ziel entgegen steht (Pazifismus!). Wer
sich nicht bekehren lässt, muss gebeugt werden. Aus-
rottung des Marxismus mit Stumpf und Stiel.“ Und:
„Beseitigung des Krebsschadens der Demokratie“
sowie „Eroberung neuen Lebensraums im Osten und
dessen rücksichtslose Germanisierung“.
Auch daran, dass der Aufbau der Armee wichtigs-
te Voraussetzung für diese Politik ist, ließ Hitler kei-
nen Zweifel. Im Gegenteil, die „Stärkung des Wehr-
willens mit allen Mitteln“ sei so wichtig, dass dem
gegenüber alles andere
MICHAEL WILDT, zurücktreten müsse, ließ
Jahrgang 1954, ist His- er seine Zuhörer wissen.
toriker am Hamburger Und das Volk, insbeson-
Institut für Sozial- dere die Jugend, müsse
forschung sowie Autor auf die Überzeugung
zahlreicher Bücher und eingeschworen werden,
Aufsätze über den dass „nur der Kampf uns
Nationalsozialismus. retten kann“.
2007 erschien von ihm Die Generäle hörten
„Volksgemeinschaft als Hitlers Programm gern,
Selbstermächtigung. hatte doch die Reichs-
Gewalt gegen Juden in wehrführung schon 1921
der deutschen Provinz im Geheimen damit be-
1919 – 1939“. gonnen, unter Bruch des
Versailler Vertrags den
Aufbau eines großen Heeres zu planen. Nun war
endlich eine Regierung an der Macht, die ihre Poli-
tik auf den Krieg ausrichtete.
Reichsbankpräsident Hjalmar Schacht stimmte im
Sommer 1933 einem Programm zu, dem zufolge in
den kommenden acht Jahren 35 Milliarden Reichs-
mark an staatlichen Mitteln in die Aufrüstung inves-
tiert werden sollten – eine gigantische Summe, wenn
man bedenkt, dass das gesamte Volkseinkommen
Deutschlands im Jahr 1933 etwa 46 Milliarden Reichs-
mark betrug.
Die Heeresführung legte im Dezember 1933 nach
und plante die Vergrößerung des stehenden Heeres.
21 Divisionen mit 300 000 Mann sollten bis März 1938
verfügbar sein – eine Zahl, die nur mit der Ein-
führung der allgemeinen Wehrpflicht zu erreichen
war, was der Versailler Vertrag verbot. Aufrüsten
wollten auch die Marine und das neugebildete Reichs-
luftfahrtministerium unter Hermann Göring.

136 spiegel special geschichte 1 | 2008


Gleichzeitig suchte das NS-Regime die interna-
tionale Öffentlichkeit zu täuschen, indem die Mi- Zwischen 1933 einen und dringend benötigtem Geld, um Rohstoffe
für die Rüstungsproduktion zu importieren, auf der
litärausgaben vom üblichen Budget abgekoppelt und
Sonderbuchhaltungen eingerichtet wurden. Ab 1934 und 1935 stieg anderen Seite. Trotz des rasanten Verfalls der öf-
fentlichen Finanzen hielt das Regime unerbittlich an
wurden die Rechnungen der Rüstungsfirmen mit
Wechseln bezahlt, die auf die Metallurgische For-
der Anteil der der Aufrüstung fest, mit dem immer deutlicher wer-
denden Kalkül, die immens angewachsenen Schul-
schungsgesellschaft gezogen wurden, eine Schatten-
firma, hinter der die Reichsbank stand. Diese soge-
Militäraus- den durch den Krieg, durch Eroberungen, Kontribu-
tionen und rücksichtslose Ausplünderung der er-
nannten Mefo-Wechsel konnten die Unternehmen
dann bei der Reichsbank einlösen.
gaben am Volks- oberten Gebiete wieder ausgleichen zu können.
Der Rüstungsproduktion war es auch in erster Li-
Zwischen 1933 und 1935 stieg der Anteil der Mi-
litärausgaben am Volkseinkommen von weniger als
einkommen nie zu verdanken, dass die Arbeitslosigkeit sank. Mit
den vom Staat massiv geförderten Rüstungsinvesti-
einem Prozent auf fast zehn Prozent. Kein kapita- von weniger als tionen entstanden zahlreiche neue Arbeitsplätze wie
listischer Staat, hält der britische Wirtschaftshistori-
ker Adam Tooze fest, hat je in so kurzer Friedenszeit einem auf fast etwa in der Luftfahrtindustrie. Die Flugzeugproduk-
tion erlebte einen beispiellosen Aufschwung von
eine Umschichtung des gesamten Sozialprodukts in
solchem Ausmaß vorgenommen.
zehn Prozent. knapp 4000 Beschäftigten im Januar 1933 auf 54 000
zwei Jahre später und annähernd 240 000 Beschäf-
Finanziert wurde das Ganze auf Pump. Mit eben- tigte im Frühjahr 1938. Deutschland erreichte als
so waghalsigen wie verantwortungslosen Jongleurs- erstes Industrieland nach der Depression die Vollbe-
künsten lavierte Schacht zwischen dramatisch sin- schäftigung, während sich beispielsweise in den USA
kenden Exporterlösen und Devisenreserven auf der noch bis 1940 eine hohe Arbeitslosigkeit hielt. In den
Berichten, die sozialdemokratische Vertrauensleute
heimlich an den Exilvorstand der SPD in Prag schick-
ten, hieß es 1936 resigniert, dass „große Teile der
Arbeiterschaft“ mittlerweile „Freiheit“ gegen „Si-
cherheit“ am Arbeitsplatz eingetauscht hätten.
Dennoch wurden auch die kleinen Leute ge-
schröpft, selbst wenn sie es kaum bemerkten. So
hielt das NS-Regime trotz Vollbeschäftigung den Bei-
tragssatz zur Arbeitslosenversicherung weiterhin bei
6,5 Prozent des Lohns und leitete die Milliarden, die
nun nicht mehr für das Arbeitslosengeld ausgege-
ben werden mussten, in die Rüstungsproduktion um.
1935 wagte Hitler mit der Einführung der allge-
meinen Wehrpflicht den ersten offenen Bruch mit
dem Versailler Vertrag. Wenige Monate später, im
März 1936, ging er einen entschiedenen Schritt wei-
ter und ließ deutsche Truppen in das entmilitarisier-
te Rheinland einmarschieren. Schon im Februar 1933
hatte er vor den Generälen zugegeben, dass die Pha-
se des militärischen Aufbaus die gefährlichste sei und
es sich zeigen werde, ob insbesondere Frankreich
Politiker besitze, die der deutschen Politik ent-
schlossen Einhalt geböten. Hitlers Truppen hatten
den Befehl, sich bei dem geringsten Anzeichen einer
Reaktion seitens der französischen Armee sofort
zurückzuziehen.
Doch Frankreich mochte ohne britische Unter-
stützung keine militärische Auseinandersetzung ein-
gehen, und Großbritannien war durchaus bereit, der
deutschen Forderung nach Revision des Versailler
Vertrags nachzugeben. Hitler hatte sein Vabanque-
spiel gewonnen. Zwar verurteilte der Völkerbund
den deutschen Einmarsch, aber praktische Konse-
quenzen hatte dies nicht. Der Glaube, dass Hitler
offenbar alles zu gelingen schien, fand in der deut-
schen Bevölkerung über die Anhänger des Natio-
HEINRICH HOFFMANN / BAYERISCHE STAATSBIBLIOTHEK

