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Andreas Maercker

Herausgeber

Therapie der posttraumatischen Belastungsstörungen

2., überarbeitete und ergänzte Auflage


Springer-Verlag Berlin Beideiberg GmbH
Andreas Maercker
Herausgeber

Therapie er
posttraumatischen
Belastungs-
störungen
2., überarbeitete und ergänzte Auflage

Mit 20 Abbildungen
und 13 Tabellen

'Springer
Professor Dr. Andreas Maercker
Universität Zürich
Klinische Psychologie und Psychotherapie
Zürichbergstraße 43
8044 Zürich, Schweiz
e-mail: maercker@klipsy.unizh.ch

ISBN 978-3-662-09392-4 ISBN 978-3-662-09391-7 (eBook)


DOI 10.1007/978-3-662-09391-7

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http://www.springer.de/medizin

© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 1997, 2003


Ursprünglich erschienen bei Springer-Verlag Berlin Heidelberg New York 2003

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Planung/Lektorat: Renate Scheddin


Desk Editing: Gisela Zech-Willenbacher
Copy Editing: Dr. Dagmar Breuker
Herstellung: PRO EDIT GmbH, Heidelberg
Umschlaggestaltung: deblik Berlin
Layout: deblik Berlin
Satz: K + V Fotosatz, Beerfelden

Gedruckt auf säurefreiem Papier 26/3160Di - 5 4 3 2 1 0


V

Vorwort zur 2. Auflage


Als die 1. Auflage dieses Buches vor 6 Jahren erschien, gab es noch keine weiteren deutsch-
sprachigen Bücher zu diesem Thema. Die positive Aufnahme des Buches bei Lesern und
Kritikern vermittelte mir, wie wichtig die neuen Inhalte genommen wurden, die die Mit-
autorinnen und Mitautoren zu diesem neuen Gebiet zusammengetragen hatten. Zahlreiche
Leser betonten in ihren Zuschriften, wie wichtig es ihnen ist, jetzt endlich in deutscher
Sprache vertiefend über die Therapie posttraumatischer Belastungsstörungen nachlesen
und etwas darüber lernen zu können.
In der Zwischenzeit wurden mehrere Nachdrucke in jährlichen Abständen nötig. Diese
konnten jedoch nicht der raschen Weiterentwicklung gerecht werden, die die Therapie der
posttraumatischen Belastungsstörungen noch immer auszeichnet - oder sogar heute noch
mehr denn je auszeichnet.
Die vorliegende 2. Auflage trägt der Tatsache Rechnung, dass es auf diesem Gebiet in-
tensive Fortentwicklungen gibt. Die vorliegende Neuauflage wurde durch 2 neue Kapitel er-
weitert, in denen es um notfallpsychologische Interventionen (Kap. 10) sowie um die Be-
handlung von posttraumatischen Belastungsstörungen bei Kindern und Jugendlichen (Kap.
15) geht. Dafür konnten als ausgewiesene Experten Jürgen Bengel und Regina Steil gewon-
nen werden, denen ich ganz besonders danke. Gleichzeitig wurde eine Reihe bereits vor-
handener Kapitel überarbeitet und ergänzt, zum Teil sogar so weitgehend, dass man von
neu geschriebenen Beiträgen sprechen kann. Zu diesem Zweck stießen auch neue Autorin-
nen und Autoren aus Deutschland und den USA dazu.
Ich danke allen Mitautorinnen und Mitautoren der 2. Auflage für ihre enorme Arbeit,
für das z. T. zeitraubende Aktualisieren und das Neuformulieren ganzer Passagen. Ich dan-
ke auch den Lesern und Kritikern, die wertvolle Anregungen für die Neuauflage beisteuer-
ten. Weiterhin bedanke ich mich beim Team des Springer-Verlags, die das Projekt beharr-
lich motivierten und begleiteten.
Inzwischen steht das Buch nicht mehr allein auf dem deutschsprachigen Markt. Es gab
in den letzten Jahren sehr viele Publikationen zu den Themen Trauma und Traumatherapie.
Der Ansatz, konkrete Behandlungswege und Therapiemethoden im Sinne eines - wie ich
damals schrieb - »Zusammengesetzten Therapiemanuals« vorzustellen, hat wohl noch sei-
ne Berechtigung. Singulär zugeschnittene Therapiemanuale oder die ausschließlichen Dar-
stellungen einzelner Therapiemethoden stoßen im alltäglichen Gebrauch durch uns Psy-
chotherapeuten erfahrungsgemäß an ihre Grenzen. In diesem Sinne ist das vorliegende
Buch dem Wohl der Traumaopfer und -überlebenden gewidmet.

Andreas Maercker
Zürich, im März 2003
Sektionsverzeichnis
Autorenverzeichnis -IX
Teil I Posttraumatische Belastungsstörungen:
Grundlagen uncj Therapiemethoden - 1
Teil II Spezifische Traumagruppen - 139
VIII Inhaltsverzeichnis

In ha ltsverzeich nis

Posttraumatische Belastungsstörungen: II Spezifische Traumagruppen


Grundlagen und Therapiemethoden

8 Kognitive Verarbeitungstherapie
Erscheinungsbild, Erklärungsansätze für Opfer sexuellen Missbrauchs 141
und Therapieforschung . . . . ... .. . 3 P. Nishith, P. A. Resick
A. Maercker
9 Behandlung erwachsener Opfer
2 Besonderheiten bei der Behandlung sexuellen Kindesmissbrauchs 167
der posttraumatischen Belastungs- K. Wenninger, A. Boos
störung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37
A. Maercker 10 Notfallpsychologische Interventionen
bei akuter Belastungsstörung ... . . . 185
3 Diagnostik und Differenzial- ]. Bengel
diagnostik . . . .. .... .. . . . . . .. . 53
M. Schützwohl 11 Betreuung von Katastrophenopfern
am Beispiel der Explosionskatastrophe
4 Kognitive Verhaltenstherapie im Braunkohlebergbau Borken 205
bei posttraumatischen Belastungs- G. Pieper
störungen . . ... .. .... . .... . . . 75
B. 0. Rothbaum, E. B. Foa, E. A. Hembree 12 Folteropfer und Opfer
politischer Gewalt . . . . . . . . . . . . . 221
5 Kognitive Aspekte bei der Behandlung N. F. Gurris, M. Wenk-Ansohn
der posttraumatischen Belastungs·
störung ..... . ... . .... . . . ... . 91 13 Soldaten nach militärischen
R. Steil, A. Ehlers, D. M. Clark Einsätzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247
K. Wothe, K. Siepmann
6 Persönlichkeitsstile
und Belastungsfolgen 107 14 Therapie posttraumatischer Stress-
M.]. Horowitz reaktionen bei Verkehrsunfall·
verletzten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267
7 Psychopharmakatherapie . . .. ... . . 129 E. Nyberg, U. Frommberger, M. Berger
M. Bauer, S. Priebe
15 Posttraumatische Belastungsstörungen
bei Kindern und Jugendlichen 281
R. Steil

16 Chronische posttraumatische
Belastungsstörungen im Alter 309
C. S. Hankin

Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327
Autorenverzeichnis IX

Autorenverzeichnis
Bauer, Michael, Priv.-Doz. Dr. Dr. Gurris, Norbert F., Prof.
Klinik für Psychiatrie, Universitätsklinikum, Katholische Hochschule für Sozialwesen Berlin,
Medizinische Fakultät Köpenicker Allee 39-57, 10318 Berlin
der Humboldt-Universität zu Berlin,
Campus Charite Mitte, Hankin, Cheryl S., Ph. D.
Schumannstraße 20/21, 10117 Berlin DVA Edith Nourse Rogers, Memorial Hospital,
HSR & D (152),
Bengel, Jürgen, Prof. Dr. Dr. 200 Springs Road, Bedford, MA 01730, USA
Abt. für Rehabilitationspsychologie,
Institut für Psychologie, Hembree, Elizabeth A., Ph. D.
Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, Center for the Treatment and Study of Anxiety,
Engelbergerstraße 41, University of Pennsylvania,
79085 Freiburg 3535 Market Street, Philadelphia, PA 19104, USA

Berger, Mathias, Prof. Dr. Horowitz, Mardi J., M. D.


Universitätsklinik für Psychiatrie Langley Porter Psychiatrie Institute,
und Psychosomatik, University of California, San Francisco,
Abt. für Psychiatrie und Psychotherapie 401 Parnassus Ave., Box 0984-F, San Francisco,
mit Poliklinik, CA 94143, USA
Hauptstraße 5, 79104 Freiburg
Maercker, Andreas, Prof. Dr. Dr.
Boos, Anne, Dr.
Universität Zürich,
Technische Universität Dresden,
Klinische Psychologie und Psychotherapie,
Klinische Psychologie und Psychotherapie,
Zürichbergstraße 43, CH-8044 Zürich
Ambulanz und Tagesklinik,
Hohe Straße 53, 01187 Dresden Nishith, Pallavi, Ph. D.
University of Missouri-St. Louis,
Clark, David M., Dr.
Department of Psychology,
Dept. of Psychiatry, University of London,
Center for Trauma Recovery,
De Crespigny Park
8001 Natural Bridge Road, St. Louis,
London SES 8AF, UK
MO 63121-4499, USA
Ehlers, Anke, Prof. Dr.
Dept. of Psychiatry, University of London, Nyberg, Elisabeth, Dr.
De Crespigny Park Kantonsspital,
London SES 8AF, UK Psychiatrische Universitätspoliklinik,
Claragraben 95, CH-4057 Basel
Foa, Edna B., Ph. D.
Center for the Treatment and Study of Anxiety, Pieper, Georg, Dipi.-Psych.
University of Pennsylvania, Auf dem Heckenstück 4,
3535 Market Street, Philadelphia, PA 19104, USA 35075 Gladenbach-Friebertshausen

Frommberger, Ulrich, Dr. Priebe, Stefan, Prof. Dr.


Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, The Academic Unit,
Klinik an der Lindenhöhe - Ortenau Psychiatrie, Newham Centre for Mental Health,
Bertha-von-Suttner-Straße 1, 77654 Offenburg Gien Road, Plaistow, London E13 8SP, UK
X Autorenverzeichnis

Resick. Patnda A.. Ph. o. Steil, Regina, Dr.


University of Missouri-St. Louis, Institut für Psychologie, Universität Jena,
Department of Psychology, Steiger 3 Haus 1, 07743 Jena
Center for Trauma Recovery,
8001 Natural Bridge Road, St. Louis, Wenk~Ansohn, Mechthild, Dr.
MO 63121-4499, USA Behandlungszentrum für Folteropfer Berlin,
Haus 6, Klinikum Westend,
Rothbaum, Barbara 0.., Ph. 0. Spandauer Damm 130, 14050 Berlin
Dept. of Psychiatry, Emory Clinic,
1365 Clifton Road, Atlanta, GA 30322, USA Wennlnger, Kerstil\ Or.
Institut für Forschungsmanagement
Schützwohl. Matthias. Dr. und Klinische Studien (IFKS),
TU Dresden, Universitätsklinikum C.G. Carus, Paula-Modersohn-Platz 3, 79100 Freiburg
Klinik und Poliklinik für Psychiatrie
und Psychotherapie, Wothe, Klaus, Oipi.-Psych.
Fetscherstr. 74, 01307 Dresden Bundeswehrkrankenhaus Hamm,
FU Neurologie und Psychiatrie,
Siepmann, Klaus. Oberfetdarzt Marker Allee 76, 59063 Hamm
Bundeswehrkrankenhaus Hamm,
FU Neurologie und Psychiatrie,
Marker Allee 76, 59063 Hamm

Übersetzung Kapitel 4:
OKraft, Michael, Dr.
Hartwig-Hesse-Straße 24,
20257 Harnburg
Posttraumatische
Belastungsstorungen:
Grundlagen
und
Therapiemethoden
1

A. Maercker

1.1 Definition von Traumen und verschiedene


Traumaarten - 4

1.2 Beschreibung des Störungsbildes - 6


1.2.1 Das Erscheinungsbild aktueller traumatischer Folgen - 6
1.2.2 Weitere posttraumatische Veränderungen - 11
1.2.3 Nosologie - 13
1.2.4 Epidemiologie, Komorbidität und Verlauf - 14

1.3 Erklärungsansätze - 17
1.3.1 Lerntheoretische, kognitive und biologische Ansätze - 18
1.3.2 Ein multifaktorielles Rahmenmodell - 24

14 herapieformen nd Therapieforschung - 28
1.4.1 Überblick über Therapieformen - 28
1.4.2 Empirische Erfolgskontrolle - 31
1.4.3 Multimodales therapeutisches Vorgehen - 32

Literatur - 33
4 Kapitel 1 · Erscheinungsbild, Erklärungsansatze und Therapieforschung

Die Beobachtung, dass extreme Ereignisse ext-


reme Reaktionen verursachen, ist schon alt. So Fünf Hauptkriterien der post-
lässt Shakespeare in »Heinrich IV.« Lady Percy traumatischen Belastungsstörung
zu ihrem Ehemann sagen: Erlebnis eines Traumas,
Intrusionen (= unwillkürliche
8 0 mein Gemahl, ... und belastende Erinnerungen
Was heftest du die Augen auf die Erde an das Trauma), Symptom-
Und fahrst so oft, wenn du allein bist auf? ... Vermeidungsverhalten und gruppen
Warum verlorst du Deiner Wangen Frische? allgemeiner emotionaler
Gabst meine Schatze und mein Recht an dich Taubheitszustand,
Starrseh'nden Grübeln und verhasster anhaltendes physiologisches
Schwerm ut?.. . Hyperarousa l (= Übererregung),
Dein Geist in dir ist so im Krieg gewesen die Symptome dauern langer
Und hat im Schlaf so dich aufgeregt, als einen Monat.
Dass Perlen Schweißes auf der Stirn dir standen ...
(Heinrich IV., 1. Teil)
Das letztgenannte Kriterium weist darauf hin,
Im Gefolge der beiden Weltkriege wurde eine Rei- dass die zeitlich unmittelbaren psychischen Fol-
he von Bezeichnungen für solche Störungen ge- gen nach einem traumatischen Ereignis (nach
prägt, wie Kriegs- oder Gefechtsneurose, Grana- Stunden bzw. einigen Tagen) nicht als posttrau-
tenschock (»shell shock«) und Kampfesmüdig- matische Belastungsstörungen aufgefasst werden.
keit Nach dem 2. Weltkrieg zeigte sich, dass auch Sie werden hingegen als »akute Belastungsreak-
andere traumatische Erlebnisse sehr ähnliche tion« (ICD-10: F 43.0) oder »akute Belastungs-
psychische Symptome verursacht hatten. Die störung« (DSM-IV: 308.3) diagnostiziert (s. Kap.
Überlebenden aus Konzentrations- und Vernich- 10).
tungslagern zeigten diese Symptome. Später ent-
deckte man, dass auch die Opfer von sexueller
Gewalt ein vergleichbares psychisches Störungs- 1.1 Definition von Traumen
bild aufwiesen (Herman, 1993). und verschiedene Traumaarten
Diese verschiedenen klinischen Beobachtun-
gen führten zu der Annahme, dass es nach dem Das erste der fünf Hauptkriterien ist das sog.
Erleben von Extremsituationen ein gemeinsames Traumakriterium. Im ICD-10 werden als Trau-
klinisches Bild von posttraumatischen Belas- men »kurz- oder langanhaltende Ereignisse oder
tungsstörungen gibt, das als eine gemeinsame Geschehen von außergewöhnlicher Bedrohung
Endstrecke nach ganz verschiedenen traumati- mit katastrophalem Ausmaß, die nahezu bei je-
schen Erlebnissen aufgefasst werden kann. dem tiefgreifende Verzweiflung auslösen würde«
Im Jahr 1980 hat die Amerikanische Psychi- definiert (Weltgesundheitsorganisation, 1994).
atrische Gesellschaft die posttraumatische Belas- Die Definition des amerikanischen DSM-Sys-
tungsstörung (PTB) in ihr Krankheitsklassifikati- tems beschreibt Traumen folgendermaßen:
onssystem (DSM-III) aufgenommen, um dem in- »Potentielle oder reale Todesbedrohungen,
zwischen gewonnenen klinischen Wissen Rech- ernsthafte Verletzung oder eine Bedrohung der
nung zu tragen. Seit den frühen 90er Jahren ist körperlichen Unversehrtheit bei sich oder ande-
die Diagnose auch im Internationalen Krank- ren, auf die mit intensiver Furcht, Hilflosigkeit
heitsklassifikationssystem (ICD-10) der Welt- oder Schrecken reagiert wird« (DSM-IV: Ame-
gesundheitsorganisation vertreten. rican Psychiatrie Association, 1994).
1.1 ·Definition von Traumen und verschiedene Traumaarten 5 1
Klassifikation von Traumen
Kurzdauernde traumatische Ereignisse
Die vielen unterschiedlichen traumatischen Er-
(Typ-1-Traumen)
eignisse, auf die solche Definitionen zutreffen,
lassen sich nach verschiedenen Gesichtspunkten Naturkatastrophen,
zusammenstellen bzw. einteilen. Bewährt haben Unfälle,
sich Einteilungen nach menschlich verursachten technische Katastrophen,
vs. zufälligen Traumen und nach kurz- vs. lang- kriminelle Gewalttaten wie Überfälle,
fristigen Traumen . SchusswechseL

Menschlich verursachte Traumen Die Typ-1-Traumen sind meist durch akute Le-
(engl. »man made disasters«) bensgefahr, Plötzlichkeit und Überraschung ge-
kennzeichnet (Terr, 1989).
Sexuelle und körperliche Misshandlungen
in der Kindheit,
kriminelle und familiäre Gewalt. Längerdauernde, wiederholte Traumen
Vergewaltigungen, (Typ-11-Traumen)
Kriegserlebnisse,
Geiselhaft,
zivile Gewalterlebnisse (z. B. Geiselnahme),
mehrfache Folter,
Folter und politische Inhaftierung,
Kriegsgefangenschaft,
Massenvernichtung (KZ-, Vernichtungs-
KZ-Haft,
lagerhaft).
wiederholte sexuelle oder körperliche
Gewalt in Form von Kindesmissbrauch,
Kindesmisshandlung sowie wiederholten
Katastrophen, berufsbedingte Vergewaltigungen.
und Unfalltraumen
Naturkatastrophen,
Die Typ-li-Traumen sind durch Serien verschie-
technische Katastrophen
dener traumatischer Einzelereignisse und durch
(z. B. Giftgaskatastrophen),
geringe Vorhersagbarkeil des weiteren traumati-
berufsbedingte (z. B. Militär, Polizei,
schen Geschehens gekennzeichnet.
Feuerwehr),
Für alle genannten Traumen sind die gleichen
Arbeitsunfälle (z. B. Grubenunglück).
psychischen Symptome beschrieben worden, wie
Verkehrsunfälle.
sie in den Hauptkriterien der PTB definiert wur-
den (Intrusionen, Vermeidung, emotionale Taub-
Für weitere schwere Lebensereignisse (z. B. heit, Hyperarousal). Es hat sich allerdings ge-
Krankheiten, Suizide in der Familie), die nicht zeigt, dass einerseits die willentlich durch Men-
oder nur schlecht in diese Einteilung passen, schen verursachten Traumen und andererseits
wird diskutiert, ob sie als Traumen im Sinne die zeitlich länger andauernden Typ-II-Traumen
der Definitionen des Störungskonzepts aufgefasst in vielen Fällen zu stärker beeinträchtigenden
werden sollten. Insbesondere gilt dies für lebens- und chronischeren psychischen Folgen führen
bedrohliche Krankheiten (z. B. Krebs, Aids), da können als die anderen Formen.
diese oftmals von typischen posttraumatischen Insbesondere für die Folgen der länger an-
Symptomen begleitet werden. dauernden, wiederholten Typ-li-Traumen sind
eine Reihe zusätzlicher Symptomgruppen be-
schrieben worden, die im Abschn. 1.2.2 (»Weitere
posttraumatische Veränderungen«) dieses Kapi-
tels genauer dargestellt werden.
6 Kapitel 1 · Erscheinungsbild, Erklärungsansätze und Therapieforschung

1.2 Beschreibung des Störungsbildes Beschreibung der 3 Hauptsymptomgruppen

lntrusionen/Wiedererleben. PTB-Patienten sind


1.2.1 Das Erscheinungsbild aktueller
traumatischer Folgen durch eine ungewollte Gebundenheit an das
schreckliche Erlebte gekennzeichnet. Diese Ge-
Ein Patient beschreibt seinen Zustand folgender- bundenheit zeigt sich in Bildern, Geräuschen
maßen: oder anderen lebhaften Eindrücken des traumati-
schen Ereignisses, die unbeabsichtigt in den wa-
• Beispiel chen Bewusstseinszustand als auch in den Schlaf
Bericht eines 60-jährigen Patienten, »eindringen«. Oftmals kommt es zu einem sub-
Opfer eines kriminellen Überfalls jektiv erlebten Überflutungszustand durch diese
>>Seit dem Überfall bin ich ein völlig anderer inneren Bilder. Die Erinnerungen und Bilder er-
Mensch geworden. Abends liege ich im Bett und scheinen häufiger, als der Betroffene es vertragen
dann kommen diese Gedanken und Bilder, und kann, was zu einem Belastungsgefühl führt. Im
dann liege ich ewig wach. Ich habe jetzt einen Traum tauchen die Erlebnisse in verschiedenen
Punkt erreicht, wo ich merke, es geht einfach nicht Formen auf. Das Spektrum reicht dabei von Wie-
mehr weiter .... derholungen in Träumen in sehr realistischer
Wenn ich irgendwo bin und es gibt ein Form bis hin zu extremen Verzerrungen des Er-
plötzliches Geräusch, da zucke ich zusammen. Da lebten in den Alpträumen.
ist es wieder. Man kann's nicht abstellen. Man muss
es sich mal so vorstellen: das ist wie ein elektri- Vermeidung/Betäubung. Die Betroffenen ver-
scher Schlag. Und der geht sofort nach oben und suchen oft mit aller Macht, die sie überflutenden
löst bei mir einen Schweißausbruch aus. Ich bin Gedanken »abzuschalten«, d. h. nicht mehr an
nervlich völlig am Ende .... das Geschehene zu denken. Trotz dieser intensi-
Meine Freunde versuchen immer wieder, mich ven Versuche gelingt die Vermeidung der Gedan-
aufzumuntern. Sie sagen, ich soll das jetzt ver- ken an das Erlebte in den meisten Fällen nicht.
gessen und mir doch mal ein schönes Leben ma- Möglicherweise kann extremes Bemühen oder
chen. Das tut unheimlich weh. Das schmerzt, weil bestimmte automatisierte (»unbewusste«) Ein-
ich mir das gar nicht mehr richtig vorstellen stellungen, die bedrängenden Erinnerungen ab-
kann .... zuschalten, im Resultat zu dissoziativen Zustän-
Ich habe keine Hoffnung mehr. Meine Freunde den wie Teilamnesien führen, bei denen man sich
wollen mir ja wirklich helfen, aber das geht ja nur sehr unscharf an das Erlebte erinnern kann.
nicht. Es kann mir ja niemand helfen. Ich muss das Die Vermeidungssymptome umfassen auch die
selber schaffen. Aber ich muss immer an diesen Scheu davor, Aktivitäten durchzuführen bzw. Or-
Sonnabend zurückdenken. Und dann merke ich te aufzusuchen, die an das Trauma erinnern.
immer, dass ich diese Belastung jetzt bis zu mei- Assoziiert mit den Vermeidungssymptomen
nem Tod ertragen muss .... ist das emotionale BetäubungsgefühL Die Betrof-
Ich tu' meinen Freunden ja so leid. Der Kontakt fenen beklagen eine Beschädigung ihrer Gefühls-
mit mir ist für sie deshalb sehr belastend. Ich ziehe welt, alle eigenen Gefühle erscheinen ihnen nivel-
mich deshalb von meinen Freunden zurück ...<<. liert. Man fasst unter die Betäubungsgefühle auch
das anhaltende Gefühl der Entfremdung von an-
Die drei Symptomgruppen der PTB: Intrusion, deren Menschen sowie den allgemeinen sozialen
Vermeidung/Betäubung und Hyperarousal Rückzug.
können jeweils in Form vieler Einzelsymptome
bzw. -beschwerden auftreten. a Tabelle 1.1 nennt Hyperarousal. Der Körper reagiert nach einem
und beschreibt diese Symptome nacheinander Trauma mit, auch wenn die Betroffenen die
in der Reihenfolge, in der sie im amerikanischen körperlichen Folgen oftmals nicht im Zusammen-
DSM-System aufgelistet sind. hang mit dem Trauma sehen. Die Erregungs-
schwelle des autonomen Nervensystems senkt
1.2 · Beschreibung des Störungsbi ldes
7 1

a rabelle 1.1. Bnzelsymptome


der posttraumatischen Belastungsstörung

Kurzbezeichnung Erliuterungen (an DSM-lV angelehnt)

Intrusionen/Wieder- Ungewollt wiederkehrende und belastende Erinnerungen oder Erinnerungs-


erleben bruchstücke, treten spontan auf (außer wenn durch Schlüsselreize hervorgerufen).
Ihre Intensität reicht von Einzelerinnerungen bis zum Überwältigtwerden von der
Erinnerung.

Belastende Träume Wiederkehrende Träume, die Erinnerungen oder Erinnerungsbruchstücke des Traumas
bzw. Alpträume beinhalten. ln Alpträumen können die Erinnerungen sehr verzerrt sein. Verlaufen oft
jahrelang nach dem gleichen Muster.
I
Erinnerungsattacken Engl. •flashbacks«. Erinnerungsanacken, die durch ihre Plötzlichkeil und Lebendigkeit
gekennzeichnet sind. Sind meist nur kurzdauernd und gehen mit dem Gefühl einher,
das traumatische Ereignis noch einmal zu durchleben. Nähe zu Illusionen, Halluzina·
tionen und dissoziativen Verkennungszuständen.

Belastung durch Schlüsselreize wie gleiche Gegenstände, Geräusche, Düfte rufen regelmäßig
symbolisierende belastende Erinnerungen an das Trauma wach. Zu den Schlüsselreizen gehören
Auslöser auch Jahrestage und Darstellungen des Schicksals anderer (z. B. Im Film).

Physiologische Unwillkürliche Körperreaktion wie Schwitzen, Zittern, Atembeschwerden, Herzklopfen


Reaktionen oder -rasen, Übelkeit oder Magen-Darmbeschwerden oder starke Ängste beim
bei Erinnerung plötzlichen Konfrontiertwerden mit traumatischen Schlüsselreizen sowie Erinnerungen
bzw. Erinnerungsbruchstücke.

Gedanken- und Bewusstes Vermeiden von Gedanken und Gefühlen, die an das Trauma erinnern
Gefühlsvermeidung (z.B. eigene Gedankenstoppversuche bzw. Selbstkommentare: •Ich mache mich sonst
nur selbst verrückt«). Unabhängig vom Erfolg der Vermeidungsbemühungen.
I
Aktivitäts- oder Phobisches Vermeiden von Aktivitäten oder Situationen, die Erinnerungen an das
Situationsvermeidung Trauma bewirken (z. 8. Ort des Traumas umgehen; nicht mehr aus dem Haus gehen zur
Tageszeit. an dem das Trauma passierte).
I
(Teii-)Amnesien Wichtige Elemente des traumatischen Geschehens können nicht mehr erinnert werden
(z. B. von Ort x nach Ort y gekommen zu sein). Im Extremfall kann das ganze
traumatische Geschehen nicht mehr erinnert werden; es herrschen nur unscharfe
Erinnerungen oder Erinnerungsbruchstücke vor. Die Amnesien dürfen nicht durch
einfache Vergesslichkeit oder durch organische Ursachen (z. 6. Schädelhirntrau mal
erklärbar sein.

Interesse- Deutlich vermindertes Interesse an wichtigen Aktivitäten des täglichen Lebens oder an
verminderung individuell vor dem traumatischen Erlebnis gern ausgeführten Aktivitäten
(z. B. Karrierebemühungen, Hobbies).

Entfremdungsgefühl Gefühl der losgelöstheil oder Fremdheit von anderen Personen, die nicht das gleiche
traumatische Ereignis erlebt haben. Subjektiv unüberwindlich empfundene Kluft
zwischen den anderen und einem selbst (und entsprechenden Leidensgefährten).
Selbst Familienmitgliedern gegenüber herrscht das Entfremdungsgefühl vor.

Eingeschränkter Empfindung, dass das Trauma das eigene Gefühlsleben zerstört hat, z. B. die Fähigkeit
Affektspielraum jemanden zu lieben, sich zu freuen aber auch die Fähigkeit zu Trauer oder Mitleid. Die
Betroffenen fühlen sich wie erstarrt oder wie abgestumpft.
8 Kapitel 1 · Erscheinungsbild, Erklärungsansätze und Therapieforschung

DTabelle 1.1 (Fortsetzung)

Kurzbezeichnung Erläuterungen (an DSM-IV angelehnt)

Eingeschränkte Sowohl das Gefühl, dass nichts Wichtiges mehr im eigenen Leben passieren kann,
Zukunft als auch das Gefühl, das Trauma bzw. seine Verursacher haben Jahre (oder •die beste
Zeit•) des Lebens zerstört und diese können nie wieder ersetzt werden. Zukunftspläne
werden nicht mehr gemacht.

Ein- und Durch- Nach dem Trauma einsetzende Schlafstörungen beider Arten, teilweise - aber nicht
schlafschwierigkeiten notwendigerweise - im Zusammenhang mit Intrusionen bzw. belastenden Träumen
oder Alpträumen.

Erhöhte Reizbarkeit Leichtes »auf 180« kommen, oftmals Wutausbrüche, wozu vor dem Trauma noch keine
Neigung bestand. Kann oft von den Betreffenden schlecht selbst beurteilt werden und
ist nur indirekt über die Frage »Würden Ihre Angehörigen das so sehen« zu explorieren. I
Konzentrations· Ausgeprägte Schwierigkeiten, sich auf einfache Abläufe zu konzentrieren (z. B. Buch
Schwierigkeiten lesen, Film sehen, Formular ausfüllen). Den Betroffenen kann klar oder auch selbst
unklar sein, dass sie in solchen Momenten intrusive Erinnerungsschübe haben.

Übermäßige Fachwort Hypervigilanz: ständiges Gefühl des Nicht-Trauen-Könnens. Fortdauerndes


Wachsamkeit und unrealistisches GefährdungsgefühL Kann (nach durch Menschen verursachten
Traumen) dazu führen, dass Waffen zur möglichen Verteidigung mitgeführt werden
bzw. Überwachungseinrichtungen installiert werden.

Übermäßige Nach dem Trauma vorhandene, sehr leichte Erschreckbarkeit, die schon durch leichte
Schreckreaktion Geräusche und Bewegungen ausgelöst werden kann.

sich, d. h. Belastungen wirken früher und nachhal-


tiger. Auch kleinere nachfolgende Belastungen Symptome der posttraumatischen
führen zu stärkerer Erregung. Diese Erregungs- Belastungsstörung nach dem DSM-IV
steigerung beeinträchtigt das Schlafverhalten: So- (Eigene Übersetzung und leichte
wohl das Einschlafen als auch das Durchschlafen Modifikation (Weglassen der Kriterien
werden nachhaltig gestört. Am Tage sind die Be- für Kinder))
troffenen hypervigilant bzw. erhöht wachsam ge- A Ereigniskriterium: Die Person hat ein
genüber allen möglichen Reizen (z. B. Geräuschen, traumatisches Ereignis erlebt, das beiden
fremden Gesichtern). Die Schreckreaktion wird folgenden Bedingungen genügt:
heftiger: Schon kleinste körperliche Berührungen Die Person erlebte oder beobachtete
oder Geräusche führen zu extremem Erschrecken. ein oder mehrere Ereignisse, in der
Eine posttraumatische Belastungsstörung eine potenzielle oder rea le Todes-
wird diagnostiziert, wenn einige der Einzelsymp- bedrohung, ernsthafte Verletzung
tome der genannten Symptomgruppen gemein- oder eine Bedrohung der körperlichen
sam auftreten. Die beiden gebräuchlichen Klassi- Unversehrtheil bei sich oder anderen
fikationssysteme (ICD-10 und DSM-IV) erfor- geschah,
dern unterschiedliche Symptomanzahl zur Fest- die Person mit intensiver Furcht, Hilf-
legung der Diagnose. Das !CD-System ist dabei losigkeit oder Schrecken reagierte.
etwas weniger strikt als das amerikanische DSM-
System (zu Letzterem liegen allerdings die meis-
ten Forschungsbefunde vor). Die folgenden Über-
sichten zeigen die jeweiligen Diagnosedefinitio-
nen im Detail.
1.2 · Beschreibung des Störungsbildes 9 1

B Symptomgruppe: Erinnerungsdruck B Anhaltende Erinnerungen oder Wieder-


(1 Symptom für Diagnose notwendig) erleben der Belastung durch aufdring liche
Intrusionen, Nachhallerinnerungen, lebendige Erinne-
belastende Träume bzw. Alpträume, rungen, sich wiederholende Träume oder
Nachhallerlebnisse, durch innere Bedrängnis in Situationen,
Belastung durch Auslöser, die der Belastung ähneln oder mit ihr im
physiologische Reaktionen Zusammenhang stehen.
bei Erinnerung. c Umstände, die der Belastung ähneln oder
c Symptomgruppe: Vermeidung/emotio- mit ihr im Zusammenhang stehen, werden
nale Taubheit (3 Symptome für Diagnose tatsächlich oder möglichst vermieden.
notwendig) Dieses Vermeiden bestand nicht vor dem
Gedanken- und Gefühlsvermeidung, belastenden Ereignis.
Aktivitäts- oder Situationsvermeidung, D Entweder 1. oder 2.
(Teii-)Amnesien, 1. Teilweise oder vollständige Unfähigkeit,
lnteresseverminderung, einige wichtige Aspekte der Belastung
Entfremdungsgefühl, zu erinnern.
eingeschränkter Affektspielraum, 2. Anhaltende Symptome (nicht vor-
eingeschränkte Zukunft. handen vor der Belastung) mit zwei
D Symptomgruppe: chronische Über- der folgenden Merkmale:
erregung (2 Symptome für Diagnose Ein-und Durchschlafstörungen,
notwendig) Reizbarkeit oder Wutausbrüche,
Ein- und Durchschlafschwierigkeiten, Konzentrationsschwierigkeiten,
erhöhte Reizbarkeit, Hypervigilanz,
Konzentrationsschwierigkeiten, erhöhte Schreckhaftigkeit.
Hypervigilanz, E Die Kriterien B, C und D treten innerhalb
übermäßige Schreckreaktion. von 6 Monaten nach dem Belastungs-
E Dauer der Beeinträchtigungen (Symptome ereignis oder nach Ende einer Belas-
der Kriterien B, C und D) ist länger als tungsperiode auf (in einigen Fällen kann
1 Monat. ein späterer Beginn berücksichtigt wer-
F Die Störung verursacht klinisch bedeut- den, dies sollte aber gesondert angege-
same Belastungen oder Beeinträchtigun- ben werden).
gen im sozialen und Berufsbereich sowie
anderen wichtigen Funktionsbereichen.

Untersuchungen zur Kohärenz


des Störungsbildes
Seit der Erstbeschreibung der PTB wurden viele
Symptome der posttraumatischen Studien durchgeführt, um die Zusammengehö-
Belastungsstörung nach dem ICD-10 rigkeit der Symptome zu untersuchen.
A Die Betroffenen sind einem kurz- oder
langanhaltenden Ereignis oder Geschehen
von außergewöhnlicher Bedrohung mit
katastrophalem Ausmaß ausgesetzt, das wichtig, um abgesicherte Aussagen darüber
nahezu bei jedem tiefgreifende Verzweif- machen zu können, ob die psychischen Folgen
lung auslösen würde. von Traumen sich von anderen, lange be-
kannten Störungsbildern wie Depressionen
oder den verschiedenen Angststörungen
unterscheiden.
10 Kapitel 1 · Erscheinungsbild, Erklärungsansätze und Therapieforschung

Außerdem sollte mit diesen Untersuchungen ab- sammengefasst wurden, voneinander abzugren-
gesichert werden, dass die Störung diagnostisch zen. Faktorenanalysen von Symptomlisten bei
zuverlässig erfassbar ist und alle wesentlichen Kriminalitätsopfern haben diese Trennung nahe-
Merkmale und Symptome berücksichtigt sind. gelegt (Foa et al., 1995). Konzeptionell macht die
Bei der Untersuchung großer Gruppen von Be- Trennung der Symptome auch deshalb Sinn, da
troffenen wurde übereinstimmend bestätigt, dass die Vermeidungssymptome eher phobischen
Symptome aus den 3 Symptomgruppen bei den Charakter haben und Symptome der emotionalen
verschiedensten Traumaarten gefunden werden, Betäubung verschiedene Anzeichen negativer Af-
unabhängig davon, ob bei den Betroffenen ein fektivität zusammenfassen.
Trauma durch Naturkatastrophen, Kriminalität, Die Unterscheidung beider Symptomgruppen
Vergewaltigung oder ein anderes traumatisches ist durchaus therapierelevant Bei einem Vorherr-
Ereignis ausgelöst wurde (Davidson & Foa, 1993). schen von phobischen Vermeidungssymptomen
a Abbildung 1.1 zeigt, dass es ein ähnliches Symp- kann die direkte Konfrontationstechnik bessere
tomprofil bei verschiedenen Traumen gibt, was Ergebnisse erbringen, während beim Vorherr-
die Annahme eines einheitlichen Störungsbildes schen von emotionalen Betäubungsgefühlen eher
stützt. eine kognitive Umstrukturierung wirksam sein
Untersuchungen haben allerdings ergeben, kann (vgl. Ehlers et al., 1997).
dass es sinnvoll ist, die Vermeidungs- und Taub-
heitssymptome, die früher zu einer Gruppe zu-

~ 80
.S
~
----er- Naturkatastrophe•
"(jj
.><
Ol
····<>···· Vergewaltigung b
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:::1
-···• ·- Folter c
'"' 60
:r

40

20

D Abb. 1.1. Symptomprofile über verschiedene Traumaarten.


Daten aus • Green et al. (1990), b Foa et al. (1995), c Basoglu et al. (1994)
1.2 · Beschreibung des Störung sbildes 11 1
Symptommuster bei Kindern. Nur für traumati- f) Beispiel
sierte Kinder zeigen sich einige Abweichungen Bericht eines 45-jährigen Patienten, der mit
im Symptommuster, was zur Beschreibung eini- 21 Jahren aus politischen Gründen in der
ger Besonderheiten für PTB im Kindesalter ehemaligen DDR inhaftiert wurde
führte (McNally, 1993, s. Kap. 15). Bei jüngeren und zweieinhalb Jahre im Gefängnis war
Kindern können sich die quälenden Träume >>Ich bin nicht mehr so, ich bin anders geworden.
von dem Ereignis innerhalb mehrerer Wochen Ich versuche, vieles nicht mehr an mich heran-
zu generalisierten Alpträumen von Monstern, da- kommen zu lassen. Vieles interessiert mich einfach
von, andere zu retten oder Bedrohungsträume nicht mehr. Aber wenn was rankommt, überrea-
verändern. Kleine Kinder nehmen meist nicht giere ich, aggressiv zum Teil und intoleranter da-
wahr, dass sie das Vergangene wiedererleben. durch. Wenn mich was erwischt, dann muss ich
Das Wiedererleben des Traumas zeigt sich eher darum kämpfen, hab' meinen Stolz und meine
durch wiederhohes Durchspielen des Erlebten Ehre. Und das bereitet mir schon Probleme .. ..
(z. B. ein Kind, das einen Autounfall mitgemacht Ich habe Probleme mit allem, was so irgend-
hat, spielt immer wieder Zusammenstöße mit wie an Zwangsmechanismen erinnert. Entweder
Spielzeugautos nach). Da es für Kinder schwierig erstarrt man davor und wagt nicht, sich zu rühren,
sein kann, über vermindertes Interesse an be- oder man begehrt dagegen auf und nimmt das
deutsamen Aktivitäten oder eine Einengung der absolut nicht ernst. Die Zwischenform, das, was
Affekte zu berichten, sind diese Symptome nur angemessen wäre, das fehlt bei mir. Und das wirkt
von außen zu beobachten, z. B. durch Familien- sich natürlich am Arbeitsplatz aus. Ich bin mehr
mitglieder oder Lehrer. arbeitslos, als dass ich einen Job habe, weil ich die
Hierarchien nicht verinnerlichen kann. Da schaffe
ich es irgendwie nicht, die angemessene Reaktion
1.2.2 Weitere posttraumatische zu finden ....
Veränderungen Und wenn ich dann wieder sehe, dass die [die
ehemaligen Täter - Anmerkung A.M.] es gut ha-
Einige der Personen, die ein Trauma erlebt haben ben, das verursacht bei mir so ein massives
- insbesondere diejenigen, die ein länger andau- Bauchgrimmen, dann bin ich zwei, drei Tage nicht
erendes Trauma (Typ II) durchgemacht haben - ansprechbar, weil ich den Eindruck habe, die ha-
zeigen eine Reihe zusätzlicher Veränderungen. ben plötzlich wieder den Sieg ....
Für die beschriebenen längerfristigen Symptome Ich bin dann dort hingegangen und habe die
wurden in der Fachliteratur mehrere Begriffe ge- Räume vollgesprayt .... Das braucht man für die
prägt: eigene psychische Gesundheit. Man muss doch
- Andauernde posttraumatische Persönlich- die Leute auch mal ein bisschen fo ltern ....
keitsveränderung (Weltgesundheitsorganisa- Solange wie ich lebe, werde ich alles hassen,
tion, 1991), was mit denen zu tun hat. Ich bin ein Kämpfer und
- komplexe PTB (Herman, 1992) oder das hat mir wenig Freunde geschaffen ... .
- Störungen durch Extrembelastungen (Dis- Meiner Frau gegenüber bin ich im Nichtver-
orders of Extreme Stress: Kolk et al., 1992). stehen manchmal sehr böse gekommen, sehr sehr
böse .. ..
In der nachfolgenden Darstellung und im ganzen Man hatte die Opfermentalität, man hat ein-
Buch wird die Bezeichnung komplexe posttrau- fach von der Umwelt erwartet, dass man verstan-
matische Belastungsstörungen für den gemein- den wird. Aber das war ja nicht vorhanden, da gab
samen Kernbereich dieser Folgen verwendet wer- es so eine Mauer des Schweigens, eine Mitschuld
den. des Schweigens. Da hat man sich weiter ein-
Einige typische Veränderungen werden in der geigelt ...«.
folgenden Aussage eines Patienten beschrieben.
12 Kapitel 1 · Erscheinungsbi ld, Erklärungsansätze und Therapieforschung

Erscheinungsbild der komplexen tern, paradoxerweise manchmal in Form einer


posttraumatischen Belastungsstörungen starken Anziehung an die Person des Täters bzw.
sogar seine Idealisierung.
Patienten mit komplexen posttraumatischen Be-
Darüber hinaus kann es zu Retraumatisierun-
lastungsstörungen zeigen starke Affekte, die sich
gen (wiederholter Traumatisierung) kommen, in-
gegen andere oder gegen sich selbst richten kön-
dem sich die Betroffenen immer wieder gefähr-
nen. Bei ihnen treten starke Rache-, Wut- und
lichen Situationen aussetzen, in denen sie teilwei-
Ärgergefühle sowie oft auch Schuldgefühle auf.
se wieder Opfererfahrungen machen müssen. Ein
Im zwischenmenschlichen Bereich zeigen sie star-
Beispiel dafür sind Opfer von häuslicher Gewalt
ke Vereinsamungstendenzen. Viele der Betroffe-
und Vergewaltigungen, die sich auch nach einer
nen beschäftigen sich fast ausschließlich mit
Trennung von den ursprünglichen Tätern wieder
dem vergangenen Trauma. Die Beschäftigung
zu gewalttätigen Männern hingezogen fühlen
mit dem Trauma mit Hilfe von Büchern, Filmen
(Herman, 1993).
oder Diskussionsgruppen kann den Betroffenen
D Tabelle 1.2 stellt die Symptomgruppen der
selbst wie eine Sucht vorkommen, von der sie
komplexen PTB vor.
nicht mehr lassen können. In einigen Fällen
kommt es zu intensiver Beschäftigung mit den Tä-

D Tabelle 1.2. Symptome und Symptomkonstellationen


der komplexen posttraumatischen Belastungsstörung. (Zusammengefasst und modifiziert nach Hermann, 1992)

Kurzbezeichnung Erläuterungen

Gestörte Affekt- Keine Feinabstufung der Gefühlsausdrücke möglich. Leichte Erregbarkeit in


und Impulsregulation zwischenmenschlichen Situationen und Kommunikationen. Ärger und Zorn
dominiert. Eigene Selbstzerstörerische Tendenzen (z. ß. erhöhte Suizidneigung).
Es gibt Hinweise darauf, dass die komplexe PTB bei Patienten auftritt, die
auch die •klassischen• PTB-Symptome (s. Abschn. 1.2.1) haben (Jongedijk
et al., 1996).

