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e l a d l a P i dOT /

Hegel in Israel

Hegel in Israel Dass Hegel nicht nur einfach nicht übersetzt son-
In diesen Tagen erscheint im Verlag «Resling» in Tel dern privativ nichtübersetzt war, wird aus der
Aviv die erste hebräische Übersetzung von Hegels sonstigen Fülle hebräischer Philosophieüberset-
Phänomenologie des Geistes. Die Arbeit am ersten zungen ersichtlich. Als Literaturgattung entstand
Band dauerte ungefähr zwölf Jahre. Roi Bar und ich die hebräischsprachige Philosophie schon im Mit-
übersetzten gemeinsam, einmal die Woche, immer telalter durch Übersetzungen aus dem Judäo-Arabi-
Sonntag Nachmittags, in meinem Wohnzimmer in schen (Maimonides, Jehuda ha-Levi, Saadia Gaon
Berlin. Ins Hebräische wurde Hegel also 15 Gehmi- etc.). Die Übersetzung nichtjüdischer Klassiker der
nuten von seinem Lehrstuhl, 25 von seinem Grab Philosophiegeschichte wurde erst im Hebräischen
im Dorotheenstädtischen Friedhof entfernt, durch als Nationalstaatssprache, im Israelischen, zum
israelische Migranten übertragen. Kulturprojekt. Schon seit mehreren Jahrzenten le-
Diese Übersetzung ist nicht nur für die Zielspra- sen israelische Studenten Platon und (weniger)
che, das Hebräische, von Bedeutung, dessen Archiv Aristoteles, sowie Descartes, Leibnitz, Spinoza
nun mit einem weiteren Klassiker der Philosophie und Hume in hebräischen Ausgaben. Viel übersetzt
bereichert wird. Nicht weniger lässt sich hier die wurde moderne Philosophie aus dem Deutschen
Übersetzung als «Überleben» (Walter Benjamin) (der Muttersprache mehrerer Gründer der israeli-
des übersetzten Werks selbst denken. Hegels Werk schen Geisteswissenschaften): Marx, Freud und
verstand sich als eine Vollendung der westlichen, Husserl, viel Nietzsche, und besonders Kant, seine
philosophisch-theologischen Geistesgeschichte, in Kritik der reinen Vernunft sogar zweimal (1954 von
welcher der Geist als Geisteswissenschaft zu sich Hugo Bergman und Nathan Rotenstreich; 2013 von
selbst zurückkommt. Wäre es nicht ein bedeuten- Yirmiyahu Yovel).
der Moment solcher Rückkehr, dass der Geist sich Auch Hegel wurde nicht völlig verdrängt, im-
auch sprachlich wiederfindet und aus seiner luther- merhin erschienen 1963 die Einleitung zu den Vor-
deutschen Selbstentfremdung («Am Anfang schuf lesungen über die Geschichte der Philosophie (Bar
Gott Himmel und Erde […] und der Geist Gottes Ascher) und 1996 die Vorrede zur Phänomenologie
schwebte auf dem Wasser») zum anfänglichen ruach (Yovel). In neuerer Zeit wurden ebenfalls Der Geist
(hebräisch «Geist») zurückkehrt? Diese Methode des Christentums und sein Schicksal (2005) und Die Phi-
der Rückübersetzung haben wir in der Tat oft ver- losophie des Rechts (2011) übersetzt, beide von Gadi
wendet. Wären nicht die hebräische Geisteswissen- Goldberg, einem weiteren israelischen Einwande-
schaften, madaei ha-ruach, wie sie sich in den israeli- rer in Berlin, dessen Werk somit zum geistesge-
schen Universitäten wortwörtlich nennen, eine schichtlichen «Jetzt» unserer Übersetzung der Phä-
signifikante Endgestalt des absoluten Wissens? nomenologie des Geistes dazugehört.
Doch angesichts solcher abstrakten Selbstbe- Worin liegt das Desinteresse der israelischen Phi-
hauptungen der hebräischen Übersetzung ist die losophie an Hegel begründet, das sich auch in der
aufgehobene Negativität unserer Erstübersetzung Knappheit an Lehre und Forschung zeigt? Eine Ant-
umso bedeutungsvoller. Erst jetzt, 2020, erscheint wort liegt auf der Hand: wie fast überall, so hat sich
Hegels Phänomenologie ins Hebräische übersetzt, auch in Israel die akademische Philosophie in der
das heißt mehr als zweihundert Jahre war sie es zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zunehmend
nicht. In der Tat wirft die neue Ausgabe eine Frage angloamerikanisch orientiert. Die heute noch do-
auf: Wieso wurde dieser Grundtext der Moderne minante analytische Philosophie beschäftigt sich
nie zuvor hebraisiert? Und warum jetzt, warum mit zeitloser Logik, versucht das Denken vor der
so? Geschichte und damit vor Hegel geradezu zu ret-