nalsozialismus hinaus weiten Widerhall. Die „Wah-


len“ zum Reichstag am 29. März 1936 gerieten zu ei-
nem Triumphzug des „Führers“.
Nun wurde die Wirtschaft massiv auf den Krieg
ausgerichtet. In einer geheimen Denkschrift vom Au-
gust 1936 forderte Hitler, dass die deutsche Armee in
vier Jahren einsatz- und die deutsche Wirtschaft in
vier Jahren kriegsfähig sein müssten. Die Planzahlen
für neue Panzerdivisionen und bestausgerüstete mo-
torisierte Infanteriedivisionen, erkennbar konzipiert
für eine Angriffsarmee, übertrafen die phantasti-
spiegel special geschichte 1 | 2008 137
DER TOTALITÄRE STAAT
schen Vorgaben aus dem Jahr 1933 noch und ließen
die Anforderungen an die Volkswirtschaft in die Von Anfang radikale Kritik an den hohlen Versprechen liberaler
Politiker, hieß Misstrauen in die Steuerungsmedien
Höhe schießen.
Diese Mobilisierung der deutschen Wirtschaft und an wollte bürgerlicher Gesellschaft wie parlamentarische De-
mokratie, Gewaltenteilung und durch Gesetz ver-
Gesellschaft durch den Nationalsozialismus bot jun-
gen Menschen bislang ungeahnte Möglichkeiten.
die national- bürgtes Recht. Die Diskontinuität, der Bruch mit der
Vergangenheit und der Blick auf das Zukünftige wur-
Eine junge Generation, die sich in der Weimarer
Gerontokratie mit einem 80-Jährigen als Reichs-
sozialistische den Kennzeichen dieser Generation, die wie kaum
eine zweite in Deutschland im 20. Jahrhundert die
präsidenten schon verloren glaubte, gelangte jetzt
an die Schalthebel der Macht. Reinhard Heydrich
Führung Jugend zum Programm erhob. Zukunft konnte nur
ein Gegenmodell zum Bestehenden, eine neue, ra-
war gerade 30 Jahre alt, als er die Leitung des Ge-
heimen Staatspolizeiamts in Berlin übernahm. Jo-
den Krieg um dikal andere Ordnung sein, die „wahre“ Gemein-
schaft stiftete und dem Einzelnen einen verlässlichen
seph Goebbels wurde mit 35 Jahren im März 1933 „Lebensraum“ Sinn seiner selbst gab.
zum Reichsminister für Volksaufklärung und Propa-
ganda ernannt. Nicht älter war Heinrich Himmler, als führen. Nicht Bürger wollten sie sein, sondern Führer,
nicht gewählte, sondern erwählte, natürliche Elite
er Mitte 1936 Chef der gesamten deutschen Polizei des Volkes. Führerschaft gründete sich auf dem an-
wurde. Albert Speer war 28 Jahre, als Hitler ihn 1933 geblichen Wissen um die organische Entwicklung
entdeckte und mit der Verwirklichung seiner gigan- von Natur und Volk und bestätigte sich durch die Tat.
tomanischen Architekturentwürfe beauftragte. Was zählte, war der politische Wille und die Ent-
Aber auch in der Wirtschaft löste eine junge Ge-
neration die alten Wirtschaftsführer ab. Junge Che-
miker wie Otto Ambros und Heinrich Bütefisch über-
nahmen rüstungsstrategisch wichtige Positionen in
der Leitung der IG Farben. Berthold Beitz folgte
1941 mit 28 Jahren als kaufmännischer Direktor der
Karpathen-Öl AG den deutschen Truppen in das er-
oberte Galizien, um die dortigen Ölfelder für die
deutsche Wirtschaft auszubeuten. Später rettete er
dort jüdische Zwangsarbeiter vor der Vernichtung.
Ebenso wurde Hanns Martin Schleyer 1941 als 26-
Jähriger Besatzungsfunktionär in Prag. Und nicht
zuletzt boten die antisemitischen Entlassungen von
Juden in den Universitäten, Krankenhäusern und
Anwaltskanzleien jungen Akademikern schon 1933
beste Aufstiegschancen. Von Schleyer stammt auch
die Schilderung jenes Generationsgefühls: „Die uns
in jungen Jahren in der Kampfzeit anerzogene Be-
reitschaft, Aufgaben zu suchen und nicht auf sie zu
warten, der ständige Einsatz für die Bewegung auch
nach der Machtübernahme haben uns früher als
üblich in die Verantwortung gestellt.“
Aufgewachsen im oder nach dem Ersten Welt-
krieg, fehlte dieser Generation das existentielle
körperliche Erlebnis von den Verwüstungen des
Schlachtfelds. Krieg war für sie ein Spiel. In seinem
Buch „Geschichte eines Deutschen“ schildert Sebas-
tian Haffner, Jahrgang 1907, wie er als Kind eifrig die
Heeresberichte studierte und wie Gefangenenzah-
len, Geländegewinne und versenkte Schiffe „unge-
fähr die Rolle spielten wie Torschüsse beim Fußball
oder Punkte beim Boxen“.
„Es war“, so Haffner, „ein dunkles, geheimnis-
volles Spiel, von einem nie endenden, lasterhaften
Reiz, der alles auslöschte, das wirkliche Leben nich-
tig machte, narkotisierend wie Roulette oder Opi-
umrauchen.“ Er und seine Kameraden hätten es den
ganzen Krieg hindurch gespielt, vier Jahre lang, und
dieses Spiel „war es, was seine gefährlichen Marken
in uns allen hinterlassen hat“. Deshalb seien nicht die
älteren Frontsoldaten, sondern diese Jugendlichen
„die eigentliche Generation des Nazismus“.
Ihre Adoleszenz erlebten diese jungen Männer in
den prekären und instabilen Nachkriegsjahren. Wirt-
schaftliche Not herrschte ebenso wie politischer Bür-
gerkrieg. Die immateriellen Werte der bürgerlichen
Gesellschaft wie Fleiß, Sparsamkeit und solide Haus-
haltsführung zerstoben im Wirbel der Inflation. Zu-
kunft hieß für die Kriegsjugendgeneration vor allem