Oissoziative Tendenzen Anhaltende Aufmerksamkeitsstörungen und wiederholte psychogene Bewusst-


seinstrübungen. Häufige Amnesien und zeitweises Oepersonalisationserleben.

Somatisierungsstörungen Häufige psychogene Beeinträchtigungen bzw. manifeste Krankheiten, z. B.


und körperliche Verdauungsstörungen, chronische Schmerzen, kardiepulmonale Symptome,
Erkrankungen Konversionssymptome und gestörte Sexualität.

Beeinträchtigtes Ausgeprägte Überzeugung, ein beschädigtes Leben zu führen. das nicht mehr zu
Identitätsgefühl reparieren ist bzw. ausgeprägte Überzeugungen, im Leben etwas falsch gemacht
zu haben, dafür verantwortlich zu sein. Permanente Schuld· und Schamgefühle
anderen Personen gegenüber.

Interpersonelle Gestörte Wahrnehmung des Täters/Angreifers bis hin zu dessen Idealisierung.


Störungen Exzessive Beschäftigung mit Rachephantasien. Unfähigkeit zur gleichberechtigten
partnerschaftliehen Interaktion. Anfälligkeit fOr überspannte Ansichten.

Reviktimisierungsneigung Exzessives Risikoverhalten erzeugt häufige Gefährdungssituationen mit der


gleichen Traumatisierungsgefahr (z. B. wieder vergewaltigt zu werden; wieder
Gewaltopfer zu werden). Drang, die Plätze zu besuchen, an denen das Trauma
geschah und die immer noch gefährlich sein können. Mögliche Tendenz. andere zu
Opfern zu machen (z. ß. Vergewaltigungsopfer werden später zu Vergewaltigern).

Allgemeiner Sinnverlust Verlust früherer Orientierungen, Hoffnungen, Motivstrukturen und persönlichkeits-


stabilisierender Überzeugungen.
1.2 · Beschreibung des Störungsbildes 13 1
Systematische Untersuchungen zu den kom- sind allerdings bei PTB nicht häufiger als bei
plexen posttraumatischen Belastungsstörungen Angststörungen und Depressionen. Die Gruppen-
liegen bisher nur in geringem Umfang vor. Erste zuordnung der PTB zu den Belastungsstörungen
Studien belegen, dass dieses Störungsbild vor- ist aus diesen Gründen bisher unbefriedigend.
handen ist bei einigen Möglicherweise werden zukünftige Forschungen
- Opfern sexuellen Missbrauchs in der Kindheit zu gemeinsamen pathogenetischen Prozessen
(Zltonick et al., 1996) und (z. B. Intrusionen, Dissoziation) eine tragfähige
ehemaligen Soldaten und Widerstandskämp- Grundlage für diese Störungsgruppe schaffen
fern (Jongedijk et al., 1996). (vgl. Maercker & Ehlert, 2001).

Angststörungen
1.2.3 Nosologie
Im DSM-System (DSM-IV; American Psychiatrie
Die Einordnung der PTB in eine übergeordnete Association, 1994) wird die PTB zu den Angst-
Gruppe psychischer Störungen ist lange kontro- störungen gerechnet (s. Übersicht). Dafür spre-
vers diskutiert worden. Die verschiedenen Alter- chen zunächst die 2 angstgetönten Bereiche der
nativen für eine Zuordnung waren die Belas- PTB-Symptomatik:
tungsstörungen, Angststörungen oder dissoziati- - Die körperlichen Reaktionen bei Konfronta-
ven Störungen. In der deutschsprachigen psychi- tionen mit Erinnerungen an das Trauma (z. B.
atrischen Tradition sind außerdem die »reaktiven Schwitzen, Atemnot, Herzbeschwerden) und
Depressionen« ein möglicher Oberbegriff. Alle - die phobische Vermeidung von Gedanken,
genannten Störungsgruppen haben bestimmte Aktionen und Situationen, die an das Trauma
Merkmale mit der PTB gemeinsam. Die Suche erinnern.
nach der Sachgerechtesten nosologischen Zuord-
nung ist ein Weg, die Forschungen über zugrun- Auf der physiologischen Ebene haben Angst-
deliegende Prozesse der Störungen zu stimulieren störungen und PTB die ausgeprägte sympathiko-
und spezifische therapeutische Wirkprinzipien tone Hyperreaktivität gemeinsam. Ein wesentli-
auch für die PTB anzuwenden. ches Gegenargument gegen die Einordnung in
die Angststörungen ist jedoch, dass bei einer
Belastungsstörungen PTB immer eine äußere Verursachung vorhanden
ist, was bei den übrigen Angststörungen eher ei-
Die PTB wird im !CD-System in die Gruppe der ne seltene Ausnahme ist (Jones & Barlow, 1991).
Belastungsstörungen eingeordnet. Andere spezi-
fische Störungen dieser Gruppe sind die akute
Belastungsreaktion und die verschiedenen An- Klassifikation der Angststörungen
passungsstörungen (z. B. mit Depressionen, (oder Angst- und Phobische Neurosen)
Störungen des Sozialverhaltens). Die Belastungs- nach dem DSM-IV
störungsgruppe ist sehr unspezifisch definiert. Panikstörung mit/ohne Agoraphobie
Da außer dem gemeinsamen Merkmal eines je- Agoraphobie ohne Panikstörung
weils auslösenden Ereignisses keine gemein- Soziale Phobie
samen pathogenetischen Prozesse beschrieben Einfache Phobie
worden sind, gibt es wenig Anhaltspunkte für Ge- Zwangsstörung
meinsamkeiten. Die Zusammenfassung in einer Posttraumatische Belastungsstörung
Störungsgruppe ist auch in Bezug auf die Zeitver- Generalisierte Angststörung
läufe und indizierten Behandlungsmöglichkeiten Angststörung NNB
sehr inhomogen und vage. Die Gruppenzuord-
nung unterstellt implizit, dass die Störungen
nur transitorisch sind und nach gewissen Zeit-
räumen spontan heilen. Solche Spontanheilungen
14 Kapitel 1 · Erscheinungsbild, Erklärungsansätze und Therapieforschung

Dissoziative Störungen 1.2.4 Epidemiologie, Komorbidität


und Verlauf
Untersuchungen haben gezeigt, dass es eine Rei-
he von Gemeinsamkeiten von dissoziativen
Epidemiologie
Störungen und PTB gibt (Davidson & Foa, 1993).
Typische dissoziative Störungen sind die psycho- Informationen über die Verbreitung, über mögli-
gene Amnesie, die Derealisations- und die dis- cherweise gekoppeltes Auftreten mit anderen
sozlatlve Identitätsstörung (früher: multiple psychischen Störungen sowie über den Verlauf
Persönlichkeitsstörung), die alle als Teil- bzw. ko- der PTB sind von großer Bedeutung für ein volles
morbide Symptomatik der PTB auftreten können. Verständnis der Störung. Der jeweilige Einzelfall,
Psychogene Amnesien zeigen sich darin, dass der sich zur Behandlung vorstellt, kann mit die-
viele PTB-Patienten sich nicht mehr an alle wich- sem Hintergrundwissen besser diagnostiziert,
tigen Einzelheiten des traumatischen Erlebnisses beurteilt und behandelt werden.
erinnern können bzw. bei ihnen umgrenzte
»Blackouts« vorliegen. Es hat sich gezeigt, dass f) Epidemiologische Leitfragen
nach einer Traumatisierung die allgemeine Dis- Wer leidet an der Störung?
soziationstendenz der Betroffenen auch in nicht- Wie wird sich die Störung im Normalfall
traumatischen Situationen zunimmt (Brown, weiterentwickeln?
1994). Gegen die Zuordnung zur Gruppe der dis- Welche Folge- oder Begleitprobleme gilt es
soziativen Störungen spricht, dass nicht bei allen zu beachten?
PTB-Patienten dissoziative Symptome vorliegen Wer benötigt am dringendsten Hilfe?
und dass die physiologischen und psychologi-
schen Angstsymptome nicht durch eine solche
Zuordnung erklärt werden können. Dies sind einige Fragen, die mit Hilfe von epi-
demiologischen Daten geklärt werden können.
Die Verbreitung von PTB hängt von der Häu-
Reaktive Depressionen figkeit traumatischer Ereignisse ab. Zumindest
Diese heute zugunsten neuer diagnostischer Ein- für einen Teil der Traumen ist es offensichtlich,
teilungen unüblich gewordene Diagnosekategorie dass sie in verschiedenen Weltregionen oder po-
umfasst allgemein das Auftreten depressiver Zu- litischen Regionen in ihrer Häufigkeit variieren.
stände nach negativ erlebten Ereignissen. Einige Es gibt Regionen mit häufigeren Naturkatastro-
depressive Merkmale sind ein Bestandteil der phen (z. B. auch einige Teile der USA) und Län-
PTB, insbesondere der Symptomgruppe der emo- der, in denen politische Gewalt und Folterungen
tionalen Betäubung. Was die Symptomatik aber politischer Gegner an der Tagesordnung sind.
von den depressiven Störungen unterscheidet, Bei den epidemiologischen Angaben zu PTB
sind die stark ausgeprägten Intrusionen, d. h. Er- muss man zwischen älteren Zahlen (80er Jahre)
innerungen an das Trauma, die klinisch im Mit- und neueren (90er Jahre) unterscheiden. Die Prä-
telpunkt der Störung stehen. Die negative Affek- valenzraten der neueren internationalen Studien
tivität bzw. Affekteinschränkung scheint eine Fol- (z. B. Kessler et al., 1995; Breslau et al., 1998) lie-
ge der Überflutung mit Intrusionen zu sein und gen deutlich höher als die der früheren Unter-
nicht das Korrelat eines verminderten Selbstwert- suchungen. In den älteren epidemiologischen
gefühls wie bei den depressiven Patienten. Untersuchungen wurden Lebenszeitprävalenzen
Der vielversprechendste Weg, die nosologi- für PTB von 1-2% gefunden. Die National Co-
sche Zuordnung abzusichern, sind genaue Unter- morbidity Study in den USA (Kessler et al., 1995)
suchungen der beteiligten pathogenetischen Pro- fand eine Lebenszeitprävalenz von 7,8% mit ei-
zesse und ihrer zeitlichen Abfolge. Solche Studien nem starken Geschlechtsunterschied (bei Frauen
können klären, was die primären psychischen 10,4%, bei Männern 5,0%). Eine Untersuchung
Veränderungen nach einem Trauma sind und in Deutschland (Perkonigg et al., 2000) be-
welches die sekundären, sich daraus ergebenden schränkte sich auf Jugendliche und junge Er-
Folgesymptome bzw. -syndrome sind. wachsene (14-24 Jahre). Sie fand eine Lebenszeit-
1.2 · Beschreibung des Störungsbi ldes
15 1
prävalenz von 2,2% bei Frauen und von 0,4% bei Die häufigsten Traumen in den genannten
Männern. Weitgehend bestätigende Prävalenzra- Untersuchungen sind körperliche Gewalt oder
ten fand eine Untersuchung an ca. 2000 jungen Gewaltandrohungen, schwere Unfälle sowie das
Frauen, bei der sich eine Lebenszeitprävalenz Zeugesein von Unfällen oder Gewalt. Diese häu-
von 3,2% fand (Maercker et al., 2003). figsten Traumen sind allerdings nicht zugleich
Der Unterschied zwischen den älteren und diejenigen, nach denen sich am häufigsten eine
den neueren epidemiologischen Studien wird PTB herausbildet.
hauptsächlich auf die Senkung der Dunkelziffer
durch eine vertrauenswürdigere Befragungs-
Liste der 3 pathogensten Traumen
methode zurückgeführt. Für die Unterschiede
in den zitierten Untersuchungen:
zwischen der PTB-Prävalenz in Deutschland
und in den USA können mehrere Faktoren dis- Vergewaltigung (enge Definition,
kutiert werden, z. B.: ohne sexuelle Belästigung),
- weniger Naturkatastrophen, Kriegste ilnahme (nicht nach Soldat
- erschwerter Zugang zu Waffen bzw. oder Zivilist unterschieden).

- geringere soziale Gegensätze in Deutschland. Misshandlungen und sexueller Missbrauch


in der Kindheit.

Die zusammengefassten Ergebnisse aus den ge-


nannten Untersuchungen zeigen die a Tabellen
1.3 und 1.4.

r D Tabelle 1.3. Haufigkeiten von verschiedenen Traumen und von PTB


in einer repräsentativen amerikanischen Stichprobe (Frauen und Männer gemittelt). (Nach Kessler et al., 1995)

Art Traumahäufigkeit[%] Störungshäufigkeit


_j
(lebenszeitprävalenz)
nach Trauma [%]

Vergewaltigung 5,5 55,5

Sexuelle Belästigung 7,5 19,3

Krieg 3,2 38,8

Waffengewaltandrohung 12.9 17.2


f--
Körperliche Gewalt 9,0 11,5

Unfalle 19,4 7,6

Zeuge (von Unfällen, Gewalt) 25,0 7,0

Feuer/Naturkatastrophen 17,1 4,5


I
Misshandlung in der Kindheit 4,0 35,4

Vernach lässigung in der Kindheit 2,7 21,8

Andere lebensbedrohliche Situationen 11 ,9 7,4

Andere Traumen 2,5 23,5

Irgendein Trauma 60,0 14,2


16 Kapitel 1 · Erscheinungsbild, Erklärungsansätze und Therapieforschung

D Tabelle 1.4. Häufigkelten von verschiedenen Traumen und von PTSD


in zwei deutschen Stichproben Jugendlicher und junger Erwachsener

Studie München: Frauen und Männer, Dresden: Frauen, 18-24 Jahre


14-24 Jahre (Perkonigg et al., 2000) (Maercker et al., 2003)

Art Trauma- Störungshäufig- Trauma- Störungshäufig-


häuflgkeit keit (Lebenszeit· häufigkeit keit (Lebenszeit·
prävalenz) nach prävalenz) nach
Trauma Trauma

Vergewaltigung 1,3 50,0 1,5 51,7

Körperliche Gewalt 9,6 1,7 4,2 15,6

Kriegserlebnisse 0,2 25,0 - -


Schwere Unfälle 7,5 0 7,9 2,5

Zeuge 4,2 2,4 3,3 3,8


(von Unfällen, Gewalt)

Katastrophen 0,5 0 0,6 12,5

Sexueller Missbrauch 1.9 30,6 1,8 27,3


in der Kindheit

andere Traumen 1,8 15,5 3,0 16,4

I Irgendein Trauma 27,2 7,8 25,3 14,9

Es muss allerdings darauf hingewiesen werden,


dass sich aus epidemiologischen Daten immer Komorbide Störungen bei post-
nur Wahrscheinlichkeitsangaben ergeben. Auch traumatischen Belastungsstörungen
im Falle eines »weniger« pathogenen Traumas Angststörungen,
kann sich das volle Symptombild einer PTß he- Depressionen,
rausbilden. Suizidalität,
Medikamenten-, Alkohol- und Drogen-
missbrauch oder -sucht,
Komorbidität
Somatisierungsstörungen,
Ein konsistentes Ergebnis der epidemiologischen Herz-Kreislauf-Erkrankungen.
Untersuchungen von Traumatisierten ist die hohe
Komorbidität mit anderen Diagnosen. Folgende
Störungen oder Krankheiten sind die häufigsten Je nach Untersuchung wird angegeben, dass bei
Folge- und ßegleitprobleme von PTß: 50-100% der Piß-Patienten komorbide Störun-
gen vorliegen. Meist haben Piß-Patienten mehr
als eine weitere komorbide Störung (Deering et
al., 1996).
Verschiedene Autoren haben darauf hinge-
wiesen, dass die anderen Störungen selbst in ei-
nem pathogenetischen Zusammenhang mit dem
Trauma stehen, also keine unabhängigen Störun-
1.3 · Erklärungsansätze 17 1
gensind (Sutker et al., 1994). Sozialphobien oder Symptomatik weiterhin bei ca. einem Drittel
spezifische Phobien können sich in einem zeitli- der Personen, die ursprünglich PTB ausgebildet
chen und inhaltlichen Zusammenhang mit dem hatten.
Trauma herausbilden (z. B. Klaustrophobie, die Von den Personen, die irgendeine Form von
Furcht vor engen Räumen bei Geiselopfern). Therapie erhielten, war die Hälfte nach 3 Jahren
Die erhöhte Rate von Selbstmorden bzw. symptomfrei, während die andere Hälfte weiter
Selbstmordversuchen bei PTB-Patienten stellt Symptome zeigte. Die genannten Daten der Hei-
ein besonderes Problem dar. Suizidversuche wur- lungsraten sind allerdings nicht spezifisch, da
den beispielsweise bei ehemaligen Soldaten im sie über alle möglichen verschiedenen Traumaar-
Kriegseinsatz Smal häufiger gefunden als in der ten gemittelt sind. Außerdem sind die genannten
Normalbevölkerung (Davidson et al., 1991). Hier Zahlen durch ihre retrospektive Erhebung me-
ist eine aktiv auf die Betroffenen zugehende psy- thodisch unsicher.
chotherapeutische Betreuung bzw. die Suizidpro- In seltenen Fällen kommt es zu einem verzö-
phylaxe von Traumaopfern von großem Wert. gerten Beginn der PTB nach symptomfreien Mo-
Ein ausgeprägter Zusammenhang besteht naten oder Jahren (Solomon et al., 1991). Eine
zwischen chronischer PTB und einer höheren Ra- Verstärkung der Symptomatik kann nach kriti-
te körperlicher Krankheiten sowie einer aus- schen Lebensereignissen oder Rollenwechseln in
geprägten Nutzung medizinischer Behandlungs- der Biographie (z. B. Berentung) auftreten. Ob
einrichtungen (Green et al., 1993). im höheren Lebensalter unbehandelte posttrau-
matische Symptome in Häufigkeit und Belas-
tungsgrad zunehmen, wird zwar von einigen Au-
Verlauf toren beschrieben (Kruse & Schmitt, 1999), ist
aber noch nicht eindeutig nachgewiesen.
Nach dem Erlebnis von Traumen können post-
traumatische Belastungsstörungen in jedem Le-
bensalter auftreten. Sie wurden sowohl in der
1.3 Erklärungsansätze
Kindheit als auch im hohen Lebensalter beschrie-
ben (Maercker et al., 1999).
Eine erste Ursache für die Entstehung von post-
traumatischen Belastungsstörungen ist natürlich
durch das erlebte Trauma gegeben. Jedoch ent-
Die eigentlichen PTB-Symptome treten übli- wickelt nicht jeder traumatisierte Mensch eine
cherweise innerhalb der ersten Monate nach PTB. Das heißt, neben dem traumatischen Ereig-
dem Traumazeitpunkt oder -Zeitraum auf. ln nis spielen auch psychologische, biologische und
den unmittelbaren Stunden und Tagen nach soziale Faktoren eine Rolle bei der Entstehung
einem Trauma herrschen oft psychische und Aufrechterhaltung der Störung.
Schock- oder akute Belastungszustände vor Im folgenden Abschnitt werden zunächst Er-
(s. Abschn. 1.2.1). klärungsmodelle dargestellt, die eine unmittel-
bare therapeutische Relevanz haben, da sie An-
Bildet sich nach dieser Schockphase eine PTB- satzpunkte für therapeutische Techniken bieten,
Symptomatik heraus, kann sich diese durch die in den folgenden Kapiteln des Buches dar-
spontane Heilung in den nächsten Wochen und gestellt werden. Dies sind die lerntheoretischen,
Monaten wieder zurückbilden. Über die Häufig- kognitiven und biologischen Erklärungsansätze.
keit von Spontanheilung der PTB gibt es neuere Nachfolgend wird ein allgemeines multifaktoriel-
Angaben aus einer epidemiologischen Studie les Rahmenmodell der Entstehung posttraumati-
(Kessler et al., 1995): Ein Drittel der Betroffenen scher Belastungsstörungen beschrieben. Für
war danach innerhalb der ersten 12 Monate be- ausführlichere Übersichten wird auf Maercker
schwerdefrei. Insgesamt die Hälfte der Betroffe- (1998), Ehlers (1999) sowie Flatten et al. (2001)
nen war nach ca. 4 Jahren störungsfrei. 10 Jahre verwiesen.
nach den traumatischen Ereignissen bestand die
18 Kapitel 1 · Erscheinungsbild, Erklärungsansätze und Therapieforschung

1.3.1 Lerntheoretische, kognitive sie durch die verschiedensten Schlüsselreize akti-


und biologische Ansätze viert werden und desto stärker wird die PTB-
Symptomatik ausgebildet sein. Beispielsweise be-
Lerntheoretische Ansätze ruhen die Intrusionssymptome auf der Aktivie-
rung der kognitiven Elemente durch entspre-
Lerntheorien und Theorien der Informationsver-
arbeitung sind seit der Erstbeschreibung des chende Schlüsselreize. D Abbildung 1.2 zeigt das
Beispiel einer Furchtstruktur nach einer Ver-
Störungsbildes zu seiner Erklärung herangezo-
gewaltigung, wobei auf der linken Seite eine voll
gen worden (Foa & Kozak, 1986; Horowitz,
ausgebildete pathologische Furchtstruktur und
1976/1997).
auf der rechten Seite eine »deaktivierte« Furcht-
struktur (z. B. im Ergebnis einer gelungenen Psy-
chotherapie) abgebildet ist.
Gemeinsam ist den verschiedenen Konzepten Der spontane Aufbau einer Furchtstruktur
der Kerngedanke, dass zentrale Gedächtnis- nach dem Erlebnis eines Traumas ist nach Foa
inhalte in ihrer Struktur und Funktion durch & Kozak ( 1986) eigentlich ein normaler und kein
das traumatische Erlebnis nachhaltig ver- pathologischer Prozess. Im pathologischen Fall
ändert werden. kommt es allerdings nicht zu einer spontanen
Rückbildung der Furchtstruktur in den ersten Ta-
Furchtstrukturen. Foa & Kozak (1986) bezeichnen gen oder Wochen nach dem Trauma, sodass die
die durch das Trauma veränderten Gedächtnis- Furchtstruktur verhaltensrelevant bleibt.
strukturen als Furchtstrukturen (Lang, 1979). Die Modifikation anhaltender Furchtstruktu-
Diese sind dadurch gekennzeichnet, dass eine ho- ren ist nach den Modellvorstellungen nur durch
he Angst und Aktivierung verschiedene Elemente eine komplette und umfassende gedankliche
miteinander verbindet. Die Furchtstrukturen be- Konfrontation zu erreichen, in der alle Arten
stehen aus drei Arten von Elementen: von Elementen (Fakten, Emotionen, Körperre-
- Kognitive (Stimulus) Elemente (u.a. das Trau- aktionen) therapeutisch aktiviert werden und
ma mit seinen Merkmalen), im Ergebnis eine Habituation (Rückbildung) der
- physiologische Reaktionen und Angstaktivierung eintritt (s. Kap. 4).
- emotionale Bedeutungen. Die bei den meisten Traumatisierten ablau-
fenden spontanen Teilaktivierungen der Furcht-
struktur - beispielsweise durch plötzliche Erin~
nerungen oder durch Intrusionen - erreichen
Posttraumatische Furchtstrukturen bilden sich
keine Rückbildung oder »Deaktivierung«. Diese
dadurch heraus, dass ein extrem emotional
spontane Aktivierung von Teilen der Furcht-
bedeutsamer Stimulus (in der Regel: Todes-
struktur kann vielmehr zu einer immer aus-
angst) mit einem oder mehreren kognitiven
geprägtereD Vermeidung im Gefolge des Angst-
Elementen und mit körperlichen Reaktionen
anstiegs führen.
gekoppelt wird.
Das Furchtstrukturmodell erklärt den Unter-
schied zwischen Personen mit und ohne PTB
Diese Kopplung geschieht in Form einer nachhal- nach einem Trauma mit der unterschiedlichen
tigen Aktivierung einer umfassenden Gedächt- Größe und Stärke der aktivierten Gedächtnis-
nisstruktur. Als Ergebnis resultiert eine leicht struktur. Dazu kann eine prätraumatisch beste-
zu aktivierende Furchtstruktur, die sehr viele Ele- hende leichtere Erregbarkeit und einfachere Kon-
mente umfasst (z. B. mit dem Trauma nur locker ditionierbarkeit als Ursache der unterschiedli-
assoziierte Fakten). Die einmal ausgebildete chen PTB-Ausbildung kommen.
Furchtstruktur ist von allen Elementen aus leicht Das Furchtstrukturmodell kann nicht nur die
durch Schlüsselreize (Fakten, Körperreaktionen, Intrusions-, Vermeidungs- und Hyperarousal-
Emotionen) zu aktivieren. Je mehr Elemente die symptome erklären, sondern ist durch weiter-
Furchtstruktur beinhaltet, desto häufiger wird führende Annahmen auch in der Lage, dissoziati-
1 .3 · Erklärungsansätze 19 1

C:::J kognhiva (Stimulus) Eiementa C) physiologische Reaktionen ~ emo~onale Bedeutungen

D Abb. Furchtstruktur nach einem abendlichen Oberfall


(Nach Ideen von Foa & Kozak, 1986). a Ausgeprägte Furchtstruktur bei Vorliegen von PTB, b deaktivierte Furchtstruktur bei
genesenem Patienten (z. B. nach Konfrontationstherapie)

ve Symptome und Teilamnesien zu erklären verhalten führt. Diese einfache Konditionie-


(Chemtob et al., 1988). Dabei wird angenommen, rungstheorie kann aber im Gegensatz zum
dass die erhöhte Aktivierung des autonomen Furchtstrukturmodell nicht die Intrusionen als
Nervensystems im Verbund mit der Aktivierung vorherrschende Symptome bei PTB erklären.
der Furchtstruktur eine adäquate Informations-
verarbeitung verhindert. Die Erregung kann so Forschungsergebnisse zum FurchtstrukturmodelL
stark sein, dass es durch Hemmung der Informa- Es gibt eine Reihe experimenteller Befunde, die
tionsverarbeitung zu Amnesien kommen kann. für die Gültigkeit der Annahmen des Furcht-
Auf diese Weise sind die Wechsel in der PTB- strukturmodells sprechen. So fand man, dass
Symptomatik zwischen Intrusionen und Erinne- PTB-Patienten im Vergleich zu Personen nach
rungslücken zu erklären. Traumen ohne PTB und gesunden Kontrollper-
Das Furchtstrukturmodell ist eine komplexe sonen eine selektive Aufmerksamkeitserhöhung
lerntheoretische Konzeptualisierung der PTB- für traumabezogene Stimuli (z. B. Geräusche, Fo-
Symptome, durch die umfassendere Erklärungen tos, Begriffe) ausgebildet haben (Litz & Keane,
der Symptomatik möglich sind, als durch das 1989). McNally et al. (1990) untersuchten Viet-
lerntheoretische Zwei-Faktoren-Modell der namsoldaten mit Hilfe von Stroop-Aufgaben
Angstentstehung (vgl. Margraf, 2000). Das Zwei- (Farbenbenennungs-Aufgaben). Die Farbe der
Faktoren-Modell besagt, dass ein traumatisches Schrift, in der die traumaspezifischen Begriffe ge-
Ereignis in einer ersten Phase zu einer Kopplung schrieben waren, wurde von PTB-Patienten lang-
von Angst an ein kognitives Element (»Schlüssel- samer herausgefunden als in den Kontrollgrup-
reiz«) führt und in einer zweiten Phase durch ei- pen. Daraus schloss man, dass wahrscheinlich ei-
ne operante Konditionierung zu Vermeidungs- ne größere Furchtstruktur aktiviert wurde und
20 Kapitel 1 · Erscheinungsbild, Erklärungsansätze und Therapieforschung

sich dadurch das Umschalten auf die eigentliche verletzlich.« Dieses Selbstbild steht mit dem noch
Aufgabe, die Benennung der Schriftfarbe, verzö- erinnerten früheren Selbstbild: »Ich bin kompetent
gert hatte. Vergleichbare Effekte wurden bei Frau- und stabil« in Konflikt.
en mit PTB nach Vergewaltigungen gefunden
(Cassiday et al., 1992; Foa et al., 1991). Änderung von Schemata nach Traumen. Im Er-
klärungsansatz von Horowitz (1976/1997) stehen
die Veränderungen der Selbst- bzw. Rollensche-
Veränderte kognitive Schemata mata im Mittelpunkt. Das Trauma führt danach
Verschiedene Autoren stellen die Änderung von vorrangig zu einer Veränderung des Selbstbilds
Schemata nach Traumen in den Mittelpunkt ihrer bzw. des Gefüges von Rollen der betroffenen Per-
ätiologischen Konzepte (Horowitz, 1997; Janoff- son. Horowitz nimmt an, dass die traumatisch
Bulman, 1985, 1995). Die Theorien zu veränder- veränderten Schemata so lange im Gedächtnis
ten kognitiven Schemata setzen mit ihrer Erklä- aktiviert bleiben, bis sie durch weitere Informati-
rung insbesondere an folgenden PTB-Sympto- onsaufnahme und -Verarbeitung eine Passfähig-
men an: keit mit den früheren und den übrigen Schemata
- Gefühl der Fremdheit oder Losgelöstheit von erreicht haben, die neuen Schemata also inte-
anderen (Entfremdungsgefühl), griert werden können.
- Eindruck einer eingeschränkten Zukunft. Für das eben genannte Beispiel 2 heißt das,
die traumatisch veränderten Schemata bleiben
Die Modelle bieten darüber hinaus Erklärungs- solange aktiviert, bis der Betroffene akzeptieren
kraft für verschiedene Intrusions- und Vermei- kann, dass er zeitweise ein schwacher und ver-
dungssymptome. letzlicher Mensch ist.
Kognitive Schemata sind als im Gedächtnis In der Aktivierungsphase der schematischen
repräsentierte Informationsmuster definiert, die Repräsentationen und bevor diese integriert wor-
die Wahrnehmung und das Verhalten steuern den sind, kommt es zu Intrusionen und zu einer
und organisieren. Klinisch relevante Schemata starken emotionalen Belastung. Um diese Belas-
sind das Selbstschemata, das sich wiederum in tung zu mindern, wirken nach Horowitz kogniti-
verschiedene Kompartimente zerlegen lässt (mul- ve Kontroll- oder Abwehrprozesse, z. B. in Form
tiple Selbstschemata, Selbstbilder oder Rollen), von Vermeidung, Verleugnung oder emotionaler
sowie die Schemata wichtiger Bezugspersonen Taubheit. Wann immer die kognitive Kontrolle
und die globalen Welt-Schemata (oder »Welt- nicht vollständig gelingt, wird das Trauma intru-
anschauungen«). siv wiedererlebt, was wiederum zu starken emo-
tionalen Belastungen und somit zu erneuter Ver-
Q Beispiel meidung oder Verleugnung führt.
Beispiell:
Ein Mensch, der bisher ein großes Maß an Ver-
trauen in andere Menschen hatte (vertrauensvol- Eine Wiederherstellung der Gesundheit
les Welt-Schema), bildet durch einen kriminellen kommt nach Horowitz durch ein intensives
Überfall einen kompletten Vertrauensverlust an- Durcharbeiten der traumatisch veränderten
deren Menschen gegenüber aus (Welt-Schemata: kognitiven Schemata zustande.
»Die Welt ist abgrundtief schlecht, die Menschen
sind abgrundtief schlecht.«)
Beispiel 2: Dieses Durcharbeiten kann bei einem Patienten
Ein zuvor selbstbewusst agierender Mensch erlebt im Genesungsprozess selbständig und spontan
sich durch das Trauma plötzlich als schwach und passieren, wenn es nicht oder kaum durch Kon-
erschüttert. Sein Selbstbild nach dem Trauma trollprozesse gehemmt wird. Sind diese Kontroll-
bleibt für längere Zeit: »Ich bin schwach und oder Abwehrprozesse stärker ausgeprägt, kann
T nur eine Psychotherapie den Normalisierungs-
bzw. Genesungsprozess herbeiführen. Das psy-
1.3 · Erklärungsansätze 21 1
chotherapeutisch angeleitete Durcharbeiten hat Diese üblichen Bewertungsmuster werden durch
somit zwei Ansatzpunkte: ein traumatisches Ereignis verändert.
- Die veränderten kognitiven Schemata (Ein-
stellungen, überzeugungen) und
- die Kontrollprozesse (Vermeidungs- und Ab- Einstellungen traumatisierter Personen
wehrtendenzen) 1 (s. Kap. 6). Eine traumatisierte Person sieht
sich selbst als verletzt und zukünftig ver-
Empirische Belege zum Erklärungsansatz von Ho- letzbar,
rowitz. Von den Bestandteilen der Theorie von die Weit als feindlich, unverständlich und
Horowitz (Selbstschemataveränderungen, Kon- unkontrollierbar und
trollprozesse) sind bisher v. a. die Veränderungen sich selbst als beschädigt und wertlos.
der kognitiven Schemata empirisch belegt wor-
den. In verschiedenen Untersuchungen wurden
Indikatoren für typische, posttraumatisch verän- Eine Reihe von Fragebogenuntersuchungen bei
derte Selbst- und Weltkognitionen gefunden (z. B. Kriminalitäts- und Unfallopfern sowie lebens-
Krupnick & Horowitz, 1981; Resick & Schnicke, gefährlich Erkrankten fand diese Überzeugungen
1991; Roth & Lebowitz, 1987). regelmäßig stärker ausgeprägt als bei nichttrau-
In einer Untersuchung von Verkehrs- und matisierten Kontrollpersonen (zusammengefasst
Kriminalitätsopfern wurde durch Inhaltskategori- in Janoff-Bulman, 1993). Bei einigen Traumati-
sierungen von Patientenäußerungen die folgen- sierten hielten die Veränderungen noch Jahre
den selbstrelevanten Themen am häufigsten ge- nach dem Trauma an. Obwohl in der entspre-
funden (Krupnick & Horowitz, 1981): chenden Untersuchungsserie keine PTB-Diagno-
- Frustration über die eigene Verletzbarkeit, sen erhoben wurden, interpretierte die Autorin
- Selbstbeschuldigungen, ihre Befunde dahingehend, dass die Personen
- Angst vor zukünftigem Kontrollverlust über mit den langjährig nachweisbaren dysfunktiona-
die eigenen Gefühle. len Kognitionen diejenigen sind, die eine chro-
nische PTB ausgebildet haben.
Piß-spezifische dysfunktionale Kognitionen
oder verzerrende Einstellungsänderungen wur-
den von Janoff-Bulman (1985, 1995) untersucht. Kognitives Störungsmodell
Nach Janoff-Bulman sind drei miteinander ver-
Ehlers & Clark (2000) haben aufgrund der vor-
bundene kognitive Bewertungsmuster bzw. Ein-
genannten Modelle und eigener Befunde einen
stellungen bei nichttraumatisierten, gesunden
Ansatz zur Entstehung und Aufrechterhaltung
Personen typischerweise vorhanden:
der chronischen PTB entwickelt, in dessen Mittel-
punkt die Erklärung der fortbestehenden Angst-
Typische Einstellungen nicht- symptome sowie starker Emotionen wie Ärger,
traumatisierter Personen Scham oder Trauer steht (s. auch Kap. 5). Die Au-
Die Überzeugung von der eigenen toren nehmen an, dass sich eine chronische PTB
Unverletzbarkeit, nur dann entwickelt, wenn die Betroffenen das
die Wahrnehmung der Weit als bedeu- traumatische Ereignis und/oder seine Konse-
tungsvoll, verständ lich und kontrollierbar quenzen so verarbeiten, dass sie eine schwere ge-
und genwärtige Bedrohung und Beschädigung wahr-
die Wahrnehmung des Selbst als positiv nehmen. Ihr Modell besteht aus mehreren Kern-
und wertvoll. aussagen, die nachfolgend aufgeführt sind.

1 In der neuesten Fassung des Behandlungsansatzes (s. Kap. 6)


werden die Kontrollprozesse nach Persönlichkeitsstilen unter-
schieden.
22 Kapitel 1 · Erscheinungsbild, Erklärun gsansätze u nd Therapieforsch ung

Die Interpretation des Traumas und seiner Kon- Die anhaltend wahrgenommene Bedrohung er-
sequenzen kann zur anhaltenden Wahrnehmung zeugt außer der typischen PTB-Symptomatik eine
der Bedrohung und Beschädigung führen. Hierzu Reihe von kognitiven Veränderungen und Verhal-
gehören nicht nur Interpretationen des Eintre- tensweisen, die wahrgenommene Bedrohung
tens des Traumas (z.B. »Ich bin nirgends si- mindern sollen, die jedoch die Störung aufrecht-
cher«), sondern auch das eigene Erleben und Ver- erhalten. Ein Beispiel für eine dysfunktionale
halten während des Traumas (z. B. »Ich verdiene kognitive Strategie, die die PTB-Symptome ver-
es, dass mir schlimme Dinge passieren«). Weiter- schlimmert, ist die Gedankenunterdrückung:
hin werden die anfänglichen Symptome negativ Wenn Patienten versuchen, ihre ungewollten Ge-
interpretiert (z. B. »Ich bin innerlich tot«) sowie danken an das Trauma und die Intrusionen mit
die Reaktionen anderer Personen nach dem Trau- aller Gewalt aus dem Kopf zu drängen, so hat dies
ma (z. B. »Niemand ist für mich da«). den paradoxen Effekt, dass die Häufigkeit der In-
trusionen zunimmt. Ein weiteres typisches Bei-
Die Spezifika des Traumagedächtnisses und seiner spiel ist das Sicherheitsverhalten und andere
Einbettung in andere autobiografische Erinnerun- übertriebene Vorsichtsmaßnahmen, die zu er-
gen führen ebenfalls zu einem anhaltenden Bedro- wartendes Unheil verhindern oder abmildern sol-
hungsgefühl. Das Traumagedächtnis ist durch len (z. B. ständiges Waffentragen). Dadurch wird
mehrere Eigenschaften gekennzeichnet: allerdings dieüberprüfungder Annahme verhin-
- Das intrusive Wiedererleben geschieht meist dert, dass die Katastrophe eintritt, wenn das Si-
in Form von sensorischen Eindrücken, die eine cherheitsverhalten nicht ausgeführt wird.
»Hier-und-Jetzt«-Qualität haben und die kein
Vergangenheitsgefühl vermitteln, wie sie norma-
Empirische Belege zum Modell
lerweise autobiographische Erinnerungen kenn-
von Ehlers & Clark
zeichnet.
- Es gibt »Emotionen ohne Erinnerungen«, in In einer Serie von Studien mit verschiedenen
denen Personen mit PTB körperliche Reaktionen Traumaopfergruppen bzw. mit Analogexperi-
oder Emotionen aus dem Trauma erleben, ohne menten konnten die Kernaussagen des Modells
dass sie dabei eine bewusste Erinnerung an das belegt werden. Die negative Interpretation der er-
Trauma haben (z. B. Ekelreaktionen bei sexuell lebten Intrusionen (z. B. »Die Bilder im Kopf ma-
traumatisierten Personen). chen mich verrückt«) wurde in Quer- und Längs-
- Das autobiographische Gedächtnis ist bei schnittstudien (3-Jahres-Follow up) als wesentli-
PTB für die Erinnerungen an das Trauma un- cher Entstehungs- und Aufrechterhaltungsfaktor
genügend elaboriert. Autobiographische Erinne- der PTB gefunden (Ehlers et al., 1998; Mayou et
rungen sind im Gedächtnis normalerweise in ei- al., 2002; Steil & Ehlers, 2000). Das intrusive Wie-
ner geordneten und abstrahierten Weise gespei- dererleben scheint als Warnsignal zu wirken, da
chert und z. B. nach persönlich relevanten The- es überwiegend Erinnerungsbruchstücke dessen
men und Zeitperioden geordnet, was extrem leb- enthält, was unmittelbar vor dem traumatischen
haftes und emotionales Wiedererleben verhin- Ereignis oder kurz vor den Erlebnissen mit der
dert. Diese ungenügende Elaboration und Inte- größten emotionalen Wirkung stattfand (Ehlers
gration der Traumaerinnerungen steht in Zusam- et al., 2002). Dies würde erklären, warum die In-
menhang mit einer leichten Abrufbarkeit von trusionen von einem anhaltenden Gefährdungs-
sensorischen Eindrücken des Traumas und damit gefühl begleitet sind.
verbundenen Emotionen. Als Merkmal des Traumagedächtnisses wurde
mit textanalytischen Methoden ein hohes Aus-
maß an Gedächtnisunorganisiertheit (z. B. Frag-
mentierung, Sprünge, Wiederholungen) gefun-
den (Halligan et al., 2003 a, b, eingereicht). Das
Ausmaß an berichteter Dissoziation der Erinne-
rungen (z. B. häufige Verwirrung, veränderter
1.3 · Erklärungsansätze 23 1
Zeitsinn) wurde ebenfalls als Beleg der veränder-
ten Gedächtnissituation herangezogen (Murray et Biochemische Veränderungen
al., 2002). Posttraumatische kognitive Verände- Unterfunktion der Hypothalamus-Hypo-
rungen wie eine verstärkt genutzte Gedanken- physen-Nebennierenrinden-Achse (HHNA)
unterdrückung sowie anhaltende Überzeugungen mit erniedrigtem basalen (unstimulierten)
vom eigenen Beschädigtsein wurden bei verschie- Kortisolspiegel sowie einer unterdrückten
denen PIE-Patientengruppen gefunden (Ehlers Adrenocorticotropin (ACTH)- und Karti-
et al., 2000; Mayou et al., 2002). solreaktion nach Corticotropin-Releasing-
Über diese Einzelbefunde hinaus ist das Mo- factor (CRF)-Stimulation,
dell von Ehlers & Clark noch nicht zusammenfas- gesteigerte noradrenerge Aktivität mit
send und noch nicht im Vergleich zu anderen Er- erhöhtem Metabolitenspiegel (Katechola-
klärungsmodellen überprüft worden. mine) in Blut und Urin sowie
Dysregulationen im System endogener
Opiate (z. B. Endorphine) mit einer all-
Biologische Erklärungsansätze
gemeinen Senkung der Schmerzschwelle
Verschiedene Untersucher stellten biologische unter Ruhebedingung und Anhebung
Befunde in den Mittelpunkt ihrer Erklärungs- der Schmerzschwelle unter Stress (stress-
modelle für die posttraumatischen Belastungs- induzierte Analgesie).
störungen (Yehuda & McFarlane, 1997). Diesen
Ansätzen liegt eine Reihe von Befunden über Neuromorphologische Veränderungen
physiologische und biochemische Veränderun- bei PTB-Patienten
gen sowie der teilweisen Ansprechbarkeit von Verringerung des Hypocampusvolumens
Psychopharmaka bei Piß-Patienten zugrunde bei Langzeittraumatisierten und
(s. Übersicht; s. Kap. 7). Einige der Befunde wer- Überaktivität der Amygdala (Mandelkern),
den im Folgenden aufgelistet (aus Ehlert et al., Erhöhung des regionalen zerebralen Blut-
2001; Karl & Maercker, 2003; Stein et al., 1997). flusses in der Amygdala und dem Gyrus
cinguli.