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Konzept & Krititk

ten. Ihre eigene Geschichte geht von Kant zum und theopolitische Grundkategorie des Staates Is-
Neukantianismus, Frege, Wittgenstein und Russel. rael, dessen messianische Deutungen oft wie Varia-
Ihre Phänomenologie, wenn sie eine hat, ist die von tionen über die Phänomenologie anmuten.
Husserl, die sich nicht als Geistesgeschichte, son- Wenn schon nicht für die Universitätsphiloso-
dern als Hirnforschung vollendet. So ist es überall, phie, warum wurde dann Hegel nicht wenigstens
so auch in den israelischen Philosophieinstituten. für die Bewusstwerdung der Neuhebräer über-
Aber nicht alle Philosophie ist universitäre Philo- setzt? Meine These dazu lautet: Nicht aus Desinte-
sophie, und nicht alles Denken ist Philosophie. Ist resse, sondern aus Überbietung. Um den Staat Isra-
das israelische Denken überhaupt also anti-hegeli- el als Erlösung der Juden aus ihrem geschichtlichen
anisch? Ist Israel ein Staat der Neokantianer, reine Exil zu begreifen, hatte die neuhebräische Weltan-
Logik ohne Geschichte? Als Jurastudent an der He- schauung viel mächtigere hermeneutische Mittel
bräischen Universität in Jerusalem in den 1990ern zur Verfügung als Hegelübersetzungen, nämlich
hatte ich in Rechtsphilosophie tatsächlich Kelsen die angebliche Rückkehr zum Original: dem
und Hart, nie Schmitt oder Hegel gelesen. Wer He- Tanach, der althebräischen Bibel, Hauptfach im sä-
gel liest, der weiß: Jura ist nicht Recht, Recht nicht kularen israelischen Schulsystem. Um die altneue
Geist. Und wie arm wäre das Denken, das Recht Nationalmythologie in Begriffe und in moderne
und Geist des jüdischen Nationalstaates ohne die Phänomenologie aufzuheben, haben israelische In-
Geschichte der modernen Juden zu verstehen ver- tellektuelle, religiös wie säkular, akademisch wie
suchte! Anders als das israelische Philosophie- und rabbinisch, nach der jüdischen Mystik, Kabbala,
Jurastudium ist die jüdische Moderne geistesge- gegriffen, deren Dialektik jener von Hegel an spe-
schichtlich sehr stark hegelianisch geprägt. Direkt kulativer Kraft nicht nachsteht. Universitär werden
beeinflusst waren die Begründer der Wissenschaft diese Korpora nicht in der Philosophie, die diesen
des Judentums wie Gans, Zunz, auch Heine, refor- Geschichten analytisch fern bleibt, sondern im
matorisch Samuel Hirsch, protozionistisch Moses Fach makhshevet yisrael studiert. Hierher gehört eine
Hess, rabbinisch Nachman Krochmal, die Sozialis- eigene jüdische Phänomenologie des Geistes, hier-
ten durch Lassalle und Marx, die Theologen via Ro- her gehört Hegel aber nicht.
senzweig und Levinas. Warum also jetzt? Geistesgeschichtlich mag die
Der konzeptuelle Reiz der Hegelschen Ge-
Hebraisierung des Werks, wie jede Übertragung,
schichtsphilosophie für Juden liegt grundsätzlich triumphierend als Stärkezeichen eines neuhebräi-
daran, dass sie ihnen eine säkulare Heilsgeschichte schen Nationaldiskurses wirken, der sich Hegel an-
(Karl Löwith) anbietet, in deren moderne Vollen- eignet und ihn zurechtrückt. So erschien 2011 die
dung Juden nicht als Christen sondern als Staats- Übersetzung der Rechtsphilosophie in der Leviat-
bürger erlöst, das heißt emanzipiert werden. Eine han-Reihe des neokonservativen, pronationalen
erste jüdische Moderne nimmt Hegel beim Wort: Schalem-Zentrums. Allerdings entstammt die jet-
Juden werden Bürger des nichtjüdischen, also säku- zige Veröffentlichung der Phänomenologie einem an-
laren postchristlichen Staates, und Judentum wird deren intellektuellen Milieu, welches sich kritisch
zur Privatreligion. Eine zweite jüdische Moderne, zum Zionismus verhält. Vom ineffektiven liberalen
durch Antisemitismus desillusioniert, dreht Hegels Widerstand gegen den Religionsnationalismus ent-
Geist gegen sein Wort: nicht im nichtjüdischen, täuscht, ist der neue israelische Linkshegelianis-
sondern im souveränen jüdischen Nationalstaat, mus jedoch nicht säkular-materialistisch, sondern
nicht in Berlin sondern in Jerusalem kehrt das Jüdi- theopolitisch oder besser: epistemopolitisch moti-
sche zu sich zurück. «Rückkehr» ist die rechtliche viert. Er stellt die moderne Vision des Nationalstaa-

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Elad Lapidot / Gang Xian / Miguel Giusti: Weltgeist

tes als Erlösung in Frage, und geht zurück zu Origi-


naltexten dieser Vision, darunter Hegel. Da diese
Rückkehr durch israelische Expats in Berlin, somit
als Rückkehr (in die Diaspora) von der Rückkehr (in
die Souveränität) vollzogen wird, lässt sich viel-
leicht sagen, geistesgeschichtliche Aufhebung stel-
le sich hier zeitgemäß als Auswanderung dar.

Elad Lapidot

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