138 spiegel special geschichte 1 | 2008


schiedenheit, ihn durchzusetzen. Allein der Erfolg schränkten Gestalters menschlichen Lebens, der His-
hatte Bedeutung und rechtfertigte zugleich das Han- toriker in der Position, Weltgeschichte zu machen,
deln wie die Idee. Die Tat legitimierte sich selbst. und der Volkswirt in der Lage, eine europäische
Führer entwarfen nicht nur politische Konzepte, sie Großraumwirtschaft, besser Raubwirtschaft zuguns-
formulierten nicht allein Erlasse, sie erteilten eben- ten des Deutschen Reiches zu organisieren.
so die Befehle vor Ort, sorgten dafür, dass die Praxis Von Anfang an wollte die nationalsozialistische
der „Idee“ entsprach. Handeln zielte immer auf Un- Führung den Krieg um „Lebensraum“ führen. Der
bedingtheit, auf das Ganze, durfte weder einer re- dazu notwendigen Aufrüstung galten alle Aufmerk-
gulierenden Norm noch irgendeinem Moralgesetz samkeit, alle Ressourcen ihrer Politik. Dazu mobili-
unterworfen sein. VERNICHTUNG DER JUDEN sierte sie die deutsche Bevölkerung und sämtliche
Das Projekt, nicht nur Deutschland „rassisch“ neu Jüdische Frauen und Kinder ökonomischen Mittel, selbst mit der Konsequenz,
erstehen zu lassen, sondern ganz Europa völkisch versammeln sich Anfang durch die immense Schuldenwirtschaft die deutsche
neu zu ordnen, jene Faszination, nicht nur andere, Oktober 1939 an einer Volkswirtschaft zu zerrütten. In ihrem zynischen Kal-
schönere Welten zu entwerfen, sondern auch Wasserstelle in Gostynin. kül würden die Beschlagnahmungen, die Kontribu-
schreckliche Wirklichkeit werden zu lassen, hat In- Die jüdische Bevölkerung tionen und der Raub von Vermögen aus den erober-
tellektuelle, Akademiker, Wissenschaftler scharen- des zentralpolnischen Orts ten Gebieten die volkswirtschaftliche Bilanz Deutsch-
weise zu bereitwilligen Stützen des NS-Regimes wer- wurde mehrheitlich in das lands wieder ausgleichen. Und die jungen Eliten in
den lassen. Endlich glaubte sich der Philosoph an KZ Dachau verschleppt und Staat, Militär und Wirtschaft unterstützten diese Po-
der Macht, der Arzt in der Rolle eines uneinge- dort ermordet. litik, weil sie Gestaltungskraft, Expansion und
Machtzuwachs bedeutete.
So eindeutig die nationalsozialistische Politik von
1933 an auf den Krieg ausgerichtet war, so unver-
meidlich war er dennoch nicht. Wie Hitlers vorsich-
tiges Taktieren bei der Besetzung des Rheinlands
zeigt, war er sich in diesen ersten Jahren der NS-
Herrschaft keineswegs sicher, dass seine Politik auf-
gehen könnte. Eine entschlossene Reaktion der eu-
ropäischen Nationen, insbesondere Frankreichs, Eng-
lands und auch Italiens, hätte der deutschen Expan-
sionspolitik durchaus Einhalt gebieten können.
Doch deuteten die Westmächte die deutsche
Außenpolitik als bloße Revision des Versailler Ver-
trags, dessen Bestimmungen sie mittlerweile durch-
aus als zu hart beurteilten. Als der britische Premier
Chamberlain nach Abschluss des Münchner Ab-
kommens 1938 nach London zurückkehrte, wurde er
als „peacemaker“ gefeiert, der einen drohenden eu-
ropäischen Krieg abgewendet habe. Italien betrieb
selbst eine Eroberungspolitik im Mittelmeerraum,
für die es deutsche Unterstützung brauchte. Und
alle, einschließlich des Vatikans, sahen es gern, wenn
sich die nationalsozialistische Aggressivität gegen
den Bolschewismus und die Sowjetunion richtete.
Den Kern der nationalsozialistischen Politik, den
Krieg um „Lebensraum“, der an den europäischen
Grenzen von 1914 nicht haltmachte, haben die übri-
gen europäischen Mächte zu spät erkannt, um recht-
zeitig eingreifen zu können. Erst als Hitler Polen
überfiel, erklärten Großbritannien und Frankreich
dem Nazi-Regime den Krieg.
Der Krieg entschied auch über das Schicksal der
europäischen Juden. Unvermeidbar war der Holo-
caust jedoch nicht, obwohl das neue Regime von An-
fang an unmissverständlich klarmachte, dass es eine
radikal antisemitische Politik betreiben würde. Der
Boykott jüdischer Geschäfte am 1. April 1933, die
gleich nachfolgenden Gesetze zum Ausschluss von
Juden aus dem Öffentlichen Dienst sowie die zahl-
HUGO JAEGER / TIME LIFE PICTURES/GETTY IMAGES

reichen antisemitischen Verordnungen und Schika-


nen überall im Reich ließen an der Entschlossenheit
des NS-Regimes, die Juden aus Deutschland zu ver-
treiben, keinen Zweifel.
Und die Hitler-Regierung fand zahlreiche Helfer.
Die Stadtverwaltung Köln bestimmte Ende März,
dass öffentliche Aufträge nicht mehr an Juden zu
vergeben seien, und untersagte jüdischen Sportlern
die Benutzung der öffentlichen Sportplätze. Der
Münchner Oberbürgermeister wies Anfang April an,
spiegel special geschichte 1 | 2008 139
DER TOTALITÄRE STAAT
dass jüdische Ärzte in Münchner Krankenhäusern schleppt und seine Leiche später durchschossen auf-
nur noch jüdische Patienten behandeln dürften. Der gefunden. In Königsberg wurde die Synagoge ange-
Bürgermeister des saarländischen Zweibrücken ver- zündet, es gab Brandanschläge auf mehrere jüdische
bot im Mai die Teilnahme jüdischer Schausteller und Geschäfte. In Magdeburg überfielen Nationalsozialis-
Platzmieter am Jahrmarkt. In Frankfurt sollten jüdi- ten ein kleines Hotel, das häufig jüdische Reisende
sche Lehrer nicht mehr Deutsch und Geschichte un- beherbergte, feuerten mehrere Schüsse ab und ver-
terrichten. In Berlin wurde jüdischen Schülern ab letzten zahlreiche Gäste mit Messerstichen. Aus-
Oktober keine Schulgeldermäßigung mehr gewährt – schreitungen am 6. März auf dem Kurfürstendamm
alles nur eine kleine Auswahl aus den kommunalen in Berlin eskalierten zu blutigen Verfolgungsjagden.
Verwaltungsmaßnahmen gegen Juden in den ersten In Dortmund trieben am 20. März SA- und SS-Trupps
Monaten des NS-Regimes. KRIEG ALS RAUBZUG den jüdischen Metzger Julius Rosenfeld und seinen
Ebenso beeilten sich zahlreiche deutsche Verbän- Deutsche Soldaten sichern Sohn durch die Stadt zu einer Ziegelei, wo beide an
de, Vereine, Organisationen, der antijüdischen Poli- einen Wagen voller Beute- die Wand gestellt und mit einer Schusswaffe bedroht
tik zu folgen. Als die Hamburgische Philharmoni- gut aus einer brennenden wurden. Sie wurden geschlagen, mussten das „Horst-
sche Gesellschaft erfuhr, dass der neue Reichskanz- Scheune in Russland. Wessel-Lied“ singen, und der Sohn wurde gezwun-
ler Hitler gern bereit sei, die Schirmherrschaft für die Das NS-Regime plante, die gen, seinem Vater mit einer in Flammen gesetzten
Feierlichkeiten zum 100. Geburtstag von Johannes immens wachsenden Zeitung den Bart abzubrennen.
Brahms am 7. Mai 1933 zu übernehmen, vorausge- deutschen Staatsschulden Gerade in der Provinz, in den Dörfern und klei-
setzt, sämtliche jüdischen Künstler verschwänden durch Ausplünderung nen Orten, wo die Nazis zwar die Führungspositio-
aus dem Programm, entsprachen die Hamburger be- der eroberten Gebiete nen erobert, aber noch nicht die politische Macht er-
flissen diesem Wunsch. Die Mitglieder der Sektion auszugleichen. rungen hatten, war die Verfolgung der jüdischen
Dichtkunst der Preußischen Akademie der Künste
ließen gehorsamst den Ausschluss von Heinrich
Mann, Alfred Döblin, Jakob Wassermann und ande-
ren geschehen – mit der rühmlichen Ausnahme von
Ricarda Huch, die daraufhin ihren Austritt erklärte.
Der deutsche Boxerverband schloss Anfang April
1933 alle jüdischen Mitglieder von den Wettkämpfen
aus. Mit der Kassenärztlichen Vereinigung organi-
sierte der Hartmannbund den Ausschluss jüdischer
Kollegen. Der Verband der privaten Krankenversi-
cherungsunternehmen wies im Mai an, die Rech-
nungen von jüdischen Ärzten künftig nur noch zu be-
zahlen, wenn es sich auch um jüdische Patienten ge-
handelt habe.
Der bekannte protestantische Berliner General-
superintendent Otto Dibelius, der später Mitglied
der Bekennenden Kirche wurde, schrieb zu Ostern
1933 an die Pastoren seiner Provinz in einem ver-
traulichen Rundbrief, dass für die Motive, aus denen
die völkische Bewegung hervorging, „wir alle nicht
nur Verständnis, sondern volle Sympathie haben.
Ich habe mich trotz des bösen Klanges, den das Wort
vielfach angenommen hat, immer als Antisemiten
gewusst“.
Nicht zu vergessen die unzähligen örtlichen
Sport-, Gesangs-, Schützenvereine oder die lokale
Feuerwehr, die allesamt im Laufe des Jahres 1933
den „Arierparagraphen“, also den Ausschluss jüdi-
scher Mitglieder, in ihr Vereinsstatut übernahmen.
Es kann wohl kaum unterschätzt werden, welche
Wirkung diese Ausgrenzungen für die soziale Isolie-
rung der jüdischen Familien im Ort besaßen. Am
31. Dezember zog Victor Klemperer in seinem Tage-
buch Bilanz: „Ereignisse des Jahres: das politische
Unglück seit dem 30. Januar, das uns persönlich im-
mer härter in Mitleidenschaft zog. Evas sehr schlech-
ter Gesundheits- und Gemütszustand. Der verzwei-
felte Kampf um das Haus. Der Fortfall aller Publika-
tionsmöglichkeit. Die Vereinsamung.“
Gewalt gegen Juden war von Anfang an mit im
Spiel. Unmittelbar nach den Reichstagswahlen im
März 1933 ließen SA und andere NSDAP-Gliede-
rungen ihrem antisemitischen Hass freien Lauf. So
entführten SA-Männer in Breslau den Theaterinten-
danten Paul Barnay und schlugen ihn mit Gummi-
knüppeln und Hundepeitschen krankenhausreif. In
Straubing wurde ein jüdischer Großkaufmann ver-