Physiolog ische und biochemische


Veränderungen bei PTB-Patienten Die biochemischen Stresshormonveränderungen
Physiologische Veränderungen scheinen sich auf spezifische Weise von den
Erhöhter allgemeiner autonomer Arousal Langzeitfolgen der chronischen Belastungen
(sympathikoton) mit abnormer Schreck- (z. B. Dauerstress am Arbeitsplatz) bzw. von de-
reaktion, langsamerer Habituation an nen depressiver Patienten zu unterscheiden:
wiederholte Reize; Während chronische Belastungen durch einen
erhöhter spezifischer Arousal für mit dem anhaltend erhöhten Kortisolspiegel gekennzeich-
Trauma assoziierte Reize (z. B. Fotos oder net sind, fand man bei Piß-Patienten (ehemalige
Geräusche des Geschehens); Vietnamsoldaten, KZ-Überlebende) niedrige
evozierte Potenziale mit verzögerter N200- Plasma- und Urinspiegel von Kortisol (Yehuda
und reduzierter P300-Amplitude (Hinweis et al., 1995).
auf erschwerte Diskrimination zwischen Es sind nicht nur die direkten Traumaauswir-
relevanten und irrelevanten Reizen); kungen, die zu biologischen Veränderungen
reduzierte Muster kortikaler evozierter führen. Vielmehr können auch die Intrusions-
Potenziale auf neutrale Stimuli; symptome selbst zu physiologischen Verände-
Veränderungen in der Schlafphysiologie, rungen und Ausschüttungen biochemischer Stof-
u. a. mit vermehrter motorischer Aktivität fe führen. Pitman (1989) beschrieb einen psycho-
im Schlaf. biologischen »Teufelskreis« von Intrusionen und
Stresshormonen: Die traumatischen Erinnerun-
gen (Intrusionen) führen selbst zur Ausschüttung
24 Kapitel 1 · Erscheinungsbild, Erklärungsansätze und Therapieforschung

von Stresshormonen, welche eine erneute Einprä- Die bisher beschriebenen lerntheoretischen,
gung der traumatischen Erinnerungen ins Ge- kognitiven und biologischen Erklärungsansätze
dächtnis verstärken. Dieser Teufelskreis wurde sind zum großen Teil miteinander vereinbar
durch Ergebnisse aus Tierexperimenten belegt und ergänzen sich gegenseitig. Es ist davon aus-
(Petty et al., 1997). Wenn Konditionierungsreak- zugehen, dass PTB eine multifaktorielle Genese
tionen initiiert werden, während die Ausschüt- hat, zu der neben den genannten Faktoren und
tung von Stresshormonen durch die Blockade Prozessen noch eine Reihe weiterer hinzukom-
adrenerger und cholinerger Hormone behindert men, die im folgenden Abschnitt dargestellt wer-
wird, sind diese Konditionierungsreaktionen ext- den.
rem leicht löschbar.
Frühere Traumatisierungen, insbesondere in
der Kindheit, wurden intensiv in Bezug auf die 1.3.2 Ein multifaktorielles
Folgen für die spätere physiologische, endokrine Rahmenmodell
und immunologische Stressregulation unter-
sucht. Insbesondere wurden Studien an Gruppen Das multifaktorielle Rahmenmodell setzt wiede-
von in der Kindheit sexuell und physisch trauma- rum an der Frage an, warum nur ein Teil der
tisierten Probanden durchgeführt (Heim & Ne- Traumatisierten psychische Beeinträchtigungen
meroff, 1999), bei denen sich eine persistente aufweisen und ein anderer Teil keine. Die folgen-
Sensibilisierung des CRH fand. Bei späterem de Darstellung bietet einen breiten psychosozia-
Stresserleben scheint daraus eine Dysfunktion len Rahmen der PTB-Entstehung; a Abb. 1.3 zeigt
(»down-regulation«) weiterer HHNA-Achsen-Pa- die 5 ätiologischen Faktorengruppen:
rameter (z. B. ACTH) und in der Folge eine - Risiko- bzw. Schutzfaktoren,
stressinduzierte Angst- und/oder depressive - Ereignisfaktoren,
Symptomatik zu resultieren (Heim et al., 2001). - Aufrechterhaltungsfaktoren,

Aufrechterhaltungs-
faktoren
• vermeidender Bewälti-
gungsstil

IEreignis-
• kognitive Veränderungen
Resultate

... • •
Risiko- bzw. Schutz· faktoren Störungsbllder:
faktoren •PTB
• frü here Traumata Traumaschwere • Angststörungen
• Traumadauer • depressive Störungen
• Alter zum • Dissoziative Stör.
Traumazeitpunkt • Schadensausmaß Posnraumatische Prozesse
u.a.

...
I

'
• geringere Intelligenz, J Gedächtnisveränderungen psychosoziale
Bildung Konsequenzen
Neurobiolog. Veränderungen • Ehe u. Partnerschaft


Initiale Reaktion
• weibl. Geschlecht • Ausbildung u. Beruf
(Risiko) • Interpretation
• Dissoziation
• Persönlichkeits· aber
I persönliche
faktoren
Gesundheitsfördernde Reifung möglich
Faktoren
• Disdosure
• soziale Anerkennung als
Opfer/Überlebender

D Abb. 1.3. Ein Rahmenmodell der Ätiologie von Traumafolgen


1.3 · Erklärungsansätze 25 1
- gesundheitsfördernde Faktoren/Ressourcen - Lee et al. (1995) analysierten verfügbare Da-
sowie ten von Jugendlichen, die untersucht worden wa-
- posttraumatische Prozesse und Resultate. ren, bevor sie als Soldaten in den Krieg mussten.
Es zeigte sich, dass die Globalbeurteilung der
emotionalen Reife vor dem Trauma mit der spä-
Risiko- bzw. Schutzfaktoren
teren Ausbildung von PTB im Zusammenhang
Obwohl in der Literatur oft nur als Risikofaktoren stand (weniger emotionale Reife zog mehr Symp-
bezeichnet kann man eine Reihe dieser Faktoren tomatik nach sich).
auch als Schutzfaktoren bezeichnen, weil sie ei- - Noelen-Hoeksema & Morrow (1991) unter-
nen günstigen Einfluss darauf haben, Extrembe- suchten Studenten zufälligerweise einige Wochen
lastungen ohne psychische Störungen zu überste- vor einem Erdbeben und schlossen nach dieser
hen. Die Einordnung als Risiko- oder Schutzfak- Naturkatastrophe eine zweite Untersuchung an.
tor kann als »statistische Vorzeichenproblematik« Sie fanden einen signifikanten Zusammenhang
diskutiert werden, da beispielsweise das Fehlen zwischen vor den Traumen gemessenen Persön-
des Schutzfaktors »emotionale Reife« gleichzeitig lichkeitseigenschaften und späteren psychischen
auch ein Risiko bedeuten kann (vgl. Maercker, Beschwerden.
1998). - Breslau et al. {1995) untersuchten eine große
In einer Metaanalyse wurden 77 Studien aus- epidemiologische Stichprobe ein zweites Mal nach
gewertet, die folgende prädiktive Faktoren be- 3 Jahren und analysierten die in der Zwischenzeit
nannten (Brewin et al., 2000): geschehenen Traumen und ihre Wirkungen. Sie
- Vorherige Traumatisierung in der Kindheit fanden ebenfalls keinen signifikanten Zusammen-
(Missbrauch und andere Traumen), hang zwischen vor den Traumen gemessenen
- geringe Intelligenz bzw. Bildung, Persönlichkeitseigenschaften und späteren psy-
- weibliches Geschlecht sowie chischen Beschwerden. In dieser Studie gab es al-
- jüngeres Alter zum Zeitpunkt der Traumati- lerdings einen prädiktiven Zusammenhang zwi-
sierung. schen Neurotizismus bzw. Extraversion und der
Anzahl später erlebter traumatischer Ereignisse
Es stellte sich heraus, dass diese Faktoren ins- (z. B. Verkehrsunfälle, sexuelle übergriffe).
gesamt einen viel geringeren prädiktiven Wert
hatten (mittlere Korrelationen von r=0,06-0,19) Bei den 3 vorliegenden Untersuchungen sind die
als Ereignis- und Aufrechterhaltungsfaktoren Erfassungsmethoden allerdings oft mangelhaft
(mittlere Korrelationen von r = 0,23-0,4). (z. T. keine direkte Piß-Untersuchung), was
Für die Beziehung zwischen Traumatisie- wahrscheinlich auch die Uneinheitlichkeit der Er-
rungsalter und PTB-Risiko fand Maercker (1999) gebnisse begründet.
eine u-förmige Beziehung für menschlich ver-
ursachte Traumen: Kinder und Jugendliche ha-
Ereignisfaktoren
ben das größte Risiko, junge Erwachsene sowie
Erwachsene mittleren Alters ein vergleichsweise Traumaschwere. Es kann als empirisch gesichert
geringeres und ältere Erwachsene wiederum ein angesehen werden, dass die durch objektivierbare
erhöhtes Risiko. Parameter messbare Schwere des Traumas (z. B.
Ob vor dem Trauma bestehende Persönlich- Traumadauer, Schadensausmaß, Verletzungsgrad,
keitseigenschaften ein Risiko für die Piß-Ausbil- Anzahl von Toten) mit dem Ausmaß der Folgen
dung darstellen, ist nicht abschließend zu beant- in einer direkten Beziehung steht (sog. Dosis-
worten. Es ist methodisch schwierig, rückwirkend Wirkungs-Beziehung; Brewin et al., 2000; March,
zuverlässige Informationen über Persönlichkeits- 1993). Die Größenordnungen dieses Zusammen-
eigenschaften vor der Einwirkung eines Traumas hangs sind in der Regel vergleichsweise gering
zu erhalten. Bisher gibt es nur sehr wenige Längs- (Korrelationen von r=0,2-0,3), was darauf hin-
schnittsstudien, in denen Personen untersucht weist, dass psychologische Faktoren der Ereignis-
wurden, bevor sich ein Trauma ereignete: bewertung eine Rolle spielen.
26 Kapitel 1 · Erscheinungsbild, Erklärungsansätze und Therapieforschung

Initiale Reaktionen. Verschiedene Formen initia- nach den Ereignisfaktoren und vor den prätrau-
ler Reaktionen sind ein wichtiger Prädiktor dafür, matischen Risikofaktoren den zweitgrößten Teil
ob eine PTB entsteht oder nicht. Maercker et al. der PTB-Störungsvarianz (King et al., 1999).
(2000) zeigten, dass Initialreaktionen in höherem
Ausmaß die PTB-Symptomatik vorhersagten als Vermeidender BewältigungsstiL Schon 1887 hat
die objektivierbare Traumaschwere. Pierre Janet den Zustand einiger Traumatisierter
als »Gedächtnisphobie« beschrieben. Die Betrof-
fenen ertragen die Konfrontation mit den Erinne-
rungen und dem Wiedererleben nicht und ver-
- wie gering auch immer vorhandenen - suchen deshalb, sie zu vermeiden und zu ver-
Spielraum an Einflussmöglichkeiten zu sehen, drängen. Im Sinne einer operanten Konditionie-
werden in der Regel die posttraumatischen rung wirkt dieses gedankliche und verhaltens-
Folgen nicht so ausgeprägt sein. mäßige Vermeiden als aufrechterhaltender Faktor
für die Belastung durch das Erinnern/Wieder-
erleben (s. Abschn. 2.4.1 »Teufelskreis« als Erklä-
Die Einschätzung (Interpretation), sich während
rungsmodell). Häufige direkte und indirekte For-
des Traumas aufzugeben oder nicht, ist bei Ver-
men des vermeidenden Bewältigungsstils sind:
gewaltigungstraumen und ehemals politisch In-
- Gedankenunterdrückung und Gefühlsvermei-
haftierten untersucht worden (Ehlers et al., 2000).
dung,
Es zeigte sich, dass PTB-Patienten, die sich wäh-
- Nicht-darüber-reden-Wollen,
rend des Traumas ein Gefühl für die eigene Auto-
- dysfunktionales Sicherheitsverhalten,
nomie bewahren konnten - selbst wenn dieses
- ablenkendes Beschäftigen mit Teilaspekten
Gefühl die Lage faktisch kaum oder nicht änderte
(z. B. »Kontrollgänge« zum Unfallort bei
- und sich nicht selbst aufgaben, bessere Ergeb-
gleichzeitiger Gefühlsvermeidung),
nisse in der psychotherapeutischen Reduktion
- exzessives Grübeln sowie exzessiver Ärger
der Symptome erzielten als eine Kontrollgruppe.
und Wut (s. Abschn. 5.1.1) sowie
Die psychische Dissoziation während des
- Selbstzufügen ablenkender Schmerzreize
Traumas (peritraumatische Dissoziation), bei
(z. B. Sich-Schneiden bei Borderline-Patien-
der es zu Derealisations- und Depersonalisations-
ten).
phänomenen kommt, ist ebenfalls ein Prädiktor
für das spätere PTB-Ausmaß (Marmar et al.,
Kognitive Veränderungen. Die im Abschn. 1.3.1
1998). Für die peritraumatische Dissoziation
bereits vorgestellten kognitiven Veränderungen
war zunächst eine schützende Wirkung ange-
- negative Gedanken zum Selbst,
nommen worden, die sich aber in keiner Studie
- negative Gedanken über die Welt sowie
bestätigen konnte (Marmar et al., 1998).
- Selbstvorwürfe
lassen sich durch einen Fragebogen gut erfassen
(»Post-Traumatic Cognitions Inventory«, Foa et
Aufrechterhaltungsfaktoren
al., 1999; dt. Ehlers, 1999).
Aufrechterhaltende und gesundheitsfördernde
Faktoren/Ressourcen lassen sich auch als post- Als negative Gedanken über die Welt können Ra-
traumatische Einflussfaktoren zusammenfassen. chegefühle, durch die versucht wird, die erschüt-
Insgesamt sind sie die einflussreichsten Faktoren terten eigenen Vorstellungen von Gerechtigkeit
für die Existenz chronischer Belastungsstörun- zu realisieren, besonders relevant werden. Nicht
gen. In einer methodisch sehr guten Studie an die spontanen anfänglichen Rachegefühle son-
über 1600 ehemaligen Vietnamsoldaten fand dern chronifizierte Rachegefühle verstärken die
man, dass die posttraumatischen Einflussfak- PTB-Symptomatik (Orth et al., 2003, in Druck).
toren bei Frauen den größten Teil der PTB- Bei den Selbstvorwürfen spielen unangemes-
Störungsvarianz aufklärten (vor Ereignis- und sene Schuldgefühle eine besondere Rolle. Unan-
prätraumatischen Faktoren) und bei Männern gemessene Schuldgefühle von Traumatisierten
1.3 · Erklärungsansätze 27 1
sind nachträgliche Re-Attribuierungsversuche Disdosure. Es hat sich gezeigt, dass vor allem sol-
der Betroffenen (z. B. »Ich habe eine große Mit- che Bewältigungsstile einen gesundheitsfördern-
schuld am Vorgefallenen«) im Dienste einer Illu- den Einfluss haben, die mit persönlicher Offen-
sion der Kontrollierbarkeit der Traumaverursa- heit und Offenlegung der traumatischen Erinne-
chung (z.B. »Wenn ich mich nicht so verhalten rungen einhergehen. Mittels verschiedener Un-
hätte, wäre alles nicht passiert«). Die Illusion tersuchungsanordnungen konnte die Arbeits-
der Kontrollierbarkeit durch die Verantwortungs- gruppe um Pennebaker (Pennebaker, 1985; Pen-
übernahme ist allerdings dysfunktional und führt nebaker et al., 1989) zeigen, dass das Sprechen
nicht zur Erleichterung sondern zur Verstärkung über das Trauma sowohl die subjektive Befind-
des Leidensdrucks der Betroffenen. lichkeit verbessert als auch ganz allgemein die
Häufigkeit von Arztbesuchen (gleich welchen
Fachgebietes) vermindert. Sogar Parameter der
Gesundheitsfördernde Faktoren
Immunschutzfunktionen des Körpers (z. B. An-
oder Ressourcen
zahl der Killerzellen-Lymphozyten) zeigten eine
Als gesundheitsfördernde Faktoren oder Res- Besserung des Gesundheitszustandes nach Offen-
sourcen werden diejenigen bezeichnet, die zu ei- legung traumatischer Erfahrungen. In einer Un-
ner Gesundung der Betroffenen nach einer vorü- tersuchung bei ehemals politisch Inhaftierten
bergehend symptomatischen akuten Phase wurde dieser Zusammenhang in Hinblick auf re-
führen. Der Ressourcenbegriff impliziert, dass duzierte Wiedererlebens- und Numbing-Sympto-
ein Teil dieser Faktoren als Selbstheilungskräfte me (emotionale Taubheit/Betäubtsein) der PTB
angesehen werden kann. Insgesamt versetzen gezeigt (Müller et al., 2000).
die genannten Faktoren die Betroffenen in die La-
ge, ihre traumatischen Erlebnisse besser zu inte- Soziale Anerkennung. Die soziale Anerkennung
grieren. als Opfer bzw. Überlebender kann auf verschiede-
ne Weise auf die psychische Befindlichkeit nach
Kohärenzsinn. Das psychologische Konstrukt des dem Trauma wirken und im günstigen Fall die
Kohärenzsinnes war im letzten Jahrzehnt in der psychischen Belastungen und Symptome vermin-
Psychotraumatologie sehr populär. Es sollte die dern. Gegenüber den Betroffenen wird dabei Mit-
Fähigkeit erfassen, das Geschehene geistig ein- gefühl ausgedrückt, Verständnis für die besonde-
ordnen, verstehen und ihm einen Sinn geben zu re Lage und die Besonderheiten des Erlebens und
können (Antonovsky, 1987). Personen mit einem Empfindens nach einem traumatischen Erlebnis
gut ausgebildeten Kohärenzsinn sollen aufgrund anerkannt sowie Hochachtung vor der Bewälti-
ihres Weltverständnisses gute Fähigkeiten zur gungsleistung gezollt. Dies ist sowohl im familiä-
Vorhersage selbst von schrecklichen Ereignissen ren Rahmen als auch im Freundes- und Kollegen-
haben. Die vorliegenden Maße für den Kohärenz- kreis sowie der lokalen Öffentlichkeit (z. B. Stadt
sinn sind jedoch defizitär bzw. unvalide oder Gemeinde) von Wichtigkeit.
(Schmidt-Rathjens et al., 1997). Die zugrunde lie-
gende theoretische Annahme ist damit allerdings
nicht entwertet. Beispielsweise weisen die auto- Ein Fehlen dieser Wertschätzung kann zur
biographischen Berichte einiger überlebender fortgesetzten Retraumatisierung beitragen
aus Konzentrationslagern des Dritten Reiches da- bzw. führen, wie Studien bei verschiedenen
rauf hin, dass eine aktive Geisteshaltung für die Traumagruppen zeigen (Fontana & Rosenheck,
Bewältigung hilfreich ist, so beschrieben im be- 1994; Maercker & Müller, 2003, eingereicht).
eindruckenden Report des Psychotherapeuten
Viktor E. Frankl (1973).
28 Kapitel 1 . Erscheinungsbild, Erklärungsansätze und Therapieforschung

Posttraumatische Prozesse und Resultate 1.4 Therapieformen


und Therapieforschung
Über die durch die Traumatisierung ausgelösten
Prozesse der Gedächtnisorganisation und der Posttraumatische Belastungsstörungen sind über
neurobiologischen Veränderungen ist weiter lange Zeit nicht spezifisch erkannt und wirk-
oben berichtet worden (für Übersichten s. a. Bre- samen Therapieformen zugeführt worden. Erst
win, 2001; Resick, 2003). in den 90er Jahren entwickelte sich eine breite
Abschließend soll der Blick noch auf die Re- Wissensbasis über wirksame Therapiemethoden.
sultate des psychosozialen Rahmenmodells ge- Im folgenden Abschnitt wird ein Überblick zu
worfen werden. Klinisch relevante Ergebnisse ei- den wichtigsten psychotherapeutischen Interven-
ner Traumawirkung können psychische Störun- tionen gegeben. Ein Resümee zur empirischen
gen sein, wie sie in diesem Buch ausführlich be- Überprüfung ihrer Effektivität schließt sich an.
schrieben werden. Sekundär kommt es in vielen Der Kenntnisstand zur medikamentösen Thera-
Fällen zu erheblichen psychosozialen Konsequen- pie wird in Kap. 7 beschrieben. Die genaue Dar-
zen, wie nicht abgeschlossene Ausbildungen, Ar- stellung der psychotherapeutischen Vorgehens-
beitsplatzschwierigkeiten, Karrierebrüche, häufi- weisen erfolgt in den nachfolgenden Kapiteln.
ge Trennungen oder Scheidungen, Erziehungs-
probleme sowie »querulatorische« Konflikte mit
Vorgesetzten oder Behörden. 1.4.1 Überblick über Therapieformen
Posttraumatische Reifung. Nicht zu vernachlässi-
Die spezifischen Methoden der PTB-Therapie
gen ist auf der anderen Seite, dass viele Personen,
können therapieschulenübergreifend in nachfol-
die ein Trauma erlebt haben, im Nachhinein mei-
gend aufgeführte Techniken eingeteilt werden,
nen, dieses Ereignis habe einen persönlichen Rei-
die einzeln oder auch kombiniert angewandt wer-
fungsprozess in Gang gesetzt (z.B. Frank!, 1973).
den können:
Die Mehrzahl der Betroffenen meint, dass sie die
- Traumaexposition,
erlebten Erfahrungen und Einsichten für ihr wei-
- kognitive Umstrukturierung bzw. Schema-
teres Leben nicht mehr missen will. Zur posttrau-
arbeit und
matischen Reifung (»Posttraumtic Growth«) liegt
- Ressourcenarbeit
ein Fragebogen für verschiedene Opfergruppen
vor, der folgende Dimensionen erfasst (Maercker
& Langner, 2001): Traumaexposition
Beziehungen zu Anderen (z. B. tieferes Ver-
Die Exposition - auch Konfrontation genannt -
bundenheitsgefühl),
mit den traumatischen Gedächtnisbildern wurde
- Wertschätzung des Lebens (z. B. andere Prio-
ursprünglich in der kognitiven Verhaltenstherapie
ritätensetzung),
(KVT) entwickelt. Das Ziel der Expositionstech-
- neue Möglichkeiten (z. B. stärkerer Verände-
niken besteht in der Rückbildung der PTB-Symp-
rungswillen),
tomatik durch eine wiederholte Aktivierung der
- persönliche Stärken (z. B. Entwicklung eige-
Traumaszene oder -szenen.
ner Bewältigungsmöglichkeiten) und
Expositionsverfahren wurden ursprünglich
- religiös-spirituelle Veränderungen (z. B. stär-
insbesondere bei PTB-Patienten eingesetzt, bei
kerer Glauben).
denen das Vermeidungsverhalten im Vorder-
grund stand. Die Verfahren zeigten aber auch ei-
ne gute Wirkung bei der Reduktion von posttrau-
Die eigene Reifung nach einem Trauma kann,
matischen Intrusionen und Übererregung. Bei
neben der Symptomreduktion und Gesund-
der verhaltenstherapeutischen Expositionstech-
heitsstabilisierung, eine wichtige zusätzliche
nik nach Foa (vgl. Kap. 4) wird durch den Thera-
Zielgröße für die psychotherapeutische
peuten darauf geachtet, dass die Patienten sich
Behandlung sein.
das traumatische Ereignis in allen Sinnes- und
1.4 · Therapieformen und Therapieforschung 29 1
Gefühlsqualitäten vorstellen, d. h. mit den zu- Kognitive Umstrukturierung
gehörigen visuellen, akustischen, olfaktorischen bzw. Schemaarbeit
und taktilen Eigenschaften sowie allen Formen
Zu den kognitiven Therapietechniken gehörten
aversiver Gefühle und veränderter Körperempfin-
zunächst das Angstbewältigungs-, Selbstsicher-
dungen.
heits- und Stressimpfungstraining sowie die
Ein Vergleich der therapeutischen Vorgehens-
PTB-spezifisch entwickelte kognitive Verarbei-
weise bei anderen Traumatherapien ergibt, dass
tungstherapie (s. Kap. 8). Die kognitive Umstruk-
auch andere Therapieschulen und -techniken
turierung soll vor allem dazu dienen, die verän-
ein teilweise ähnliches Vorgehen haben, bei dem
derten Wahrnehmungen, Gedanken und Inter-
die schlimmsten Erlebnisse (»hot spots«) des
pretationen zu normalisieren. Ein besonderer Fo-
Traumas im Mittelpunkt stehen (z. B. imaginative
kus liegt in der KVT auf Ärger, Rachegefühlen
Verfahren und Schreibtherapien). Im Folgenden
und Schuldgefühlen, die viele PTB-Patienten aus-
sind deshalb verschiedene Therapieformen - ge-
geprägt zeigen (Zöllner et al., 2003).
ordnet nach dem Stellenwert der Traumaexpositi-
Im Zusammenhang mit dem Störungsmodell
on im Gesamtkonzept - aufgezählt.
der PTB von Ehlers & Clark (2000; s. Abschn.
1.3.1) wurde ein konsequent auf kognitiver Um-
Formen der Traumatherapie: strukturierung beruhendes therapeutisches Vor-
gehen entwickelt (Ehlers, 1999). Hierbei spielt
Varianten der Traumaexposition
die Traumaexposition keine zentrale Rolle son-
ln-sensu-Standardverfahren mit Habitua-
dern dient vornehmlich der Identifizierung dys-
tionsrationale (s. Kap. 4),
funktionaler Einstellungen.
ln-vivo-Exposition: selten indiziert
Ebenfalls unter weitgehendem Verzicht auf
(s. Kap. 14),
die Traumaexposition wurde die Life-Review-
Nacherleben des Traumas im Rahmen der
Therapie für ältere Patienten mit lange zurücklie-
kognitiven Umstrukturierung (s. Kap. 5),
genden Traumatisierungen entwickelt (Maercker,
»Eye Movement Desensitization Repro-
2002; Maercker & Zöllner, 2002). Dabei werden
cessing« (EMDR; s. Kap. 4, Kap. 10),
negative und positive Lebensereignisse (ein-
»lmagery Rescripting«: indiziert bei Trau-
schließlich des Traumas) nachbesprochen und ih-
matisierung in der Kindheit (s. Kap. 9).
re rückwirkende Bewertung durch einen sokrati-
schen Dialog ggf. neu vorgenommen. Besonderen
Imaginative Exposition Raum im Gespräch nehmen die Bewältigungs-
Screen- oder Bildschirmtechnik (s. Kap. 12), erfolge und Sinnfindungsaspekte ein.
Besta ndteil der Traumabehand lung nach Die integrative psychodynamisch-kognitive
Reddemann (2001 ). Therapiemethode von Horowitz e1976/1997)
setzt an den posttraumatisch veränderten Sche-
mata (Überzeugungen und Einstellungen) an.
Narrative Exposition Sie ist ebenfalls eine kurz- bzw. mittellange The-
>>Testimony«-Methode rapieform. Hier stehen die Überzeugungen und
(Neuner et al., 2000), Einstellungen zu sich selbst im Zentrum. Das the-
Internet-gestützte Therapie (INTERAPY; rapeutische Gespräch wird auf Konflikte fokus-
Lange et al., 2000). siert. Der Therapeut spiegelt die Wünsche und
Bedürfnisse des Patienten diesem wider und ver-
sucht ihn zu Einsichtserlebnissen über das eigene
Selbst zu verhelfen. Die auf histrionische, zwang-
hafte und narzisstische Patienten zutreffenden
Behandlungsbesonderheiten dieses Vorgehens
werden von Horowitz in Kap. 6 beschrieben.
30 Kapitel 1 · Erscheinu ngsbild, Erklärungsansätze und Therapieforschung

Ressourcenarbeit »finding a Mission«. Einige Traumaopfer engagie-


ren sich in einem karitativen oder sozialen Ver-
Hierzu gehören phasenspezifische Therapie-
ein. Dies wird oft von dem Wunsch motiviert,
bestandteile, die Klärung eines persönlichen Rei-
dass die mögliche Traumatisierung anderer Men-
fungsprozesses sowie weitere individuelle Sinn-
schen verhindert werden soll (s. Übersicht).
gebungsintentionen. Zu den spezifischen Thera-
piemaßnahmen, die je nach individuellen Erfor-
dernissen in bestimmte Phasen der Therapie ein- Beispiele für soziales und karitatives
geordnet werden (s. Übersicht). Engagement von Traumaopfern
Opfer krimineller Taten arbeiten bei der
Opferhilfeorganisation »Weißer Ring e.V.«
Spezifische Therapiemaßnahmen als Berater für neue Kriminalitätsopfer mit.
Bei Patienten mit ausgeprägter Komorbi- Mütter von in Verkehrsunfällen gestorbe-
dität sind am Therapiebeginn Stabilisie- nen Kindern gründeten in den USA die
rungstechniken indiziert, die an positive Gesellschaft »Mothers Against Drunken
frühere Erfahrungen anknüpfen können. Drivers<< (>>Mütter gegen betrunkene Fah-
Die »Ressource<< Familie ist sinnvollerweise ren<), die Aufklärungsmaterial herausgibt
in mehreren Phasen der Therapie für das und versucht, auf die Gesetzgebung Ein-
Vorgehen nutzbar, z. B. vor Beginn der fluss zu nehmen.
Traumaexpositionen. Ehemals politisch Verfolgte arbeiten bei
»Amnesty International<< zugunsten politi-
scher Gefangener in anderen Ländern mit.
Trauma als persönlicher Reifungsprozess.. Vielfach
wird von Traumaopfern und von ihren Behand-
lern eine weitere Dimension von Veränderungen »Testimony<<-Methode. Eine >>Zeugenschaft« für
beschrieben, in der es um existenzielle Sinnfra- andere ist ein Bestandteil der >>Testimony«-Me-
gen geht. Hier steht die Frage im Mittelpunkt, thode (Form der narrativen Exposition). Anony-
ob die traumatischen Erlebnisse dazu beitragen me Psychotherapeuten aus Chile beschrieben die
können, dem Leben einen Sinn, eine Bedeutung >>Testimony«-Methode in der Zeit der Diktatur
und eine Richtung zu geben. Einige Traumaopfer (Cienfuegos & Monelli, 1983), in dem Folter-
sind von sich allein aus in der Lage, und Verfolgungsopfer innerhalb der Therapie-
- das Erlebte für sich selbst als Chance für rei- stunden mit Unterstützung des Therapeuten ei-
chere Lebenserfahrungen und für ihren wei- nen schriftlichen Bericht über das Erlebte verfas-
teren Lebensweg zu sehen sowie sen, der später der Publikation zugeführt wird,
- als Anlass, eine aktive Rolle in sozialen und um ein weiteres Publikum zu erreichen. Inzwi-
gesellschaftlichen Bezügen auszuüben schen liegt sogar eine vergleichsweise gut rando-
(Frankl, 1973). misierte Kontrollgruppenstudie zur »Testimo-
ny«-Methode mit erfolgreichen Ergebnissen vor,
In der Psychotherapie kann es angebracht sein, die unter den schwierigen Bedingungen eines
mit dem Patienten die existenzielle Dimension Flüchtlingscamps für Somalis im Nachbarland
des Traumas und die Frage nach dem persön- Uganda durchgeführt wurde (Neuner et al., 2003,
lichen Sinn anzusprechen und zu diskutieren. eingereicht).
Zielstellung dieser Diskussion ist es, dem Patien-
ten seine eigenen Reifungs- und Entwick-
lungsmöglichkeiten bewusst zu machen. Der Rei-
fungsprozess setzt an dem Gedanken an, dass
nach dem Erleben eines Traumas »nichts mehr
so ist, wie es einmal war«, denn das Vergaugene
bleibt gelebte Realität.
1.4 · Therapieformen und Therapieforschung 31 1
1.4.2 Empirische Erfolgskontrolle - die kognitive Verhaltenstherapie (KVT),
- das EMDR,
Die Therapie der posttraumatischen Belastungs- - die psychodynamische Therapie nach Horo-
störungen kann als Vorreiter der empirischen witz und
Überprüfung der Wirksamkeit von Psychothera- - das hypnotherapeutische Vorgehen.
pie gelten, da eine wachsende Anzahl an kontrol-
lierten Therapiestudien vorliegt. Viele dieser Stu- Hierbei ist zu beachten, dass die Angaben zur
dien erfüllen die höchsten methodischen An- KVT und zum EMDR jeweils auf mehreren Studi-
sprüche im Sinne randomisierter Kontrollgrup- en, zur psychodynamischen Therapie und dem
penstudien. Insgesamt kann die Wirksamkeit hypnotherapeutischen Vorgehen auf nur einer
spezifischer Therapieformen in der PTB-Behand- Studie beruhen. Die Abbrecherraten als zusätz-
lung als gut bis sehr gut angesehen werden, mit liches Kriterium sprechen für die psychothera-
Besserungsraten bei Patientenpopulationen von peutischen Verfahren und können dort als akzep-
bis zu 85o/o. Der in a Tabelle 1.5 zusammengestellte table Größenordnung gewertet werden.
Überblick stützt sich auf die Ergebnisse einer Me- Für die pharmakotherapeutischen Studien la-
taanalyse von Therapiestudien (Etten & Taylor, gen keine Katamneseangaben vor (z. B. 4 Monate
1998). nach Absetzen der Medikamente). Psychothera-
Die Metaanalyse zeigt, dass eine Reihe von pie gilt auf Grundlage dieser Befunde nach Kon-
psychotherapeutischen Verfahren nachgewiesene sensuskonferenzen von Psychiatern und Psycho-
Wirksamkeit für sich beanspruchen kann. Auf der logen als Methode der ersten Wahl in der PTB-
Basis der konventionellen Effektstärkegrenzen Behandlung. Die positiven Ergebnisse der neue-
können als sehr gut wirksame Verfahren gelten: ren Psychopharmaka weisen darauf hin, dass die-

I D Tabelle 1.5. Ergebnisse einer Metaanalyse zur Wirksamkeit von Therapien der PTB:
Gemittelte Effektstärken der Fragebogenmaße und Abbrecherraten. (Zusammengestellt aus Etten & Taylor, 1998)

Effektstärken (Prä-Post-Vergleich) • Abbrecherraten [%]

Kognitive Verhaltenstherapie 1,27 (nach 4 Monaten 1,63) b 15,1

EMDR 1,24 (nach 4 Monaten 1,33)b 14,4

Psychodynamische Therapie 0,90 11 ,0


(nach Horowitz)

Hypnoseverfahren 0,94 11,0

Entspannungsverfahren 0,45 8,0

Psychotherapie, insgesamt 1,17 14,0

Trizyklische Antidepressiva 0,54 26,4

MAO-Hemmer 0,61 36,4

Serotonin·Reuptake-Hemmer 1,38 36,0

Pharmakotherapie, insgesamt 0,69 31,9

Kontrollbedingungen 0.43 16,6


(Warteliste, supportive Beratung)

• Effektstärken über 0,5 gelten als mittlere Effekte und über 0,8 als sehr gute Effekte.
b Nur für die KVT und die EMDR lagen Katamnesedaten über 4 Monate vor.
32 Kapitel 1 · Erscheinungsbild, Erklärungsansätze und Therapieforschung

se bei der Nichtzugänglichkeit von geeigneter Ist jedoch im weiteren Verlauf die Indikation
Psychotherapie ebenfalls indiziert sind. für eine Psychotherapie gegeben, so ist der Wert
andauernder Pharmakatherapie eher fraglich.
Es besteht nämlich die Gefahr, dass sonst Thera-
1.4.3 Multimodales therapeutisches pieerfolge primär auf das Medikament attribuiert
Vorgehen werden und der Patient während der Psychothe-
rapie nicht den Eindruck vermittelt bekommt,
Das psychotherapeutische Vorgehen kann davon dass er selbst durch seine Eigenaktivität die
profitieren, dass mehrere Verfahren und Techni- Symptomatik überwinden kann.
ken in einer flexiblen, patientenorientierten Ver-
gehensweise kombiniert werden. Die Ausgangs-
basis einer multimodalen Vergehensweise ist, !Errichten von Gedenkorten. Über individuelle
dass Traumen sowohl biologische und psychische Therapiemaßnahmen hinaus geht die Mitwir-
als auch soziale Veränderungen in jeweils ver- kung von Therapeuten an der Errichtung von Ge-
schiedenen Graden auslösen. Mit dem Bild eines denkstätten oder -orten für die Opfer von Trau-
in Wasser geworfenen Steins lässt sich die Aus- men. Hierbei ist es wichtig,
gangstage eines multimodalen Ansatzes ver- - die Überlebenden bzw. die trauernden überle-
anschaulichen (s. a Abb. 1.4). benden Familienangehörigen bei der Planung
Die konzentrischen Kreise (s. a Abb. 1.4) wei- des Ortes einzubeziehen sowie
sen darauf hin, dass sich die unterschiedlichen - die Opfer einzeln namentlich zu erwähnen,
Therapieformen ergänzen bzw. aufeinander auf- um dem Gerechtigkeitsgefühl beim Gedenken
bauen. In der ersten Zeit nach einem Trauma zu genügen.
(»akute Belastungsreaktion«, s. Kap. 10) kann
die Pharmakatherapie möglicherweise zu einer Beeindruckende Beispiele dieser Gedenkkultur
Beruhigung der psychischen Verfassung und sind die Gedenkstätte »Yad Vashem« in Jerusalem
zur Stabilisierung führen. Unter Umständen mit ihren Namenslisten, das »Vietnam War Me-
kommt es nach dieser Phase nicht zur Ausbil- morial« in Washington sowie das Denkmal an
dung einer vollsymptomatischen posttraumati- der Stelle des Flugzeugabsturzes in ein Hochhaus
schen Belastungsstörung bzw. verschwinden ein- in Bijlmermeer bei Amsterdam. Diese Gedenkor-
zelne Symptome nach einiger Zeit wieder (s. Kap. te werden von Überlebenden und trauernden Fa-
10). milienangehörigen häufig aufgesucht.

Psychophannaka
Verha"enstherapeutische Exposition
r_ _ _ _ _ Kognitive Therapiemethoden
' - - - - - - - Gruppentherapie. Findmg a mjssion

D Abb. 1.4. Modellvorstellung


eines multimodalen therapeutischen Vergehens
Literatur 33 1
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2

A. Maercker

2.1 Unterschiedliche Therapiemotivation


bei PTB-Patienten - 38

2.2 Besonderheiten der therapeutischen Beziehung


mit Traumaopfern - 39
2.2.1 Schwierigkeiten von Traumaopfern, die Patientenrolle
zu akzeptieren - 39
2.2.2 Erwartung von Traumaopfern, kein Verständnis zu finden - 40
2.2.3 Hohe Therapieabbruchraten bei Traumaopfern - 41
2.2.4 Schwierigkeiten der Therapeuten - 41
2.2.5 Burnout-Prophylaxe für Therapeuten - 44

2.3 Gestaltung der therapeutischen Beziehung - 45


2.3.1 Aufbau einer vertrauensvollen Beziehung - 45
2.3.2 Eingehen auf das Sicherheitsbedürfnis von Traumaopfern - 46

2.4 Therapieziele während der Erstkontakte - 47


2.4.1 Erklärungsmodell für die Symptome (Psychoedukation) - 47
2.4.2 Vorbereiten auf das wiederholte Nacherleben
des Traumas - 49

Literatur - 51
38 Kapitel 2 · Besonderheiten bei der Behandlung der posttraumatischen Belastungsstörung

Psychotherapie mit Traumaopfern ist ein hoch- - Menschen, die vor längerer Zeit ein Trauma
komplexer und herausfordernder Prozess. Die durchgemacht haben, an das sie sich genau erin-
Erfahrung lebensbedrohlicher und/oder über- nern können. Viele Betroffene berichten ein
wältigender Lebensereignisse hat tiefgreifende früher erlebtes Trauma (d.h. vor Jahren oder
Auswirkungen auf fast alle Bereiche der Persön- Jahrzehnten}, das sie in der Zwischenzeit zwar
lichkeit der Patienten. Der Aufbau einer tragfähi- nicht vergessen haben, dessentwegen sie aber
gen therapeutischen Beziehung von den Erstkon- früher keine psychotherapeutische Hilfe aufsuch-
takten an, ist vielleicht in noch stärkerem Maße ten. Beispiele sind: Misshandlungen oder sexuel-
als bei anderen Angststörungen die Grundlage ei- ler Missbrauch in der Kindheit, Kriegserlebnisse,
ner erfolgreichen psychotherapeutischen Inter- miterlebte dramatische Todesfälle. Die Betroffe-
vention. nen haben chronisch andauernde posttraumati-
sche Symptome ausgebildet. Die in diesem Buch
dargestellten Therapietechniken sind in der Regel
2.1 Unterschiedliche Therapie- bei ihnen indiziert (s. a. Kap. 14).
motivation bei PTB-Patienten - Menschen, die (wie in den beiden zuvor ge-
nannten Gruppen) ein Trauma vor kurzer oder
Es sind unterschiedliche traumatische Erlebnisse längerer Zeit erlebt haben, die aber in die Be-
und Behandlungsmotive, die Betroffene dazu handlung wegen anderer psychischer oder
führen, einen Therapeuten aufzusuchen. Ver- körperlicher Erkrankungen kommen. Die trau-
schiedene Patientengruppen haben unterschiedli- matischen Erlebnisse werden bei den anamnes-
che Vorstellungen (subjektive Theorien) von den tischen oder diagnostischen Erstgesprächen be-
Traumawirkungen und ihrem jetzigen Zustand. richtet. Der Therapeut sollte bei der späteren
Die am häufigsten anzutreffenden Therapiesu- Festlegung der Therapieziele im Auge haben, ob
chenden sind dabei: die PTB im Vordergrund steht und primärer Be-
- Menschen nach Traumen, die sie vor sehr handlung bedarf oder ob die anderen Erkrankun-
kurzer Zeit (d. h. vor einigen Tagen oder wenigen gen zunächst behandelt werden sollten.
Wochen) erlebt haben. Die Betroffenen suchen - Menschen, die eine psychotherapeutische Be-
primär nach einer aktuellen Betreuung und nicht handlung aufnehmen wollen, um eine Klärung
nach einer längerdauernden Psychotherapie. Die- über ein mögliches früheres Trauma zu errei-
se Betreuung soll Beruhigung und Abschalten chen, das ihnen selbst entweder gar nicht mehr
ermöglichen. Im diagnostischen Sinne stellen oder nur bruchstückhaft erinnerlich ist. Bei die-
die Symptome in der ersten Zeit nach dem Trau- ser besonders schwierigen Patientenklientel lie-
ma eine akute Belastungsreaktion (ICD: F 43.0} gen typischerweise Vermutungen über Vergewal-
dar. Ein unterstützendes und beruhigendes Vor- tigungen oder sexuellen Missbrauch in der Kind-
gehen ist hier angemessen. heit vor (Pope & Brown, 1996}. Die Betroffenen
- Menschen nach vor kurzem erlebten Trau- stellen eine Beziehung ihrer jetzigen psychischen
men. Hier sind im Zeitraum der letzten Monate Probleme mit dem Trauma her. In der folgenden
oder des letzten Jahres traumatische Ereignisse Übersicht sind einige Hinweise zum diagnosti-
vorgefallen und die Betroffenen merken, dass schen und therapeutischen Umgang mit diesem
sie über diese Ereignisse »nicht hinwegkommen«. Anliegen aufgelistet.
Sie sind bereit, sich einem Psychotherapeuten an-
zuvertrauen, um die Erschütterung durch das Er-
lebte, die Belastung durch die posttraumatischen
Symptome (s. Kap. 1) oder selbstwahrgenommene
Angstsymptome (z. B. spezifische Situations- oder
Ortsphobien) zu überwinden. Insbesondere in
dieser Gruppe sind die verschiedenen in diesem
Buch vorgestellten therapeutischen Vorgehens-
weisen indiziert.
2.2 · Besonderheiten der therapeutischen Beziehu ng mit Tra umaopfern 39 2
2.2.1 Schwierigkeiten von Trauma-
Besonderheiten in der therapeutischen opfern, die Patientenrolle
Beziehung mit Patienten, die eine zu akzeptieren
Klärung über ein mögliches früheres
Für die meisten Patienten mit traumatischen Er-
Trauma erreichen wollen
lebnissen ist es schwer, sich der professionellen
(vgl. Meichenbaum, 1994):
Hilfe eines Psychotherapeuten anzuvertrauen.
- Es ist sinnvoll, nach externen, unabhängi-
Sie haben einerseits eine ganz allgemein verbrei-
gen Belegen für das Vorliegen der Traumati-
tete Hemmung, sich psychotherapeutischer Hilfe
sierung zu suchen. Gibt es beispielsweise
anzuvertrauen. Dazu kommen andererseits eine
Aussagen anderer »g laubwürd iger« Personen,
Reihe spezifischer Gründe, die es den Betroffenen
Belege aus medizinischen oder juristischen
erschweren, sich in der Patientenrolle zu akzep-
Dokumenten oder anderen Materialien (z. B.
tieren.
Schulaktenvermerket die die Aussagen des
Patienten belegen?
- Der Therapeut kann nicht die Rolle eines
Mögliche Ursachen für Schwierigkeiten
Detektivs oder Untersuchungsrichters über-
von PTB-Patienten, therapeutische Hilfe
nehmen. Die Kontakte zu anderen Personen
aufzusuchen
sollten mit dem Patienten im Voraus abge-
sprochen werden. Juristische Befragungsstra- - Traumaopfer haben oft an sich selbst die
tegien (z. B. Konfrontation mit eigenen frühe- Erwartung, dass sie das Erlebte aus eigener
ren Aussagen) verbieten sich im therapeuti- Kraft »wegstecken« müssten. Dazu kommt,
dass sie häufig von ihrer Umgebung auf-
schen Kontext.
gefordert werden, endlich Schluss mit dem
- Ein suggestives, diagnostisches oder the-
rapeutisches Vorgehen von Seiten des Thera- Gedanken an das Geschehene zu machen.
peuten verbietet sich, z. B. die Behauptung: Hierbei fallen Äußerungen wie »Das Leben
»Bei anderen Patienten mit Ihrer Sympto- geht doch weiter« und »Du solltest einfach
nicht mehr daran denken«. Bei einigen Män-
matik lag in der Vergangenheit meist ein
nern mit einem stark ausgeprägten Männ-
Missbrauchstrauma von<.
lichkeits- und Härteideal (»Aipha-Männer«)
- Die Betroffenen sind in ihrem Leidens-
druck, der sie zum The rapeuten geführt hat, sind diese Überzeugungen besonders aus-
ernst zu nehmen und ggf. ist die Behandlung gebildet (Pieper & Maercker, 1999).
darauf auszurichten. Dies ist unabhängig von - Der eigene Leidensdruck wird (zumindest
der Wahrscheinlichkeit, dass das angegebene teilweise) externalisiert. Viele Patienten blei-
oder vermutete Trauma real stattgefunden ben bei dem Gedanken stehen, dass es für das
hat. Trauma eine äußere Ursache bzw. einen Täter
gibt (z. B. Unfallverursacher bei Verkehrsunfall,
Täter bei Sexualdelikten). Die erlebten psy-
chischen Beeinträchtigungen werden als von
außen kommende Beschädigungen erlebt, für
2.2 Besonderheiten der therapeutischen
die man selbst keine Kontroll- oder Verän-
Beziehung mit Traumaopfern
derungsmöglichkeiten besitzt. Solomon et al.
(1988) fanden, dass PTB-Patienten im psycho-
Es zeigt sich in verschiedenen Besonderheiten
logischen Vergleich mit depressiven Patienten
und Schwierigkeiten aufseiten der Patienten und
zwar viele Gemeinsamkeiten aufwiesen, dass
der Therapeuten, dass die Psychotherapie mit
sich die PTB-Patienten aber durch stabile, ex-
Traumaopfern ein hochkomplexer Prozess ist. Ei-
ternale Kontrollüberzeugungen auszeichnen.
nige dieser Schwierigkeiten sollen herausgegrif-
fen und diskutiert werden, weil sie nicht zum All-
gemeingut der therapeutischen Praxis und Aus-
bildung gehören.
40 Kapitel 2 · Besonderheiten bei der Behandlung der posttraumatischen Belastungsstörung

opfer für Gefühle und Gedanken anfällig sind,


- Damit im Zusammenhang steht, dass sich niemandem anvertrauen zu können.
manche Patienten rechtliche und/oder finan-
zielle Kompensationsverfahren gegenüber den
Verursachern angestrengt haben. Vie le Be- Erschüttertes Vertrauen
troffene erhoffen sich aus einer rechtlichen/
finanziellen Entschädigung eine entscheiden-
Schwere Traumatisierungen erschüttern die Ver-
de Besserung ihres psychischen Gesundheits-
trauensbasis. Einige Opfer fühlen sich unfähig,
zustands. Manchmal werden Ärzte und Psy- je wieder zu vertrauen. Dies betrifft insbesondere
chologen nur mit der Absicht aufgesucht, um die Opfer der von Menschen verursachten Trau-
Gutachten oder andere Formen von Unter- men (»man made traumas«), wie Kindesmiss-
stützung in einem Rechtsstreit zu erlangen. brauch, Vergewaltigungen und Folter. Auch tech-
- Die eigenen posttraumatischen Symptome nische oder Naturkatastrophen können zu einem
(z. B. Albträume, Schreckreaktionen, Phobien) grundlegenden Zusammenbruch des Vertrauens-
werden zwar wahrgenommen und verursa- gefühls führen. Deshalb ist für viele Traumaopfer
chen ausgeprägtes Leiden, aber es besteht kein das Wort »Vertrauen« zu einer unglaubwürdigen
Wissen darüber, dass diese Symptome zu ei- Vokabel geworden. Sie haben Furcht vor plötzlich
nem kohärenten Störungsbild gehören, das wieder einsetzender Traumatisierung (Janoff-
auch behandelbar ist. Im Vergleich zum All- Bulman, 1993). Zu Beginn der therapeutischen
tagswissen über Depressionen und Angst- Beziehung kann sich dies in einer relativ großen
störungen ist das Alltagswissen von posttrau- Skepsis niederschlagen, ob der Therapeut über-
matischen Belastungsreaktionen sehr gering haupt helfen kann. Andererseits können trauma-
ausgebildet, was natürlich das aktive Hilfe- tisierte Patienten gerade darauf aus sein, beim
suchen der Betroffenen erschwert. Therapeuten eine sichere und vertrauensvolle
Umgebung zu finden (s. Abschn. 2.3.1).

Durch die genannten Faktoren kann die Eigen-


motivation weniger ausgeprägt sein, eine Thera- Entfremdungsgefüh I
pie zur Überwindung der eigenen Beeinträchti- Oft steht das Gefühl der Entfremdung von ande-
gungen durchzuflihren. ren, die nicht ebensolche schrecklichen Erfah-
rungen gemacht haben, im Vordergrund. Es er-
schwert den Zugang zum Patienten. Viele trau-
2.2.2 Erwartung von Traumaopfern, matisierte Patienten haben das Gefühl, dass sie
kein Verständnis zu finden letzten Endes von niemandem verstanden wer-
den, weil die anderen ihre Erfahrungen nicht
Es kommen weitere Schwierigkeiten von Trauma- durchgemacht haben. Sie empfinden sich als per-
tisierten hinzu, die entweder verhindern, dass ein manent beschädigt und können sich eine Heilung
Erstkontakt mit einem Psychotherapeuten zu- dieser Beschädigung nicht mehr vorstellen. Sie
stande kommt bzw. eine schon begonnene thera- sind misstrauisch gegenüber Menschen, die mit
peutische Beziehung während der ersten Kontak- wenig tauglichen oder ungeschickten Mitteln ver-
te mit dem Therapeuten in Frage gestellt wird. suchen, sich ihrer Erfahrungswelt zu nähern und
Diese Schwierigkeiten hängen direkt mit den sehen sich bei geringsten Missverständnissen in
PTB-Symptomen des erschütterten Vertrauens ihren Fremdheitsgefühlen bestätigt. So kommt
und des allgemeinen Entfremdungsgefühls zu- es, dass viele Opfer von Traumatisierungen Ex-
sammen. Herman (1993) hat auf die intensive perten darin sind, sowohl ihre Umwelt als auch
Tod-oder-Leben-Qualität traumatischer Erfah- andere Menschen, Therapeuten eingeschlossen,
rungen hingewiesen, die in den Erfahrungen an- ganz genau zu beobachten.
derer Menschen so nicht vorzufinden sind. Dies Die genannten Besonderheiten von traumati-
ist ein entscheidender Grund, warum Trauma- sierten Patienten sind sicher Gründe dafür, wa-
2.2 · Besonderheiten der therapeutischen Beziehung mit Traumaopfern 41 2
rum es in der Psychotherapie von PTB-Patienten peuten bedeutet dies, dass er sich darauf einlas-
vergleichsweise hohe Abbruchquoten gibt. sen muss, sich intellektuell und emotional mit
der Existenz des Bösen und Tragischen in der
Welt zu konfrontieren (vgl. Maercker, 1995). Die
Geschichten vieler Opfer von Traumatisierungen
2.2.3 Hohe Abbruchraten bei sind voll von zermürbenden Qualen und massi-
unspezifischen Traumatherapien vem Horror. Hierzu 2 Beispiele: Wie reagiert
man auf solche Erlebnisberichte? Achten Sie,
Zu der Beobachtung, dass PTB-Patienten häufi-
wenn Sie diese Berichte durchlesen, auf Ihre eige-
ger als andere Patientengruppen eine nicht spezi-
nen Reaktionen!
fisch auf das Trauma ausgerichtete Behandlung
abbrechen, liegt eine Studie vor (Burstein, 1986).
f) Beispiel
Diese untersuchte allerdings nur eine Kombinati-
Berichte von Traumaopfern
on von Pharmako- und unterstützender Psycho-
Herr N., ein 27-jähriger Überlebender eines Flug-
therapie. Burstein berichtete von Abbrecherraten
schauunglücks berichtet:
von ca. 50% bei Traumaopfern nach Verkehrs-
Er stand mit seiner Frau K. zwischen den Zu-
unfallen, Raubüberfällen u. ä. Im Durchschnitt
schauern der Flugschau, als ein Flugzeug explo-
kamen diese Patienten nach 2 bis 3 Stunden nicht
dierte und niederstürzte. >>Ich habe nur einen
wieder in die Therapie. Beim Vergleich der Ab-
dumpfen Schlag gespürt, dann sah ich einen rie-
brechergruppe mit den Nichtabbrechern zeigte
sigen Feuerball auf mich zukommen. Es wurde
sich, dass die Abbrecher zu Therapiebeginn mehr
furchtbar heiß, aber nur für eine Sekunde. (...)
intrusive Belastungen angegeben hatten. Bei an-
Dann habe ich mich im Kreis gedreht und im Ra-
deren PTB-Symptomen (z. B. Gedanken- und
dius von 30 Metern lagen Leute, die noch gelebt
Gefühlsvermeidung) waren keine Gruppenunter-
haben, aber nicht mehr sehr lange. Die waren
schiede zu finden.
furchtbar verbrannt oder verstümmelt. Überall la-
gen Menschenteile. Leute lagen rum, die noch
gezuckt oder geschrien haben. Ich habe nur ge-
ln den Reaktionen des Therapeuten auf den sucht nach meiner K. Bin überall hingelaufen und
Patienten liegt eine wesentliche Ursache für habe mir das ganz genau angeschaut, weil ich die
Misserfolge in der Therapie mit Traumaopfern. Leute ja nicht mehr erkannt habe. Ich wollte un-
Zentral für die Patient-Therapeut-Beziehung bedingt meine K. finden. Ich habe mir hinterher
während der Erstkontakte ist die Fähigkeit für unheimliche Vorwürfe gemacht. weil die Leute da
empathisches Nachfragen nach dem Erlitte- so herumlagen und starben. Die haben einem
nen. nachgeschaut und ich habe nur gedacht: Eine
davon könnte die K. sein. (.. .) Und als man wieder
Schwierigkeiten dabei gefahrden nicht nur die an der gleichen Stelle vorbeigelaufen war, lagen
therapeutische Beziehung, sondern auch den the- die Leute tot. Die Augen haben sich nicht mehr
rapeutischen Prozess als Ganzes. bewegt. Als ich mich auf die Suche gemacht habe,
um die K. zu finden, bin ich auf einen Mann ge-
stoßen, dem war ein LKW auf die Beine gefallen,
2.2.4 Schwierigkeiten der Therapeuten der war unten ganz zerquetscht. Von der Wand
des LKW lief brennendes Benzin und der Mann hat
Die Reaktion des Therapeuten auf die Berichte lichterloh gebrannt und ich habe gedacht: »Na,
der Patienten sind eine wichtige Ursache für der brennt. Es ist nicht die K.<< Ein halber Kopf lag
das Misslingen von Therapien. vor mir; das war nur die Hinterseite von dem Kopf.
Es ist für Therapeuten oft schwierig, sich auf Ich habe das Gesicht nicht gesehen und wollte ihn
die Berichte ihrer Patienten einzulassen, ins- rumdrehen, aber ich habe es dann doch nicht
besondere wenn es lebensbedrohlich, bizarr, fertiggebracht Es hat ja um einen herum keiner
grausam und sadistisch erscheint. Für den Thera- ...
42 Kapitel 2 . Besonderheiten bei der Behandlung der posttraumatischen Belastungsstörung

mehr gelebt.« Frau N. starb bei dem Unglück. Ihre Reaktionsformen von Therapeuten
Leiche konnte erst Tage später identifiziert werden nach Traumaberichten
(in ZDF-Sendung »Kontakte<<, Mai 1991 ).
Zwei Extrempositionen. In Erstgesprächs- oder
Frau U., eine 37-jährige Frau aus Bosnien, berich- Therapiesituationen kann es dazu kommen, mit
tet: einer von zwei Extrempositionen zu reagieren
Mai 1992, in der Heimatstadt von Frau U. Es ist (s. folgende Übersicht). Wilson & Lindy (1994)
früher Abend und sie befindet sich mit ihrem haben ein Modell für extreme Therapeutenre-
Mann und den beiden kleinen Kindern in ihrer aktionen (oder »Gegenübertragungen«) vorge-
Wohnung. Serbische Teschetniks stürmen das schlagen, in dem sie die Reaktionsformen entwe-
Haus, holen die Bewohner auf die Straße. Dort der als vermeidend oder als überidentifizierend
stehen schon viele Männer, Frauen und Kinder klassifizieren.
entlang einer Mauer aufgereiht. ln den folgenden
Stunden werden alle Männer getötet. Unter den
Teschetniks befinden sich auch zwei ca. 17-jährige
Extreme Reaktionsstile von Therapeuten
junge Frauen, die sich besonders grausam zeigen.
auf Berichte von Traumen (nach Wilson
Eine von ihnen ist die Tochter einer Arbeitskollegin & Lindy, 1994):
von Frau U. Sie haben Messer und eine Art lang-
Abwehr, Abwertung
stielige Sichel mit Drahtzug als Mordinstrument.
Abweisender Gesichtsausdruck,
Den Männern werden die Glieder abgeschnitten
Unwillen oder Unfähigkeit, die Trauma-
und auf Draht zu >>Ketten<< aufgezogen. Für diese
geschichte aufzunehmen, zu glauben
>>Beute<< bekommen die Mörder viel Geld von ihren
und zu verarbeiten,
Anführern, sagt Frau U. Den Männern werden die
Distanzierung.
Zungen herausgeschnitten, Kreuze in die Haut
eingebrannt, die Kehlen aufgeschlitzt. Viel Blut Folgen
fließt, überall ist Blut. Es sind keine Schreie des Defensivität: nicht nachfragen,
Entsetzens zu hören, kein Wimmern der Kinder. - Teilnahme an der »Verschwörung
Nur die Geräusche des Tötens und Sterbens zer- des Schweigens«.
schneiden die Stille. Frau U. versucht, ihre Kinder Überidentifizierung
vor diesem Anblick zu schützen, versteckt sie unter Unkontrollierte Affekte,
ihrem Rock. Immer wieder fällt sie in Ohnmacht. Rächer- oder Rettungsphantasien,
Am Ende des Massakers werden alle Frauen und Rolle als Leidens- oder Kampfgenosse,
Kinder abgeführt, die Toten bleiben liegen. Am »Hochspannung<< im therapeutischen
nächsten Tag folgt ein langer Fußmarsch der Setting.
gefangenen Frauen und Kinder bis zur nächsten
Folgen
Stadt. ln einer Moschee werden viele der Frauen Grenzverlust,
vergewaltigt, auch Frau U.... (Behandlungs- - Überlastungssymptome (Burnout).
zentrum für Folteropfer, 1994).

Es ist für Therapeuten schwierig, auf solche Be-


Abwehr oder Abwertung. Die erste Extrempositi-
richte professionell und zugewandt zu reagieren.
on von Seiten des Therapeuten ist Abwehr oder
Die Wucht der Berichte lässt niemanden kalt,
Abwertung: Man möchte diese Geschichte nicht
wenn es nicht selten um Verstümmelungen, Le-
hören. Es herrschen Gedanken vor, wie »Üh nein,
bensbedrohungen und bizarre Todesfälle, um
solch einen Patienten kann ich jetzt nicht ver-
menschliche Grausamkeiten und bewusst einge-
kraften«. Die eigene Betroffenheit sowie Angst-
setzten Terror geht. Auch als erfahrener Thera-
und Ekelgefühle können die Aufnahmefähigkeit
peut wird man im ersten Moment überwältigt
und -bereitschaft für Details behindern. Möglich
sein.
ist auch, dass man die Geschichte (oder Teile von
ihr) nicht für glaubwürdig hält. Teilweise nehmen
2.2 · Besonderheiten der therapeutischen Beziehung mit Traumaopfern 43 2
Therapeuten eine abwehrende oder abwertende Sonderrolle im eigenen Patientenklientel ein-
Haltung schon dann ein, wenn Patienten ihnen nimmt und dass neben dem therapeutischen
gegenüber in ersten Andeutungen ihre traumati- Kontakt private Beziehungen zu ihm gesucht wer-
schen Erlebnisse in das Gespräch einfließen las- den. Der Therapeut, der eine Rolle als Leidens-
sen. Die Grundlage dieses Therapeutenverhaltens und Kampfgenosse einnimmt, wird allerdings
kann dabei sein, nicht an den schrecklichen Er- nur von begrenztem therapeutischen Wert sein,
lebnissen des Patienten rühren zu wollen. da er andere Möglichkeiten seiner Position ver-
Die abwehrende oder abwertende Haltung nachlässigt, z. B. zielgerichtete therapeutische Ar-
führt dazu, dass der Therapeut keine Nachfragen beit zu ermöglichen und korrigierende emotio-
nach den Details und den mit dem Trauma ver- nale Erfahrungen zu induzieren.
bundenen Gefühlen stellt. Die Gefahr einer »Hochspannung{{ in der the-
rapeutischen Beziehung ist aber, dass diese nicht
durchgehalten werden kann, wenn z. B. auf bei-
den Seiten eine Desillusionierung über die jewei-
Hier gilt: Defensivität, d. h. nicht weiter nach
ligen Handlungs- und Veränderungsmöglichkei-
den Erlebnissen fragen zu wollen, ist ein
ten eintritt.
Grundfehler in der Behandlung traumatisierter
Im Gefolge der »Hochspannung{{ kann der
Patienten (Foa et al., 1989; Herman, 1993;
Therapeut seine Position gefährden, was ein
Horowitz, 1986).
ernstes Risiko darstellt, die Regeln, Ziele und
Grenzen der Therapievereinbarung zu brechen.
Für die Traumatisierten wird das Nicht-daran- Geschieht diese Verletzung, geht eine wichtige
rühren-Wollen des Therapeuten die Isolation ver- Garantie für die Sicherheit beider Seiten, von Pa-
stärken, die sie um sich herum verspüren. Damit tient und Therapeut, verloren.
nimmt die Verschwörung des Schweigens (»con-
spiracy of silence«) zu, der sich Traumaopfer oft- Unsichere Reaktionen. Die genannten Positionen
mals schon im Alltagsleben durch ihre nähere sind sicher Extreme. Zwischen den Extremen gibt
und weitere Umgebung gegenüber sehen. Diese es viele Arten von Unsicherheiten, wie man als
»conspiracy of silence{{ kann eine wesentliche Ur- Therapeut auf traumatisierte Patienten reagiert.
sache für die Chronifizierung der PTB-Sympto-
matik sein (Danieli, 1994).

Ein wichtiger Grund für Unsicherheiten sind


Überidentifikation. Die andere Extremposition
die Scheu bzw. Befürchtungen des Therapeu-
des Therapeuten sind Überidentifizierungen mit
ten, Inhalte und Details zu erfragen, die den
dem Patientenschicksal, oft verbunden mit Ret-
Patienten in noch schwerere Belastungen hi-
tungs- oder Rächerphantasien. Wilson & Lindy
neinversetzen. Hier kann die Angst des The-
(1994) haben diese Position auch »empathische
rapeuten eine Rolle spielen, der Patient würde
Verrenkungen{{ genannt.
womöglich psychisch dekompensieren.

Das Zuviel an Empathie kann dazu führen, Ein Teil der Unsicherheit rührt aus einem Pein-
dass der Therapeut die Grenzen eines profes- lichkeitsgefühl der Therapeuten. Dies ist ins-
sionellen Umgangs verletzt. besondere bei sexuellen Traumen der Fall. Der
scheinbare Ausweg für Therapeuten, den be-
schriebenen Unsicherheiten zu entgehen, kann
So kann der Therapeut dem Patienten auf eine darin bestehen, sich am Zögern des Patienten
forcierte und übertriebene Weise seine Sym- »festzuhalten{{, seine traumatischen Erlebnisse
pathie zeigen oder ihn verbal idealisieren. Mögli- nicht berichten zu wollen (z. B. in der Form: Pa-
cherweise kann die Einmaligkeit des Patienten- tient: »Es fällt mir schwer, zu erzählen, was da-
schicksals dazu verleiten, dass der Patient eine mals passierte{{). Patienten sagen solche zögern-
44 Kapitel 2 · Besonderheiten bei der Behandlung der posttraumatischen Belastungsstörung

den Sätze oftmals aus einer ambivalenten Einstel- Die Behandlung von traumatisierten Patien-
lung heraus. Einerseits fällt es ihnen schwer, von ten fordert oft einen hohen psychischen Tribut
der Traumatisierung zu berichten. Andererseits von den Therapeuten. Es wäre auch unnatürlich,
erhoffen sie vom Therapeuten ein Nachfragen die Wucht eines Traumas einfühlsam besprechen
nach ihren Erlebnissen und Befürchtungen, die und bearbeiten zu können, ohne dabei emotional
sie oftmals niemandem bisher berichtet haben. und kognitiv berührt zu sein. Durch Patienten
Ein weiterer Grund für Unsicherheit hat mit mittelbarer Zeuge von Verbrechen, Unglücksfäl-
der eigenen Gefühlsregulation zu tun. Während len oder anderen unmenschlichen Erlebnissen
das Trauma vom Patienten erzählt wird, kann zu sein, kann für Therapeuten selbst leicht zu
man - wie beschrieben - selbst schon überwältigt PTB-ähnlichen Veränderungen führen. Dieses
sein. Man mag als Therapeut in solchen Momen- Phänomen wurde als »stellvertretende Traumati-
ten kaum noch fähig sein, einen klaren Gedanken sierung« oder »sekundäre PTB« beschrieben (Da-
zu fassen; vielleicht kommen einem selbst die nieli, 1988, 1994; Herman, 1993).
Tränen. Üblicherweise sind dann die Gedanken
nicht weit, inwiefern man in einem solchen Zu-
stand überhaupt hilfreich für den Patienten sein
Sekundäre PTB ist ein Resultat wiederholter
kann. Auf der Therapeutenseite kann dabei die
Belastungen durch traumatische Berichte der
Angst entstehen, dass der eigene Gefühlsaus-
Patienten. Sie kann auftreten in Form von
bruch den Patienten erschrecken könnte. Eine
Intrusionen, Depressionen, Hilflosigkeitsge-
weitergehende Befürchtung könnte sein, dass
fühlen, Entfremdung, Rückzug und Zynismus.
das Opfer sich in seiner Erfahrung bestärkt sieht
(»Niemand kann meine Geschichte ertragen«).
Wahrscheinlich können die meisten Patienten Emotional überlastete Therapeuten haben auch
aber einen kurzzeitigen Gefühlsausbruch des ein höheres Risiko für somatische Probleme.
Therapeuten akzeptieren, wenn dieser nicht zu Persönliche und berufliche Unausgeglichenheit
lange dauert und den Patienten in eine Tröster- äußert sich in Müdigkeit, Schlafproblemen, Über-
rolle hineinversetzt. Hier kann man sich an ei- erregung und unachtsamen, unkontrolliertem
nem Mittelweg orientieren: Ein Zuviel an emotio- emotionalem Ausdruck (Wilson & Lindy, 1994).
naler Reaktion ist ebenso schädlich wie ein Zu- Darüber hinaus gibt es die Gefahr, dass sich The-
wenig (oder gar keine Reaktion). rapeuten, die viele Traumaopfer behandeln,
selbst zunehmend isoliert, zurückgewiesen und
unverstanden von anderen Kollegen empfinden.
Ein Therapeut, der sich scheut, genau nach- Dies wurde insbesondere für Therapeuten be-
zufragen, wird Schwierigkeiten haben, einen schrieben, die gehäuft Opfer sexuellen Miss-
Zugang zur Gefühls- und Gedankenwelt des brauchs behandeln (Courtois, 1993 ). Rückzug
Patienten zu bekommen, und seine Möglich- und Zynismus können weiterhin zu einem Zu-
keiten für die spätere therapeutische Arbeit stand führen, für den Figley (1995) den Begriff
beeinträchtigen. >> Mitleidsmüdigkeit« prägte.
Trotz aller existenzieller Signifikanz, mit der
PTB-Therapie zweifellos verbunden ist, ist es
günstig, eine Grundhaltung beizubehalten, die
2.2.5 Burnout-Prophylaxe
von Danieli (1994) in der Arbeit mit Holocaust-
für Therapeuten
opfern folgendermaßen beschrieben wurde:
»Freundlich zu sich selbst zu sein und frei
Das Problem der Unsicherheit beim Hören von
dafür zu sein, Spaß und Freude zu erleben, sind
traumatischen Erlebnissen ist mit dem Problem
keine unangebrachten Frivolitäten in diesem Ar-
des »Ausgebranntsein« (Burnout) bei Therapeu-
beitsgebiet, sondern eine Notwendigkeit, ohne
ten verbunden.
die man seine beruflichen Verpflichtungen nicht
erfüllen kann« (Danieli, 1994, S. 550).
2.3 · Gestaltung der therapeutischen Beziehung 45 2
Weiterhin helfen gegen das Burnout-Syndrom 2.3 Gestaltung der therapeutischen
der Therapeuten verschiedene Techniken der Beziehung
Selbstbeobachtung und des Selbstschutzes.
Eine tragfähige therapeutische Beziehung lässt
sich durch Vertrauensaufbau und Gewährung ei-
Hilfreiche Faktoren für die Bewältigung
nes Sicherheitsgefühls gestalten. Weitere Fak-
einer stellvertretenden Traumatisierung
toren, die die therapeutische Beziehung günstig
(nach Danieli, 1994):
beeinflussen können, sind in der folgenden Über-
Erkennen der eigenen Reaktionen sicht zusammengestellt.
Selbstaufmerksamkeit für körperliche
Signale entwickeln, z. B. für Schlaflosigkeit,
Kopfschmerzen und Schwitzen, Wichtige Aspekte in der Gestaltung
Versuche, Worte für die eigenen Erfah- der therapeutischen Beziehung von
rungen und Gefühle zu finden. Traumaopfern und Therapeuten
Die eigenen Reaktionen in Schranken halten Langsamer Aufbau von Vertrauen durch
Das eigene Niveau von Behaglichkeit Respekt vor dem Vertrauensverlust der
finden, um Offenheit, Toleranz und die Patienten.
Bereitschaft, alles zu hören, zuzulassen, Erhöhte Sensibilität in Bezug auf
wissen, dass jedes Gefühl einen Anfang, »Formalitäten der Therapiedurchführung«
eine Mitte und ein Ende hat, (keine standardisierte Eingangsdiagnostik
lernen, überwältigende Gefühle zu ver- vor dem Gespräch über traumatische
mindern, ohne in Abwehr abzugleiten. Erfahrungen).
Für eigenen Reifungsprozess offen sein Schaffung sicherer Umgebungsbedingun-
Akzeptieren, dass nichts mehr so Ist wie gen fü r die Patienten (z. B. Türen offen
früher. lassen) und damit
Wenn die Gefühle verwundet sind, sich adäquates Eingehen auf Rituale, um
Zeit dafür nehmen, sie genau wahr- das Sicherheitsbedürfnis von Patienten
zunehmen, sie zu beruhigen und aus- zu achten.
heilen zu lassen, bevor man weiterarbeitet. Vor Therapiebeginn Absetzen bzw. Aus-
Vorhandene professionelle Netzwerke schleichen von Medikamenten, damit die
nutzen. Betroffenen mögliche Therapieerfolge auf
Professionelle Netzwerke von Therapeu- die psychotherapeutische Intervention
ten, die Traumatherapie durchführen, attribuieren können.
aufbauen lassen. Besprechen und Ausschalten weiter
Eigene Entspannungs- und Freizeit- bestehender Gefahrenquellen in der
möglichkeiten nutzen und weiter Wohnumwelt der Betroffenen.
ausbauen.

Der wohl beste Schutz bei der Arbeit mit den 2.3.1 Aufbau einer vertrauensvollen
komplizierten und tragischen Fällen vieler Trau- Beziehung
maopfer ist die Supervision bei kompetenten,
vertrauenswürdigen und erfahrenen Therapeu- Beim PTB-Störungsbild ist die Fähigkeit der Pa-
ten. Ich stimme Herman (1993) zu, die dafür plä- tienten herabgesetzt, Vertrauen zu empfinden
diert, dass niemand allein mit den Traumaopfern (s. Kap. 1). Dieser Vertrauensverlust ist beson-
arbeiten kann. Erst dadurch, dass wir einander ders bei Opfern interpersoneller (»man made«)
kollegiale Unterstützung geben, kann es gelingen, und/oder mehrfacher Traumen ausgeprägt (z. B.
die nötigen Kräfte für die Behandlung von trau- Kindesmissbrauch, Vergewaltigungen, Folter).
matisierten Patienten zu behalten. Aus diesem Grund kann man in der ersten Zeit
46 Kapitel 2 · Besonderheiten bei der Behandlung der posttraumatischen Belastungsstörung

der Therapie mit Traumatisierten nicht von ei-


nem tragfähigen Vertrauensverhältnis ausgehen;
Für die Schaffung eines vertrauensvollen Pa-
die therapeutische Beziehung befindet sich viel-
tient-Therapeut-Verhältnisses ist es wichtig,
mehr »auf dem Prüfstand«. Patienten zeigen
mögliche Reihenfolgeprobleme zu beachten.
prüfendes Verhalten, indem sie einzelne trauma-
tische Erlebnisse »probeweise« in das Gespräch
einwerfen und die Reaktion des Therapeuten da- Die formalisierte Eingangsdiagnostik (z. B. mit
raufhin bewerten, ob dieser auf die Erzählung an- Fragebögen) sollte nicht vor dem Gespräch statt-
gemessen reagiert oder nicht. finden, in dem erstmals über das Trauma geredet
wird. Die Patienten können sich davon abgesto-
f) Beispiel ßen fühlen, ihre traumatischen Erfahrungen erst
Ein 32-jähriger Patient, der aus politischen in schriftlichen Fragebögen oder Tests zu offen-
Gründen für ca. 2 Jahre in der DDR inhaftiert war, baren, bevor sie ein Gespräch darüber führen.
deutet kurz an, dass die {kriminellen) Mitgefan- Deshalb sollte der Zeitpunkt der Eingangsdiag-
genen ihn schikaniert haben. Mehrfach wird ge- nostik ggf. auf einen späteren Termin verschoben
nauer nachgefragt. Erst in einem späteren Ge- werden.
spräch erzählt der Patient, dass er verschiedene Zum Vertrauensaufbau gehört es, mögliche
Formen sexuellen Missbrauchs über sich ergehen Schwierigkeiten mit den finanziellen Erstattun-
lassen musste. gen der Krankenversicherungsträger vorwegneh-
mend aufzugreifen. Es kann sonst zu weiteren
In anderen Fällen kann das Testverhalten auch Vertrauensenttäuschungen kommen, wenn der
dadurch ausgelöst sein, dass die Patienten erwar- Krankenversicherungsträger in der Mitte der
ten, dass kein Gegenüber, auch nicht ein Thera- Therapie Probleme macht, die weiteren Therapie-
peut, die Entsetzlichkeiten der Erzählungen aus- sitzungen zu bezahlen.
halten kann. Sie nehmen dann eine paradoxe,
vorwegnehmende Schonhaltung dem Therapeu-
ten gegenüber ein, den sie nicht mit ihrer Ge- 2.3.2 Eingehen auf das Sicherheits-
schichte überfordern wollen. bedürfnis von Traumaopfern

Die ersten Kontakte zwischen Patient und Thera-


Langsamer Vertrauensaufbau
peut sind auch dazu da, sichere Umgebungs-
Der Aufbau von Vertrauen zwischen Patient und bedingungen für den Patienten zu schaffen.
Therapeut ist ein Prozess, der Zeit braucht. Ver- Schwer traumatisierte Patienten sind durch viele
suche des Therapeuten, die eigene Vertrauens- Schlüsselreize (die sie an ihr Trauma erinnern)
würdigkeit zu rechtfertigen oder unter Beweis irritier- und störbar. Der Therapeut sollte sich
zu stellen, erweisen sich dabei als unnütz. Viel- der prüfenden Prozesse bewusst sein, die sofort
mehr werden Äußerungen, die Respekt vor der beginnen, wenn der Patient den Therapieraum
Schwierigkeit erkennen lassen, angesichts des Er- betritt:
littenen zu vertrauen, vom Patienten als einfühl- - Muss die Tür offen bleiben oder geschlossen
same Antwort wahrgenommen. werden?
Der Therapeut kann erklären, dass er nicht - Lässt der Raum Geräusche nach außen drin-
grenzenloses Vertrauen von Seiten des Patienten gen oder ist er schalldicht?
erwartet und dass ihm klar ist, dass sich der Pa- - Stößt der Bildschmuck des Raumes den Pa-
tient zunächst nicht sicher fühlt. Es gibt auch kei- tienten ab, weil er damit ungünstige Erinne-
nen Anlass, den Therapeuten von Anfang an als rungen verbindet?
vertrauenswürdig zu sehen. Der Therapeut wird
sich bemühen, das Vertrauen erst zu verdienen, Schwer traumatisierte Patienten haben nicht sel-
auch wenn das einige Zeit in Anspruch nehmen ten Rituale ausgebildet (z. B. ständiges Offenhal-
wird. ten von Fenstern oder Türen), um ihre Ängste
2.4 · Therapieziele während der Erstkontakte 47 2
zu kanalisieren. Der Therapeut sollte aufge- zwei weitere Ziele dieser frühen Phase der thera-
schlossen und verständnisvoll darauf reagieren. peutischen Beziehung:
Anders als bei Ritualen von Patienten mit ande- - Die Vermittlung eines Erklärungsmodells für
ren Angststörungen (z. B. Panik- oder Agorapho- die Störung und die Interventionen sowie
biepatienten) brauchen diese Rituale im Verlauf - die Vorbereitung des Patienten auf die späte-
der Therapie nicht unbedingt abgebaut werden, ren therapeutischen Übungen und Aufgaben,
wenn sie nicht die Lebensqualität beeinträchti- insbesondere auf die Bereitschaft, sich erneut
gen, und ein weiterbestehendes dysfunktionales intensiv mit den traumatischen Erlebnissen
Gefährdungsgefühl ausdrücken. zu konfrontieren.

Gefährliche Patienten. Es gibt Patienten, die Waf-


fen bei sich tragen (z. B. Messer, Pistolen). Sie ha- 2.4 .1 Erklärungsmodell für die
ben sich dies angewöhnt, um sich nötigenfalls Symptome (Psychoedukation)
besser schützen zu können. Das Waffentragen
ist allerdings problematisch - und auch für den Das Ziel der Therapie ist es, die Patienten von
Therapeuten nicht ohne Bedrohung -, da viele den Belastungen durch ihre Symptome zu befrei-
Traumaopfer in der Fähigkeit beeinträchtigt sind, en. Eine erste Grundlage der Behandlung bildet
ihre Affekte zu regulieren (s. Kap. 1). Aufgrund die Vermittlung eines Erklärungsmodells für die
der Eigen- und Fremdgefährdung kann der Ver- posttraumatischen Symptome. Mit einem Erklä-
zicht auf das Tragen von Waffen zum eigenen rungsmodell sollen die verschiedenen vom Pa-
(Teil)therapieziel werden. tienten wahrgenommenen Veränderungen und
Der Gebrauch von Medikamenten und Beru- erlebten Belastungen in einem kohärenten Kon-
higungsmitteln sollte abgebaut werden, bevor zept zusammengefasst und benennbar gemacht
die Therapie beginnt (s. Kap. 7). Eine Einnahme werden (»labeling«). Später werden aus dem Er-
von Medikamenten während der Psychotherapie klärungsmodell der Symptome die Implikationen
kann dazu führen, dass die Besserung des psy- für die Therapie abgeleitet (»Veränderungsmo-
chischen Zustands nicht in Zusammenhang mit dell«).
den neu erlernten Erfahrungen und Bewälti- Wissen über das Störungsbild wird mit Hilfe
gungsmöglichkeiten gebracht werden, sondern eines bio-psychologischen Modells vermittelt.
hauptsächlich als Resultat der Medikamentenwir- Für das Erklärungsmodell bieten sich Metaphern
kung angesehen wird. Der Patient kann im Ge- wie »seelische Verwundung« oder »eingebrannte
spräch zu der Einsicht gebracht werden, dass Wunde« an. Diese Metapher kann auf seelische
die alternative Sicherheit zur Medikamentenein- und körperliche Veränderungen bezogen werden,
nahme jetzt in der Beziehung zum Psychothera- wie dies in D Abb. 2.1 gezeigt ist.
peuten besteht. In der Beschreibung der Symptome, die in
das Erklärungsmodell einbezogen werden, sind
die Patienten selbst die Experten und ihre
2.4 Therapieziele während persönlichen Erfahrungen dienen als Grundlage
der Erstkontakte der gemeinsamen Diskussion. Viele Patienten
reagieren auf ein Erklärungsmodell für die Symp-
Es ist eine allgemein akzeptierte Grundlage psy- tome mit Erleichterung, da sie endlich einen sub-
chotherapeutischen Handelns, dass schon die jektiven Zusammenhang zwischen den einzelnen
Erstkontakte mit dem Patienten eine wichtige Veränderungen herstellen können.
therapeutische Rolle spielen. Es ist nützlich, die interaktive Vermittlung
Neben der Schaffung von vertrauensvollen des Erklärungsmodells mit weiteren Vorgehens-
und sicheren Umgebungsbedingungen gibt es weisen zu kombinieren:
48 Kapitel 2 · Besonderheiten bei der Behandlung der posttraumatischen Belastungsstörung

IPsychische Folgen I IBiologische Folgen


"Die Bilder kommen wieder" Schreck und Stresshormone verändern
Ruhelage des Körpers

!
->"Ich bin leicht erregbar geworden"

Missglückte Bewältigungsversuche
f
"Nicht mehr claran denken"

D Abb. 2.1. Erklärungsmodell für posttraumatische Belastungsstörungen


(Beispielsätze mit dem Patienten gemeinsam erarbeiten)

Psychoedukative Therapieanteile verstärkt. Damit kann erreicht werden, dass die


in den Erstkontakten Symptomatik ihren teilweise überraschenden
Charakter verliert.
- Nachvollziehbarkelt der erlebten Störun-
gen und Beeinträchtigungen. Hier kann - Informationen über spezielle Themen ge-
ben, insbesondere über schwer selbst wahr-
(sinngemäß) der Satz eingesetzt werden, dass
zunehmende und erklärende Symptome
die »Posttraumatische Belastungsstörung
(z. B. »Flashbacks<<, gefühlsmäßiges Betäubt-
eine normale Reaktion auf eine (extrem)
unnormale Situation<< ist. Den Patienten kann sein, Panikanfälle). Die Informationen können

vermittelt werden, dass insbesondere die sich an Symptombeschreibungen orienti eren


(s. Kap. 1).
körperlichen Reaktionen (z. B. leichtere Erreg-
barkeit) zu automatischen Schutzreaktionen - Informationen darüber, dass während der

des Körpe rs gehören und damit eine be- Psychotherapie die Symptome stärker werden

stimmte »Weisheit des Körpers« ausdrücken. können, bevor sie sich in der Therapie bessern.

Der häufig vorhandenen Angst, dass sie durch


das, was sie erlebt haben und was ihnen
ständig vor Augen steht, verrückt werden, Grundsätzlich soll ein Erklärungsmodell eine
kann entgegengesteuert werden. Heilungsperspektive eröffnen. Es bietet sich an,
- Informationen über symptomauslösende zusammen mit dem Patienten ein Veränderungs-
Reize und Situationen: Hinweise für Selbst- modell zu erarbeiten, das Grundlage für das spä-
beobachtungen dienen dazu, Orte, Situatio- tere therapeutische Vorgehen ist. So kann z. B. für
nen, Aktivitäten und andere Anlässe zu iden- die therapeutische Konfrontation mit den trau-
tifizieren, bei denen die Symptomatik sich matischen Erlebnissen bzw. das Durcharbeiten
der Erlebnisse ein Veränderungsmodell erarbei-
tet werden, das in a Abb. 2.2 gezeigt ist.
2.4 · Therapieziele während der Erstkontakte 49 2

g Abb. 2.2. Einfaches Veränderungsmodell für die PTB·Therapie


(Modell wird mit dem Patienten gemeinsam erarbeitet)

Bei der Erarbeitung eines Veränderungs- Erlebnisse zu berichten. Der Aufbau einer guten
modells steht die Sicht des Patienten im Mittel- Motivation für die Konfrontation mit den trau-
punkt, wobei er durch die Fragen des Therapeu- matischen Erinnerungen bzw. das Durcharbeiten
ten geführt wird. ist von daher eine wichtige Aufgabe des Thera-
peuten, denn es kann nicht erwartet werden, dass
f) Beispiel (zu a Abb. 2.2) der Patient ein Verständnis über das therapeuti-
Ein Patient hatte berichtet, dass >>die Bilder vom sche Vorgehen von sich aus in die Therapie mit-
Erlebnis immer wiederkommen«. »Wie reagieren bringt.
Sie in einem solchen Moment darauf, dass die Patienten fragen möglicherweise nach, wie
Bilder immer wiederkommen?«. Die Antwort des die Heilungschancen für ihre Störungen und Be-
Patienten: »Ich versuche, nicht mehr daran zu einträchtigungen sind. Diese Frage kann auf-
denken«, könnte vom Therapeuten weitergeführt grund der Psychotherapieforschung zur PTB (s.
werden mit der Frage: »Was passiert in solchen Kap. 1 und 4) durchaus optimistisch beantwortet
Momenten; sind Ihre Versuche, die Bilder zu ver- werden, ohne dass eine solche Antwort die un-
drängen, erfolgreich?« realistische Erwartung weckt, der Therapieerfolg
Auf der Suche nach einer positiven Verän- wäre im passiven Selbstlauf zu erreichen.
derungsmöglichkeit kann gefragt werden: Nicht zuletzt ist es hilfreich, schon im psycho-
»Wann geht es Ihnen besser mit der Erinnerungs- edukativen Teil der Erstkontakte die Information
flut? Gibt es Situationen, in denen die Belastung zu vermitteln, dass die Therapie nicht schnell zur
nicht so stark ist?« Auf diese Frage kann der Pa- Symptomfreiheit führen wird. Von Meichenbaum
tient möglicherweise antworten, dass es ihm (1994) stammt der Satz: »Der Heilungsprozess ist
besser geht, wenn er mit anderen darüber geredet wie ein Marathonlauf, es kommt auf die Ausdauer
hat. an.«
Der Therapeut kann abschließend den Begriff
des Durcharbeitens der Erinnerungen einführen,
der den »Teufelskreis<< von Intrusionen und Ver- 2.4.2 Vorbereiten auf das wiederholte
meidung unterbrechen hilft. Nacherleben des Traumas

Ohne die Erarbeitung eines Veränderungs- Alle Autoren der nachfolgenden Kapitel gehen
modells würden sich die Patienten nur schwer davon aus, dass die traumatischen Erlebnisse
in den folgenden Therapiestunden darauf einlas- während der Therapie einige Male bis mehrfach
sen, regelmäßig wieder über die traumatischen ganz genau besprochen bzw. imaginativ nach-
50 Kapitel 2 · Besonderheiten bei der Behandlung der posttraumatischen Belastungsstörung

erlebt werden sollten. Um dies zu ermöglichen, nicht den Knochen richtet oder die Wunde reinigt,
muss -wie bereits beschrieben - eine Atmosphä- der Patient viel länger Schmerzen haben wird,
re des größtmöglichen Vertrauens und der Si- dass er/sie behindert bleiben und wohl niemals
cherheit hergestellt sein. Ebenso ist es wichtig, ei- wieder richtig genesen wird. Es ist hart und
ne Motivation dafür aufzubauen, dass die Offen- schmerzhaft für den Arzt, die notwendigen Be-
legung eine heilende Wirkung hat. Es ist im Üb- handlungen durchzuführen und Schmerzen durch
rigen auch ethisch geboten, dass der Therapeut das Richten des Beins oder das Reinigen der Wun-
keine Interventionsschritte einsetzt, die nicht den auszulösen. Aber die notwendigen Handlun-
vorher mit dem Patienten abgesprochen und gen sind ein Ausdruck der Sorgfalt, die eine Hei-
von ihm gutgeheißen wurden. lung erst ermöglicht.«
Es blieb bisher eine offene Frage in der Fach-
literatur, ob man die Selbstöffnung des Patienten Wunde reinigen (Hammond, 1990, S. 346). »Auch
mehr oder weniger aktiv ermuntern sollte. Der das Wiederdurchleben der quälenden Erinnerun-
Autor bevorzugt eine betonte und nachdrückli- gen und Gefühle wird für eine kurze Zeit ein
che Ermunterung dazu. Eine Grundregel ist aller- schmerzhafter Prozess sein, genauso wie das Rei-
dings, dass das Tempo der Selbstöffnung vom Pa- nigen einer Wunde. Aber danach wird der
tienten akzeptiert wird. Eine wichtige Rolle wäh- Schmerz geringer und die Heilung wird eintreten
rend des therapeutischen Prozesses spielen die können«.
Familienmitglieder. Einige Patienten und Famili-
enmitglieder können sich demgegenüber reser- Schrankmetapher (Ehlers, 1999). »Sie können sich
viert verhalten, dass die traumatischen Geschich- das wie bei einem Schrank vorstellen, in den man
ten erneut wieder »hervorgeholt« werden. Sie viele Dinge ganz schnell hineingeworfen hat, so
sollten - wenn notwendig und möglich - über dass man die Tür nicht ganz schließen kann. Ir-
den therapeutischen Prozess informiert bzw. in gendwann wird die Tür aufgehen und etwas fällt
ihn einbezogen werden. Familienmitglieder stabi- heraus. Was muss man tun, damit die Dinge nicht
lisieren häufig das Vermeidungsverhalten von Pa- mehr herausfallen? Man muss alle Dinge heraus-
tienten. Von daher ist es notwendig, auch ihnen nehmen, ansehen, sortieren und dann geordnet
plausibel zu machen, warum von den bisher be- in den Schrank räumen. Genauso ist das mit
nutzten Alltagsstrategien (z. B. »Gras über die Sa- dem Gedächtnis für ein traumatisches Erlebnis.
che wachsen lassen«) Abstand genommen wer- Leider kann auch da die Tür nicht einfach zuge-
den soll. Ein wichtiger Schritt kann darin beste- macht werden, ohne dass man vorher alles, was
hen, dass der Patient das Erklärungs- und Verän- passiert ist, ansieht und nach der Bedeutung,
derungsmodell für die PTB-Störung seinen Be- die es für einen hat, ordnet. Damit es Vergangen-
zugspersonen weitervermittelt (Herrle, 1997). heit wird, muss es betrachtet und eingeordnet wer-
Als Vorbereitung für die wiederholte thera- den.«
peutische Konfrontation mit den traumatischen Es soll noch einmal darauf hingewiesen wer-
Erinnerungen kann es nützlich sein, eine ein- den, dass die Qualität des wiederholten Vergegen-
führende Erläuterung zu geben, um einen Patien- wärtigen des Traumas mit den Reaktionen des
ten auf die schmerzvolle Konfrontation mit den Therapeuten zusammenhängt:
traumatischen Erlebnissen vorzubereiten.