140 spiegel special geschichte 1 | 2008


Nachbarn als „Volksfeinde“, als „rassische Gegner
des deutschen Volkes“ das zentrale politische In- Die denklich und das Deutschtum nicht so dumm wäre,
meinen Typus mit in denselben Topf zu werfen und
strument, um die bürgerliche Ordnung anzugreifen
und die sogenannte Volksgemeinschaft herzustellen. antijüdische mich mit auszutreiben.“
Die Grundlinien der antisemitischen Politik des
In der politischen Praxis vor Ort hieß das zuerst, so-
ziale Distanz herzustellen, Solidarität und Mitleid
Politik des NS-Regimes in der Vorkriegszeit waren bereits 1933
zu erkennen: die deutschen Juden sozial zu isolieren,
mit den Verfolgten zu stigmatisieren, um die jüdi-
schen Nachbarn zu isolieren und für rechtlos, ja vo-
Regimes stieß sie zu berauben und aus Deutschland zu vertreiben.
Das Parteiprogramm der NSDAP von 1920 hatte un-
gelfrei zu erklären.
Ohne Zweifel lehnte eine Mehrheit der deutschen
durchaus auf missverständlich unter Punkt 4 festgelegt: „Staats-
bürger kann nur sein, wer Volksgenosse ist. Volks-
Bevölkerung die Gewalttätigkeiten gegen Juden ab.
Aber die antijüdische Politik des Regimes stieß
einen breiten genosse kann nur sein, wer deutschen Blutes ist,
ohne Rücksichtnahme auf Konfession. Kein Jude
durchaus auf einen breiten Konsens. Selbst Thomas Konsens. kann daher Volksgenosse sein.“ 37 000 deutsche Ju-
Mann, der sich in der Weimarer Republik vom Na- den verließen 1933 das Land, in den folgenden vier
tionalpolitiker in einen Republikaner verwandelt hat- Jahren waren es jeweils gut über 20 000.
te, merkte in seinem Tagebuch 1933 an, dass die Den Flüchtlingen wurden zahlreiche Steuern, Ab-
„Entjudung der Justiz“ am Ende kein Unglück dar- gaben, Gebühren auferlegt, so dass sie von ihrem
stelle, und fuhr selbstbezogen fort: „Die Revolte ge- Vermögen nur einen geringen Bruchteil für ihr neu-
gen das Jüdische hätte gewissermaßen mein Ver- es Leben im Ausland mitnehmen konnten. Von den
ständnis, wenn nicht der Wegfall der Kontrolle der rund 50 000 jüdischen Geschäften, die es Anfang 1933
Deutschen durch den jüdischen Geist für jenes so be- im Deutschen Reich gegeben hatte, waren bis Mitte
1935 bereits 20 bis 25 Prozent in „arische“ Hände
übergegangen. Mitte 1938 existierten nur noch etwa
9000 jüdische Läden, die dann in einem „Arisie-
rungswettlauf“ ebenfalls die Besitzer wechselten.
Volksgemeinschaft hieß auch Raub und Bereiche-
rung, und etliche Volksgenossen gelangten mit jüdi-
schem Eigentum zu beachtlichem Wohlstand.
Zwischen der erkennbaren Zustimmung zum Na-
tionalsozialismus, der Popularität Hitlers und der
Zustimmung zur Judenverfolgung, so der Hamburger
Historiker Frank Bajohr, gab es eine sichtbare Inter-
dependenz. Schon 1933 war es, wie Victor Klempe-
rer festgehalten hat, für viele Deutsche nicht mehr
opportun, sich mit Juden zu zeigen oder zu treffen.
Etliche jüdische Deutsche bemerkten, dass Bekann-
te sie nicht mehr grüßten oder ihnen auf der Straße
auswichen. Zudem ließ sich die antisemitische Poli-
tik für den eigenen Vorteil nutzen, indem missliebi-
ge jüdische Nachbarn denunziert oder lästige wirt-
schaftliche Konkurrenten ausgeschaltet wurden.
Nicht zuletzt konnte man die sozialen Verhältnisse
lustvoll umdrehen, kleine Finanzbeamte durften nun
einstmals mächtige jüdische Bankiers ungestraft schi-
kanieren, Jugendliche jüdische Honoratioren und
Kaufleute als Opfer durch die Straßen treiben.
Doch geriet die antisemitische Politik des Re-
gimes, die deutschen Juden zugleich auszurauben
und vertreiben zu wollen, in einen unüberbrückba-
ren Widerspruch, denn mittellose jüdische Menschen
waren im Ausland nicht erwünscht und besaßen
kaum eine Chance, irgendwohin emigrieren zu kön-
nen. So behinderten die Nationalsozialisten durch
ihre Raubpolitik selbst, was sie erreichten wollten:
die Vertreibung der Juden aus Deutschland. Die
Auswanderung, stellte der Oberabschnitt Süd des Si-
cherheitsdienstes der SS (SD) Ende 1937 fest, sei
„praktisch zum Stillstand gekommen“.
Solche selbstgeschaffenen Sackgassen führten im
NS-Regime nicht dazu, pragmatisch auf die Schwie-
rigkeiten zu reagieren und die Zielvorgaben zu über-
prüfen. Vielmehr versuchte man, die Hindernisse
mit noch größerer Radikalität und Entschlossenheit
des Willens zu überwinden. „Das Wort unmöglich“,
KARL HÖFFKES / AURIS

so forderte Himmler kategorisch, „darf es nicht ge-


ben und wird es niemals bei uns geben.“
Adolf Eichmann, der für den SD im März 1938
nach Wien geschickt worden war, stellte unter Be-
spiegel special geschichte 1 | 2008 141
DER TOTALITÄRE STAAT
weis, wie die Vertreibung trotz Ausplünderung ge-
lingen konnte – mit terroristischen Mitteln. Eich- Im Schatten saß keine inneren Hemmschwellen oder moralischen
Widerlager. „Recht ist, was dem Volke nützt“, lautete
mann zwang die Wiener jüdische Gemeinde zur Mit-
arbeit, erpresste von ihr etliche Millionen Reichs- des Krieges die utilitaristische Parole. Der schrankenlose Anti-
semitismus, der Deutschland „judenrein“ machen
mark und demonstrierte damit, dass dem SD mit
genügend – krimineller – Energie gelang, was die
radikalisierte wollte, wurde, da sich die Auswanderungsbedingun-
gen verschlechterten, noch radikaler. Statt Emigra-
Ministerialbürokratie mit ihren umständlichen Me-
thoden nicht schaffte: die Vertreibung der Juden von
sich die tion ging es nun um gewaltsame Vertreibung, um De-
portation aller deutschen Juden in ein fernes Land,
diesen selbst finanzieren zu lassen. Die neugegrün-
dete Wiener „Zentralstelle für jüdische Auswande-
NS-Verfolgungs- am besten außerhalb Europas, etwa nach Madagas-
kar. Dem Zweck hatten sich alle Mittel zu beugen.
rung“ wurde zum Modell für Berlin und Prag. Das
Regime begann, die „Judenfrage“ mit systematischer
politik zum Unter den deutschen Eliten zeigte sich am Vor-
abend des Krieges eine erschreckende Bereitschaft,
Gewalt zu „lösen“. Massenmord. Mord als „Problemlösung“ mit einzukalkulieren. Die
Die Atmosphäre in Deutschland im Jahr 1938 Auffassung, dass es doch billiger sei, kranke und be-
blieb gewalttätig aufgeladen. Die vom NS-Regime hinderte Menschen als „Ballastexistenzen“ zu töten,
inszenierte Sudetenkrise führte zu einer immer als sie mit staatlichen Mitteln zu ernähren, konnte
schriller werdenden Pressekampagne für die „unter- man nicht nur in NS-Kreisen, sondern auch von Ärz-
drückten“ Sudetendeutschen in der Tschechoslowa-
kei, die „heim ins Reich“ geholt werden sollten. Zu-
gleich wuchs die Furcht vor einem neuen Krieg, der
um das Sudetenland geführt werden müsste. In
Behördenberichten war von einer „wahren Kriegs-
psychose“, sogar von „Panik“ die Rede.
Während der Glaube an Hitler in jenen span-
nungsvollen Wochen vor dem Münchner Abkom-
men ungebrochen war, entluden sich die Emotionen
auf andere Weise: Der SD notierte in seinem Mo-
natsbericht für September, dass sich in der Bevölke-
rung die Stimmung gegen die Juden „unter dem Ein-
druck der außenpolitischen Entwicklung verschärft“
habe. Ende Oktober meldete der SD, „dass Aktionen
gegen die jüdische Bevölkerung zum Teil auch dar-
aus entstanden sind, dass die Parteiangehörigen den
Augenblick zur endgültigen Liquidierung der Ju-
denfrage gekommen glaubten“.
In einzelnen Kreisen begannen die lokalen
NSDAP-Gruppen mit eigenständigen „Arisierun-
gen“, indem sie die Juden des Orts zusammentrieben
und mit Gewalt zwangen, ihr Eigentum – Häuser, Ge-
schäfte, Grundstücke – zu Schandpreisen zu ver-
kaufen. Anschließend vertrieb man die Menschen.
Aus dem mittelfränkischen Bechhofen berichtete der
SD: Man habe die letzten drei der dort wohnenden
Juden am 20. September „aus ihren Häusern her-
ausgeholt, geschlagen und angespuckt, mit Füßen
getreten und zum Teil barfuß durch die Ortschaft
getrieben. Auch die Kinder nahmen an dieser De-
monstration nach Aufforderung teil“.
Die Zerstörungswut, die hasserfüllten Emotionen,
die wenige Wochen später den Novemberpogrom
beherrschten, sind nur mit der gewalttätigen Aufla-
dung des Jahres 1938 und den Spannungen, die Eu-
ropa an den Rand des Krieges brachten, zu begreifen.
Dass der Novemberpogrom als aggressive Entladung
der angespannten Kriegsfurcht derartig brutal und
destruktiv werden konnte, offenbart zudem die In-
tensität der Emotionen, die tiefe Furcht, die im
Herbst 1938 in Deutschland herrschte und die eine
solche Destruktionskraft entwickeln konnte.
Die kleinen Pogrome in der Provinz im Septem-
ber und Oktober sowie die Gewaltexzesse am 9. und
10. November 1938 zielten nicht mehr allein auf Dis-
kriminierung und Isolierung der jüdischen Nachbarn,
sondern auf deren endgültige Vertreibung und auf die
Auslöschung der jüdischen Kultur in Deutschland.
Morde wurden dabei billigend in Kauf genommen.
Die Logik der Gewalt, die 1933 mit der national-
sozialistischen Politik gegen die Juden einsetzte, be-

142 spiegel special geschichte 1 | 2008


ten hören. Der Historiker Werner Conze empfahl Als die Wehrmacht Polen überfiel, töteten Ein-
1939, das Problem der „ländlichen Überbevölke- satzkommandos der SS sowie volksdeutsche Milizen
rung“ in weiten Teilen Ostmitteleuropas unter ande- Tausende Angehörige der polnischen Elite, katholi-
rem mit der „Entjudung der Städte und Markt- sche Pfarrer, politische Amtsträger, Ärzte, Lehrer.
flecken“ zu lösen. Himmler erteilte im Oktober den Befehl zur „völki-
Die Generalstäbler, die auf den Luftkarten für die schen Flurbereinigung“ in den annektierten west-
deutsche Bomberflotte im September 1939 die jüdi- polnischen Gebieten. Eine Million Menschen, Polen
schen Stadtviertel Warschaus für die vollständige wie Juden, sollten demzufolge ins sogenannte Ge-
Zerstörung markierten, konnten sich gewissermaßen neralgouvernement deportiert werden, gleichgültig,
„wissenschaftlich“ auf eine einschlägige antisemiti- KZ-OPFER ob sie dort Überlebenschancen hatten oder nicht.
sche Studie berufen: „Das Judentum im osteuropäi- Nach der Befreiung des Eichmann organisierte im selben Monat die Deporta-
schen Raum“ von Peter-Heinz Seraphim, damals Lei- Konzentrationslagers tion von Tausenden Juden aus Mährisch-Ostrau und
ter der Polen-Abteilung in Theodor Oberländers In- Buchenwald stehen Wien in ein unwirtliches Gebiet nahe Nisko am San.
stitut für Osteuropäische Wirtschaft in Königsberg. amerikanische Soldaten Heydrich skizzierte ein „Judenreservat“ für die
Hitler selbst datierte bezeichnenderweise seine Er- im April 1945 vor einem deutschen Juden nahe Krakau, ein großes Ghetto, in
mächtigung zu den Euthanasiemorden rückwirkend mit Leichen beladenen dem Zehntausende zusammengepfercht dahinvege-
auf den 1. September 1939, den Beginn des Krieges. Anhänger. tieren sollten. Generalgouverneur Hans Frank sprach
es Ende November 1939 brutal offen aus: „Der Win-
ter wird hier ein harter Winter werden. Wenn es kein
Brot gibt für Polen, soll man nicht mit Klagen kom-
men…Bei den Juden nicht viel Federlesens. Eine Freu-
de, endlich einmal die jüdische Rasse körperlich an-
gehen zu können. Je mehr sterben, umso besser.“
Im Schatten des Krieges radikalisierte sich die na-
tionalsozialistische Verfolgungspolitik zum Massen-
mord. Zwar lag die Auslöschung ganzer jüdischer
Gemeinden, wie sie im Vernichtungskrieg gegen die
Sowjetunion im Spätsommer 1941 geschah, ebenso
wie die systematische Deportation der europäischen
Juden in die Vernichtungslager oder der Massen-
mord von Hunderttausenden in den Gaskammern
noch außerhalb des Horizonts der Täter. Aber ihrem
Denken, ihrer Absicht, ein „judenfreies“ Europa zu
schaffen, war der Völkermord inhärent.
Das rassistisch-utilitaristische Denken der jungen
deutschen Eliten, das „Rassefeinde“, „Gemein-
schaftsfremde“ und „Asoziale“ zu „Ballastexisten-
zen“ erklärte, derer man sich rasch und mitleidlos
entledigen müssen, und das die jüdische Minderheit
zur „Judenfrage“ umdefinierte, die „endgültig“
gelöst werden müsse, war schon vor 1933 durchaus
virulent gewesen. Die Biologisierung des Sozialen,
die dazu führte, dass für soziale Probleme folgerich-
tig biologische „Lösungen“ gesucht wurden, gab es
seit dem 19. Jahrhundert. Aber der nationalsozialis-
tische Machtantritt, mit dem Rassismus und Antise-
mitismus zur Staatsdoktrin wurden, eröffnete die-
sem Denken den politischen Raum, um aus den
Ideen gesellschaftliche Praxis werden zu lassen. Das
Sterilisationsgesetz aus dem Juli 1933 ist dafür ein
Beispiel.
Aber erst der Krieg ließ die Verfolgung zur Ver-
nichtung werden. Der Holocaust, die systematische,
organisierte Ausrottung der europäischen Juden, war
keineswegs mit der Machtergreifung unvermeidlich,
er lag 1933 noch außerhalb des Horizonts antisemi-
tischer Politik. Aber die Unerbittlichkeit, mit der alle
Juden aus dem deutschen Machtbereich zum Ver-
schwinden gebracht werden sollten, sowie der unbe-
dingte Wille zum Krieg machten den Holocaust zu
einer Handlungsoption, die der Politik der National-
sozialisten innewohnte. Es führte kein zwangsläufiger
Weg von der Machtergreifung 1933 nach Auschwitz,
doch unter den selbstgeschaffenen Gewaltverhält-
nissen, in der rassistischen Logik, die mit kaltem Kal-
kül Menschen in Problemfälle verwandelte, schien
R. STEININGER