Gebrochenen Knochen richten (Hammond 1990, S.


346). »Die Arbeit, die wir in den nächsten Stun-
den tun müssen, hat viel mit dem gemeinsam,
was passiert, wenn ein Kind ein Bein gebrochen
hat oder ein Erwachsener eine schmerzhafte und
infizierte Wunde hat, die aufgeschnitten werden
muss. Der Arzt will keinen Schmerz beim Patien-
ten verursachen. Aber er/sie weiß, dass wenn er/sie
Literatur 51 2
Danieli, Y. (1994). Countertransference and trauma: Self-heal-
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liche Ereignisse, ohne vom Thema abzulenken and metaphors. New York: Norton.
Herman, J. L. (1993). Die Narben der Gewalt. Traumatische Er-
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staunt oder erschrocken anzustarren oder
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dingten Ängste stehen, bekommt der Patient new psychology of trauma. New York: Free Press.
das Gefüh l, dass die existenzielle Schwere des Maercker, A. (1995). Existentielle Konfrontation. Berlin: Studien
Erlebten für die Behandlung als irrelevant er- und Berichte des Max-Pianck-lnstituts für Bildungs-
forschung Nr. 62.
achtet wird und wird sich weiterhin unver-
Meichenbaum, D. (1994). A clinical handbook/Practical thera-
standen fühlen.
pist manual for assessing and treating adults with post-
traumatic stress disorder. Waterloo: Psychology Institute
Press.
Pieper, G. & Maercker, A. (1999). Männlichkeit und Ver-
Literatur leugnung der Hilfsbedürftigkeit nach berufsbedingten
Traumata (Polizei, Feuerwehr, Rettungspersonal). Verhal-
tenstherapie, 9, 222-229.
Behandlungszentrum für Folteropfer (1994). Jahresbericht
Pope, K. S. & Brown, L. S. (1996). Recovered memories of abuse:
1994. Berlin: Eigendruck.
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Burstein, A. (1986). Treatment noncompliance in patients with
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posttraumatic stress disorder. Psychosomatics, 27, 37-40.
Solomon, Z., Mikulincer, M. & Avitzur, E. (1988). Coping, hours
Courtois, C.A. (1993). Vicarious traumatization of the thera-
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Danieli, Y. (1988). Confronting the unimaginable: Psychothera-
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Wilson, J. P. & Lindy, J. D. (1994). Countertransference in the
son, Z. Harel & B. Kahana (Eds.), Human adaptation to ex-
treatment of PTSD. New York: Guilford.
treme stress from the Holocaust to Vietnam. New York:
Plenum.
3

M. Schützwohl

3.1 Erhebungsverfahren zur Diagnostik


der posttraumatischen Belastungsstörung - 55
3.1 .1 Strukturierte und standardisierte Interviews - 55
3.1 .2 Selbstbeurteilungsverfahren - 62
3.1 ..3 Messung psychophysiologischer Parameter - 67

3.2 Differenzialdiagnostik - 67

3.3 Ergänzende Diagnostik - 69

3.4 Therapiebegleitende Diagnostik - 70

Literatur - 71
54 Kapitel 3 · Diagnostik und Differenzialdiagnostik

Angesichts inzwischen vorliegender störungsspe-


zifischer Therapieverfahren ergeben sich aus ei- Forderungen an die Diagnostik
ner diagnostischen Zuordnung der in der Versor- - Die Durchführung von strukturierten oder
gungspraxis berichteten und beobachteten Symp- standardisierten Interviews, die ursprünglich
tomatik für den ärztlichen oder psychologischen zur Sicherung zuverlässiger Diagnosen im
Psychotherapeuten ganz konkret Handlungs- Bereich der psychiatrischen und psychologi-
anleitungen zur Durchführung von Maßnahmen, schen Forschung entwickelt wurden, ist auch
die sich in der Regel in empirischen Überprüfun- in der klinischen Praxis unentbehrlich, um
gen als wirksam erwiesen haben. Patienten zuverlässig diagnostizieren zu
Im Bereich posttraumatischer Belastungs- können. Zur Erfassung posttraumatischer
reaktionen allerdings ist - das belegen Unter- Belastungsreaktionen sind Verfahren zu be-
suchungen von Taubmann-Ben-Ari et al. (2001) vorzugen, die sowohl ein dichotomes als auch
sowie Zimmerman & Mattia (1999) - die Diag- ein kontinuierliches Symptomrating erlauben
nostik sowohl im allgemeinärztlichen als auch (s. Abschn. 3.1.1 ).
im psychiatrischen und psychotherapeutischen - Symptomhäufigkeit und -intensität sollten
Rahmen offenbar schwierig: Das Vorliegen post- ebenso erfasst werden wie die Dauer der
traumatischer Belastungsreaktionen wird oft Symptombelastung, sowie die daraus resul-
übersehen, so dass die Betroffenen nicht fachge- tierenden psychischen Beeinträchtigungen
recht behandelt werden. Dies mag zum Teil an ei- aus Patientensicht. Hierzu eignet sich vor al-
ner vereinzelt noch immer anzutreffenden man- lem der Einsatz von reliablen und validen
gelnden Sensibilität und einem manchmal leider Selbstbeurteilungsverfahren (s. Abschn. 3.1.2).
noch immer geringen Störungswissen der in - Beurteilungen sekundärer Funktions-
der Versorgung Tätigen liegen (Denis et al., beeinträchtigungen (z. B. im sozialen und im
2000). Zum anderen liegt es aber wohl vor allem beruflichen Bereich) sollten unbedingt erho-
daran, dass Personen, die an den Folgen ihrer ben werden, da dies einen wichtigen Hinweis
traumatischen Erfahrungen leiden und Unter- auf den Schweregrad der Störung gibt.
stützung aufsuchen, im Erstkontakt häufig Be- - Die Erfassung von möglichen komorbiden
schwerden schildern, die nicht als Kennzeichen Störungen ist vor allem in der klinischen Praxis
einer posttraumatischen Erkrankung offenkun- von großer Bedeutung, da sich daraus ganz
dig sind. Sie können z. B. von Ängsten und Freud- konkret Handlungsanleitungen ableiten lassen
losigkeit berichten und allgemein über Nervosität (s. Abschn. 3.2}.
klagen, die Traumatisierung jedoch nicht thema-
tisieren - sei es, weil sie oft selbst keinen Zusam-
menhang zwischen ihren Beschwerden und den Im Folgenden werden unter Berücksichtigung der
manchmal schon lang zurückliegenden traumati- in den letzten Jahren erfolgten Ausdifferenzie-
schen Erfahrungen sehen, oder aber weil Vermei- rung der störungsspezifischen diagnostischen
dungstendenzen oder auch Scham- und Schuld- Kategorien zunächst die wichtigsten Verfahren
erleben dies verhindern (s. Kap. 1, Kap. 2). zur Diagnostik posttraumatischer Belastungs-
Unabhängig von den hypothetischen Ursa- reaktionen vorgestellt, um anschließend auf
chen zeigen die genannten Untersuchungen sehr Aspekte der Differenzialdiagnostik einzugehen.
deutlich, dass mit Blick auf die Klassifikation psy- Dabei wird bewusst weitgehend auf den Be-
chischer Störungen die Anwendung geeigneter di- richt von teststatistischen Kennwerten zur Relia-
agnostischer Erhebungsverfahren unerlässlich ist. bilität und Validität verzichtet. Dies soll einerseits
Dabei wird selbstverständlich die Auswahl der ge- der besseren Lesbarkeit dienen, zum anderen
eigneten Erhebungsverfahren von der Zielsetzung trägt es dem Umstand Rechnung, dass die Para-
der Diagnostik beeinflusst. Dennoch können in meter populationsabhängig und von daher oft
Obereinstimmung mit den Empfehlungen einer schwierig zu interpretieren sind. Die interessier-
Expertenkommission (Keane et al., 2000) 4 Forde- ten Leser seien deshalb auf die Primärliteratur
rungen formuliert werden (s. Übersicht). verwiesen.
3.1 · Erhebungsverfahren zur Diagnostik der posttraumatischen Belastungsstörung 55 3
Zum Abschluss werden therapierelevante Be- 3.1.1 Strukturierte und standardisierte
reiche, die im Mittelpunkt der ergänzenden Diag- Interviews
nostik stehen, vorgestellt und Verfahren zur the-
rapiebegleitenden Diagnostik präsentiert. Strukturiertes Klinisches Interview
für DSM-IV (SKID)
Das Strukturierte Klinische Interview (SKID; Witt-
3.1 Erhebungsverfahren zur Diagnostik chen et al., 1997), sicherlich eines der am häufigs-
der posttraumatischen ten eingesetzten Interviews, dient der Erfassung
Belastungsstörung und Diagnostik ausgewählter psychischer Störun-
gen, wie sie im DSM-IV definiert werden. Der Er-
Strukturierte Interviews erfassen mittels vorfor- fassung von posttraumatischen Belastungsreak-
mulierter Fragen systematisch die diagnostischen tionen dient die PTB-Sektion, die neu in das SKID
Kriterien; bei Verständnisproblemen oder Zwei- aufgenommen worden ist. Die Möglichkeit zur Er-
feln können die Fragen umformuliert, erklärt fassung der diagnostischen Kriterien einer akuten
oder ergänzt werden. In die Beurteilungen kann Belastungsstörung (ABS) bietet das SKID nicht.
neben den Angaben der Patienten die Gesamtheit Der Interviewer führt die PTB-Sektion in der
aller zur Verfügung stehenden Informationen Regel nur durch, wenn aus den zur Verfügung
Eingang finden. Dagegen lassen standardisierte stehenden Informationen ein Hinweis auf das
Interviews dem Interviewer keinen Beurteilungs- Vorliegen einer PTB existiert. Die Beurteilung be-
freiraum, d. h. die Fragen werden generell ginnt damit, dass der Interviewer dem Patienten
wörtlich vorgelesen und es werden ausschließlich ein im SKID-Beiheft befindliches Listenheft vor-
die Antworten der Patienten kodiert. legt und danach fragt, ob er jemals eines der dort
Die Anzahl der zur diagnostischen Einord- aufgeführten Traumen erlebt hat. Ist dies der Fall,
nung der psychischen Folgen von Extrembelas- so wird mittels Screeningfragen nach psychi-
tungen einsetzbaren strukturierten oder standar- schen Belastungsreaktionen gefragt und - falls
disierten diagnostischen Interviews ist inzwi- mehr als ein Trauma vorliegt - ermittelt, welches
schen enorm, so dass an dieser Stelle ein Über- den Patienten am meisten belastet hat. Mit den
blick nur der wichtigsten Verfahren erfolgt: nächsten Fragen wird zunächst das Vorliegen ei-
- Strukturiertes Klinisches Interview für DSM- ner traumatischen Erfahrung gemäß der Definiti-
IV (SKID; Wittchen et al., 1997}, on nach DSM-IV beurteilt (A-Kriterium}, bevor
Diagnostisches Interview bei Psychischen anschließend Fragen zu den DSM-IV-Kriterien
Störungen (DIPS für DSM-IV; Schneider & B, C, D und E gestellt werden. Den Abschluss
Margraf, 2003, in Druck bzw. F-DIPS; Margraf der Sektion bilden Fragen nach dem Verlauf
et al., 1996), und dem Schweregrad der Störung.
- DIA-X-Interview (Wittchen & Pfister, 1997}, Der Interviewer beurteilt das Vorliegen der
- »Schedules for Clinical Assessment in Neuro- Symptomatik jeweils mit ? =»Informationen sind
psychiatry« (World Health Organization, unzureichend«, 1 =»nicht vorhanden«, 2 = »un-
1999; dt. Maurer et al., 2003, in Druck}, terschwellig vorhanden« oder 3 =»vorhanden«.
- »Clinician-Administered PTSD Scale« (CAPS; Sprungregeln nach Komplettierung aller Fragen
Blake et al., 1990; 1995; dt. Nyberg & Fromm- zu einem bestimmten diagnostischen Kriterium
berger, 1998) und ermöglichen es, die Durchführung der PTB-Sek-
- Structured Interview for Disorders of Ex- tion jeweils dann zu beenden, sobald ein Kriteri-
treme Stress (SIDES; Kolk & Pelcovitz, 1999; um als nicht erfüllt beurteilt wird. Im SKID muss
Pelcovitz et al., 1997; dt. Teegen et al., 1998}. der Interviewer dabei das Kriterium kodieren,
nicht unbedingt die Antwort der Patienten. Dies
Die Besonderheiten und Vorgehensweisen in der erfordert, dass der Interviewer ein klinisches Ur-
Diagnostik der PTB bei Kindern und Jugendli- teil bilden kann. Die in der übersieht genannten
chen werden von Steil in Kap. 15 vorgestellt. Symptombeschreibungen können hierzu heran-
gezogen werden:
56 Kapitel 3 · Diagnostik und Differenzialdiagnostik

Beurteilungskriterien für das Vorliegen »Bewusstes Vermeiden von Aktivitäten


einer PTB oder Situationen, die Erinnerungen an
»Wiederkehrende und eindringliche das Trauma bewirken«
Erinnerungen« Das Vermeiden von Aktivitäten oder Si-
Das Symptom liegt vor, wenn sich die Er- tuationen, die nicht in Zusammenhang
innerungen ungewollt - und in der Regel mit dem traumatischen Ereignis stehen,
unkontrollierbar - immer wieder aufdrän- erfüllt das Kriterium nicht.
gen und vom Patienten als belastend er- »Unfähigkeit, einen wichtigen Aspekt des
lebt werden. Erinnerungen, die willentlich Traumas zu erinnern«
hervorgerufen werden, erfüllen das Krite- Hauptmerkmal der psychogenen Amnesie
rium nicht. ist, dass der Patient sich wichtiger Dinge
»Wiederkehrende Träume« nicht mehr erinnern kann. Die Erinne-
Wiederkehrende Träume sind diagnostisch rungslücken sind zu groß, als dass man sie
relevant, wenn sie in Zusammenhang mit mit normaler Vergesslichkeit oder Er-
dem traumatischen Ereignis stehen und schöpfung erklären könnte. Organische
den Patienten stark belasten. Alpträume, Ursachen der Unfähigkeit zu erinnern sind
die in keinem erkennbaren direkten Zu- auszuschließen.
sammenhang mit dem traumatischen Er- »Deutlich verringertes Interesse an
eignis stehen, erfüllen das Kriterium nicht. wichtigen Aktivitäten<<
»Plötzliches Handeln oder Fühlen, als ob Die Beurteilung dieses Symptoms erfor-
das Ereignis wiederkehre« dert, dass das vor dem traumatischen Er-
Hierzu gehören das Gefühl, das traumati- eignis bestehende Interesse an wichtigen
sche Ereignis noch einmal zu durchleben, Aktivitäten retrospektiv erfasst wird. Das
Illusionen, Halluzinationen und dissoziati- Symptom liegt vor, wenn das Interesse an
onsartige Episoden. Diese Symptome sind objektiv wichtigen Aktivitäten deutlich
zu unterscheiden von wiederkehrenden nachgelassen hat oder vorher subjektiv für
Gedanken, in denen sich der Patient der den Patienten wichtige Aktivitäten (z. B.
Tatsache bewusst ist, dass er das trauma- Hobby) nicht mehr interessieren.
tische Ereignis erinnert. »Gefühl der Losgelöstheit oder Fremd-
»Psychische Belastung bei Ereignissen, heit von anderen<<
die das Trauma symbolisieren oder ihm Das Symptom wird als vorhanden kodiert,
ähnlich sind, Jahrestage eingeschlossen« wenn nach dem Trauma ein Gefühl der
Das Symptom liegt vor, wenn die psy- Entfremdung und der sozialen Isolierung
chische Belastung intensiv ist und den erlebt wird. Für die Kodierung als vor-
Patienten zumindest kurzfristig in seiner handen ist nicht ausreichend, wenn der
Alltagsbewältigung beeinträchtigt. Patient meint, nur von einem ähnlichen
»Bewusstes Vermeiden von Gedanken traumatischen Erlebnis betroffene Per-
oder Gefühlen, die mit dem Trauma sonen könnten seine peritraumatischen
assoziiert sind« und posttraumatischen Reaktionen ver-
Das Symptom liegt vor, wenn der Patient stehen.
bestrebt ist, mit dem traumatischen Er- »Eingeschränkter Affektspielraum,
eignis in Verbindung stehende Gedanken z. B. Unfähigkeit zu Liebesgefühlen<<
oder Gefühle zu vermeiden - unabhängig Das Symptom liegt vor, wenn die Gefühle
davon, ob ihm dies tatsächlich gelingt. des Patienten »stumpf<<, »erstarrt« sind
und der Patient die Gefühle, die er meint
ausdrücken zu müssen, nicht ausdrücken
3.1 · Erhebungsverfahren zur Diagnostik der posttraumatischen Belastungsstörung 57 3

kann. Dies schließt die Unfähigkeit zu >>Übermäßige Schreckreaktionen«


Liebesgefühlen ein, aber auch die Unfä- Eine übermäßige Schreckhaftigkeit wird
higkeit zu Trauer oder Mitleid. als »Vorhanden« kodiert, wenn sie in Folge
»Eindruck einer eingeschränkten Zukunft des traumatischen Ereignisses vermehrt
(z. B. keine Karriere, Kinder, Ehe, kein auftritt. Schreckreaktionen können nicht
langes Leben)« selten während der Interviewführung be-
Die Zukunft traumatisierter Personen kann obachtet werden.
im Vergleich zu der vor der Traumatisie- »Physiologische Reaktionen (Schwitzen,
rung antizipierten Zukunft tatsächlich Zittern etc.) bei Konfrontation mit Ereig-
eingeschränkt sein, z.B. wenn schwerwie- nissen, die das Trauma symbolisieren
gende körperliche Schädigungen als Folge oder an Aspekte desselben erinnern«
des traumatischen Ereignisses vorliegen. Physiologische Reaktionen können sich in
Das Symptom liegt vor, wenn die Erwar- einer Vielzahl von quälenden Symptomen
tungen des Patienten unrealistisch sind. manifestieren: ln Atemschwierigkeiten,
Das Symptom drückt sich häufig darin aus, Herzklopfen oder -rasen, Erstickungs- oder
dass der Patient keine Zukunftspläne mehr Beklemmungsgefühlen; in Übelkeit oder
schmiedet. Magen- und Darmbeschwerden; in To-
>>Schwierigkeiten einzuschlafen oder desangst oder der Angst, etwas Unken-
durchzuschlafen« trolliertes zu tun. Das Kriterium ist nicht
Schlafstörungen sind diagnostisch rele- erfüllt, wenn diese körperlichen Be-
vant, wenn sie nicht bereits vor dem schwerden nicht in Zusammenhang
traumatischen Ereignis in der beobachte- stehen mit Erinnerungen an das Ereignis
ten Ausprägung auftraten. oder bestimmte Situationen, die mit dem
>>Reizbarkeit, Wutausbrüche« Ereignis in Beziehung stehen.
Um das ltem beurteilen zu können, muss
das prätraumatische Ärgerausdrucksver-
halten erfasst werden. Das Symptom liegt Die Durchführungszeit für das SKID wird mit ca.
vor, wenn Reizbarkeit und Wutausbrüche 100 Minuten bei stationären und ca. 75 Minuten
in der Folge des Ereignisses vermehrt bei ambulanten Patienten angegeben. Für die
auftraten. PTB-Sektion, die sich in zahlreichen empirischen
»Konzentrationsschwierigkeiten« Oberprüfungen als reliables und valides Modul
Konzentrationsschwierigkeiten sind zur Diagnostik einer PTB erwiesen hat, sind bei
im Zusammenhang mit der vor dem traumatisierten Patienten ca. 20 Minuten ein-
traumatischen Ereignis vorhandenen zuplanen. Allerdings liefert sie nur ein trichoto-
Konzentrationsfähigkeit zu beurteilen. mes Symptomrating (nicht vorhanden - unter-
Organische Ursachen der Konzentrations-
schwellig vorhanden - vorhanden) sowie ein tri-
schwierigkeiten sind auszuschließen.
chotomes Rating für den Schweregrad einer als
»Übermäßige Wachsamkeit«
vorhanden klassifizierten PTB (leicht, mittel,
Das Symptom liegt vor, wenn der Patient
schwer).
seit seiner traumatischen Erfahrung
externen Stimuli mehr Aufmerksamkeit
widmet, als für deren realistische
Bewertung notwendig wäre.
58 Kapitel 3 · Diagnostik und Differenzialdiagnostik

Diagnostisches Interview bei Psychischen regrad können also nicht unabhängig voneinan-
Störungen (DIPS für DSM-IV) und der beurteilt werden. Die Sektion endet mit der
Diagnostisches Interview bei Psychischen Erfassung der erlebten Beeinträchtigung sowie
Störungen - Forschungsversion detaillierten Fragen zur zeitlichen Einordnung
(F-DIPS für DSM-IV) der Symptomatik. Die Fragen der Sektion zur
akuten Belastungsstörung (ABS) gliedern sich
Das Diagnostische Interview bei Psychischen
in Fragen zu einer aktuellen ABS und zu einer
Störungen (DIPS) liegt aktuell nur in einer die
früheren ABS. Die Symptombeurteilungen sind
Kriterien der DSM-III-R erfassenden Version
wiederum auf der beschriebenen 9-stufigen Skala
vor (Margraf et al., 1994). Es soll hier kurz er-
abzugeben.
wähnt werden, weil dieses Verfahren, das die
Die Beurteilungsregel im diagnostischen Al-
Zielstellung der kategorialen Diagnostik mit der
gorithmus sieht sowohl für die PTB als auch für
Erhebung therapierelevanter Information kom-
die ABS vor, dass ein Symptom dann in diagnos-
biniert, vor allem für den Bereich der Angst-
tisch relevanter Ausprägung vorliegt, wenn es auf
störungen von Relevanz ist.
der Skala Häufigkeit/Schweregrad mindestens
mit 4 (=mäßig/gelegentlich) beurteilt ist. Zur
Brauchbarkeit dieser Regel in verschiedenen Po-
Die Publikation einer an die Kriterien der
pulationen gibt es leider keinerlei Angaben, wie
DSM-IV angepassten Version ist derzeit in
überhaupt aktuell Informationen zu den Gütekri-
Vorbereitung (Schneider & Margraf, 2003, in
terien der PTB-Sektion und der ABS-Sektion lei-
Druck). Diese Version wird bei einer Durch- der nicht vorliegen.
führungsdauer von etwa 30- 4S Minuten die
Erfassung der wichtigsten Störungskatego- DIA-X-Interview
rien, einschließlich der akuten Belastungs-
störung, ermöglichen und es zudem erlauben, Das DIA-X-Interview (Wittchen & Pfister, 1997)
die DSM-IV-Diagnosen in ICD-10-Diagnosen zu ist als Weiterentwicklung des »Composite Inter-
überführen. Zur DSM-111-R-Version belegen national Diagnostic Interview« (CIDI) ein modu-
Untersuchungen die Reliabilität und Va lidität lares und flexibles diagnostisches Beurteilungs-
des DIPS nach einem systematischen Training system, das die Diagnosestellung entsprechend
als zumindest zufriedenstellend (Schneider & ICD-10 und DSM-IV ermöglicht. Dabei kann es
Margraf, 2003, in Druck). je nach Fragestellung in einer Lebenszeit-Version
oder einer zeitlich weniger aufwendigen Quer-
schnittsfassung (12 Monate) eingesetzt werden.
Das DIPS liegt auch in einer erweiterten For- Es liegt in einer Papier-Bleistift- und einer Pe-
schungsversion vor (F-DIPS; Margraf et al., 1996). Version vor, deren Anwendung von den Heraus-
Die Erfassung posttraumatischer Belastungsreak- gebern nachdrücklich empfohlen wird, da die Pa-
tionen beginnt hier mit einer ausführlichen Er- pier-Bleistift-Version nicht per Handauszählung
fassung der Traumatisierung und mit Screening- auswertbar ist. Es ist ein standardisiertes Inter-
Fragen view, das die Erfassung der diagnostischen Krite-
- zur aktuellen Symptomatik, rien einer PTB erlaubt, nicht aber die der ABS.
- zur Lebenszeitprävalenz posttraumatischer Der Interviewteil zur PTB beginnt mit der Er-
Belastungsreaktionen und kundung nach einem traumatischen Lebensereig-
- zur Symptomdauer. nis. Hierzu steht dem Interviewer mit der Liste
N1 aus dem Ergänzungsheft ein Hilfsmittel zur
Im Rahmen der anschließenden Erfassung der Verfügung, das 8 Fragen nach konkreten trauma-
Kernsymptomatik einer PTB ist für jedes Symp- tischen Erlebnissen umfasst (z. B. »Sie wurden
tom ein Rating auf einer 9-stufigen Skala abzuge- ernsthaft körperlich bedroht (z. B. mit einer Waf-
ben, die in ihren Ankerpunkten Häufigkeit und fe), angegriffen, verletzt oder gequält«) und mit
Schweregrad verbindet - Häufigkeit und Schwe- der offenen Fragestellung nach anderen schreck-
3.1 · Erhebungsverfahren zur Diagnostik der posttraumatischen Belastungsstörung
59
3
liehen Ereignissen endet. Anschließend ist ggf. Schedules for Clinical Assessment
abzuklären, ob das A-Kriterium vollständig in Neuropsychiatry (SCAN)
erfüllt ist und das Ereignis mit Angst, Hilflosig-
Die Schedules for Clinical Assessment in Neuro-
keit oder Schrecken verbunden war.
psychiatry, kurz SCAN-System genannt, ist ein
Hat der Patient ein traumatisches Ereignis er-
von der WHO herausgegebener Instrumentensatz
lebt, ermittelt der Interviewer zunächst unter Ver-
zur umfangreichen Erfassung von psychepatho-
wendung der vollständig vorformulierten und ge-
logischen Symptomen sowie zur Klassifikation
nerell wörtlich vorzulesenden Fragen, ob die
der wichtigsten psychiatrischen Störungsbilder
Kennzeichen der posttraumatischen Belastungs-
(World Health Organization, 1999). Beurteilungs-
störung nach dem traumatischen Ereignis (Le-
zeitraum ist der Monat vor dem Untersuchungs-
benszeit-Version) bzw. in den letzten 12 Monaten
datum ())Present State Erhebung«) oder ein zu
(Querschnittsfassung) vorlagen. Dann werden
definierender früherer Zeitraum mit klinisch re-
Zeitpunkt und Dauer der Symptomatik genauer
abgeklärt. Um Informationen über den Schwere- levanten Symptomen.
grad der posttraumatischen Belastungsreaktion
zu erhalten, werden abschließend das Bewälti-
gungsverhalten sowie die Beeinträchtigung all- Inzwischen liegt das SCAN-System in seiner
täglicher Aktivitäten ermittelt. neuesten Version in deutscher Übersetzung
vor (Maurer et al., 2003, in Druck). Es erlaubt
die Erfassung der PTB als auch der ABS, wobei
Das DIA-X erfordert sowohl bei Verwendung Algorithmen zur Diagnostik nach DSM-IV und
der PC-Version wie auch der Papier-Bleistift- nach ICD-10 definiert sind. Die Erfassung aller
Version ein ausführliches Training, kann aber zur PTB-Diagnostik erforderlichen Informatio-
nach Ansicht der Herausgeber auch bei feh- nen erfolgt in einer einzigen Sektion, wohin-
lender klinischer Erfahrung durchgeführt gegen der Interviewer zur Erfassung aller zur
werden - wobei die Interpretation der ermit- ASS-Diagnostik erforderlichen Informationen
telten DIA-X-Diagnosen allerdings klinisch er- Fragen aus einer Vielzahl anderer Sektionen
fahrenen Diagnostikern vorbehalten bleiben stellen muss. Der Einsatz des 5CAN-Systems,
muss (Wittchen & Pfister, 1997). Die Durch- das von erfahrenen Klinikern durchgeführt
führungsdauer wird mit 75 Minuten bei An- werden sollte, ist angesichts einer Durch-
wendung der Lebenszeit-Version und 55 Mi- führungszeit von ca. 60 Minuten allein für die
nuten bei Anwendung der Querschnittsfas- »Present State Erhebung<< nur im Rahmen ei-
sung angegeben; die Durchführungsdauer für ner umfangreichen allgemeinen Diagnostik
die Fragen zur PTB ist bei traumatisierten Pa- empfehlenswert. Das SCAN-System liefert nur
tienten mit 15-20 Minuten anzusetzen. Daten dichotomer Ausprägung; Angaben zur
teststatistischen Qualität liegen leider nicht
vor.
Reliabilität und Validität haben sich nach Anga-
ben der Autoren in epidemiologischen und klini-
schen Studien als fast durchgängig sehr hoch er- Clinician-Administered PTSD Scale (CAPS)
wiesen. Das DIA-X liefert allerdings nur dichoto-
Die Clinician-Administered PTSD Scale (CAPS;
me Aussagen über das Vorhandensein von PTB-
Blake et al., 1990; 1995, dt. Nyberg & Frommber-
Symptomen und das Vorliegen einer PTB. Die In-
ger, 1998), ein von Klinikern entwickeltes Verfah-
tensität der Belastungsreaktionen lässt sich nicht
ren, bietet nicht nur die Möglichkeit zur Erfas-
in kontinuierlichen Daten ausdrücken.
sung diagnostisch relevanter Informationen, son-
dern erlaubt darüber hinaus die Erhebung inte-
ressanter Zusatzinformationen. Es ist eines der
zur PTB-Diagnostik am häufigsten eingesetzten
Verfahren, dessen Anwendung in wissenschaftli-
60 Kapitel 3 · Diagnostik und Differenzialdiagnostik

eben Studien von einer Expertenkommission aus- - der Beginn der Symptomatik und deren Dau-
drücklich empfohlen wird (Charney et al., 1998). er (vgl. Kriterium E),
Der Interviewer erfasst zunächst Angaben - die Auswirkungen der Symptombelastung
zum traumatischen Ereignis, um dann anband (vgl. Kriterium F) und
definierter Kriterien beurteilen zu können, ob - Angaben zur globalen Beurteilung der Ge-
das A-Kriterium der PTB nach DSM-IVerfüllt ist. samtintensität der Symptomatik sowie zur
Unter Verwendung von vorformulierten Fragen Validität der Ratings
zur Symptomatik wird anschließend erfragt, in erhoben, bevor der Interviewer dann in einen
welcher Häufigkeit und mit welcher Intensität entsprechenden Dokumentationsbogen die diag-
die 17 diagnostisch relevanten Kennzeichen einer nostisch relevanten Ratings einträgt, um darüber
PTB nach DSM-IV (vgl. Kriterien B, C, und D) im entscheiden zu können, ob die DSM-IV-Kriterien
letzten Monat auftraten. Um ein möglichst ge- einer PTB erfüllt sind.
naues Rating der Häufigkeit und der Intensität Dabei gilt, dass ein Symptom dann verlässlich
auf den getrennten Likert-Skalen zu erhalten, in diagnostisch relevanter Ausprägung vorliegt,
können dem Patienten die Anker beider Skalen wenn die Häufigkeit mindestens mit 1 und der
- die Skala der Schweregradbeurteilung ist je- Schweregrad mindestens mit 2 beurteilt wird.
weils spezifisch auf Verhaltensebene definiert Den Abschluss der CAPS bilden Fragen zum
(s. a Abb. 3.1) - vorgelesen werden. In weiteren Vorliegen von »assoziierten und hypothetischen
Sektionen werden Merkmalen« einer PTB, z. B. Hoffnungslosigkeit,
Depression oder Gemeingefährlichkeit.

Häufigkeit:
Haben Sie jemals ungewollte Erinnerungen an das Ereign is gehabt, ohne mit etwas konfrontiert gewesen zu sein, das
Sie daran erinnert hat? Traten diese Erinnerungen im Wachzustand auf, oder nur in Träumen? [Ausschließen, falls nur in
Träumen! Wie oft kam das im letzten Monat vor?

0 Nie
Ein- oder zweimal
2 Ein· oder zweimal pro Woche
3 Mehrere Male pro Woche
4 Täg lich oder fast täglich

Beschreibung und Beispiele:

Intensität:
Alsesam schlimmsten war, wie belastend waren diese Erinnerungen für Sie? Führten diese Erinnerungen dazu, dass Sie
Ihre Tätigkeit unterbrechen mussten? Waren Sie in der Lage diese Erinnerungen wegzuschieben, wenn Sie es versuch-
ten?
o Nie
1 Geringe Belastung
2 Mäßig, Belastung deutlich vorhanden, aber kontrollierbar, mitunter Unterbrechung der Aktivität
3 Schwer. erhebliche Belastung mit Unterbrechung von Aktivitäten und Schwierigkeiten,
die Erinnerungen wegzuschieben
4 Extrem, lähmendes Unbehagen, das Sie unfähig macht, Ihre Aktivitäten fortzusetzen
und die Erinnerungen wegzuschieben

U Abb. 3.1. Beispielitern aus der Clinician Administered PTSD Skala (CAPS)
3.1 · Erhebungsverfahren zur Diagnostik der posttraumatischen Belastungsstörung 61 3

SIDES-Fragen zum Symptom


Die CAPS erfordert klinisch erfahrene und mit
»Affekt-Regulation<<
dem DSM-Konzept der PTB vertraute Inter-
viewer. Unter diesen Voraussetzungen sind »Regen Sie kleine Probleme stärker als
Reliabilität und Validität der Originalversion gewohnt auf?«,
der CAPS vielfach nachgewiesen (vgl. Wea- »Haben Sie verstärkt Schwierigkeiten von
thers et al., 2001 ). Dingen Abstand zu nehmen, die Sie auf-
regen?«,
»Wenn Sie aufgeregt sind, haben Sie dann
Da allerdings unter Verwendung der gültigen Be-
Schwierigkeiten einen Weg zu finden, sich
wertungsregel der Prozentsatz der Personen mit
selbst wieder zu beruhigen?«.
PTB eher überschätzt wird, wurden von verschie-
denen Autoren entsprechend Alternativregeln
vorgeschlagen. Weathers et al. (1999) haben vor Die Fragen sind jeweils auf einer 3-stufigen Skala
diesem Hintergrund die psychometrischen Ei- zu beantworten (»Verhalten oder Emotion leicht
genschaften von 9 unterschiedlichen Bewertungs- - mäßig - stark problematisch«). Für jedes
regeln empirisch untersucht und hinsichtlich ih- Symptom sind im SIDES Kriterien definiert, un-
rer praktischen Bedeutung diskutiert. Kritisiert ter welchen Voraussetzungen es als »vorhanden«
wird die Anwendungsdauer für das CAPS, das gilt.
mit 60 Minuten für ein vollständiges Interview Das SIDES hat sich inzwischen in mehreren
und ca. 30 Minuten zur Erfassung allein der diag- empirischen Studien als reliables und valides Ver-
nostisch relevanten Informationen relativ viel fahren zur Erfassung der genannten Symptoma-
Zeit in Anspruch nimmt (Foa & Tolin, 2000). tik erwiesen (Teegen & Vogt, 2002; Kolk & Pelco-
vitz, 1999). In seiner aktuellen Form ist es vor al-
lem im klinischen Bereich ein sehr sinnvolles In-
Structured Interview for Disorders
strument, da es Informationen liefert, die für eine
of Extreme Stress (SIDES)
differenzielle Therapieplanung von großer Be-
Mit dem Structured Interview for Disorders of deutung sein können. In diesem Zusammenhang
Extreme Stress (SIDES; Pelcovitz et al., 1997; Kolk sei darauf hingewiesen, dass das Beschwerdebild
& Pelcovitz, 1999; dt. Teegen et al., 1998) liegt ein einer komplexen PTB - entgegen der Leitlinien
strukturiertes Interview zur Erfassung von zur >>andauernden Persönlichkeitsveränderung
Symptomen vor, die häufig nach extremen Trau- nach Extrembelastung« der ICD-10 - oft zusätz-
matisierungen auftreten, jedoch nach DSM-IV lich zu einer »einfachen« PTB entwickelt wird
nicht notwendiger Bestandteil einer PTB sind. (Teegen & Vogt, 2002).
Vielmehr werden sie dort zum Symptomkomplex
einer komplexen posttraumatischen Belastungs-
Bewertung der standardisierten
störung oder einer PTB mit Persönlichkeitsverän-
und strukturierten Interviews
derungen gezählt. Der SIDES-Einsatz ist daher
vor allem bei Patienten zu empfehlen, die Opfer Die Durchführung eines strukturierten oder
von Typ-U-Traurnen wurden (s. Kap. 1). standardisierten Interviews ist zur zuverlässigen
Das SIDES besteht aus 48 Fragen, die 27 Diagnostik und Störungsklassifikation unent-
Symptomen zugeordnet sind. Diese können behrlich. Die Standardisierung maximiert zwar
wiederum den 7 Symptomkomplexen zugeordnet die Objektivität und die Reliabilität der Klassifi-
werden, die Herman (1993) in ihrer Definition kation, berücksichtigt aber nicht Fehlerquellen
der komplexen PTB benennt (s. Kap. 1). Dies (z. B. falsches Frageverständnis, Antworttenden-
führt dazu, dass im SIDES zu jedem Symptom zen), so dass die Validität der Diagnosen erheb-
bis zu 9 Fragen zum Vorliegen einer bestimmten lich gemindert sein kann. Die Standardisierung
Problematik gestellt werden müssen (s. Über- stößt in der klinischen Praxis in der Regel auf we-
sicht). nig Akzeptanz, so dass der Einsatz dieser Verfah-
62 Kapitel 3 · Diagnostik und Differenzialdiagnostik

ren - und somit das DIA-X - nicht empfohlen 3.1.2 Selbstbeurteilungsverfahren


werdenkann. ---------------------------------------
Strukturierte Verfahren unterliegen dagegen Selbstbeurteilungsverfahren eignen sich vor allem
in weit geringerem Ausmaß der Gefahr von Ant- zur Erfassung der Symptomhäufigkeit und -inten-
worttendenzen, wenn sie gemäß ihrer Bestim- sität sowie der daraus resultierenden psychischen
mungen durchgeführt werden (Lees-Haley, 1990; Beeinträchtigungen aus Patientensicht. Die Zahl
Perkins & Tebes, 1984). Dies ist z. B. von beson- der Verfahren, die speziell zur Diagnostik post-
derem Vorteil, wenn im Rahmen einer gutachter- traumatischer psychischer Störungen konstruiert
liehen Tätigkeit zwischen einer artifiziell vor- wurden, ist inzwischen enorm. Die wichtigsten
getäuschten oder einer simulierten posttraumati- Verfahren zur Erfassung der Symptomatik einer
schen Belastungsreaktion und einer PTB unter- posttraumatischen Belastungsstörung liegen in-
schieden werden muss. zwischen in deutscher Übersetzung vor:
Die Entscheidung, welches der vorgestellten - Impact of Event-Skala (IES) in der ur-
strukturierten Verfahren zur Anwendung kom- sprünglichen Version (Horowitz et al., 1979;
men soll, richtet sich ganz wesentlich nach der dt. Ferring & Filipp, 1991, 1994) und Impact
Praktikabilität der Verfahren und der Zielsetzung of Event-Skala - Revised (IES-R) in der revi-
der diagnostischen Erhebung. Hier zeichnen sich dierten Version (Weiss & Marmar, 1996; dt.
vor allem das DIPS und das F-DIPS aus, da sie Maercker & Schützwohl, 1998),
einfach durchzuführen sind, Diagnosen sowohl - PTSD Symptom Skala - Self Report (PSS-SR;
nach ICD-10 als auch nach DSM-IV erlauben Foa et al., 1993; dt. Winter et al., 1992; Steil
und die Kriterien der ABS ebenso erfassen wie & Ehlers, 1992),
die Kriterien der PTB. - Modified PTSD Symptom Skala (MPSS; Fal-
Das SCAN-System bietet zwar ebenfalls die- setti et al., 1993; dt. Spitzer et al., 2001),
sen diagnostischen Output, ist aber hinsichtlich - Posttraumatische Stress Skala-10 (PTSS-10;
der Durchführung und vor allem hinsichtlich Holen et al., 1983; Weisreth, 1989; dt. Maer-
der Auswertung weniger ökonomisch. Das cker, 1998, unveröffentlicht),
SCAN-System deckt allerdings ein sehr weites - Posttraumatic Diagnostic Scale (PDS; Foa et
Spektrum von psychopathologischen Symptomen al., 1997; dt. Ehlers et al., 1996; Steil & Ehlers,
ab, so dass es im Gegensatz zum DIPS und zum 2003, in Vorbereitung).
F-DIPS auch für den stationären oder teilstatio-
nären psychiatrischen Bereich gut geeignet ist. Impact of Event-Skala (IES)
Das SKID wiederum liefert zwar nur Diagno- Mit der deutschsprachigen Version der Impact of
sen nach DSM-IVund erhebt nur die Kriterien ei- Event-Skala (IES; Ferring & Filipp, 1994), die zu-
ner PTB, ist aber im Vergleich zum SCAN-System nächst unter der Bezeichnung »Skala zur Erfas-
ökonomisch und im Vergleich zum DIPS bzw. sung von Ereignisbelastungsreaktionen« (EBR;
zum F-DIPS nicht nur für den ambulanten psy- Ferring & Filipp, 1991) eingeführt worden ist, be-
chiatrischen bzw. psychotherapeutischen Bereich urteilen die Patienten die Häufigkeit von 16 Er-
geeignet. eignisbelastungsreaktionen; die mit den einzel-
Zur Erhebung therapierelevanter Informatio- nen Symptomen einhergehenden Belastungen
nen tragen die vorgestellten Interviews allerdings werden nicht erfasst. Die Subskala »Intrusion«
nur wenig bei. In der Regel erfassen die Verfahren besteht aus 8 Items, die der Erfassung der intru-
nur das Auftreten der zu der diagnostischen Zu- siven Kennzeichen der PTB dienen. 1 Die Subska-
ordnung erforderlichen Störungen. Dokumen-
tiert werden die Aussagen über das Vorhanden- 1 In der Originalversion wird die IES-Subskala Intrusion aus
sein von Symptomen meist nur kategorial, in nur 7 Items gebildet. Um einen mit der deutschen Version er-
der Regel dichotom oder trichotom. Themen, mittelten Summenwert mit den für die Originalversion berich-
die für die Therapieplanung wesentlich sind, wer- teten Summenwerten (vgl. Horowitz et al., 1993) vergleichen zu
den überhaupt nicht angesprochen. können, ist deshalb der Summenwert zuvor entsprechend zu
korrigieren.
3.1 · Erhebungsverfahren zur Diagnostik der posttraumat ischen Belastungsstörung
63 3
la »Vermeidung« wird aus 8 ltems gebildet, die IES qualifizieren das Verfahren als ein zuverlässi-
nach der Vermeidung von Gedanken, Gesprächen ges Messinstrument, das Differenzen zwischen
und Situationen fragen. Personen sowie Variationen innerhalb einer Per-
Die Beurteilungen beziehen sich in der IES son abzubilden erlaubt. Die Relevanz der gewähl-
auf ein einziges traumatisches Ereignis, der Beur- ten Aussagen ist für die psychischen Folgen nach
teilungszeitraum ist die letzte Woche. Die Ant- verschiedensten traumatischen Erfahrungen be-
worten werden auf einer 4-stufigen Skala ver- legt.
geben (überhaupt nicht, selten, manchmal, oft), Weiss & Marmar (1996) legen mit der erwei-
die mit den Werten 0, 1, 3 und 5 verrechnet wer- terten revidierten Version der Impact of Event-
den. Die Aufsummierung der Subskalen zu einem Skala (IES-R; dt. Maercker & Schützwohl, 1998)
Gesamtsummenwert, die zunächst auch von den ein Verfahren vor, das zusätzlich ltems zur Erfas-
Autoren der Originalversion berichtet worden sung der posttraumatischen Übererregung um-
war (Horowitz et al., 1979), wird häufig vor- fasst (s. D Abb. 3.2). Die Belastungen, die mit
genommen. Die Testautoren sprachen sich später den einzelnen Symptomen einhergehen, werden
jedoch explizit gegen die Gesamtsummenwertbil- jedoch auch mit der IES-R nicht erhoben. Die
dung aus (Zilberg et al., 1982). Die psychometri- Häufigkeit der Ereignisbelastungsreaktionen
schen Eigenschaften der deutschen Version der wird in der aktuellen Version dem Modus der

Denken Sie bitte an das Ereignis. Geben Sie im Folgenden an, wie Sie in der vergangeneo Woche zu diesem Ereignis
gestanden haben, indem Sie für jede der folgenden Reaktionen ankreuzen, wie häufig diese bei Ihnen aufgetreten ist.
Subskala Intrusion
1. Immer wenn ich an das Ereignis erinnert wurde, kehrten die Gefühle wieder.
3. Andere Dinge erinnerten mich immer wieder daran.
6. Auch ohne es zu beabsichtigen, musste ich daran denken.
9. Bilder, die mit dem Ereignis zu tun hatten, kamen mir plötzlich in den Sinn.
14. Ich stellte fest. dass ich handelte oder fühlte, als ob ich in die Zeit des Ereignisses zurückversetzt sei.
16. Es kam vor, dass die Gefühle, die mit dem Ereignis zusammenhingen, plötzlich für kurze Zeit viel heftiger
wurden.
20. Ich träumte davon.