der Massenmord schließlich für zahlreiche Deutsche


eine „Endlösung“ zu sein. ✦
spiegel special geschichte 1 | 2008 143
SCHAUPLÄTZE

FELDHERRNHALLE
MÜNCHEN
König Ludwig I. ließ 1841 bis 1844 im
Zentrum Münchens eine Loggia nach
florentinischem Vorbild zu Ehren des
bayerischen Militärs errichten. Nach-
dem eine antirepublikanische Putsch-
bewegung unter Führung Hitlers im
Bürgerbräukeller die „Nationale Revo-
lution“ ausgerufen und die bayerische
wie die Reichsregierung für abgesetzt
erklärt hatte, marschierten die Aufrüh-
rer am 9. November 1923 durch die
Innenstadt. Es kam zu Kämpfen mit
der Polizei; 14 Putschisten und 4 Poli-
zisten starben. Nach wenigen Stunden
scheiterte der Staatsstreichversuch.
Nach der „Machtergreifung“ wurde die
Aktion propagandistisch verklärt und
alljährlich als „Marsch zur Feldherrn-
halle“ inszeniert.

BÜCHERVERBRENNUNGS-MAHNMAL schaffen. Für Um- und Ausbauarbeiten tische Gegner rücksichtslos zu verfolgen.
Berlin ließ er Tausende KZ-Häftlinge einsetzen. Am 1. Mai 1945 eroberten Soldaten der
Der einstige Opernplatz war am 10. Mai Unmittelbar vor Kriegsende wurde die Roten Armee das schwer beschädigte Ge-
1933 Schauplatz der von der Deutschen Burg durch ein SS-Kommando weitgehend bäude. Die rote Fahne flatterte als Symbol
Studentenschaft organisierten Bücherver- zerstört. Die wiederhergestellte Burg wird des Sieges über dem Reichstag. Seit April
brennung. Wie in zahlreichen deutschen heute unter anderem als Jugendherberge 1999 ist das mehrfach restaurierte Bau-
Städten waren Leihbibliotheken von und Museum genutzt; im ehemaligen Wach- werk Sitz des Deutschen Bundestages.
Werken unliebsamer Autoren „gesäubert“ gebäude wird die Geschichte der „Kult- www.reichstag.de
worden. Am heutigen Bebelplatz erinnert und Terrorstätte der SS“ dokumentiert.
seit 1995 ein von dem israelischen Bild- www.wewelsburg.de KONZENTRATIONSLAGER DACHAU
hauer Micha Ullman geschaffenes Mahn- bei München
mal, eine im Boden unter einer Glasplatte TOPOGRAPHIE DES TERRORS Schon im März 1933 ließ Himmler, damals
eingelassene Bibliothek mit leeren Rega- Berlin Münchner Polizeipräsident, das KZ
len, an die kulturvernichtende Aktion. Zwischen der ehemaligen Prinz-Albrecht-, errichten. Hier inhaftierte das Regime
der Wilhelm- und der Anhalter Straße zuerst politische Gegner, später Juden,
OBERSALZBERG befanden sich die Zentralen des national- Homosexuelle, Geistliche, Sinti und
bei Berchtesgaden sozialistischen SS- und Polizeistaats: das Roma. Während des Krieges verschleppte
In malerischer Alpenlandschaft kaufte Geheime Staatspolizeiamt, der Sicher- man auch Menschen aus den überfalle-
und erweiterte Adolf Hitler ein Anwesen heitsdienst der SS und ab 1939 auch das nen Ländern hierher. Zwischen 1933 und
(„Berghof“), das als zweite Residenz ne- Reichssicherheitshauptamt. Politische 1945 waren insgesamt mehr als 200 000
ben der Reichskanzlei auch dem Empfang Gegner wurden hier bei Verhören gefol- Menschen in Dachau und seinen 200
von Staatsgästen und Würdenträgern tert. Hier fielen Entscheidungen zur Ver- Außenlagern eingesperrt. Der Tod von
diente. Weitere NS-Prominenz ließ sich folgung politischer Gegner, zur Ermor- 30 000 Gefangenen wurde in Dachau
samt Arbeitsstäben und SS-Entourage im dung sowjetischer Kriegsgefangener und registriert, die tatsächliche Opferzahl liegt
„Führergebiet“ auf dem Obersalzberg zum Völkermord an den europäischen Ju- weitaus höher. Das einstige KZ ist heute
nieder. Alliierte Luftangriffe zerstörten den. Bislang erinnerte eine provisorische eine Gedenkstätte.
einen großen Teil der Anlage. Seit 1999 Ausstellung an das Terrorregime des NS- www.kz-gedenkstaette-dachau.de
informiert eine Ausstellung des Instituts Staats. Nach jahrelangen Konzeptstreitig- Ursula Wamser
für Zeitgeschichte über die Geschichte des keiten ist die Eröffnung eines Dokumen-
Ortes und die NS-Diktatur. tationszentrums für Mai 2010 geplant.
www.obersalzberg.de www.topographie.de

WEWELSBURG REICHSTAG
bei Paderborn Berlin
Im 17. Jahrhundert wurde die Neben- Kaiser Wilhelm II. weihte das von ihm
MAURITIUS IMAGES (O.), FOTEX (U.)

residenz der Paderborner Fürstbischöfe auch äußerlich ungeliebte Gebäude 1894


als dreiflügelige Schlossanlage ausgebaut. ein. Am 9. November 1918 rief der Sozial-
Der „Reichsführer SS“ Heinrich Himmler demokrat Philipp Scheidemann vom
pachtete die Burg 1934, um eine SS-Füh- Westbalkon des Reichstags die Republik
rungs- und Kultstätte zur ideologischen aus. Den Reichstagsbrand am 27. Februar
Ausrichtung des SS-Führungskaders zu 1933 nutzte die NS-Propaganda, um poli- Gedenkstätte Dachau