Subskala Vermeidung
5. Ich versuchte mich nicht aufzuregen, wenn ich daran dachte oder daran erinnert wurde.
7. Es kam mir so vor, als ob es gar nicht geschehen wäre oder irgendwie unwirklich war.
8. Ich versuchte, Erinnerungen daran aus dem Weg zu gehen.
11 . Ich versuchte, nicht daran zu denken.
12. Ich merkte zwar, dass meine Gefühle durch das Ereignis noch sehr aufgewühlt waren,
aber ich beschäftigte mich nicht mit ihnen.
13. Die Gefühle, die das Ereignis in mir auslösten, waren ein bisschen wie abgestumpft.
17. Ich versuchte, das Ereignis aus meiner Erinnerung zu streichen.
22. Ich versuchte, nicht darüber zu sprechen.

Subskala Übererregung
2. Ich hatte Schwierigkeiten, nachts durchzuschlafen.
4. Ich fühlte mich reizbar und ärgerlich.
10. Ich war leicht reizba r und schreckhaft.
15. Ich konnte nicht einsch lafen, weil ich immer dieses Ereignis vor mir sah.
18. Es fiel mir schwer, mich zu konzentrieren.
19. Die Erinneru ngen daran lösten bei mir körperliche Reaktionen aus, wie Schwitzen, Atemnot, Schwindel
oder Herzklopfen.
21. Ich empfand mich selber als sehr vorsichtig, aufmerksam oder hellhörig.

D Abb. 3.2. Instruktion und ltems der Impact of Event·Skala - Revised (IES·Rl
64 Kapitel 3 · Diagnostik und Differenzialdiagnostik

Im Folgenden finden Sie eine Reihe von Erfahrungen, die Menschen manchmal nach traumatischen Erlebnissen haben.
Bitte lesen Sie jede Aussage durch und bestimmen Sie anschließend wie häufig bzw. wie stark die Beschreibung wäh·
rend des letzten Monats auf Sie zutraf. (.. .)

Dabei bedeutet
0 =überhaupt nicht/nie
1 =einmal oder seltener pro Woche/ein bisschen
2 = 2· bis 4mal pro Woche/stark
3= 5mal pro Woche oder öfter/sehr stark

Hatten Sie wiederkehrende oder sich Ihnen aufdrängende belastende Gedanken


oder Erinnerungen an das Erlebnis? ja nein

Wenn ja: Wie häufig erlebten Sie dies? Wenn ja: Wie sehr litten Sie darunter?
nie Smal pro Woche überhaupt sehr
oder öfter nicht stark
0 2 3 0 2 3

D Abb. 3.3. Anleitung und Beispielitern aus der PTSD Symptom Skala - Self Report (PSS·SR)
in der Version von Steil & Ehlers (1992)

IES entsprechend auf 4-stufigen Skalen erfasst Der Schweregrad der Störung wird über den
und verrechnet. 2 Summenwert der Antworten bestimmt. Die Sum-
Reliabilität und Validität der deutschen Adap- menwertbildung ist darüber hinaus aus den 5 Er-
tation sind belegt (Maercker & Schützwohl, innerungssymptomen, den 7 Vermeidungssymp-
1998). Trotz der Erweiterung um die Subskala tomen und den 5 Übererregungssymptomen
Übererregung ist eine zuverlässige individual- möglich. Zur diagnostischen Klassifikation nach
diagnostische Zuordnung durch die IES-R nicht DSM werden Antworten mit einem Punktwert
möglich, da die 22 Items nicht mit den DSM-IV- von mindestens 1 als diagnostisch relevant be-
Symptomen korrespondieren. wertet. Die PSS-SR ist damit ein Verfahren, das
Informationen sowohl in dichotomer als auch
in kontinuierlicher Ausprägung liefert. Es ist in-
PTSD Symptom Skala - Self Report (PSS-SR) zwischen auch in der deutschen Version teststa-
Die PTSD Symptom Skala - Self Report (PSS-SR; tistisch überprüft, wobei es sich als reliables
Foa et aL, 1993; dt. Winteret al., 1992) besteht aus und valides Instrument erwiesen hat (Stieglitz
17 Aussagen, die direkt mit den Symptomen des et aL, 2001).
DSM korrespondieren. Die Symptomhäufigkeit Steil & Ehlers (1992) modifizierten die PSS-
wird - bezogen auf den letzten Monat - auf einer SR und legten einen Fragebogen vor, mit dem ne-
4-stufigen Skala dokumentiert: 0 =»überhaupt ben der Symptomhäufigkeit auch die Symptom-
nicht/nie«, 1 =»einmal oder seltener pro Woche/ belastung erfasst werden kann (s. a Abb. 3.3). Da-
manchmal«, 2 = »2- bis 4mal pro Woche/die Hälf- zu wird auf 2 unabhängig voneinander zu beur-
te der Zeit« und 3 = »5mal oder öfter pro Woche/ teilenden 4-stufigen Skalen die Häufigkeit eines
fast immer«. Symptoms erhoben (O =»überhaupt nicht/nie«
bis 3 = »5mal oder öfter pro Woche/fast immer«)
bzw. wie sehr die Betroffenen unter diesem
Symptom litten (0 =»überhaupt nicht«, 1 =»ein
2 Die Autoren der amerikanischen Version schlugen allerdings
bisschen«, 2 =»stark« und 3 =»sehr stark«). Die
vor, das Ausmaß der aus den Symptomen resultierenden Belas-
Reliabilität dieser modifizierten Version der PSS-
tung zu erfassen, die Antworten auf einer 5-stufigen Skala zu
SR ist belegt (Steil & Ehlers, 1992).
kodieren und mit den Werten 0, 1, 2, 3 und 4 zu verrechnen
(Weiss & Marmar, 1996).
3.1 · Erhebungsverfahren zur Diagnostik der posttraumatischen Belastungsstörung 65 3
Modified PTSD Symptom Scale (MPSS) dungeiner 4-stufigen Skalierung (0 = ))überhaupt
nicht« bis 3 = ))Oft«) einen Schwellenwert von 12,5
Im amerikanischen Raum wurde die Modified
berichtet.
PTSD Symptom Scale (MPSS) vorgelegt, die ne-
Die PTSS-10 ist in ihrer Anwendung bei einer
ben der Symptomhäufigkeit auch die Symptom-
Durchführungszeit von ca. 3 Minuten sehr öko-
intensität auf einer 5-stufigen Skala (O =»über-
nomisch und hinsichtlich interner Konsistenz
haupt nicht belastend« bis 4 = »extrem belas-
sowie konvergenter und divergenter Validität
tend«) abbildet (Falsetti et al., 1992). Dieses In-
auch in der vorliegenden deutschen Übersetzung
strument liegt inzwischen ebenfalls in deutscher
(Maercker, 1998, unveröffentlicht) positiv evalu-
Übersetzung vor (Spitzer et al., 2001). Die Auto-
iert (Maercker, 2003).
ren der deutschen Version haben dabei den kate-
gorialen Auswertungsmodus in Anlehnung an die
CAPS verändert und fordern neben einem Min- Posttraumatic Diagnostic Scale (PDS)
destwert von 1 für die Symptomhäufigkeit auch
einen Mindestwert von 2 für den Schweregrad. Mit der Posttraumatic Diagnostic Scale (PDS)
Im Rahmen einer teststatistischen Überprüfung entwickelten Foa et al. (1997; dt. Ehlers et al.,
hat sich das Verfahren zur Anwendung qualifi- 1996; Steil & Ehlers, 2003, in Vorbereitung) ein
ziert (vgl. Spitzer et al., 2001). Selbstbeurteilungsverfahren, das neben den
Symptomen der PTB auch die Reaktion der Be-
troffenen auf das Ereignis und das Vorliegen
Posttraumatische Stress Skala-1 0 (PTSS-1 0) von durch die Störung verursachten Beeinträchti-
gungen in sozialen und beruflichen Funktions-
Die Posttraumatische Stress Skala-10 (PTSS-10}
bereichen erfasst. Damit ermöglicht die PDS,
ist ursprünglich von Holen et al. (1983) als In-
die ebenfalls als Weiterentwicklung der PSS-SR
strument zur Erfassung posttraumatischer Belas-
gilt, explizit die Diagnostik nach den Kriterien
tungsreaktionen entwickelt und in modifizierter
der DSM-IV.
Form zunehmend als Screeninginstrument zur
Die Beurteilungen der Patienten, wie häufig
Identifizierung von PTB verwendet worden (z. B.
sie im letzten Monat von den Symptomen betrof-
Weisreth, 1989). Die Instruktion fragt nach dem
fen waren, erfolgen auf einer 4-stufigen Skala, de-
Vorliegen von 10 Symptomen in den letzten 7 Ta-
ren Skalenbeschreibung und Verrechnung weit-
gen, z. B. nach ))Schlafstörungen«, ))Alpträumen
gehend der Originalversion der PSS-SR ent-
über die Ereignisse« oder ))Stimmungsschwan-
spricht (s. D Abb. 3.4). Der Schweregrad der
kungen«. Die PTSS-10 erfasst weder die diagnos-
posttraumatischen Belastung wird mit der PDS
tischen Kriterien der PTB nach dem DSM noch
durch das Aufsummieren der ltemantworten er-
nach der ICD-10, weswegen Screeningkriterien
mittelt.
zur Identifikation von PTB definiert wurden.
Untersuchungen mit der Originalversion
Thulesius & Häkansson (1999) wählten hierfür
konnten die Reliabilität und Validität der PDS
5 Fragen der PTSS-10 aus, deren Beantwortung
als außergewöhnlich hoch bestätigen (Foa et al.,
auf einer ?-stufigen Skala (1 =))keine Probleme«
1997; vgl. Keane et al., 2000). Untersuchungen
bis 7 =))sehr schwere Probleme«) erfolgt. Bei ei-
zu den Gütekriterien der deutschsprachigen Über-
nem Mittelwert der Antworten von mindestens
setzung der PDS stehen noch aus.
4,5 gehen die Autoren davon aus, dass eine PTB
vorliegt. Alternativ hierzu definierten sie in ihrer
Untersuchung an bosnischen Kriegsflüchtlingen
Symptom-Checklist (SCL-90-R)
aufgrund klinischer Beobachtungen einen
und Minnesota Multiphasic Personality
Schwellenwert von 45. In einer empirischen Un-
lnventory (MMPI)
tersuchung an Patienten mit akutem Lungenver-
sagen berechneten Stoll et al. (1999) dagegen ei- Kurz erwähnt werden soll abschließend, dass zur
nen optimalen Schwellenwert von 35, während Erfassung posttraumatischer Belastungsreaktio-
Maercker (1998, unveröffentlicht) unter Verwen- nen auch Verfahren eingesetzt werden können,
66 Kapitel 3 · Diagnostik und Differenzialdiagnostik

Im Folgenden finden Sie eine Reihe von Problemen, die Menschen manchmal nach traumatischen Erlebnissen haben.
Bitte lesen Sie sich jedes der Probleme sorgfältig durch. Wählen Sie diejenige Antwortmöglichkeit (0-3), die am besten
beschreibt, wie häufig Sie IM LETZTEN MONAT (d.h. in den letzten vier Wochen bis einschließlich heute) von diesem
Problem betroffen waren. ( ...)

Dabei bedeutet

0 =überhaupt nicht oder nur einmal im letzten Monat


1= einmal pro Woche oder seltener/manchmal
2 = 2- bis 4mal pro Woche/die Hälfte der Zeit
3 = Smal oder öfter pro Woche/fast immer
0 1 2 3 Hatten Sie belastende Gedanken oder Erinnerungen an das Erlebnis, die ungewollt auftraten und
Ihnen durch den Kopf gingen, obwohl Sie nicht daran denken wollten?

D Abb. 3.4. Anleitung und Beispielitern aus Teil 3 der Posttraumalle Diagnostic Scale (POS)

die ursprünglich für die Beurteilung anderer und 90 der SCL-90-R. Der Summenwert, der di-
Störungen entwickelt worden waren (vgl. Mei- agnostisch am Besten trennt, wird mit WZ-
chenbaum, 1995). Zu den wichtigsten dieser Ver- PTSD= 1,3 angegeben (Weathers et al., 1996).
fahren zählen die Symptom-Checklist (SCL-90-R; Im Rahmen eigener Untersuchungen an in der
Derogatis, 1977; dt. Franke, 1995) und das Minne- DDR aus politischen Gründen Inhaftierten
sofa Multiphasic Personality Inventory (MMPI; (Maercker & Schützwohl, 1997) konnten unter
Hathaway & McKinley, 1951; dt. Hathaway & Kin- Verwendung dieses Grenzwertes knapp 80o/o der
ley, 1963). untersuchten Personen diagnostisch richtig, d. h.
in Obereinstimmung mit dem DIPS, zugeordnet
werden (Sensitivität= 0,71, Spezifität = 0,8, Kap-
Crime-Related Posttraumatic pa=0,48).
Stress Disorder Scale (CR-PTSD Skala)

Saunders et al. (1990) fassten die Items 3, 12, 13,


MMPI-PTSD Skala
14, 17, 18, 23, 24, 28, 38, 39, 41, 44, 45, 51, 54, 56,
59, 66, 68, 70, 79, 80, 81, 82, 84, 86 und 89 der Im MMPI werden die Items 2, 3, 8, 15, 16, 22, 24,
SCL-90-R zur Crime-Related Post-Traumatic 31,32,33,39,40,43, 57,61,67, 72, 76,88,94,97,
Stress Disorder Scale (CR-PTSD Skala) zusam- 104, 106, 107, 114, 137, 139, 147, 152, 156, 182,
men. Cronbach's a wird von den Testautoren 217, 241, 286, 303, 314, 323, 326, 336, 338, 339,
mit a=0,93 angegeben. Der Nachweis, dass die 349, 350, 358, 359, 366, 372, 376, 389 zur MMPI-
Skala zu individualdiagnostischen Zuordnungen PTSD Skala zusammengefasst (Keane et al.,
herangezogen werden kann, steht allerdings noch 1984). Angaben zur Reliabilität, etwa zur internen
aus. Konsistenz der Skala, liegen nicht vor. Der Grenz-
wert zur Diagnosenstellung wird von den Auto-
ren mit MMPI-PTSD=30 (Keane et al., 1984)
War-Zone-Related Posttraumatic und von Watson (1990) mit MMPI-PTSD=25 an-
Stress Disorder Scale (WZ-PTSD Skala) gegeben (vgl. Denny et al., 1987).
Auch die War-Zone Posttraumatic Stress Disorder
Scale (WZ-PTSD Skala) basiert auf der SCL-90-R
Bewertung der Selbstbeurteilungsverfahren
(Weathers et al., 1996). Die Skala, für die ein
Cronbach's a = 0,97 berichtet wird, besteht aus Die Selbstbeurteilungsverfahren sind generell
den Items 2, 3, 23, 24, 29, 30, 32, 39, 43, 44, 50, einfach zu handhaben, die Daten schnell zu erhe-
55, 57, 59, 66, 67, 70, 71, 72, 77, 78, 79, 86, 89 ben und bequem auszuwerten, weswegen sie den
3.2 · Differenzialdiagnostik 67 3
Diagnostiker nur wenig in Anspruch nehmen.
Die speziell zur Erfassung posttraumatischer Be-
Mit dem Vorliegen von störungsspezifischen
lastungsreaktionen konstruierten Verfahren ha-
Therapieprogrammen kommt man auch in der
ben sich zudem in teststatistischen Untersuchun-
psychotherapeutischen Praxis nicht um Diag-
gen ausnahmslos als zumindest zufriedenstellend
nostik und Klassifikation umhin. Zur zuverläs-
qualifiziert, so dass die Entscheidung für ein be-
sigen klassifikatorischen Diagnostik posttrau -
stimmtes Verfahren von dem eigenen diagnosti- matischer Belastungsreaktionen ist die
schen Anliegen abhängt. Durchführung eines (halb-) strukturierten In-
terviews (z. B. SKID) unerlässlich. Im Rahmen
einer multimodalen Diagnostik dienen
Über den Schweregrad der posttraumatischen Selbstbeurteilungsverfahren dazu, das Bild
Belastungsreaktionen informieren die Selbst- über den Patienten in ökonomischer Art zu
beurteilungsverfahren durchweg, so dass sie erweitern. Verfahren, die speziell zur Erfassung
sowohl im Rahmen wissenschaftlicher Unter- posttraumatischer Belastungsreaktionen ent-
suchungen als auch in der klinischen Praxis - wickelt wurden (z.B. IES-R) und Subskalen von
hier vor allem auch im Hinblick auf die Er- SCL-90-R und MMPI ergänzen sich.
folgsmessung einer therapeutischen Behand-
lung (s. Abschn. 3.4) - den Einsatz von struk-
turierten Interviews sinnvoll ergänzen. Symp-
3.1.3 Messung psychophysiologischer
tomhäufigkeit und -intensität lassen sich al-
Parameter
lerdings nur mit der gut evaluierten MPSS oder
der PSS-SR in der Version von Steil & Ehlers
Die Messung psychophysiologischer Parameter
(1992) getrennt voneinander erfassen. Die IES
hat sich in verschiedenen Studien als wertvolles
und die IES-R wiederum werden international
diagnostisches Vorgehen erwiesen, da die physio-
am häufigsten eingesetzt und sind daher vor
logischen Reaktionen (z. B. Herzfrequenz und
allem für den Einsatz in wissenschaftlichen
Hautwiderstand), die Traumaopfer auf die Dar-
Studien zu empfehlen (vgl. Charney et al.,
bietung von traumabezogenen und von neutralen
1998).
Stimuli zeigen, diagnostisch sehr zufriedenstel-
lend differenzieren. In der therapeutischen Praxis
Ein Nachteil der speziell zur Erfassung posttrau- ist die Erhebung physiologischer Daten in der
matischer Belastungsreaktionen entwickelten Regel nicht oder nicht in hinreichendem Maße
Verfahren ist, dass sie der Gefahr von Antwort- notwendig oder möglich, weshalb auf die Fach-
tendenzen unterliegen; sie sollten daher nur im literatur verwiesen wird (z. B. Keane et al., 1998}.
Rahmen einer multimethodalen Diagnostik An-
wendung finden. Reliabilität und Validität der
Skalen, die nicht theoriegeleitet entwickelt son-
3.2 Differenzialdiagnostik
dern empirisch gewonnen wurden (CR-PTSD
Skala, WZ-PTSD Skala, MMPI-PTSD Skala)
In der klinischen Praxis sind die posttraumati-
müssen im Rahmen von Kreuzvalidierungsstudi-
schen Belastungsreaktionen differenzialdiagnos-
en nachgewiesen werden; die Anwendung dieser
tisch vor allem zu unterscheiden von
Skalen kann nur zur Ergänzung der diagnosti-
- Anpassungsstörungen,
schen Informationssammlung empfohlen werden.
- Angststörungen,
- depressiven Störungen und
- Borderlinestörung.

Im Rahmen gutachterlieber Tätigkeit erfolgt die


Abgrenzung in erster Linie von einer artifiziellen
Störung und von Simulation. Dabei ist zu beach-
68 Kapitel 3 · Diagnostik und Differenzialdiagnostik

ten, dass sich die diagnostischen Kriterien in auch die Kriterien einer depressiven Störung
ICD-10 und DSM-IV zum Teil sehr deutlich un- erfüllt. In diesem Fall sind die Diagnosen unab-
terscheiden, so dass sich je nach verwendetem hängig voneinander zu vergeben.
Klassifikationssystem die Formulierung unter-
schiedlicher Diagnosen ergeben kann.
Borderlinestörung
Die Kriterien der komplexen posttraumatischen
Anpassungsstörungen Belastungsstörung, aber auch die primären und
Anpassungsstörungen sind in der Regel dann zu häufig zu beobachtenden sekundären Störungen
diagnostizieren, wenn die posttraumatischen Be- einer PTB, überschneiden sich deutlich mit den
lastungsreaktionen in ihrer typischen Form auf- Kriterien einer Borderlinestörung, z. B. Impuls-
treten, die Symptomanzahl aber nicht den diag- kontrollstörungen, Ärgerreaktionen, Suizidalität
nostischen Kriterien der PTB genügt oder die Be- oder Affektinstabilität (Driessen et al., 2002). Zu-
lastungsreaktionen nach einem Ereignis auftre- dem ist es ein allgemein bekannter Befund, dass
ten, das nicht als ein traumatisches bezeichnet Personen mit einer Borderlinestörung häufig in
werden kann (z. B. Kündigung oder Arbeitslosig- ihrer frühen Kindheit traumatisiert wurden. Den-
keit). In der Forschungsliteratur werden Erschei- noch ist festzuhalten, dass Traumatisierungen
nungsbilder dieser Art häufig als partielle oder nicht kausal mit Borderlinestörung in Verbin-
Subsyndromale PTB bezeichnet. In einer eigenen dung stehen. Daher sollte - wenn die Kriterien
empirischen Untersuchung hat sich die Nützlich- beider Störungsbilder erfüllt sind - dies auch
keit dieser Kategorienbildung - bei Verwendung im Sinne einer Komorbidität dokumentiert wer-
der strengeren DSM-IV-Kriterien der PTB - be- den. Zur Diagnostik der Borderlinestörung sei
stätigt (Schützwohl & Maercker, 1999). z. B. auf das Diagnostische Interview für Border-
Hne-Patienten in seiner revidierten Fassung
(DIB-R; Baum-Dill et al., 1983) verwiesen.
Angststörungen
Die typischen körperlichen Begleiterscheinungen Artifizielles Vortäuschen
von Angststörungen (z. B. Atemnot, Herzrasen Die Unterscheidung zwischen artifiziellen, d. h. in
oder Hitzewallungen) erleben Patienten, die un- der Regel mit unklarer Motivation vorgetäuschten
ter den Folgen traumatischer Erfahrungen leiden, Belastungsreaktionen und dem Vorliegen »echter«
häufig bei Konfrontation mit an das Trauma erin- posttraumatischer Belastungsreaktionen ist
nernden Ereignissen. Das Vorliegen posttrauma- schwierig und erfordert ein diagnostisches Vor-
tischer Belastungsreaktionen ist von den anderen gehen auf mehreren Ebenen. Ein differenzialdiag-
Angststörungen dadurch zu unterscheiden, dass nostisches Kriterium ist, dass Patienten mit einer
die Symptomatik eindeutig inhaltlich in Zusam- artifiziellen Störung der Regel Symptome anderer
menhang mit der Traumatisierung steht. Persönlichkeitsstörungen aufweisen. Der Einsatz
von Verfahren zur Persönlichkeitsdiagnostik- et-
wa des SKID-II (Fydrich et al., 1997) oder des
Depressionen
Persönlichkeits-Stil- und Störungs-Inventar (Kuhl
In der klinischen Praxis klagen Patienten häufig & Kazen, 1997) - ist daher zu empfehlen, wenn ein
zunächst darüber, dass sie sich depressiv und Verdacht auf artifizielles Vortäuschen besteht.
hoffnungslos fühlen und an ihnen früher wichti-
gen Aktivitäten nicht mehr interessiert seien. Simulation
Dies kann Kennzeichen einer depressiven
Störung oder aber Ausdruck einer emotionalen Die Möglichkeit der Simulation ist dann in Erwä-
Erstarrung nach einer traumatischen Erfahrung gung zu ziehen, wenn aus dem Vorliegen post-
sein. Tatsächlich sind bei traumatisierten Patien- traumatischer Belastungsreaktionen ein (z. B. fi-
ten häufig sowohl die Kriterien einer PTB als nanzieller oder forensischer) Vorteil erwartet
3.3 · Ergänzende Diagnostik
69 3
werden kann. Verhaltensweisen, die auf Simulati- Zur differenzierten Erfassung eignen sich Verfah-
on hinweisen, sind z. B. unkooperatives oder aus- ren wie die Groningen Social Disability Schedules
weichendes Verhalten als Reaktion auf die Bitte (GSDS-11, Wiersma et al., 1990), der Fragebogen
um eine ausführliche Beschreibung der Sympto- zur Partnerschaftsdiagnostik (FPD; Hahlweg,
matik sowie die Idealisierung der prätraumati- 1996) oder auch der Fragebogen zur sozialen Un-
schen gesundheitlichen und sozialen Situation. terstützung (F-SOZU; Sommer & Fydrich, 1989).
Simulation in Form der Präsentation nicht vor- Die meisten Schwierigkeiten und Problemstel-
handener Beschwerden ist sehr selten; es kommt lungen sind nach dem DSM mit einer sog. »V-Ko-
eher zur Übertreibung tatsächlich bestehender dierung«, nach ICD-10 mit einer Kategorie aus
Symptomatik (Birck, 2002). Kapitel 21 (»Z-Kodierung«) zu verschlüsseln.

Erfassung komorbider Störungen


3.3 Ergänzende Diagnostik
Nach traumatischen Erlebnissen treten neben
Zur Therapieplanung ist neben der klassifikatori- posttraumatischen Belastungsreaktionen auch
schen Diagnostik vor Behandlungsbeginn die Er- Angststörungen anderer Art, Depressionen, So-
fassung weiterer Informationen erforderlich. Im matisierungsstörungen und Störungen in Verbin-
Rahmen der Behandlung posttraumatischer Be- dung mit Medikamenten, Drogen und Alkohol
lastungsreaktionen betrifft dies vor allem die Be- auf. Die Wahrscheinlichkeit für einen Suizid oder
urteilung sekundärer Funktionsbeeinträchtigun- einen Suizidversuch ist erheblich erhöht (s. Kap.
gen sowie die Erfassung von möglichen komorbi- 1). Das Vorliegen solcher Störungen, die unter
den Störungen. Darüber hinaus verdient die Er- Umständen vorrangig behandelt werden müssen,
fassung der prätraumatischen Gesundheit, der ist selbstverständlich vor der therapeutischen In-
Ressourcen und Kompetenzen sowie möglicher tervention abzuklären. Hierzu bieten sich die
aufrechterhaltender Faktoren Beachtung. oben genannten (halb-) strukturierten Interviews
Informationen zu diesen Themen können in an. Darüber hinaus liegen auch Selbstbeurtei-
der Regel im anamnestischen Gespräch erhoben lungsverfahren vor, die Informationen über den
werden, darüber hinaus können die nachfolgend Patienten liefern können, so z. B. das Reck-Angst-
vorgestellten Verfahren eingesetzt werden. Inventar (BAI; Margraf & Ehlers, 1995), das Beck
Depressionsinventar (BDI; Hautzinger et al., 1992)
Erfassung sekundärer oder auch der Fragebogentest zur Beurteilung der
Funktionsbeeinträchtigungen Suizidgefahr (FBS; Stork, 1996).

Mit der diagnostischen Klassifikation der psy-


chischen Störungen werden die bei Patienten Erfassung der prätraumatischen Gesundheit
häufig vorliegenden sekundären Funktionsbeein- Die Erfassung der prätraumatischen Gesundheit
trächtigungen oft nicht vollständig beschrieben. ist zur Abklärung notwendig, ob die beobachte-
Im Rahmen der Therapieplanung können solche ten Beschwerden erst nach dem traumatischen
Lebensschwierigkeiten allerdings von z. T. erheb- Ereignis (vermehrt) auftraten und Symptom ei-
licher Bedeutung sein, weshalb sie im diagnosti- ner posttraumatischen Störung sind. Da das The-
schen Prozess abzuklären sind. rapieziel nur dann wirklichkeitsnah festgelegt
werden kann, wenn die vor der Traumatisierung
vorhandenen Kompetenzen des Patienten be-
Patienten mit posttraumatischen Belastungs- kannt sind, kommt der Erfassung der prätrauma-
reaktionen sind häufig von Arbeitslosigkeit tischen Gesundheit darüber hinaus auch im Rah-
und Partnerschaftskrisen betroffen, nicht sel- men der Therapieplanung Bedeutung zu.
ten mangelt es an emotionaler Unterstützung
und sozialer Integration.
70 Kapitel 3 · Diagnostik und Differenzialdiagnostik

Erfassung von Ressourcen, Kompetenzen 3.4 Therapiebegleitende Diagnostik

Neben Problemen und Beschwerden sollten im Es ist sinnvoll, die Durchführung therapeutischer
Verlauf des diagnostischen Prozesses auch die Maßnahmen durch die Erfassung von Informa-
Ressourcen und Kompetenzen des Patienten er- tionen über deren Verlauf (Prozess- und Behand-
fasst werden. Der Therapeut kann sich so Verhal- lungsevaluation) und deren Wirkung (Ergebnise-
tensweisen, Interessen und Fähigkeiten des Pa- valuation) zu ergänzen.
tienten zu Nutze machen und durch die Hervor-
hebung von Ressourcen und Kompetenzen das
Selbstwertgefühl des Patienten stärken. Patienten Prozess- und Behandlungsevaluation
mit posttraumatischen Belastungsreaktionen
verfügen aufgrund ihrer peri- und posttraumati- Die Prozess- und Behandlungsevaluation dient
schen Erfahrungen vielfach über neue Kompeten- der Erfassung der Prozessqualität der diagnosti-
zen und Ressourcen, z. B. über verbesserte Bewäl- schen und therapeutischen Maßnahmen. Nach
tigungsstrategien oder eine allgemeine Persön- Schulte (1996) kann die Prozessqualität ökono-
lichkeitsreifung. Zur Erfassung situations- misch erfasst werden, indem der Therapeut nach
unabhängiger, überdauernder Bewältigungsmodi jeder Sitzung ein Rating zum Patientenverhalten
kann der Stressverarbeitungsfragebogen (SVF; vornimmt, wobei auf Skalen von -3 bis +3 Thera-
Janke et al., 1985) eingesetzt werden. Der psycho- pienachfrage, Mitarbeit, Selbstöffnung und Er-
metrischen Erfassung der persönlichen Reifung proben bewertet werden. Grawe & Braun (1994)
nach einem belastenden Lebensereignis dienen schlagen vor, zur Erfassung der Prozessqualität
die Stress-Related Growth Scale (SRGS; Parket al., Stundenbögen einzusetzen, auf denen Patient
1996) sowie das Post-Traumatic Growth Inventory und Therapeut unabhängig voneinander die Qua-
(PGI; Tedeschi & Calhoun, 1996; s. Maercker & lität jeder einzelnen Therapiesitzung einschätzen.
Langner, 2001). Da der Therapieerfolg mit der Zufriedenheit der
Patienten in engem Zusammenhang steht (vgl.
Grawe & Braun, 1994), erlaubt ein kontinuierli-
Erfassung aufrechterhaltender Faktoren ches Erfassen der Patientenbewertungen ein
frühzeitiges Erkennen von Schwierigkeiten.
Die PTB remittiert häufig im ersten Jahr nach der
Traumatisierung und nimmt nur bei manchen
Betroffenen einen chronischen Verlauf. Zur Auf-
rechterhaltung tragen vermutlich Interpretatio- Zur individuellen Therapieplanung ist die Er-
nen, überzeugungen und Einstellungen bei, die fassung weiterer Informationen unerlässlich.
das Ausmaß der Belastung beim wiederholten Er- Fragebogen können sich auch in diesem Zu-
leben des Traumas steigern und dadurch Flucht- sammenhang als nützlich erweisen. Die Er-
und Vermeidungstendenzen auslösen, so dass fassung der Prozessqualität und der Thera-
Habituation nicht stattfinden kann (Ehlers & piewirkungen sollten die diagnostischen
Steil, 1995). Um ein großes Spektrum solcher Maßnahmen im Therapieverlauf vervollstän-
Faktoren zu erfassen, eignen sich - in Ergänzung digen.
zu offenen explorativen Fragen - der Fragebogen
zu Gedanken nach traumatischen Ereignissen ( dt.
Übersetzung des Posttraumatic Cognitions In- Ergebnisevaluation
ventory; Ehlers, 1999) und der Fragebogen zum Die Erfassung der Therapiewirkungen im Be-
Umgang mit traumatischen Erlebnissen (Ehlers, handlungsverlauf dient dazu, den erzielten The-
1999). rapieerfolg abzuschätzen und den ausbleibenden
Behandlungserfolg zu erkennen. Prä-Post-Mes-
sungen mit den zur Erfassung posttraumatischer
psychischer Störungen entwickelten Verfahren (s.
Abschn. 3.1, 3.2, 3.3) bieten sich hierzu an. Mit
Literatur
71
3
der Treatment Outcome PTSD Scale (TOP-8; Con- Connor, K.M. & Davidson, J. R. (1999). Further psychometric as-
nor & Davidson, 1999) liegt zudem ein speziell sessment of the TOP-8: A brief interview-based measure
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zur Ergebnisevaluation entwickeltes Verfahren Denis, D., Kummer, P. & Priebe, S. (2000). Entschädigung und
vor. 3 Begutachtung psychischer Störungen nach politischer
Zur Ergebnisevaluation hat sich auch die Be- Haft in der SBZ/DDR. Eine Bestandsaufnahme aus medi-
urteilung durch den Patienten und den Thera- zinischer und juristischer Sicht. Der medizinische Sachver-
peuten bewährt. Beide geben dabei auf einer ständige, 96, 77-83.
Denny, N.R., Robinowitz, R. & Penk, W.E. (1987). Conducting
?-stufigen Skala an, wie stark sich der Zustand applied research on Vietnam combat-related post-trau-
des Patienten im Vergleich zum Therapiebeginn matic stress disorder. Journal of Clinical Psychology, 43,
verbessert bzw. verschlechtert hat (Schneider & 56-66.
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chen von im Rahmen der Therapieplanung fest- Driessen, M., Beblo, T., Reddemann, L., Rau, H., Lange, W., Silva,
gelegten, konkreten Behandlungszielen beurteilt A., Berea, R.C., Wulff, H. & Ratzka, S. (2002). Ist die Border-
werden. line-Persönlichkeitsstörung eine komplexe posttrauma-
Interessant ist zudem die Überprüfung, ob tische Störung? Zum Stand der Forschung. Nervenarzt,
sich die im Therapieverlauf erreichten Verän- 73, 820-829.
Ehlers, A. (1999). Posttraumatische Belastungsstörung. Göttin-
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heit widerspiegeln. Mit dem Fragebogen zur Le- Ehlers, A. & Steil, R. (1995). Maintenance of intrusive memories
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3 Der Einsatz der TOP-8 auch in wissenschaftlichen Unter-
suchungen wird von der bereits oben genannten Expertenkom-
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72 Kapitel 3 • Diagnostik und Differenzialdiagnostik

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4

8.0. Rothbaum, E.B. Foa, E.A. Hembree

4.1 Wirkmechanismen der kognitiven


Verhaltenstherapie - 76
4.1.1 Furchtstruktur - 76
4.1.2 Gefahrenrepräsentationen - 77
4.1.3 Kontrollüberzeugung und kognitive Umstrukturierung - 77

4.2 Definition der Behandlungsmodalitäten - 78

4.3 Therapieverfahren - 78
4.3.1 Konfrontationstherapie - 78
4.3.2 Angstbewältigungstraining - 79
4.3.3 Kognitive Therapie - 79
4.3.4 Augenbewegungstherapie - 80
4.3.5 Kombinationsprogramme mit kognitiver Therapie - 80

4.4 Wirksamkeit - 80
4.4.1 Wirksamkeit von Konfrontationsverfahren - 80
4.4.2 Wirksamkeit von Augenbewegungstherapie - 82
4.4.3 Wirksamkeit der Kombinationsprogramme
mit kognitiver Therapie - 83
4.4.4 Zusammenfassende Bewertung - 85

4.5 Therapeutische Überlegungen - 85

4.6 Frühinterventionen - 88

Literatur - 89

1 Übersetzung: Dr. M. Kraft


76 Kapitel 4 · Kognitive Verhaltenstherapie bei posttraumatischen Belastungsstörungen

Epidemiologische Studien lassen erkennen, dass reduziert werden kann, übernahmen Foa & Ko-
die posttraumatische Belastungsstörung (PTB) zak (1986) die Theorie von Lang (1977). Diese
zu einem ernsthaften Problem in der westlichen sieht Angst als eine kognitive Struktur an, die Re-
Welt geworden ist. Bedenkt man die große An- präsentationen der gefürchteten Reize, Repräsen-
zahl von Personen, die gewalttätigen Angriffen, tationen der Reaktionen auf Furcht und der mit
Naturkatastrophen, Unfällen, Krieg und anderen diesen Reizen und Reaktionen verbundenen Be-
starken Belastungsfaktoren ausgesetzt sind, wird deutung enthält. Foa & Kozak (1986) waren der
deutlich, wie extrem weit verbreitet traumatische Auffassung, die Furchtstrukturen angstgestörter
Erfahrungen sind. Angesichts des Ausmaßes von Personen könnten pathologische Elemente ent-
PTB, seiner Chronizität und den oftmals schwe- halten; eine Behandlung sollte daher eine Modifi-
ren Beeinträchtigungen des täglichen Lebens ist zierung dieser Elemente anstreben.
es von größter Bedeutung, effektive und effiziente Dieser Theorie zufolge müssen 2 Bedingun-
Behandlungsmethoden zur Verfügung zu haben. gen erfüllt sein, um die Angst reduzieren zu kön-
Darin besteht eine der wichtigsten Herausforde- nen:
rungen an das Gesundheitssystem. - Als erstes muss die Erinnerung an die Angst
Im Laufe der letzten 2 Jahrzehnte sind in zahl- während der Opfererfahrung aktiviert wer-
reichen Artikeln verschiedene psychosoziale Ver- den.
fahren zur Behandlung von PTB diskutiert wor- - Zweitens gilt es, neue Informationen zur
den, darunter die Gruppentherapie, die psyche- Verfügung zu stellen, die mit den bereits in
dynamische Einzeltherapie und die kognitive der Struktur enthaltenen pathologischen Ele-
Verhaltenstherapie. Einen umfassenden Über- menten nicht vereinbar sind. Auf diese Weise
blick hierzu geben Foa & Meadows (1997). kann eine neue Erinnerung gebildet werden.
Die kognitiv-verhaltenstherapeutischen Tech-
niken stellen innerhalb der psychosozialen Ver-
fahren die am besten untersuchten Behandlungs- 4.1.1 Furchtstruktur
programme dar. Es wurden zahlreiche, gut kon-
trollierte Studien durchgeführt, die ihre Wirk- Konfrontationsverfahren aktivieren die Furcht-
samkeit belegt haben . Zurzeit werden diese Be- struktur - sie lösen Angst aus. Somit bieten sie
handlungsprogramme in vielen psychiatrischen eine Möglichkeit, korrigierende Informationen
und therapeutischen Einrichtungen für Trauma- zu integrieren, wodurch die Furchtstruktur mo-
opfer eingesetzt. Im Folgenden werden nur die difiziert wird. Als Ergebnis dieser Modifizierung
kognitiv-verhaltenstherapeutischen Interventio- kommt es zu einer Abnahme der Symptomatik.
nen behandelt, die in gut kontrollierten Studien Foa & Kozak (1986) haben vorgeschlagen, die
geprüft worden sind. Angstreduktion (Habituation), die sich innerhalb
einer Sitzung und im Laufe mehrerer Konfronta-
tionssitzungen ergibt, sowie die Veränderungen
4.1 Wirkmechanismen der kognitiven bei der Beurteilung von Bedrohungen als Indika-
Verhaltenstherapie toren für Veränderungen in der Furchtstruktur
aufzufassen. Mehrere Studien unterstützen diese
Die Überlegungen zur Entstehung von PTB bein- Hypothese. Von besonderer Bedeutung sind in
halten, dass es den Betroffenen nicht möglich ist, diesem Zusammenhang 3 Untersuchungen, die
ein Trauma adäquat zu verarbeiten (Foa et al., verdeutlichen, dass eine Angstaktivierung im
1989). Wenn die PTB-Symptome das Ergebnis ei- Rahmen der Behandlung dem Therapieerfolg
ner inadäquaten emotionalen Verarbeitung dar- förderlich ist (Brom et al., 1989; Foa et al., 1995 c;
stellen, so kann eine auf die Reduzierung dieser Jaycox et al., 1998).
Symptome abzielende Behandlung als Hilfe für Es ist davon auszugehen, dass eine wiederhol-
eine bessere Verarbeitung aufgefasst werden. te Konfrontation mit den traumatischen Erinne-
Bei ihrem Erklärungsversuch, warum mithilfe rungen zu einer Habituation führt, so dass die
der Konfrontationstherapie pathologische Angst Traumaopfer sich an das Erlebte erinnern kön-
4.1 · Wirkmechanismen der kognitiven Verhaltenstherapie 77 4
nen, ohne dabei starke Angstreaktionen zu erfah- schreibung des Traumas, wobei diese Abnahme
ren. Mithilfe von langdauernden Konfrontationen mit einer Verbesserung des Zustands korrelierte.
kann erreicht werden, dass Situationen, die ur- Die Behandlung mittels Wiedererleben des
sprünglich starke Angst hervorgerufen haben, Traumas richtet sich nicht direkt an die Welt
dies nicht mehr tun. Wenn die Angstelemente des Opfers und sein Selbstschema. Ist die Erinne-
in der Struktur schwächer werden, lösen viele an- rung an das Trauma jedoch erst einmal emotional
dere Reize, die durch Angstgeneralisierung mit verarbeitet worden, so ist das Opfer dennoch im-
den traumatischen Reizen verknüpft waren, keine stande, die Vergewaltigung als ein separates Er-
Angst mehr aus. eignis und nicht als repräsentativ für die Gesamt-
heit der Welt anzusehen. Es kann somit zwischen
Gefahr und Sicherheit unterscheiden. Des Wei-
4 .1.2 Gefahrenrepräsentationen teren führt die erfolgreiche Verarbeitung der
traumatischen Erinnerungen zu einer Abnahme
Basierend auf einer Arbeit von Foa et al. (1989) der PTB-Symptome, insbesondere von Intrusion
haben Foa & Riggs (1993) die Vermutung geäu- und Vermeidungsverhalten. Diese Symptomre-
ßert, die Traumaerinnerung der an PTB-Er- duktion trägt zu einer Änderung der Selbstwahr-
krankten sei durch Repräsentationen gekenn- nehmung des Opfers bei, das sich nun imstande
zeichnet, die die Welt als ausnahmslos gefährlich sieht, die Belastungen zu bewältigen. Indirekt
ansehen. Gleichzeitig würde die eigene Person als kann eine Konfrontationsbehandlung außerdem
nicht imstande angesehen, damit fertig zu wer- positive soziale Interaktionen fördern: Wenn
den. Die Beobachtung, dass es bei Traumaopfern das Opfer die Welt nicht mehr als ausschließlich
mit PTB zur Entwicklung einer dichotomen (z. B. gefährlich empfindet und sich selbst als dieser
gefährlich vs. ungefahrlich) Denkweise kommt, Welt gewachsen ansieht, ist es auch eher bereit,
wurde in einer Arbeit von Alford et al. (1988) be- soziale Unterstützung zu suchen.
handelt. Foa & Riggs (1993) waren außerdem der
Ansicht, die Furchtstrukturen seien stärker des-
organisiert als andere Erinnerungen und es sei 4.1.3 Kontrollüberzeugung
schwieriger, desorganisierte Erinnerungen zu und kognitive Umstrukturierung
modifizieren. Träfe dies zu, so sollte eine Behand-
lung sowohl auf die Organisation der Erinnerung Das Angstbewältigungstraining zählt zu den un-
als auch auf die Berichtigung der nicht angemes- tersuchten Interventionsformen der kognitiven
senen Überzeugungen abzielen. Verhaltenstherapie in der Behandlung von PTB.
Foa & Riggs (1993) nahmen an, dass die im Seine Techniken scheinen direkt auf das Selbst-
Rahmen von Konfrontationsbehandlungen ab- schema der Opfer einzuwirken, beeinflussen aber
nehmende Angst, die mit den Erinnerungen an nicht direkt die Organisation der traumatischen
eine Vergewaltigung verbunden ist, eine Neube- Erinnerungen. Erlernt das Traumaopfer Techni-
wertung der Bedeutungsrepräsentationen ermög- ken zur Bewältigung von Stress und Angst -
lichen würde. Das mehrmalige Wiedererleben wie Entspannung und kognitive Umstrukturie-
während der Konfrontationsbehandlung, so lau- rung -, so wird auf diese Weise das Selbstbild ge-
tete ihre Vermutung, würde eine besser organi- stärkt, Belastungen erfolgreich bewältigen zu
sierte Erinnerungsaufzeichnung zur Folge haben, können. Dadurch kann die Wahrnehmung des
die leichter in bereits bestehende Schemata inte- Traumaopfers von der Welt auf 2 Arten indirekt
griert werden könne. Diese Behauptung wird beeinflusst werden:
durch eine Studie unterstützt, in der die Schil- - Zum einen könnte die stärkere Wahrnehmung
derungen von Traumaopfern während der Kon- von Kontrolle dem Opfer erlauben, die Traumaer-
frontation analysiert wurden (Foa et al., 1995b). innerungen längere Zeit auszuhalten. Dies könnte
Die Anzeichen für eine Desorganisation, wie un- wie eine selbst gesteuerte anhaltende Konfronta-
vollendete Gedanken und Wiederholungen, ver- tion wirken.
ringerten sich von der ersten bis zur letzten Be-
78 Kapitel 4 · Kognitive Verhaltenstherapie bei posttraumatischen Belastungsstörungen

- Wenn das Opfer sich selbst als Person wahr- tionen stellen zu können. Im Rahmen des Angst-
nehmen kann, die imstande ist, Stress zu bewäl- bewältigungstrainings (ABT) lernt der Betroffene,
tigen, könnte dies zum anderen den negativen wie er starke Angst kontrollieren und reduzieren
Wert potentieller zukünftiger Bedrohungen redu- kann, indem er spezifische Fertigkeiten anwendet.
zieren. Das Opfer wird dann davon ausgehen, Bei der kognitiven Umstrukturierung oder kogni-
mögliche Gefahren besser abwenden zu können. tiven Therapie soll der Patient lernen, nicht-hilf-
Auch in diesem Fall ist es wahrscheinlich, dass reiche oder irrationale Gedanken und Überzeu-
diese schematischen Veränderungen positive so- gungen, die zu übermäßig starken negativen Ge-
ziale Interaktionen erleichtern, welche dann im fühlen führen, zu erkennen und in Frage zu stel-
Gegenzug eine Stärkung der funktionellen Sche- len.
mata zur Folge haben. Die Konfrontationstherapie ist bei spezifi-
schen phobischen Ängsten im Allgemeinen die ef-
Zusammenfassend meinten Foa & Riggs (1993), fektivste Intervention; ABT und kognitive Verfah-
dass ein mehrmaliges Wiedererleben des Trau- ren werden sehr häufig bei chronischen Ängsten
mas, wie es bei der anhaltenden Konfrontation ge- wie der generalisierten Angststörung eingesetzt.
schieht, direkt die Organisation der traumatischen Da definitionsgemäß sowohl spezifische Ängste
Erinnerungen und die sich daraus ergebende Ver- als auch eine generelle chronische Erregung
änderung des Weltschemas ansprechen würde. Symptome der PTB sind, waren Konfrontations-
Das Angstbewältigungstraining hingegen hat ei- therapie und ABT die ersten kognitiv-verhaltens-
nen direkten Einfluss auf das Selbstschema. Es wä- therapeutischen Interventionen, die bei dieser
re daher zu erwarten, dass eine Kombination aus Störung Anwendung fanden. Da es zudem einen
beiden Behandlungsformen durch die Änderung deutlichen Zusammenhang zwischen dem langen
von Selbst- und Weltschema eine deutlich stärkere Bestehen der posttraumatischen Reaktionen und
Reduzierung der PTB-Symptome zur Folge haben dem Vorhandensein dysfunktionaler oder nicht-
würde, als jedes der beiden Behandlungsverfahren hilfreicher Überzeugungen in Bezug auf das
für sich allein genommen. Dies war jedenfalls un- Selbst und die Welt gibt (Foa & Rothbaum, 1998;
sere Erwartung, als wir vor knapp zehn Jahren die Ehlers & Clark, 2000), setzte sich schnell die An-
erste Fassung dieses Kapitels niederschrieben. In- sicht durch, die kognitive Umstrukturierung
teressanterweise haben die Ergebnisse der Evalua- selbst sei eine nützliche Intervention. In den letz-
tionsforschung der letzten 10 Jahre diese Voraus- ten Jahren wurde in zahlreichen Studien die
sage nicht bestätigen können. Wirksamkeit dieses Verfahrens bei der Behand-
lung der chronischen PTB untersucht.

4.2 Definition
der Behandlungsmodalitäten 4.3 Therapieverfahren

Die kognitiv-verhaltenstherapeutischen Interven- 4.3.1 Konfrontationstherapie


tionen, die zur Behandlung von Angststörungen
einzeln oder kombiniert angewandt werden, um- Die Konfrontationsbehandlung der PTB beinhal-
fassen im Allgemeinen tet gewöhnlich ein mehrmaliges imaginatives
- Konfrontationsverfahren (in sensu oder in vi- Wiedererleben der traumatischen Ereignisse so-
vo), wie eine wiederholte Konfrontation mit sicheren,
- Angstbewältigungstrainings wie z. B. Stress- jedoch vom Patienten vermiedenen Situationen,
impfungstraining und durch welche Erinnerungen an das Trauma aus-
- kognitive Therapieverfahren. gelöst werden. Ziel einer solchen Konfrontation
ist es, die Verarbeitung der Erinnerungen zu
Die Konfrontationstherapie besteht aus einer Rei- fördern, die bei Traumaopfern mit chronischer
he von Techniken, denen allen gemeinsam ist, dass PTB vermutlich beeinträchtigt ist (Foa et al.,
sie dem Patienten helfen, sich gefürchteten Situa- 1989; Foa, 1997; Hembree & Foa, 2000).
4.3 · Therapieverfahren 79 4
Die langdauernde Konfrontation (»prolonged nen zur Vergewaltigung und zur Anamnese des
exposure«) besteht aus 9 Sitzungen, die zweimal Opfers gesammelt. Anschließend wurde eine kur-
wöchentlich in Einzeltherapie durchgeführt wer- ze Atemübung durchgeführt, um die Angst zu
den. Diese Sitzungen dauern jeweils 90 Minuten. mindern, die durch die Besprechung der Ver-
Die ersten 2 Sitzungen werden zur Therapiepla- gewaltigung ausgelöst worden war. In der zweiten
nung, einschließlich der Erstellung einer Hierar- Sitzung wurde das Therapieprinzip erklärt. In
chie gefürchteter Situationen für die Konfrontati- den Sitzungen 3-9 wurden Bewältigungstechni-
on in vivo, genutzt. Während der folgenden 7 Sit- ken vermittelt. Diese Techniken beinhalteten
zungen erhalten die Opfer die Aufgabe, ihr trau- - eine Tiefenentspannung der Muskulatur und
matisches Erlebnis in der Vorstellung erneut zu eine differenzierte Entspannung,
durchleben und es laut zu beschreiben »als ge- - Gedankenstop,
schehe es gerade in diesem Augenblick«. Die - kognitive Umstrukturierung,
Konfrontation dauert etwa 60 Minuten und wird - Vorbereitung auf einen Belastungsfaktor,
auf einer Kassette aufgenommen, damit die Pa- - verdecktes Modelllernen und
tienten als Hausaufgabe die imaginative Konfron- - Rollenspiel.
tation üben können, indem sie sich das Band
anhören. Eine weitere Hausaufgabe besteht für Diese Fertigkeiten wurden erst auf ein Beispiel
die Opfer darin, sich von ihnen gefürchteten Si- (z. B. Prüfungsangst, Lampenfieber) angewandt,
tuationen oder Objekten zu nähern, die realis- das nicht mit dem Trauma in Zusammenhang
tisch betrachtet gefahrlos sind. stand, und erst dann auf ein mit der Vergewalti-
Eine Reihe weiterer praktischer Einzelheiten gung zusammenhängendes Beispiel. Jede der SIT-
zur Anwendung der Konfrontationstherapie fin- Bewältigungstechniken wurde in der gleichen
den sich in Abschn. 4.5. Weise durchgeführt. Die Sitzungen begannen
mit einer Wiederholung des in der vorangegange-
nen Sitzung erlernten Verhaltens. Anschließend
4.3.2 Angstbewältigungstraining folgte eine Schilderung des Patienten, wie er die
Bewältigungstechniken in seiner natürlichen Um-
Das Angstbewältigungstraining wurde ur- gebung nutzt, und eine Wiederholung der Haus-
sprünglich entwickelt, um aufkommende Angst aufgaben. Der Patient wurde aufgefordert, die Be-
und innere Unruhe bei Traumaopfern bewältigen wältigungstechniken regelmäßig zu Hause zu
zu können. Dabei liegt der Schwerpunkt darauf, üben.
dem Patienten Bewältigungsmöglichkeiten zur
Verfügung zu stellen - nicht auf der Aktivierung
der Angst. Angstbewältigungstrainings beinhal- 4.3.3 Kognitive Therapie
ten in der Regel ganz verschiedene therapeuti-
sche Techniken, darunter Biofeedback, Entspan- Die kognitive Therapie ist bei der Behandlung
nung und kognitive Umstrukturierung. Deshalb der PTB darauf ausgerichtet, mit dem Trauma
ist es schwer möglich, den Beitrag einer ganz be- verbundene irrationale und unangemessene
stimmten Technik am Therapieerfolg insgesamt Überzeugungen, welche die posttraumatischen
festzustellen. Von den verschiedenen Angstbewäl- Reaktionen aufrechterhalten, zu erkennen und
tigungstrainings hat das Stressimpfungstraining zu modifizieren.
(»Stress Inoculation Training«, SIT) die größte Die kognitive Umstrukturierung basiert zum
Aufmerksamkeit gefunden. Teil auf der kognitiven Therapie bei Depression
Das oft augewandte SIT-Programm von Vero- von Beck et al. {1979). Sie konzentriert sich auf
nen & Kilpatrick {1982) bestand in einer Bearbei- Funktionsbereiche, von denen angenommen
tung des Stressimpfungstrainings von Meichen- wird, dass diese durch Opfererfahrung gestört
baum (1974), das speziell für die Anwendung sind (McCann et al., 1988). Diese Bereiche umfas-
bei Vergewaltigungsopfern angepasst wurde. In sen Sicherheit, Vertrauen, Macht, Achtung und
der ersten Sitzung wurden zunächst Informatio- Intimität.
80 Kapitel 4 · Kognitive Verha ltenstherapie bei posttraumatischen Belastungsstörungen

Ein anderes Vorgehen bei der kognitiven Um- vorgestellt (s. auch Foa & Rothbaum, 1998; Roth-
strukturierung schlugen Ehlers & Clark (2000) baum et al., 2000). Im Anschluss werden Studien
vor, das in Kap. 5 ausführlich beschrieben wird. besprochen, in denen die relativ neue EMDR-
Technik zur Behandlung von Traumaopfern un-
tersucht wird.
4.3.4 Augenbewegungstherapie

Die von Shapiro (1989, 1995) entwickelte Technik 4.4.1 Wirksamkeit


des »Eye Movement Desensitization and Repro- von Konfrontationsverfahren
cessing« (EMDR) beinhaltet, dass sich der Patient
eine Szene des Traumas vorstellt und seine Auf- Die Wirksamkeit der Konfrontationsbehandlung
merksamkeit auf die begleitenden Gedanken wurde erstmals in mehreren Fallberichten über
und die körperliche Erregung richtet. Dabei folgt Kriegsveteranen nachgewiesen. Sowohl die
er gleichzeitig der Bewegung des Therapeuten, Reizüberflutung in der Vorstellung (in sensu)
der einen Finger vor dem Gesicht des Patienten als auch die Reizüberflutung in der Realität (in
schnell hin und her bewegt. Dabei kommt es zu vivo) mit Erinnerungen an traumatische Ereig-
einer Reihe rascher sakkadischer Augenbewegun- nisse scheinen therapeutisch wirksam zu sein
gen. Dies wird so oft wiederholt, bis der Patient (z.B. Fairbank & Keane, 1982). Die meisten dieser
keine Angst mehr berichtet. An diesem Punkt Behandlungsformen beinhalten jedoch zusätz-
wird der Patient aufgefordert, während der Vor- liche Techniken wie z. B. Ärgerbewältigung oder
stellung des Traumas einen positiven Gedanken Entspannungstraining, wodurch der Anteil der
zu verfolgen und die Augenbewegungen weiter- Konfrontation am Gesamterfolg der Behandlung
hin durchzuführen. unklar bleibt.
Eine auf den Einsatz von in-sensu- bzw. ima-
ginativer Konfrontation und kognitiver Umstruk-
4.3.5 Kombinationsprogramme turierung ausgerichtete Studie mit ehemaligen
mit kognitiver Therapie Vietnamsoldaten wurde von Glynn et al. (1999)
durchgeführt. Die Kriegsveteranen mit PTB wur-
Resick et al. (1988) entwickelten die kognitive den randomisiert 3 Gruppen zugewiesen:
Verarbeitungstherapie (»Cognitive Processing - Gruppe 1 erhielt 13-14 Sitzungen a 90 Minu-
Therapy«, CPT) für Vergewaltigungsopfer (s. ten mit imaginativer Konfrontation plus kog-
Kap. 8). In ihr werden Konfrontation mit Eduka- nitiver Umstrukturierung.
tion und kognitiven Therapietechniken kombi- - Gruppe 2 wurde zusätzlich mit 16-18 Sitzun-
niert. In einem Quasi-Versuchsdesign behandel- gen verhaltenstherapeutischer Familienthera-
ten Resick & Schnicke (1992) weibliche Vergewal- pie behandelt.
tigungsopfer in 12 wöchentlichen Gruppensit- - Den Teilnehmern der Wartelisten-Kontroll-
zungen mit CPT (vgl. Abschn. 4.4.3). Die Kon- gruppe (Gruppe 3) war es gestattet, die vorher
frontation bestand aus der detaillierten schriftli- verschriebene psychiatrische Medikation wei-
chen Schilderung der Vergewaltigung und dem terhin einzunehmen.
anschließenden lauten Vortragen in der Thera-
piegruppe. Die Ergebnisse zeigen, dass die Behandlung mit
Konfrontationstherapie und kognitiver Umstruk-
turierung im Vergleich zur Wartelistenbedingung
4.4 Wirksamkeit eine signifikante Verbesserung der PTB-Sympto-
me erbrachte. Die zusätzliche Behandlung mit
In diesem Abschnitt werden zunächst einige Ar- verhaltenstherapeutischer Familientherapie führ-
beiten zur Wirksamkeit von Konfrontationsthera- te - entgegen der Erwartungen der Untersucher -
pie, Angstbewältigungstraining, kognitiver The- zu keiner Verbesserung der Behandlungsergeb-
rapie und Kombinationen dieser Interventionen nisse.
4.4 · Wirksamkeit 81 4
Insgesamt haben die Studien zur Konfrontati- tung oder einer Wartelisten-Kontrollgruppe zu-
onstherapie mit Veteranen übereinstimmend eine geteilt. Alle Behandlungsverfahren wiesen das
signifikante Verbesserung infolge der Interven- gleiche Format auf: 9 Sitzungen Einzeltherapie
tionen ergeben, wobei der Nutzen jedoch be- in 2-wöchigem Abstand. Die unterstützende Be-
scheiden war. Außerdem scheinen die Verbesse- ratung konzentrierte sich darauf, der Patientin
rungen bei den Symptomen für Wiedererleben bei der Lösung der täglichen Probleme zu helfen.
und Erregtheit größer zu sein als für Vermei- Diese Probleme mussten nicht mit dem traumati-
dungsverhalten und Betäubung. schen Ereignis in Zusammenhang stehen. Die Be-
Diese Ergebnisse stehen in Einklang mit de- sprechung der Vergewaltigung wurde weitgehend
nen aus anderen Therapiestudien über die Be- vermieden; erzählten die Patientinnen jedoch von
handlung von Veteranenpopulationen (z. B. phar- ihrem traumatischen Erlebnis, wurden sie zu
makologische Untersuchungen; s. Kap. 7). Mögli- Themen des »Hier und Jetzt« zurückgeführt.
cherweise ist die Gruppe der Veteranen aufgrund Die Traumaopfer in der Wartelistenbedingung
der Schwere und Chronizität ihrer PTB-Sympto- wurden im gleichen 5-wöchigen Intervall beur-
me, des hohen Anteils mit psychiatrischer Ko- teilt wie die behandelten Opfer und zur Aufrecht-
morbidität und den damit verbundenen Prob- erhaltung des Kontakts zwischenzeitlich angeru-
lemen resistenter gegenüber einer Behandlung. fen. Unmittelbar im Anschluss an die letzte Beur-
Vielleicht wird eine Behandlung oder Beratung teilung erhielten die Patientinnen der Wartelis-
von Veteranen auch dadurch erschwert, dass ih- ten-Kontrollgruppe eine aktive Behandlung.
nen der Anreiz fehlt, gesund zu werden oder Be- Unmittelbar nach der Behandlung war bei
handlungserfolge anzuerkennen, weil sie sonst den Frauen, die mit langdauernder Konfrontation
Gefahr laufen, Entschädigungszahlungen der Ar- und SIT behandelt wurden, und - in geringerem
mee zu verlieren. Umfang - bei den Frauen mit unterstützender Be-
Foa et al. haben 3 Studien mit Frauen durch- ratung eine signifikante Verbesserung im Ver-
geführt, die Opfer einer sexuellen oder körperli- gleich zum Zustand vor Behandlungsbeginn fest-
chen Misshandlung wurden und eine chronische zustellen. Für die Patientinnen der Wartelisten-
PTB entwickelten (Foa et al., 1991; Foa et al., Kontrollgruppe ergaben sich dagegen keine Ver-
1999; Foa, 2001). Dabei wurde die Wirksamkeit besserungen. Die größte Verbesserung der PTB-
der Konfrontationstherapie mit anderen Behand- Symptome zeigte sich in der SIT-Gruppe. Zum
lungsformen und einer Wartelisten-Kontroll- Katamnesezeitpunkt nach 3 Monaten schien die
gruppe verglichen. Zur Kontrolle der spontanen Konfrontationstherapie den anderen Behand-
Symptomreduktion, zu der es nach einem Über- lungsformen bezüglich PTB-Symptome, Depres-
fall bzw. einer Vergewaltigung kommt, wurden sion und Angst überlegen zu sein. Diese Überle-
nur Traumaopfer einbezogen, bei denen das trau- genheit konnte nur für die PTB-Symptomatik be-
matische Ereignis wenigstens 3 Monate zurück- legt werden, nicht jedoch in den übrigen Messun-
lag; im Durchschnitt waren in diesen Studien gen psychischer Beschwerden. Bei der Nach-
4-9 Jahre seit dem traumatischen Ereignis ver- untersuchung erfüllten 50% der mit SIT Behan-
gangen. Unabhängige Beurteiler, denen die Be- delten sowie 55% der Patientinnen, die mit einer
handlungszuordnung nicht bekannt war, bewer- Konfrontationstherapie behandelt wurden, die
teten die Wirksamkeit der Therapie in jeder ein- Kriterien für eine PTB nicht mehr.
zelnen Studie. Die Beurteilung umfasste Messun- In der zweiten Studie (Foa et al., 1999) wur-
gen zur Schwere der PTB sowie weitere Standard- den 96 weibliche Opfer eines Überfalls bzw. einer
messungen für Symptome, die mit einem Trauma Vergewaltigung, die an einer PTB erkrankt wa-
verbunden sind. ren, randomisiert einer langdauernden Konfron-
In der ersten Studie (Foa et al., 1991) wurden tationstherapie, einer Behandlung mit SIT, einer
45 Frauen, die an einer PTB in Zusammenhang Kombination aus beidem oder einer Wartelisten-
mit einer Vergewaltigung litten, randomisiert ei- Kontrollgruppe zugewiesen. Die Ergebnisse zei-
ner Konfrontationstherapie, einem Angstbewälti- gen, dass es sowohl bei den Vergewaltigungs-
gungstraining (SIT), einer unterstützenden Bera- als auch den Überfallopfern, die mit einer der 3
82 Kapitel 4 · Kognitive Verhaltenstherapie bei posttraumatischen Belastungsstörungen

Therapieformen behandelt wurden, zu einer 173 Patientinnen randomisiert einer reinen Kon-
deutlichen Reduktion des Schweregrads der frontationstherapie, einer Konfrontationstherapie
PTB und der Depression kam, während sich für plus kognitiver Umstrukturierung sowie einer
die Kontrollgruppe keine Verbesserungen erga- Wartelisten-Kontrollgruppe zugeteilt. Das Trau-
ben. makriterium wurde in dieser Studie erweitert,
Bei der Beurteilung am Behandlungsende be- so dass auch erwachsene Frauen aufgenommen
hielten die Diagnose PTB nur noch 35% der Pa- wurden, deren PTB aus sexuellem Missbrauch
tientinnen mit Konfrontationsbehandlung, 42% in der Kindheit sowie Vergewaltigung und nicht-
der SIT-Patientinnen und 46% der Kombinati- sexuellen Übergriffen im Erwachsenenalter
onsgruppe. Hingegen hatte bei allen Patientinnen herrührte. Die Behandlungsdauer stieg von 5,5
der Kontrollgruppe die Diagnose PTB nach der auf mindestens 9 Wochen, da die Sitzungen nur
5-wöchigen Wartezeit noch Bestand. Die Dauer- einmal wöchentlich stattfanden. Außerdem wur-
haftigkeit der Behandlungserfolge erwies sich de die Behandlung bei denjenigen Patientinnen
12 Monate später: Eine PTB hatten nur noch auf 12 Sitzungen ausgedehnt, die nach der achten
35% der Gruppe langdauernde Konfrontations- Sitzung nicht wenigstens eine Verbesserung der
behandlung, 32% der Gruppe SIT und 32% der selbst eingeschätzten PTB-Schwere um 70% er-
Gruppe Kombinationstherapie. reicht hatten.
Foa et al. (1999) verglichen außerdem den Vorläufige Ergebnisse, die auf der Auswer-
Prozentanteil der Patientinnen, welche die jewei- tung der Daten von 123 Frauen beruhen, die die
lige Behandlung regulär beendeten und bei Be- Therapie beendet haben, ergaben erneut, dass ei-
handlungsende einen guten Zustand aufwiesen. ne alleinige Behandlung mit 9-12 Sitzungen Kon-
Dieser war definiert als eine Verbesserung der frontationstherapie die gleiche Wirksamkeit auf-
PTB-Schwere um wenigstens SO% und dem Errei- weist wie eine Kombinationsbehandlung aus
chen von Werten im Normalbereich beim Selbst- Konfrontationstherapie und kognitiver Umstruk-
Rating für Depression und Angst. Unmittelbar turierung. Festgestellt wurde dies anhand von
nach Behandlungsende erwiesen sich 57% der Messungen zur PTB-Symptomatik und Depressi-
mit Konfrontationstherapie Behandelten, 42% on. Unmittelbar nach Abschluss der Behandlung
der mit SIT Behandelten und 36% der mit einer bestand nur noch bei durchschnittlich 30% der
Kombinationstherapie Behandelten als Respon- Teilnehmerinnen die Diagnose PTB. Interessan-
der. Im Allgemeinen konnten diese Patientinnen terweise stellte sich die Konfrontationstherapie
ihren Behandlungserfolg während des 12-mona- als das effizientere Behandlungsprogramm im
tigen Nachuntersuchungszeitraums aufrechter- Vergleich zur Kombinationstherapie heraus:
halten. - 51% der Frauen, die nur mit Konfrontations-
Entgegen den Erwartungen der Untersucher therapie behandelt wurden, konnten die The-
ergab sich bei den Patientinnen mit Kombinati- rapie nach 9 Sitzungen beenden, da sie das
onstherapie kein größerer Behandlungserfolg als Erfolgskriterium einer 70%igen Verbesserung
bei den mit Monotherapie behandelten Frauen. der PTB-Symptomatik erfüllten.
Stattdessen erwies sich die alleinige Konfrontati- - Im Gegensatz dazu erreichten dies lediglich
onstherapie einer Behandlung mit SIT oder der 30% der Frauen, die mit der Kombination
Kombinationstherapie bei mehreren Parametern von Konfrontation und kognitiver Umstruk-
für den Behandlungserfolg als überlegen. turierung behandelt wurden.
In ihrer dritten umfangreichen Studie unter-
suchte Foa (2001) erneut, ob der Behandlungs-
erfolg, der bei einer langdauernden Konfrontati- 4.4.2 Wirksamkeit
onstherapie erreicht wird, durch die Ergänzung von Augenbewegungstherapie
um andere Behandlungskomponenten vergrößert
werden kann. Unter der Annahme, die kognitive Die Wirksamkeit von EMDR ist in einer Reihe
Umstrukturierung sei die wirksamste Kom- von Studien bewertet worden, von denen viele al-
ponente des Stressimpfungstrainings, wurden lerdings nicht gut kontrolliert waren. Insgesamt
4.4 . Wirksamkeit 83 4
zeigte sich in Studien mit weiblichen Opfern se- tienten Rückfälle bei verschiedenen Messungen
xueller oder körperlicher Misshandlung und zeigten. EMDR und TBP wurden als gleicherma-
Stichproben von Patienten mit verschiedenen ßen belastend (»mäßig«) eingestuft, während
Traumata, dass EMDR im Vergleich mit einer TBP als glaubwürdiger und geeigneter, eine Än-
Wartelisten-Kontrollgruppe PTB-Symptome re- derung herbeiführen zu können, angesehen wur-
duzieren kann. In einer kleinen aber gut kontrol- de.
lierten Studie zu EMDR wurden Vergewalti- Im Gegensatz dazu erbrachte eine kleine kon-
gungsopfer mit PTB untersucht. Es zeigte sich, trollierte Studie gleichwertige Reduktionen der
dass 90% der Patientinnen, die mit 4 Sitzungen Symptome von PTB und Depression bei der Beur-
EMDR behandelt wurden, die Kriterien für eine teilung am Behandlungsende (Ironson et al.,
PTB-Diagnose nicht länger erfüllten; in der War- 2002). In dieser Studie wurden etwa 6 Sitzungen
telisten-Kontrollgruppe waren es dagegen nur langdauernder Konfrontation mit etwa 6 Sitzun-
12%. Der Behandlungserfolg blieb während des gen EMDR verglichen. Die ersten 3 Sitzungen
3-monatigen Nachuntersuchungszeitraums be- verliefen jeweils nach dem gleichen »vorbereiten-
stehen (Rothbaum, 1997). In einer ähnlichen, den« Protokoll, das unter anderem die Anweisun-
aber wesentlich umfangreicheren Studie wurden gen für die Konfrontation in vivo beinhaltete. Ab
80 Traumaopfer, von denen nur etwa die Hälfte der vierten Sitzung verliefen die beiden Behand-
die diagnostischen Kriterien für eine PTB erfüll- lungsformen dann unterschiedlich. Der Behand-
ten, mithilfe von Selbst-Rating-Instrumenten un- lungserfolg wurde in beiden Gruppen während
tersucht (Wilson et al., 1995). Es zeigte sich, dass des 3-monatigen Nachuntersuchungszeitraums
durch 3 EMDR-Sitzungen PTB-Schweregrad, aufrechterhalten. Ironson et al. (2002) schlussfol-
Angst und allgemeines Unbehagen im Vergleich gerten, dass EMDR schnellere Verbesserungen
mit einer Wartelisten-Kontrollgruppe signifikant hervorruft und besser vertragen wird als die
reduziert werden konnten. Bei den Patienten, Konfrontationstherapie.
die mit EMDR behandelt wurden, konnte der Be- Abschließend ist anzumerken, dass mehrere
handlungserfolg während des 15-monatigen Studien darauf hindeuten, dass die schnellen Au-
Nachuntersuchungszeitraums aufrechterhalten genbewegungen für ein Ansprechen auf die Be-
werden (Wilson et al., 1997). handlung nicht von entscheidender Bedeutung
Die erste Studie, in der EMDR mit einer aner- sind (vgl. Cahill et al., 1999). Dies legt nahe, dass
kannt wirksamen Methode zur Behandlung von es sich bei EMDR um eine Variante der Konfron-
PTB verglichen wurde, veröffentlichten Devilly tationstherapie handeln könnte, deren Wirksam-
& Spence (1999); mittlerweile stehen jedoch wei- keit auf den Anweisungen an den Patienten be-
tere Studien kurz vor der Veröffentlichung. In der ruht, an das traumatische Ereignis zu denken
Studie von Devilly & Spence (1999) wurden Pa- und sich dieses vorzustellen.
tienten mit einer PTB randomisiert einer Be-
handlung über 9 Sitzungen mit EMDR oder ei-
nem Traumabehandlungsprotokoll (TBP) zuge- 4.4.3 Wirksamkeit der Kombinations-
teilt. Beim TBP handelt es sich um ein Therapie- programme mit kognitiver Therapie
konzept, das aus einer langdauernden imaginati-
ven und in-vivo-Konfrontation, SIT und kogniti- Die Wirksamkeit von Konfrontationsbehandlung
ver Therapie besteht. Bei der Beurteilung mithilfe und kognitiver Therapie bei weiblichen Opfern
von Selbst-Rating-Instrumenten zeigten die TBP- einer sexuellen oder körperlichen Misshandlung,
Patienten signifikant größere Verbesserungen als die an einer PTB leiden, wurde in 3 anderen Stu-
die EMDR-Patienten - sowohl bei Behandlungs- dien untersucht.
abschluss als auch zum Katamnesezeitpunkt Au- Resick & Schnicke (1992) behandelten in ei-
ßerdem hatte der Behandlungserfolg bei den nem Quasi-Versuchsdesign weibliche Vergewalti-
TBP-Patienten auch bei der Beurteilung am gungsopfer in 12 wöchentlich stattfindenden
Nachuntersuchungszeitpunkt noch Bestand, Gruppensitzungen mit CPT. Behandelte Patientin-
während sich bei den mit EMDR behandelten Pa- nen wurden mit Patientinnen einer Wartelisten-
84 Kapitel 4 · Kognitive Verhaltenstherapie bei posttraumatischen Belastungsstörungen

Kontrollgruppe verglichen, die nicht behandelt handlung von PTB durchgeführt wurden. Bei die-
wurden. Die Zuweisung zu den Gruppen erfolgte sen Studien wurden nicht nur Opfer von Krieg
nicht randomisiert; bei den Patientinnen der War- und sexuellen oder körperlichen Misshandlungen
teliste-Kontrollgruppe wurden zudem nicht die sondern Opfer einer Vielzahl traumatischer Er-
gleichen Messungen wie bei den behandelten Pa- eignisse untersucht, wie z. B. Verkehrsunfälle,
tientinnen durchgeführt. Außerdem wurden viele Verbrechen, Katastrophen, traumatischer Tod ei-
der Beurteilungen von den Therapeuten selbst ner nahestehenden Person etc. In einer Studie
ausgeführt, doch führte dies anscheinend nicht von Markset al. (1998) wurden Patienten mit un-
zu Verzerrungen bei den Einschätzungen. Bei terschiedlichen Traumata, bei denen sich eine
den CPT-Patientinnen kam es nach der Behand- chronische PTB entwickelt hatte, auf eine der fol-
lung zu einer signifikanten Verbesserung der PTB- genden Weisen behandelt:
und Depressionswerte. Diese Verbesserungen - mit einer reinen langdauernden Konfrontati-
konnten auch während des 6-monatigen Nach- on,
untersuchungszeitraums aufrechterhalten wer- - mit einer reinen kognitiven Umstrukturie-
den. Keine der behandelten Patientinnen erfüllte rung,
unmittelbar nach Behandlungsende mehr die - mit einer Kombination aus Konfrontation und
PTB-Kriterien. Zum Katamnesezeitpunkt erhöhte kognitiver Umstrukturierung oder
sich die Zahl jedoch auf 12,5%. - mit einem Entspannungstraining.
In einer anschließenden, randomisierten kon-
trollierten Studie verglichen Resick et al. (2000) Dabei zeigte es sich, dass Konfrontationstherapie,
12 in Einzeltherapie durchgeführte Sitzungen kognitive Umstrukturierung und Kombinations-
CPT mit 9 Sitzungen langdauernder Konfrontati- therapie eine deutliche und ähnliche Wirksam-
onstherapie (in sensu und in vivo). Die vorläufi- keit aufwiesen und der Entspannung überlegen
gen Ergebnisse dieser jüngst abgeschlossenen waren. Beurteilungen, die 3 und 6 Monate nach
Studie, die auf den Daten einer Teilgruppe basie- Behandlungsende durchgeführt wurden, ergaben,
ren, zeigen, dass beide Behandlungsformen eine dass Patienten, die mit der Konfrontationsthera-
hohe und ähnliche Wirksamkeit bei der Verbes- pie behandelt worden waren - sei es als Monothe-
serung der PTB-Symptome aufweisen. Dabei rapie oder in Kombination mit kognitiver Um-
konnte der Behandlungserfolg über einen 9-mo- strukturierung -, im Zeitverlauf eine größere Ab-
natigen Nachuntersuchungszeitraum aufrecht- nahme der PTB-Symptome zeigten als Patienten,
erhalten werden. die nur mit kognitiver Umstrukturierung behan-
Auch in der Studie von Echeburua et al. delt wurden.
(1997) wurden Opfer von sexuellen Misshandlun- Eine weitere Studie verglich die relative Wirk-
gen untersucht, wobei 2 Behandlungsformen mit- samkeit der kognitiven Therapie und der imagi-
einander verglichen wurden: 6 Sitzungen gradu- nativen Konfrontation (d. h. nicht in vivo) bei ei-
elle Konfrontationstherapie bzw. kognitive Um- ner Gruppe von Patienten, deren chronische PTB
strukturierung, die jeweils mit progressivem Ent- in erster Linie von einem Verbrechen oder einem
spannungstraining kombiniert wurden. Es zeigte Verkehrsunfall herrührte (Tarrier et al., 1999).
sich zwar bei beiden Gruppen eine signifikante Insgesamt ergab sich, dass die imaginative Kon-
Verbesserung bei den Messungen für PTB, Angst frontation und die kognitive Therapie eine ähnli-
und Depression, doch waren die Verbesserungen che, signifikante Wirksamkeit bei der Verbesse-
in der Konfrontationsgruppe signifikant größer. rung der PTB-Schwere aufwiesen. Zwar fand sich
Dieser Gruppenunterschied konnte bei jedem nach Behandlungsende in der Konfrontations-
der verschiedenen Beurteilungen während des gruppe eine höhere Anzahl von Patienten, bei de-
12-monatigen Nachuntersuchungszeitraums fest- nen es zu einer Symptomverschlechterung ge-
gestellt werden. kommen war (9 von 12), doch verschwand dieser
Die zuvor beschriebenen positiven Ergebnis- Unterschied beim Nachuntersuchungszeitpunkt
se wurden auch durch Studien bestätigt (vgl. nach 6 Monaten. Bei den übrigen Messungen
Markset al. 1988), die in anderen Zentren zur Be- zur klinischen Verbesserung, wie z. B. Prozent-
4.5 · Therapeutische Überlegungen 85 4
anteil mit PTB-Diagnose, fehlende klinische Der Nachuntersuchungszeitraum in Studien zur
Probleme und Rückkehr an den Arbeitsplatz, er- Bewertung des Behandlungserfolgs von Techni-
gaben sich keine signifikanten Unterschiede zwi- ken der kognitiven Verhaltenstherapie reicht
schen den Gruppen. Dabei zeigten im Vergleich von 3 bis zu 12 Monaten. Dabei zeigte es sich,
mit der kognitiven Therapie tendenziell mehr Pa- dass der Behandlungserfolg aufrechterhalten
tienten in der Konfrontationsbedingung eine Ver- wird und in einigen Fällen im Zeitverlauf sogar
besserung. noch zunimmt. Dies trifft insbesondere auf Be-
Blanchard et al. (2003) untersuchten in ihrer handlungsverfahren zu, bei denen die Konfronta-
kontrollierten Studie Opfer von Verkehrsunfällen, tion angewandt wird - sei es ausschließlich oder
die an einer chronischen PTB litten. Die Patien- in Kombination mit anderen Techniken. Einige
ten, die mit einer Kombination aus imaginativer Belege deuten darauf hin, dass eine reine Kon-
und in-vivo-Konfrontation, kognitiver Therapie frontationstherapie die effizientere Behandlungs-
und Entspannung behandelt wurden, zeigten methode ist. Patienten, die mit langdauernder
größere Verringerungen von PTB-Schweregrad, Konfrontation behandelt wurden, wiesen signifi-
Depression und generalisierter Angst als die Pa- kante Verringerungen der PTB-Symptome nach
tienten, die randomisiert einer unterstützenden weniger Sitzungen auf als Patienten, die mit Kon-
Psychotherapie oder einer Wartelisten-Kontroll- frontation plus kognitiver Therapie behandelt
gruppe zugeordnet waren. wurden.
Vor 10 Jahren hatten wir noch erwartet, dass
Kombinationstherapien aus Konfrontation und
4.4.4 Zusammenfassende Bewertung Angstbewältigungsverfahren am wirksamsten
sein würden. Diese Erwartung konnte jedoch
Outcomestudien, in denen verschiedene Formen durch die Ergebnisse aus zahlreichen Studien
der kognitiven Verhaltenstherapie bei der Be- nicht erhärtet werden. Eine Aufgabe zukünftiger
handlung der chronischen PTB untersucht wur- Forschung besteht darin festzustellen, ob die Be-
den, haben eindeutig die Wirksamkeit mehrerer handlungserfolge der langdauernden Konfronta-
Interventionsformen belegt, PTB-Symptome, De- tionstherapie wirklich von größerer Dauer und
pression und Angst zu verbessern. Studien, in de- Wirksamkeit sind, so wie es die Ergebnisse meh-
nen Konfrontation, kognitive Therapie, Stress- rerer Studien nahe legen.
impfungstraining und Kombinationen dieser In-
terventionen verglichen wurden, erbrachten im
Allgemeinen deutliche und gleichwertige Be- 4.5 Therapeutische Überlegungen
handlungserfolge. Dies konnte bei verschiedenen
Gruppen von Traumaopfern - weibliche Opfer se- Die kognitiv-verhaltenstherapeutischen Techni-
xueller oder körperlicher Misshandlungen, Ver- ken sind sehr wirksam in der Verringerung der
brechensopfer, Opfer von Verkehrsunfällen und Schwere von PTB - auch wenn einige Patienten
Kriegsveteranen - gezeigt werden. Dabei ergaben keinen Nutzen aus der Behandlung ziehen und
sich folgende Einschränkungen: bei anderen einige Symptome bestehen bleiben.
- Der Behandlungserfolg bei den mit Konfron- Zwar sind sowohl die langdauernde Konfrontati-
tationstherapie behandelten Kriegsveteranen fiel on als auch die Angstbewältigungsverfahren hilf-
im Vergleich zu anderen Traumagruppen im All- reich, doch darf man dabei nicht übersehen, dass
gemeinen eher bescheiden aus. alle aufgeführten Studien von erfahrenen Thera-
- Die meisten Belege für das Stressimpfungs- peuten durchgeführt wurden, welche die Gefah-
training (SIT) stammen aus Studien mit weibli- ren einer Therapie erkennen und imstande sind,
chen Opfer sexueller oder körperlicher Miss- diese zu überwinden. Einige dieser Fallstricke
handlung, so dass unklar ist, ob sich die Ergeb- und Gegenmaßnahmen werden im Folgenden
nisse auf Männer oder andere Traumapopulatio- diskutiert.
nen übertragen lassen. Bei einer Konfrontationsbehandlung lassen
sich PTB-Patienten verständlicherweise oftmals
86 Kapitel 4 · Kognitive Verhaltenstherapie bei posttraumatischen Belastungsstörungen