144 spiegel special geschichte 1 | 2008


BÜCHER
Richard Evans durchsetzten, blieb lange ungeklärt. Erst die
Das Dritte Reich – Aufstieg Öffnung der Archive nach 1989 hat Antworten
Deutscher Taschenbuch Verlag, München; ermöglicht, die dieser Band präsentiert.
768 Seiten; 19,50 Euro
Sehr detailreich beschreibt der britische Historiker, Adam Tooze
weshalb die nationalsozialistische Bewegung sich Ökonomie der Zerstörung
gerade in Deutschland so stark entfalten konnte. Siedler Verlag, München; 928 Seiten; 44 Euro
Nach Ansicht vieler Rezensenten befriedigt das Hitlers Weltbild war nicht nur politisch und rassen-
Werk die Ansprüche der Fachwissenschaft, bleibt biologisch, sondern auch ökonomisch geprägt. Mit
dabei aber auch für den interessierten Laien lesbar. seinem Buch legt der britische Wissenschaftler eine
gekonnte Gesamtdarstellung der Wirtschaft im
Jürgen W. Falter nationalsozialistischen Deutschland vor, ein neuer
Hitlers Wähler Blick auf die Diktatur des „Dritten Reichs“ und
C. H.Beck Verlag, München; 444 Seiten; 44 Euro den Verlauf des Zweiten Weltkriegs.
Falters 1991 erschienene Studie ist bis heute das
Standardwerk für alle, die wissen wollen, wer für Frank Vollmer
Hitler stimmte. Die politische Kultur des Faschismus.
Stätten totalitärer Diktatur in Italien
Saul Friedländer Böhlau Verlag, Köln; 816 Seiten; 79,90 Euro
Das Dritte Reich und die Juden. Ein gut geschriebenes Werk, das vor allem am
Die Jahre der Verfolgung 1933 – 1939 Beispiel zweier italienischer Städte – Arezzo in der
Deutscher Taschenbuch Verlag, München; Toskana und Terni in Umbrien – aufzeigt, wie die
456 Seiten; 15 Euro. Ideen Benito Mussolinis, des „Duce“, sich rasend
Friedländer, der 1932 als Sohn deutschsprachiger schnell in den Köpfen der Menschen festsetzen
Juden geboren wurde und die Nazi-Zeit versteckt konnten.
in einem katholischen Internat in Frankreich über-
lebte, beschreibt anschaulich, mit welcher Perfidie Michael Wildt
die Ausgrenzung und Ermordung der Juden ins Volksgemeinschaft als Selbstermächtigung.
Werk gesetzt wurde. Gewalt gegen Juden in der deutschen Provinz
1919 – 1939
Sebastian Haffner Hamburger Edition, Hamburg; 412 Seiten; 28 Euro
Geschichte eines Deutschen Die „Volksgemeinschaft“ definierte sich für die Na-
Deutscher Taschenbuch Verlag, München; tionalsozialisten insbesondere durch Ausgrenzung
304 Seiten; 9,50 Euro derjenigen, die nicht zu ihr gehören sollten, vor
Die Lektüre der Erinnerungen Sebastian Haffners, allem der Juden. Der Hamburger Historiker be-
aufgeschrieben 1939 im britischen Exil, sind für schreibt anschaulich, wie sich die bürgerliche Zivil-
alle, die sich mit der Weimarer Republik und dem gesellschaft der zwanziger Jahre in eine rassistische
Aufstieg Hitlers beschäftigen, ein Muss. Diktatur verwandelte.

Ian Kershaw Heinrich August Winkler


Hitler Auf ewig in Hitlers Schatten?
Deutscher Taschenbuch Verlag, München; 2 Bände Über die Deutschen und ihre Geschichte
plus Register, insgesamt 2424 Seiten; 50 Euro C. H. Beck Verlag, München; 224 Seiten;
Die brillante Biografie Hitlers gilt als Standardwerk 19,90 Euro
über den Nationalsozialismus. Kershaw verbindet Mit 20 seiner Essays aus den Jahren 1978 bis 2007
auf das Beste das Porträt des Diktators mit einer umkreist der emeritierte Geschichtsprofessor die
Darstellung seiner Zeit. Zutreffend hat die „Neue Frage aller Fragen – warum konnte ein Hitler Er-
Zürcher Zeitung“ geschrieben: „… alles, was man folg haben? Und er konstatiert, dass Deutschland
heute über Hitler und den Nationalsozialismus den braunen Schatten nie loswerden wird.
wissen kann.“
Andreas Wirsching
Stephan Malinowski Die Weimarer Republik. Politik und Gesellschaft
Vom König zum Führer. Oldenbourg Wissenschaftsverlag, München;
Der deutsche Adel und der Nationalsozialismus 160 Seiten; 19,80 Euro
Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main; Ein guter Überblick über die Wirtschafts- und
672 Seiten; 19,90 Euro Sozialpolitik sowie die konstitutionelle Verfassung
Eine interessante und quellenreiche Studie über der Weimarer Republik.
die nationalsozialistische Verstrickung des deut-
schen Adels. Andreas Wirsching
Vom Weltkrieg zum Bürgerkrieg? Politischer
Erwin Oberländer (Hg.) Extremismus in Deutschland und Frankreich
Autoritäre Regime in Ostmittel- und 1918 – 1933/39. Berlin und Paris im Vergleich
Südosteuropa 1919 – 1944 Oldenbourg Wissenschaftsverlag, München;
Verlag Ferdinand Schoeningh, Paderborn; 704 Seiten; 79,80 Euro
696 Seiten; 58 Euro Der Blick in die Hauptstädte der beiden Länder
Die Frage, warum sich in den nach 1918 neu ent- bringt den Autor zu interessanten und in der
standenen Staaten vom Balkan bis zum Baltikum Forschung neuen Erkenntnissen, die noch dazu
statt Demokratien fast nur autoritäre Staaten anschaulich aufgeschrieben sind.
spiegel special geschichte 1 | 2008 145
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Brandstwiete 19,
20457 Hamburg
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Ambros, Otto 138 Galland, Adolf 95 Liebmann, Curt 136 Roosevelt, Franklin Delano 25, Stellv. Chefredakteure
Gasparri, Pietro 85, 99 Litten, Hans 77 124f Dr. Martin Doerry,
Baade, Fritz 29 Girmann, Ernst 95 Loerke, Oskar 83 Rosenbaum, Jonas 95 Joachim Preuß
Verantwortlich
Ball, Rudi 127 Globke, Hans 116 Lubbe, Marinus van der 34, 69ff Rosenberg, Alfred 38, 112, 115, Stephan Burgdorff,
Ballin, Leopold/Maria 92 Goebbels, Joseph 15, 27, 36f, Ludendorff, Erich 48, 49 134 Norbert F. Pötzl
Barnay, Paul 140 41f, 64, 66, 70ff, 81, 83, 85, Luther, Hans 29 Rosenthal, Lina 95 Redaktion
Barth, Karl 63, 90 91, 107, 110, 112, 120, 126, Luther, Martin 88f Rumbold, Horace 63 Karen Andresen (Konzept und
redaktionelle Betreuung dieses
Baumgarten, Otto 45 133ff, 138 Luxemburg, Rosa 14, 43, 44f Rust, Bernhard 81 Heftes); Annette Bruhns, Ange-
Beckmann, Max 81f Göring, Hermann 9f, 31, 33f., 48, la Gatterburg, Joachim Mohr,
Beitz, Berthold 138 68, 71, 73, 77f, 83, 86, 91, Mann, Heinrich 15, 81ff, 127, Saevecke, Theodor 79 Bettina Musall, Dr. Rainer
Benn, Gottfried 83 112, 115, 119, 123, 136 140 Salomon, Ernst von 39 Traub, Dr. Johannes Saltzwedel
Chef vom Dienst
Berg, Friedrich von 50 Groener, Wilhelm 48ff Mann, Klaus 83 Schacht, Hjalmar 107, 115, 118, Karl-Heinz Körner,
Bergmann, Gretel 127 Grünspan, Herschel 104 Mann, Thomas 15, 39, 81, 83, 122f, 136 Holger Wolters
Best, Werner 76ff 134 Schäffer, Hans 29 Gestaltung
Bethmann Hollweg, Theobald von Haffner, Sebastian 23, 39, 105, Marx, Karl 82 Scheidemann, Philipp 10 Rainer Sennewald
49 138 Marx, Wilhelm 45, 50 Schilgen, Fritz 126 Infografik
Thomas Hammer,
Bismarck, Otto von 43 Hafner, Victor 85 Mayer, Helene 127f Schillings, Max von 81 Gernot Matzke
Blomberg, Werner von 73, 119 Hammerstein, Kurt von 136 Mehring, Walter 69 Schleicher, Kurt von 18, 21, 29, Bildredaktion
Blum, Léon 56f Hauptmann, Gerhart 83 Meiser, Hans 89f 51ff, 63, 73, 117 Claus-Dieter Schmidt
Bodelschwingh, Friedrich von 89 Heidegger, Martin 34 Meißner, Otto 48 Schleyer, Hanns Martin 138 Autoren
Bonhoeffer, Dietrich 90 Herriot, Edouard 56 Metaxas, Ioannis 60 Schmitt, Carl 30ff Dr. Florian Altenhöner,
Jochen Bölsche, Georg Bönisch,
Brandt, Willy 108 Heuss, Theodor 47, 71 Mierendorff, Carlo 44 Schmitt, Kurt 122 Andrea Brandt, Dr. Thomas
Braun, Eva 69 Heydrich, Reinhard 79, 138, 143 Mittelbach, Hans 77 Schreiber, Georg 42 Darnstädt, Manfred Ertel,
Braun, Otto 20 Himmler, Heinrich 38, 64, 76, Mühsam, Erich 77 Schulze-Ballin, Gertrude 92ff Jan Friedmann, Dr. Axel Frohn,
Christian Habbe, Dr. Christoph
Bredow, Ferdinand von 73 78f, 141, 143 Müller, Heinrich 79 Schumacher, Kurt 77 Jahr, Alexander Jung, Prof. Ian
Breitman, Richard 79 Hindenburg, Oskar von 48 Müller, Hermann 16 Seraphim, Peter-Heinz 143 Kershaw, Dr. Hans Michael
Breker, Arno 83 Hindenburg, Paul von 10, 16ff, Müller, Ludwig 89ff Sindermann, Kurt Alfred 36 Kloth, Jan Puhl, Dr. Stefan
Brüning, Heinrich 10, 21, 24, 26, 26, 29, 32, 36, 48ff, 64, 70, Münchmeyer, Ludwig 45 Smetona, Antanas 58, 60 Simons, Michael Sontheimer,
Prof. Adam Tooze, Dr. Klaus
28f, 46, 50ff, 120 73, 74f, 80, 103 Murr, Wilhelm 70f Sombart, Werner 121 Wiegrefe, Prof. Michael Wildt
Bürger, Carl 43 Hoffmann, Heinrich 110 Mussolini, Benito 14, 22, 60, 73, Spannaus, Günther/Wilhelm 94 Schlussredaktion
Bütefisch, Heinrich 138 Hoffmann, Max 49 76, 86 f, 96 ff., 104, 125 Speer, Albert 127, 135, 138 Lutz Diedrichs, Reimer Nagel,
Hofmannsthal, Hugo von 31 Stalin, Josef 36 Ulrike Wallenfels
Dokumentation
Chamberlain, Neville 104, 139 Holst, Irmgard 94 Nau, Alfred 77 Stampfer, Friedrich 71 Sonny Krauspe;
Churchill, Winston 24 Honecker, Erich 77 Niemöller, Martin 89ff Sternberg, Josef von 15 Jörg-Hinrich Ahrens, Viola
Claß, Heinrich 43 Hoover, Herbert 25, 124 Strasser, Gregor 38, 73, 117f Broecker, Dr. Heiko Buschke,
Clemenceau, Georges 55 Hoppmann, Karl 45 Oberländer, Theodor 143 Strauß, Karl 114, 116 Johannes Eltzschig, Cordelia
Freiwald, Carsten Hellberg,
Horthy, Miklós 59f Oppenheim, Liese/Lotte 93 Strauss, Richard 128 Peter Kühn, Dr. Walter
Daladier, Edouard 54, 57, 104 Hossenfelder, Joachim 89 Orsenigo, Cesare 84ff Streicher, Julius 32, 46, 64 Lehmann, Rainer Lübbert, Dr.
Darré, Walter 119 Huch, Ricarda 140 Ossietzky, Carl von 64, 66, 68f, Stresemann, Gustav 15, 16 Andreas Meyhoff, Tobias Mulot,
Minna-Liisa Niveri, Thorsten
David, Eduard 12 Hugenberg, Alfred 11, 16, 65, 77f, 83 Stuckart, Wilhelm 116

ULLSTEIN BILD; INTERFOTO; BPK; WALTER FRENTZ / ULLSTEIN BILD; BPK; WALTER FRENTZ / ULLSTEIN BILD (V.L.N.R.)
Oltmer, Dr. Regina Schlüter-
Dibelius, Otto 91, 140 70f, 118 Ahrens, Stefan Storz,
Diels, Rudolf 77, 79 Pacelli, Eugenio, Papst Pius XII. Thyssen, Fritz 16, 29 Ursula Wamser, Anika Zeller
Diem, Carl 126 Jünger, Ernst 35, 38, 40, 42 84ff Tillich, Paul 45 Titelbild
Stefan Kiefer; Iris Kuhlmann,
Dietrich, Marlene 15 Papen, Franz von 9, 17f, 29, 37, Todt, Fritz 120f Gershom Schwalfenberg,
Dietrich, Otto 126, 134 Kaas, Ludwig 71 51f, 63, 65, 70f Tresckow, Henning von 52 Astrid Shemilt, Arne Vogt
Dinter, Artur 45 Kandinsky, Wassily 15 Päts, Konstantin 58ff Troeltsch, Ernst 45 Organisation
Döblin, Alfred 81, 140 Kapp, Wolfgang 10 Pechmann, Wilhelm von 90 Tucholsky, Kurt 45, 76, 82f Angelika Kummer,
Antje Wallasch
Drexler, Anton 12, 132 Kästner, Erich 72 Pétain, Philippe 57
Produktion
Kempner, Robert 30 Pilsudski, Józef 58ff Ulbricht, Walter 36f Solveig Binroth, Christiane
Ebert, Friedrich 10, 12, 50, 61 Kerrl, Hanns 32 Pla, Josep 19 Ulmanis, Karlis 58ff Stauder, Petra Thormann
Eichmann, Adolf 79, 141 Kessler, Harry Graf 81, 98 Poincaré, Raymond 56 Umfrid, Hermann 89 Herstellung
Eicke, Theodor 78f Keynes, John Maynard 29, 118 Preußen, August Wilhelm von 51, Mark Asher
Verantwortlich für Anzeigen
Eisner, Kurt 43f Klee, Paul 81f 53 Vögler, Albert 29 Norbert Facklam
Erkelenz, Anton 29 Klemperer, Victor 65, 115, 128, Preysing, Konrad von 86f Anzeigenobjektleitung
Erler, Fritz 77 140f Wassermann, Jakob 140 Susanne Korn
Erzberger, Matthias 10, 13, 14 Klöckner, Peter 29 Querfurt, Carl 95 Weiß, Bernhard 134 Verantwortlich für Vertrieb
Koch, Erich 118 Wels, Otto 71 Thomas Hass
Fahlbusch, Ernst 95 Krause, Reinhold 90 Račič, Puniša 58 Wessel, Horst 133 Druck
u. e. sebald druck GmbH,
Falkenhayn, Erich von 49 Radic, Stjepan 58 Wilhelm II. 48, 50 Nürnberg
Fehrenbach, Konstantin 45 Landsberg, Otto 43 Rathenau, Walther 10, 14, 41, 44 Willikens, Werner 111 Objektleitung
Flatow, Ernst 91 Lautenbach, Wilhelm 29 Ratti, Achille, Papst Pius XI. 84ff Wilson, Woodrow 55 Manuel Wessinghage
Flechtheim, Alfred 82 Le Bon, Gustav 133 Reibnitz, Kurt von 53 Wolff, Theodor 66 Geschäftsführung
Dr. Mario Frank
Flick, Friedrich 28 Lebrun, Albert 54 Remarque, Erich Maria 14
Foerder, Ludwig 44 Lessing, Theodor 45 Riefenstahl, Leni 126, 128 Zola, Emile 47 © SPIEGEL-Verlag Rudolf Augstein
Freisler, Roland 116 Lewald, Theodor 126 Rittershausen, Heinrich 29 Zuckmayer, Carl 15, 80f GmbH & Co. KG,
Freud, Sigmund 82f Ley, Robert 129 ff Robinson, Joan 118 Zweig, Stefan 15 Januar 2008 ISSN 1612-6017

146 spiegel special geschichte 1 | 2008

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