nur widerstrebend auf das Wiedererleben ihres davon überzeugt ist, dass kurzzeitiges Leiden
Traumas ein. Schließlich besteht ein wesentliches langanhaltenden Nutzen nach sich zieht. Diese
Merkmal dieser Störung in der mühsamen Ver- Überzeugung muss er dem Patient vermitteln.
meidung und Betäubung, also der Tendenz, einer Es ist außerdem unumgänglich, dass der Thera-
Beschäftigung mit der traumatischen Erinnerung peut gewillt ist, sich die schrecklichen Begeben-
auszuweichen. Nach unserer Erfahrung brachen heiten anzuhören, die der Patient ihm bei der
Patienten, die der langdauernden Konfrontation Schilderung seines traumatischen Erlebnisses
randomisiert zugeteilt waren, die Behandlung vermitteln wird. Manchmal ist es für den Thera-
nicht häufiger ab als Patienten, die dem Angst- peuten hilfreich, sich mit Kollegen aus anderen
bewältigungsprogramm zugewiesen wurden. psychosozialen Berufen auszutauschen, um diese
Möglicherweise lag dies daran, dass wir ihnen ei- Informationen verarbeiten zu können (s. Kap. 2;
ne sorgfältig ausgearbeitete Begründung (Thera- Hembree et al., 2003, im Druck).
pierationale) anboten, warum sie sich auf dieses Einige Patienten lassen sich nur widerstre-
zeitlich begrenzte Leiden einlassen sollten. Im bend auf das Wiedererleben ihres Traumas ein,
Folgenden wird die Therapierationale zusam- auch wenn sie von der Notwendigkeit überzeugt
mengefasst. sind. Dies dürfte insbesondere dann zutreffen,
wenn Dissoziation ein Problem darstellt. Mehrere
f) Beispiel Sitzungen des Angstbewältigungstrainings
»Es ist nicht leicht. schmerzhafte Erfahrungen zu können dabei helfen, diesen Widerwillen zu
verdauen. Wenn Sie an das Trauma denken oder überwinden. In dieser Hinsicht bietet die Korn-
daran erinnert werden, verspüren Sie vielleicht binationstherapie aus Konfrontation und dem Er-
starke Angst oder andere negative Gefühle, die lernen von Bewältigungstechniken den Leiden-
damit verbunden sind. Es ist unangenehm, so zu den die besten Möglichkeiten, die starke Belas-
empfinden; daher neigen die meisten Menschen tung und Angst zu bewältigen, während sie
dazu, Angst erregende, schmerzliche Erinnerun- gleichzeitig lernen, die gefürchteten Erinnerun-
gen von sich zu schieben oder zu ignorieren. An- gen und Angstreize zu konfrontieren. Es könnte
dere Personen beeinflussen Sie vielleicht dahin- sich für den Therapeuten außerdem als erforder-
gehend, nicht darüber zu reden oder daran zu lich erweisen, Konfrontationstechniken kreativ
denken. Leider bewirkt das Ignorieren eines trau- anzuwenden, z. B. den Patienten aufzufordern,
matischen Ereignisses nicht dessen Verschwinden. das Erlebnis wiederzugeben, als wäre es in Zeitlu-
Häufig kehrt das Ereignis zurück und quält Sie in pe abgelaufen oder nur auf innere Empfindungen
Alpträumen, Rückblenden, Phobien oder auf an- und Gedanken zu achten.
dere Weise, weil es eine >unvollendete Angele- Bei der Durchführung der Konfrontation soll-
genheit<ist. ln dieser Behandlung werden wir das te es der Therapeut dem Patienten gestatten, sich
Gegenteil von unserer Tendenz zur Vermeidung der traumatischen Erinnerung allmählich zu nä-
tun. Wir werden Ihnen helfen, die Erfahrung zu hern, wenn dieser zum ersten Mal versucht, diese
verarbeiten, indem wir Sie dazu veranlassen, sich erneut zu durchleben. Es ist wichtig, dass der Pa-
an das Geschehene zu erinnern und so lange tient das Gefühl erlebt, den Vorgang des Erin-
dabei zu verweilen, bis Sie sich stärker daran nerns der mit dem Trauma verbundenen Empfin-
gewöhnt haben. Das Ziel ist es, Sie in die Lage zu dungen kontrollieren zu können. Während der
versetzen, diese Gedanken zuzulassen, über das ersten imaginativen Konfrontation sollte es dem
Trauma zu sprechen oder damit verbundene Hin- Patienten erlaubt sein, die Genauigkeit, mit der
weise betrachten zu können, ohne jene intensive er das Erlebte schildert, selbst zu bestimmen. In
Angst zu erleben, die Ihr Leben stört.«
den nachfolgenden Sitzungen ist der Patient zu
ermutigen, das Ereignis detaillierter zu erzählen,
Oftmals fühlen sich Therapeuten unwohl dabei, um die emotionalen und körperlichen Reaktio-
eine Behandlungsmethode anzuwenden, die beim nen zu prüfen, die mit dem Trauma verbunden
Patienten intensiven emotionalen Schmerz sind.
auslöst. Es ist daher wichtig, dass der Therapeut
4.5 · Therapeutische Überlegungen 87 4
Hause nehmen können und sie sich dort als
Der Therapeut sollte die Sitzung nach der Hausaufgabe anhören können. Während Sie das
imaginativen Konfrontation nicht beenden, wenn Trauma wieder erleben, werde ich Sie von Zeit zu
der Patient unter starker Angst leidet. Die Thera- Zeit nach der Stärke Ihrer Angst fragen und Sie
piesitzungen sind so zu planen, dass am Ende bitten, diese auf der SUDS-Skala (Subjective Units
ausreichend Zeit bleibt, das Ausmaß des Unbe- of Distress) von 0- 100 einzuordnen. Dabei be-
hagens beim Patienten beurteilen zu können. Es deutet >0< keine Angst oder Unbehagen zu haben
ist überaus wichtig, den Patienten zu ermutigen, und >100< bedeutet panikartige Angst zu spüren.
seine Reaktionen auf das Wiedererleben des Bitte antworten Sie schnell und ohne das Bild zu
Traumas zu verarbeiten und neue Einzelheiten verlassen. Haben Sie noch Fragen, bevor wir be-
und Assoziationen, die dabei auftreten, zu be- ginnen?«
sprechen. Atemübungen nach der imaginativen
Konfrontation können hilfreich sein, den
Schmerz zu reduzieren. Möglicherweise sollte Wir empfehlen, die gesamten 60 Minuten für die
der Therapeut telefonisch verfügbar sein, um imaginative Konfrontation zu nutzen. Wenn der
mit dem Patienten zwischen den Sitzungen spre- Patient 15 Minuten benötigt, um sein traumati-
chen zu können, falls sich die imaginativen oder sches Ereignis wiederzugeben, dann sollte er
in-vivo-Konfrontationsübungen als extrem belas- oder sie gebeten werden, das Erlebnis erneut
tend erweisen. Die Patienten sind dahingehend von Anfang bis Ende zu schildern und es ins-
zu informieren, dass es normal ist, am Anfang gesamt 4 Mal zu erzählen. Werden 20 Minuten
das Gefühl zu haben, es würde ihnen schlechter benötigt, so soll das Trauma 3 Mal geschildert
gehen - womöglich denken sie häufiger an das werden, und so weiter. Die folgenden Aussagen
Trauma und erleben mehr Symptome. Die nach- helfen dabei, den Patienten während der Kon-
folgende Erklärung wird den Patienten vor der frontation zu ermutigen:
imaginativen Konfrontation gegeben.
f) Beispiel Beispiele für die Patienten ermutigende
»Ich werde Sie auffordern, sich an das traumati- Aussagen
sche Ereignis zu erinnern. Für Sie ist es dabei am
»Sie machen das sehr gut, bleiben Sie bei
besten, die Augen zu schließen, so dass Sie nicht dem Bild.«
abgelenkt sind und sich diese Ereignisse vor Ihrem
»Das haben Sie sehr gut gemacht. Es hat
inneren Auge vorstellen können. Ich werde Sie einigen Mut gebraucht, dies durchzuhal-
bitten, sich an diese schmerzlichen Erinnerungen
ten, obwohl Sie starke Angst hatten.«
so deutlich wie möglich zu erinnern. Wir nennen
»Ich weiß, es ist schwierig. Sie machen es
dies Wiedererleben. Ich möchte nicht, dass Sie mir
sehr gut.«
eine Geschichte über das Trauma in der Vergan -
»Bleiben Sie bei dem Bild, Sie sind hier
genheitsform erzählen. Was ich von Ihnen möchte,
sicher.«
ist, dass Sie das Trauma in der Gegenwartsform
»Fühlen Sie sich sicher und lassen Sie sich
schildern, als würde es gerade jetzt und genau hier
gehen.«
geschehen. Ich möchte, dass Sie die Augen
schließen und mir erzählen, so genau wie Sie sich
erinnern können, was während des traumatischen
Ereignisses geschah. Wir werden dies gemeinsam
bearbeiten. Wenn Sie beginnen, sich zu unbe-
haglich zu fühlen, und weglaufen möchten oder
dem Trauma ausweichen möchten, indem Sie das
Bild verlassen, werde ich Ihnen helfen, dabei zu
bleiben. Wir werden die Schilderung auf Band
aufnehmen, so dass Sie die Kassette mit nach
...
88 Kapitel 4 · Kognitive Verhaltenstherapie bei posttraumatischen Belastungsstörungen

Die folgenden Fragen können eine Konfrontation an den stinkenden Kern kommen - und dann
mit Angst auslösenden Reizen während der ima- würde es nicht mehr stinken.
ginativen Exposition erleichtern:

4.6 Frühinterventionen
Fragebeispiele, die die Konfrontation
mit der Angst erleichtern können In den meisten Studien, die die Wirksamkeit der
»Was empfinden Sie gerade?« kognitiven Verhaltenstherapie untersuchten, wur-
»Was denken Sie im Moment?<< den Opfer behandelt, deren Trauma mindestens 3
»Spüren Sie irgendwelche körperlichen Monate zurücklag. Dadurch sollte sichergestellt
Reaktionen? Beschreiben Sie sie.« werden, dass nach der Behandlung auftretende
»Was empfinden Sie mit Ihrem Kö rper?« Veränderungen durch die Intervention und nicht
»Was sehen/riechen/machen Sie jetzt?« durch spontane Heilung im Laufe der Zeit ver-
»Wo spüren Sie das in Ihrem Körper?« ursacht wurden.
Im klinischen Bereich muss eine Behandlung
nicht aufgeschoben werden; es ist normal, dass
Nach etwa 60 Minuten imaginativer Konfrontati- Traumaopfer gleich in den ersten Wochen nach
on beendet der Therapeut die Übung, indem er dem traumatischen Ereignis Störungen aufwei-
den Patienten auffordert, die Augen zu öffnen sen. In manchen Fällen haben Gespräche über
und mehrere Atemzüge zu machen. Es wird über die Normalität dieser Reaktionen therapeuti-
die Erfahrung, das Trauma wiederzuerleben, ge- schen Nutzen. Einige Therapiesitzungen können
sprochen: dafür schon ausreichend sein. Ausgehend von
- Sind dem Patienten Dinge in den Sinn gekom- Studien zur Frühintervention bei frischem Trau-
men, an die er sich zuvor nicht erinnern ma empfehlen wir jedoch ausdrücklich die Opfer
konnte? zu ermutigen, unmittelbar nach dem traumati-
- War es leichter oder schwieriger, als der Pa- schen Ereignis auf das ihnen vertraute unter-
tient es sich vorgestellt hatte? stützende Umfeld und ihre natürlichen Ressour-
- Gab es etwas, was der Therapeut hätte tun cen zurückzugreifen. Wenn aufgrund der Schwe-
können, um zu helfen? re der Reaktion innerhalb der ersten beiden Mo-
nate nach dem traumatischen Ereignis eine the-
Der Therapeut muss das Vertrauen vermitteln in rapeutische Intervention angezeigt ist, sollte
der Lage zu sein, mit allen möglicherweise auf- mehr als eine Sitzung erfolgen; empfohlen wer-
tretenden Schwierigkeiten fertig zu werden und den 3-5 Sitzungen. In einer Studie zur Frühinter-
dem Patienten dabei zu helfen. In vielen Fällen vention nach dem traumatischen Erlebnis einer
haben die Patienten Angst vor den Erinnerungen, Vergewaltigung zeigte es sich im Vergleich mit ei-
die sich während der imaginativen Konfrontation ner Kontrollgruppe, dass 4 Sitzungen - bestehend
einstellen, und benötigen das Gefühl der Sicher- aus Informationen über posttraumatische Reak-
heit. Es ist hilfreich ihnen zu sagen, dass - unab- tionen, Entspannung, dem Wiedererleben des
hängig davon, an was sie sich erinnern - dies Traumas und kognitiver Umstrukturierung -
nichts an dem ändert, was geschehen ist. Die Pa- von großem Nutzen dabei waren, die Entstehung
tienten haben überlebt, und daher offensichtlich einer chronischen PTB und einer Depression zu
das zum Überleben Richtige getan. verhindern (Foa et al., 1995a).
Wir haben bisher noch keinen Patienten be-
handelt, der die Einzelheiten, an die er sich wäh-
rend der imaginativen Konfrontation erinnert
hat, nicht bewältigen konnte. Einer unserer Pa-
tienten beschrieb die Sitzungen der Konfrontati-
onstherapie, als würde man eine Schicht von ei-
ner Zwiebel schälen und nach einigen Sitzungen
Literatur 89 4
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90 Kapitel 4 • Kognitive Verhaltenstherapie bei posttraumatischen Belastungsstörungen

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5

R. Steil, A. Ehlers, D. M. Clark

5.1 Ein kognitives Modell der Aufrechterhaltung


posttraumatischer Symptomatik - 92
5.1.1 Kognitive Vermeidung bei der posttraumatischen
Belastungsstörung - 93
5.1.2 Die Rolle der persönlichen Bedeutung und Interpretation
posttraumatischer Intrusionen - 94

5.2 Ansatzpunkte einer kognitiven Behandlung


der posttraumatischen Belastungsstörung - 95
5.2.1 Behandlungsziele - 95
5.2.2 Wichtige Aspekte zu Beginn der Behandlung - 96
5.2.3 Diagnostik der Bedingungen, die die posttraumatische
Symptomatik aufrechterhalten - 96
5.2.4 Wichtige Aspekte am Ende der ersten Therapiesitzung - 100
5.2.5 Weiterer Behandlungsverlauf - 102

5.3 Abschließende Bemerkungen - 104

Literatur - 104
92 Kapitel 5 · Kognitive Aspekte bei der Behandlung der posttraumatischen Belastungsstörung

Nach einem traumatischen Erlebnis entwickeln Symptome fand man, dass in den ersten Tagen
die meisten Personen für einige Zeit Symptome und Wochen nach einem Trauma generell sehr
der posttraumatischen Belastungsstörung, je- viele Gedanken und Erinnerungen daran auftra-
doch gesunden viele im Laufe der nächsten Mo- ten (vgl. z. B. Rothbaum et al., 1992; Winter,
nate auch ohne professionelle Hilfe. Bei einer Un- 1996).
tergruppe kommt es zu einem chronischen Ver-
lauf. In diesem Kapitel soll ein kognitives Modell
der Aufrechterhaltung posttraumatischer Symp-
Das Auftreten von Intrusionen kurz nach der
tome beschrieben werden, das als Grundlage kog-
Traumatisierung ist also Teil des normalen
nitiver Interventionen dienen soll.
Verarbeitungsprozesses und kann nicht als
Ergebnisse zur Rolle einer negativen persön- pathologisches Phänomen gewertet werden.
lichen Bedeutung des Traumas und seiner Kon- Wichtig ist die Beobachtung, dass manche
sequenzen sowie kognitiver Formen der Vermei- Personen nach einem Trauma unter stark be-
dung von Erinnerungen und Gedanken an das lastenden Erinnerungen oder Gedanken an
Trauma bei der Aufrechterhaltung posttraumati- das Trauma leiden, während andere zwar Er-
scher Symptomatik lassen eine spezifisch zuge- innerungen an das Trauma haben, diese aber
schnittene kognitive Behandlung der PTB erfolg- als nicht belastend erleben (Shalev, Schreiber
versprechend erscheinen. Im Zentrum unseres & Galai, 1993; Steil, 1996).
kognitiven Modells der Aufrechterhaltung post-
traumatischer Symptome stehen Interpretationen
und die persönliche Bedeutung des Traumas und Erlebt ein Betroffener nach einem Trauma seine
seiner Folgen für die Betroffenen, die zusammen Erinnerungen oder Gedanken daran als sehr be-
mit Erinnerungen an das Trauma (posttraumati- lastend, so ist zu erwarten, dass er versucht, die-
sche Intrusionen) aktiviert werden sowie Strate- sem Zustand zu entkommen, d. h. aktiv zur Been-
gien kognitiver Vermeidung. digung der Gedanken und Erinnerungen bei-
Verschiedene Forschergruppen konnten be- zutragen. Nur wenn ein Betroffener Intrusionen
reits zeigen (so z. B. Foa et al., 1991; Resick & als belastend erlebt, ist das Entstehen einer PTB
Schnicke, 1992), dass eine kognitiv-verhaltens- zu erwarten. Dies ist konsistent mit der Beobach-
therapeutisch orientierte Behandlung der PTB er- tung, dass z. B. bei Verkehrsunfallbeteiligten das
folgreich ist. Die hier vorgestellten Ideen sollten initiale Ausmaß sehr belastender Intrusionen
daher als Vorschläge zur Ergänzung dieser schon die Schwere der PTB-Symptomatik nach 12 Mona-
bestehenden und evaluierten Behandlungspro- ten vorhersagen konnte (Mayou, Bryant & Duthie,
gramme verstanden werden. Neu an unseren In- 1993).
terventionsvorschlägen ist, dass eine mögliche Obwohl es die unterschiedlichsten theoreti-
dysfunktionale Bedeutung und Interpretation schen Modelle zur Entstehung der PTB gibt, sind
der intrusiven Erinnerungen an das Trauma so- sich die Autoren jeweils darin einig, dass der Ver-
wie aufrechterhaltende Mechanismen kognitiver meidung von traumabezogenen Reizen eine zen-
Vermeidung genauestens erfasst und modifiziert trale Rolle bei der Aufrechterhaltung der Störung
werden. zukommt (vgl. Chembtob et al., 1988; Foa, Steke-
tee & Rothbaum, 1989; Horowitz, 1976; Jones &
Barlow, 1990; Keane, Zirnering & Caddell, 1985;
5.1 Ein kognitives Modell van der Kolk & van der Hart, 1991). Die Vermei-
der Aufrechterhaltung dung verhindert eine angemessene emotionale
posttraumatischer Symptomatik Verarbeitung der traumatischen Erlebnisse sowie
eine Habituation an die traumatischen Erinne-
Intrusive Erinnerungen an das traumatische Er- rungen. Die Überprüfung und/oder Veränderung
eignis sind ein prominentes Symptom der PTB kritischer Kognitionen in Bezug auf das Trauma
- sie unterscheiden sie von allen anderen Angst- wird erschwert oder unmöglich gemacht. Ver-
störungen. In Studien zum Verlauf der PTB- meidung kann auf der Ebene der Kognitionen
5.1 · Ein kognitives Modell der Aufrechterhaltung posttraumatischer Symptomatik 93 5
und der Ebene des Verhaltens beobachtet werden. die es sich bezieht, führt. Grübeln verknüpft die
Aktivitäten, die auf die Vermeidung oder Beendi- damit verbundenen Gedanken mit einer Vielzahl
gung von bestimmten kognitiven Inhalten zielen, von Reizen und erleichtert so deren Abrutbarkeit.
wurden in Studien zu intrusiven Phänomenen bei
anderen Angststörungen (wie z. B. der Zwangs- Wirkung kognitiver Vermeidung. Möglicherweise
störung) untersucht. Sie zeigen eine paradoxe erlebt das Individuum die paradoxen Effekte
Wirkung, indem sie die Wahrscheinlichkeit, dass der kognitiven Vermeidung als beängstigend.
der Zielgedanke auftritt, erhöhen statt ernied- Auf diese Weise können diese Strategien zur Auf-
rigen (vgl. z. B. Salkovskis & Kirk, 1989). In expe- rechterhaltung der Belastung durch die posttrau-
rimentellen Studien konnte gezeigt werden, dass matischen Intrusionen beitragen (im Sinne von
z. B. bei dem Versuch, bestimmte Gedanken zu »Obwohl ich alles tue, um diese belastenden Er-
unterdrücken, diese um so häufiger unwillentlich innerungen loszuwerden, kommen sie immer
auftreten (Salkovskis & Campbell, 1994; Lavy & und immer wieder!«).
van den Hout, 1994).

Beachtenswert ist, dass das Ausmaß der


Anwendung von Kontrollstrategien, wie
5.1.1 Kognitive Vermeidung
Gedankenunterdrückung oder Grübeln, direkt
bei der posttraumatischen
verknüpft sein kann mit den Symptomen eines
Belastungsstörung
erhöhten körperlichen Erregungsniveaus,
wie z. B. Störungen des Schlafes oder der
Exzessives Grübeln
Konzentration.
Die vermutlich häufigste Form kognitiver Ver-
meidung bei der PTB ist die Unterdrückung als
unangenehm erlebter Gedanken oder Erinnerun- Exzessiver Ärger und Wut
gen, indem der Patient sich ablenkt. Viele PTB- als Ausdruck kognitiver Vermeidung
Patienten berichten auch, exzessiv über bestimm-
te Aspekte des traumatischen Ereignisses nach- Eine andere, subtilere Form von Vermeidung
zugrübeln. Besonders häufig scheint dabei die stellt die Umlenkung der durch die Erinnerung
Beschäftigung mit der Frage zu sein, warum an das Trauma ausgelösten negativen Emotionen
das Trauma ausgerechnet einen selber traf der Hilflosigkeit und überwältigenden Furcht in
(»Why-me-Frage«). Auch exzessives Grübeln exzessiven Ärger und Wut dar - Emotionen, die
über mit dem Trauma verknüpfte Inhalte wird vielleicht als sozial akzeptabler und weniger
als eine Strategie kognitiver Vermeidung disku- schmerzhaft erlebt werden. Damit konsistent sind
tiert: Der Fokus des Grübeins liegt eher auf Ereig- Befunde der Forschergruppe um Foa, die fanden,
nissen, die um das Trauma herum gruppiert sind dass Frauen, die nach einer Vergewaltigung an
und so die mit dem Trauma verbundenen Emo- PTB litten, besonders wenig von einer Expositi-
tionen nicht aktivieren. Borkovec & Inz (1990) onsbehandlung der Störung profitierten, wenn
diskutieren im Kontext der generalisierten Angst- sie intensive Wut und Ärger in Bezug auf den Tä-
störung, dass Grübeln als vorwiegend verbale Tä- ter empfanden (Foa et al., 1995). Von Patienten
tigkeit zur Vermeidung unangenehmer körperli- beschrieben wurde auch die Veränderung von
cher und emotionaler Reaktionen auf spezielle durch traumabezogene Reize ausgelöster körper-
Bilder dienen kann. Grübeln tritt an die Stelle be- licher Erregung in sexuelle Erregung und sexuel-
lastenderer kognitiver Aktivität. Wells (1994) ver- le Aktivität (Beispiel: Der Patient masturbiert als
mutet, dass Grübeln auf zwei Arten zur Erhöhung Reaktion auf das Auftreten traumarelevanter Er-
der Häufigkeit intrusiver Bilder beiträgt: Er pos- innerungen). Weitere Strategien zur Vermeidung
tuliert, dass Grübeln neben einer Blockierung der und Kontrolle der Erinnerungen können der Ge-
emotionalen Verarbeitung belastender Ereignisse brauch von Alkohol oder anderen Drogen sein.
zu einer spezifischen Markierung der Inhalte, auf
94 Kapitel 5 · Kognitive Aspekte bei der Behandlung der posttraumatischen Belastungsstörung

5.1.2 Die Rolle der persönlichen Strategien zur Folge (>>Wenn ich nachallder Zeit
Bedeutung und Interpretation immer noch so heftig auf diese Erinnerungen
posttraumatischer Intrusionen reagiere, dann kann doch etwas mit mir ernsthaft
nicht stimmen!«).
Welche Faktoren bestimmen den Grad der Belas- Bisher wurde hauptsächlich die Rolle der In-
tung durch Erinnerungen und Gedanken an das terpretation von Symptomen der Erregung dis-
Trauma? Studien zeigten, dass die Schwere der kutiert. Wir stellen bei der Betrachtung PTB-spe-
Exposition im Sinne der Verletzungsschwere, zifischer Kognitionen die Bedeutung und Inter-
Zeugenschaft von grausamem Tod oder Verlet- pretation der Intrusionen in den Mittelpunkt.
zung und die Lebensbedrohlichkeil des Ereignis-
ses die Entwicklung von posttraumatischer
Symptomatik beeinflussten (vgl. z. B. Creamer,
Es ist zu erwarten, dass bei der PTB die ne-
Burgess & Pattison, 1992; Yehuda, Southwick & gative Bedeutung posttraumatischer Intrusio-
Giller, 1992). Inwieweit diese Faktoren auch für nen die subjektive Belastung vermittelt und so
die langfristige Aufrechterhaltung der Sympto- den Grad der Vermeidung bestimmt, mit der
matik von Bedeutung sind, ist noch nicht geklärt. das Individuum auf Erinnerungen oder Ge-
danken an das Trauma reagiert. Mit dem
Trauma verknüpfte und beim Auftreten von
Intrusionen aktivierte negative Bedeutungen
Es ist wahrscheinlich, dass posttraumatische
Intrusionen als um so belastender wahr- wie »Mein Leben ist ruiniert« oder »Es ist alles
meine Schuld« erhöhen die Belastung, die die
genommen werden, je dramatischer ihr Inhalt
ist. Unwahrscheinlich ist jedoch, dass allein die Betroffenen beim Auftreten traumatischer Er-
innerungen empfinden. Die negative Bedeu-
Schwere eines Traumas verantwortlich ist für
tung der Erinnerungen erhöht möglicherweise
die Entwicklung einer chronischen PTB.
die Aufmerksamkeit für deren Auftreten und
so die Wahrscheinlichkeit, dass genau diese
Autoren kognitiver Modelle der Aufrechterhal- Erinnerungen sich wieder und wieder einstel-
tung anderer Angststörungen, wie z. B. der Panik- len (vgl. Salkovskis & Campbell, 1994).
störung oder der Zwangsstörung, postulieren,
dass für das Ausmaß der Belastung der Betroffe-
Die Belastung durch posttraumatische Intrusio-
nen durch spezifische Symptome deren Interpre-
nen sollte mit einer Reihe von körperlichen
tation von zentraler Bedeutung ist. Katastrophi-
Symptomen, wie einer Erhöhung der Erregung,
sierende Interpretationen oder negative persön-
verknüpft sein. Diese wiederum kann u. U. als in-
liche Bedeutungen der Symptome vermitteln
nerer Auslöser für das Auftreten weiterer Intru-
den Grad der Vermeidung, mit dem das Individu-
sionen wirken und so zur kurzfristigen Aufrecht-
um auf die Symptome reagiert. Auf diese Weise,
erhaltung der Intrusionen beitragen.
so wird angenommen, tragen sie zur Aufrecht-
Zusammenfassend postulieren wir, dass die
·erhaltung der Störung bei (Clark, 1986; Ehlers,
negative Bedeutung der Intrusionen und des
Margraf & Roth, 1988; Salkovskis & Kirk, 1989;
Traumas das Ausmaß der mit den Intrusionen
Wells, 1995). Analog hierzu haben verschiedene
verknüpften Belastung bestimmt sowie das Aus-
Autoren vorgeschlagen, eine möglicherweise dys-
maß der Vermeidung, mit der das Individuum
funktionale Interpretation der PTB-Symptome zu
auf die Intrusionen reagiert. Ferner nehmen wir
beachten (vgl. Foa et al., 1989; Foa & Riggs, 1993;
an, dass die Bedeutung der Intrusionen mit
Jones & Barlow, 1990; Peterson et al., 1991). So
Symptomen körperlicher Erregung verknüpft ist.
erhöht möglicherweise eine katastrophisierende
a Abbildung 5.1 verdeutlicht die Rolle der negati-
Interpretation des üblicherweise mit den Intru-
ven Bedeutung der Intrusionen für die langfristi-
sionen einhergehenden Anstiegs der körperli-
ge Aufrechterhaltung der PTB.
chen Erregung die Belastung durch die Intrusio-
nen und hat den Einsatz kognitiver Vermeidungs-
5.2 · Ansatzpunkte einer kognitiven Behandlung 95 5

Posttraumatische
Intrusionen

Langfristige und Kunfristige


kunfristige Aufrechterhaltung
Aufrechterhaltung
Persönliche
Bedeutung des Traumas
und de•· Intrusionen

.--------------,
Kognitive und
behaviorale
II ~ .--------------.
Belastung durch
lnt•·usioncn,
Vermeidung Erregung

D Abb. 5.1. Modell zur Bedeutung von Kognitionen


bei der Aufrechterhaltung posttraumatischer Symptomatik

Gestützt wird das Modell durch eine Reihe 5.2 Ansatzpunkte einer kognitiven
von empirischen Ergebnissen aus verschiedenen Behandlung der posttraumatischen
Studien. So konnten Ehlers & Steil (1995) in Stu- Belastungsstörung
dien an Unfallbeteiligten zeigen, dass das Aus-
maß im Kontext posttraumatischer Erinnerungen 5.2.1 Behandlungsziele
auftretender dysfunktionaler Kognitionen be-
deutsam positiv mit der PTB-Symptomatik asso-
ziiert war. Bedeutsam waren z. B. eine katastro-
Ziel einer Behandlung der PTB, die auf dem
phisierende Interpretation der Intrusionen im
oben beschriebenen Modell fußt, ist die Ve-
Sinne von »Jetzt werde ich auch noch verrückt«
ränderung negativer Bedeutung des Traumas
sowie allgemein katastrophisierende Interpreta-
und seiner Folgen hin zu einer realistischeren
tionen des Ereignisses wie »Mein Leben ist rui-
bzw. hilfreicheren Einstellung zu dem Erlebten
niert« oder »Ich werde nie darüber hinwegkom-
sowie der Abbau des vermeidenden Umgangs
men«. Das Ausmaß kognitiver Formen der Ver-
der Betroffenen mit traumabezogenen Reizen
meidung, wie z. B. das Wegdrängen von un-
und den Intrusionen.
erwünschten Gedanken, und das Ausmaß des
Grübeins war ebenfalls bedeutsam positiv mit
der PTB-Symptomatik verknüpft (Ehlers & Steil, Hierzu ist zunächst eine detaillierte und ausführ-
1995; Morgan et al., 1995). Eine ausführliche Dar- liche Erhebung der Zusammenhänge zwischen
stellung der empirischen Ergebnisse findet sich dem Auftreten von Intrusionen, damit verbunde-
bei Steil ( 1996). nen Kognitionen und Gefühlen und der Reaktion
der Betroffenen auf diese Kognitionen und
Gefühle notwendig. Zusammen mit dem Patien-
ten werden Verknüpfungen zwischen verschiede-
nen Aspekten intrusiver Erfahrung und den Re-
96 Kapitel 5 · Kognitive Aspekte bei der Behandlung der posttraumatischen Belastungsstörung

aktionen des Patienten erarbeitet, um zu de- Vielleicht hat der Patient am Ende der Behand-
monstrieren, wie Gedanken zur Bedeutung des lung genauso häufig Erinnerungen an das Trau-
Traumas und seiner Folgen und das Ausmaß ver- ma wie zu Beginn. Angestrebt wird, dass er sie
meidender Handlungen zur Aufrechterhaltung aber nicht mehr als aversiv erlebt und nicht mehr
der posttraumatischen Symptome beitragen. mit Vermeidung auf sie reagiert. Um die Verän-
derung der Belastung durch die Intrusionen zu
erfassen, empfiehlt es sich, zu Beginn jeder Sit-
5.2.2 Wichtige Aspekte zu Beginn zung den Grad der Belastung während der letzten
der Behandlung Woche mit Hilfe einer Einschätzung auf einer
Skala, z.B. von 0 = gar keine Belastung bis 100
Auch wenn der Schwerpunkt der vorgeschlage- =extreme Belastung, zu erheben. Diese Einschät-
nen Intervention auf kognitiver Ebene liegt, so zung kann als Erfolgsmaß dienen, um den Ver-
ist dennoch eine imaginale Konfrontation der Pa- lauf der Therapie zu beurteilen. Zusätzlich kann
tienten mit dem traumatischen Geschehen und die vom Patienten geschätzte durchschnittliche
seinen Folgen die Voraussetzung und Basis für tägliche Anzahl der Intrusionen erfasst werden.
die Diagnostik der Bedeutung der Intrusionen
und des Traumas. Der Patient muss bereit sein,
sich umfassend und detailliert an die Vorgänge 5.2.3 Diagnostik der Bedingungen,
während des Traumas zu erinnern. Dies muss die die posttraumatische
bisweilen wiederholt geschehen, ehe alle relevan- Symptomatik aufrechterhalten
ten Interpretationen und Bedeutungen erkannt
und erfasst werden können. Wie bei der klas- Diese spezifische Form der Diagnostik geht über
sisch-verhaltenstherapeutischen Behandlung die natürlich ebenfalls zu Beginn der Behandlung
durch Exposition erlebt der Patient dies u. U. als notwendige Diagnose allgemeiner posttraumati-
sehr belastend. scher Symptomatik bzw. mit der PTB einher-
gehender Störungen oder Probleme hinaus. Pa-
tient und Therapeut benutzen ein Schema wie
Daher ist es unabdingbar, vor Beginn der Be- das in a Abbildung 5.2 gezeigte, um die Verbindun-
handlung den Patienten auf die Gefahr einer gen der einzelnen Aspekte traumatischen Erle-
zumindest kurzfristig erhöhten Belastung bens miteinander graphisch zu veranschaulichen.
hinzuweisen und seine Bereitschaft zu über- Wir empfehlen, die Informationen, die beide ge-
prüfen, dies mit dem Ziel einer langfristigen meinsam sammeln, nach und nach in dieses
Besserung der Symptome in Kauf zu nehmen. Schema einzutragen und Verbindungen durch
Pfeile darzustellen. Eine solche graphische Dar-
stellung ist für Therapeut und Patient sehr hilf-
Bei den üblichen Instrumenten zur Erfassung
reich.
posttraumatischer Symptomatik lassen sich oft
Die folgenden Faktoren sollten ausführlich er-
im Nachhinein die Häufigkeit des Symptoms
fasst werden, wozu die beispielhaften Fragen und
und die durch das Symptom ausgelöste subjektive
Instruktionen hilfreich sein können.
Belastung nicht trennen.

Gefühle und Gedanken während


Bei dem hier beschriebenen Behandlungs- und kurz nach dem Trauma
ansatz ist nun nicht die Senkung der Intrusi- Der Patient wird gebeten, zu schildern, wie er das
onsfrequenz das vornehmliehe Ziel, sondern
Trauma erlebt hat, beginnend bei der Zeit kurz
die Senkung der mit den Intrusionen verbun-
vor dem Trauma bis zum Ende der evtl. sich an-
denen Belastung.
schließenden Zeit im Krankenhaus. Ein besonde-
rer Schwerpunkt sollte dabei auf Gefühlen und
Gedanken während des Traumas oder kurz da-
5.2 · Ansatzpunkte einer kognitiven Behandlung 97 5

Auslöser traumatischer Erinnerungen und Gedanken


Bestimmte Fernsehsendungen
An der Stelle vorbeikommen, lm der es passierte
Schmerzen, die durch die beim Trauma erli1tene11 Verletzungen hervorgenifen werdl!n

l
Traumatische Erinnerungen damit verbundene Geilihle
Die Sekrmdm vor dem Alt/prall, Hilflosigkeit, ich kann nichts tun .
eingeklemmt sein im Auto, panische Angst, Todesfurcht.
meine Frau verletzt neben mir sehen großes Schuldgefilhl

••
Gedanken, die mit den traumatischen Erinnerungen auftreten
ich bin schuld an allem
Mein Leben ist ruiniert
Ich h(ll/e es verhindem ko11nen
Es gesduehlm11· rech/, daß mir .1'0 etwas Schlimme.\· pa.1·sier11:~t

Reaktion auf diese Gedanken


Mtch ablenken, mdem ich gan::fest an etwas andere~- denke.
darilber nachdtmken, w1e ich den U1tjall hdlle verhindem kOnnen

D Abb. 5.2. Schema zur therapiebezogenen Diagnostik


bei der PTB

nach liegen. Sehr wichtig sind die Teile des Ge- gieren. Wir haben festgestellt, dass Menschen, die
schehens, die für den Patienten am schlimmsten ein sehr belastendes Erlebnis hatten, bestimmte
waren. Gefühle und Gedanken, die durch die Erinnerun-
gen daran ausgelöst werden, als besonders be-
f) Beispiel lastend empfinden. Deshalb versuchen sie, nicht
Therapeut: »Damit wir zusammen daran arbeiten mehr an das Erlebte zu denken und können sich
können, dass Sie in Zukunft weniger unter diesen den Erinnerungen nicht stellen. Wenn wir genau
traumatischen Erinnerungen leiden, ist es zu- wissen, welche Gedanken und Gefühle bei Ihnen
nächst notwendig, dass wir uns ein genaues Bi ld durch die Erinnerung ausgelöst werden, können
von Ihren belastenden Erinnerungen und Gedan- wir daran gehen, sie genau zu betrachten und zu
ken machen. Dazu ist es wichtig, genau zu wissen, besprechen. Oft werden sie dadurch weniger be-
was während und nach dem Trauma passierte, lastend.
welche Gefühle und Gedanken mit Ihren Erinne- Ich bitte Sie zunächst, mir das Geschehen von
rungen verknüpft sind und wie Sie dann übli- der Zeit kurz vor dem Ereignis bis zu seinem En-
cherweise auf diese Gefühle und Gedanken rea- de/ zum Ende der Zeit im Krankenhaus zu schil-

" "
98 Kapitel 5 · Kognitive Aspekte bei der Behandlung der posttraumatischen Belastu ngsstörung

dern. Das kann für Sie vielleicht sehr belastend Mit den Intrusionen verbundene
sein. Ich werde Sie dabei unterstützen. Sind Sie Kognitionen und Emotionen
bereit dazu? Haben Sie Bedenken oder Befürch-
tungen?« Hiernach werden Kognitionen und Emotionen,
die durch die traumatischen Erinnerungen her-
vorgerufen werden, exploriert. Die Frage lautet
Wachrufen der am meisten belastenden
dabei jeweils, was der Patient denkt, wenn er Er-
Erinnerung
innerungen an das Trauma hat und wie er sich
Der Patient wird gebeten, die am meisten belas- infolge dieser Gedanken fühlt. Dabei hat der The-
tenden Erinnerungen an das Trauma wachzuru- rapeut die Chance, Verbindungen zwischen be-
fen und zu verbalisieren. Er soll sie in der Ich- stimmten mit den Erinnerungen auftretenden
Form detailliert schildern, so, wie er die Erinne- Gedanken und Gefühlen genau herauszuarbeiten
rung im Alltag auch erlebt. Der Therapeut instru- und graphisch zu verdeutlichen.
iert hierzu den Patienten, die Augen zu schließen
und in seiner Vorstellung zurückzugehen bis zu f) Beispiel
einem Zeitpunkt kurz vor dem traumatischen
Therapeut: »Wenn Sie diese Erinnerung haben,
Geschehen. was denken Sie dann, was ist dann in Ihrem Kopf?
ln welcher Weise beeinflusst dieser Gedanke, wie
f) Beispiel Sie sich dann fühlen? Bewirkt dieser Gedanke, dass
Therapeut: »Es ist völlig normal, wenn man be- es Ihnen dann besser oder schlechter geht? Den-
lastende Erinnerungen oder Gedanken an ein ken Sie manchmal auch etwas anderes? Fühlen Sie
solch schlimmes Ereignis hat. Das beschreiben alle sich dann auch anders? Was sind die schlimmsten
Menschen, die einmal in einer ähnlichen Situation Gedanken, was sind die, die bewirken, dass Sie
waren. Nun ist es hilfreich, wenn wir uns die Er- sich sehr schlecht fühlen? Gibt es auch Gedanken,
innerungen, die Sie als am meisten belastend die bewirken, dass Sie sich ein wenig besser
empfinden, etwas genauer anschauen. Wir haben fühlen?«
die Erfahrung gemacht, dass ein guter Weg dazu
ist, die Augen zu schließen und sich so lebhaft wie
Erfasst werden sollte, ob der Patient bestimmte
möglich zu erinnern. Ich bitte Sie, dass Sie die
Befürchtungen damit verbindet, sich den Erinne-
Augen schließen und in Gedanken zu dem Zeit-
rungen an das Trauma auszusetzen. Häufig
punkt zurückzugehen, an dem das passierte, was
fürchten Patienten z. B., sie könnten völlig die
Sie heute noch am meisten quält. Bitte schildern
Kontrolle über ihre Gefühle verlieren und nicht
Sie mir diese Ereignisse so, wie Sie sie im Alltag
mehr aufhören zu weinen oder so wütend wer-
üblicherweise auch erleben.«
den, dass sie den Therapeuten oder andere Men-
schen gefährden würden. Diese Befürchtungen
Auslöser von Intrusionen
sind insofern von großer Wichtigkeit, als sie die
Typische Auslöser von Erinnerungen und Gedan- notwendige Exposition an die traumatischen Er-
ken an das Trauma werden gesammelt. innerungen behindern können. Sie sollten daher
vorrangig Gegenstand der Diskussion sein, der
f) Beispiel Abwägung der Argumente dafür und dagegen,
Therapeut: »Was kann bei Ihnen Erinnerungen und dass die Befürchtung sich bewahrheiten wird.
Gedanken an das belastende Ereignis auslösen? Ebenfalls von Bedeutung sind Befürchtungen
Haben Sie schon einmal bemerkt, dass sie in be- zu negativen und ablehnenden Reaktionen ande-
stimmten Situationen häufiger auftreten als in rer Personen, wenn der Patient über seine Erleb-
anderen? Welche Situationen sind das genau?« nisse offen spräche (im Sinne von »Wenn ich of-
fen berichte, was ich erlebt habe, werden die an-
deren mich als abstoßend empfinden, sich von
mir zurückziehen«). Solche negativen Erwartun-
gen können auch im Zusammenhang mit einer
5.2 · Ansatzpunkte einer kognitiven Behandlung 99 5
katastrophisierenden oder selbstbeschuldigenden trusionen dazu befragt, ob der betreffende Be-
Interpretation der PTB-Symptome auftreten (»Et- wältigungsversuch in seinen Augen sich bisher
was stimmt ernsthaft nicht mit mir, was denken als hilfreich oder weniger hilfreich erwiesen hat.
die anderen, wenn sie erfahren, dass ich immer Bei der Gedankenunterdrückung und dem
noch so sehr leide?«). Sie beeinträchtigen die Be- Grübeln z. B. kann der Patient herausfinden, dass
reitschaft des Betroffenen, mit anderen über sei- diese Reaktionen die Häufigkeit der Intrusionen
ne traumatischen Erinnerungen zu sprechen. Ge- weniger gesenkt als vielmehr erhöht haben. Eine
nau dies jedoch stellt eine sehr hilfreiche Form solche Erkenntnis des Patienten lässt sich als
der Konfrontation dar und birgt die Chance, au- rückkoppelnder Pfeil im dargestellten Schema
ßerhalb der Therapie die eigenen Einstellungen von a Abb. 5.2 graphisch verdeutlichen und fest-
(z. B. zu Schuld und Verantwortung für das Ge- halten.
schehene) mit der Meinung anderer zu verglei- Auch die bisherigen Bewältigungsversuche
chen und u.U. zum Positiven zu verändern. des Patienten können mit Hilfe eines Fragebo-
gens erfasst werden. Wie der Fragebogen zur
persönlichen Bedeutung der Intrusionen kann
Daher sollten Kognitionen, die sich auf die auch dieser zur Erfolgskontrolle im Verlauf der
Reaktionen anderer beziehen, sehr sorgfältig Therapie dienen, um zu überprüfen, ob das Aus-
erhoben und bearbeitet werden. Der Partner maß kognitiver Vermeidung sinkt (ein Beispiel
oder Familienmitglieder können an solchen für einen solchen Fragebogen kann bei der Erst-
Punkten in die Behandlung mit einbezogen autoein angefordert werden).
werden.
f) Beispiel

Zur detaillierten Erhebung kritischer negativer Therapeut: »Normalerweise versuchen Menschen,


Bedeutungen der Erinnerungen kann der Patient etwas gegen Gedanken und Erinnerungen, die sie
belasten, zu tun. Das ist völlig normal so. Mich
nach der ersten Sitzung einen Fragebogen aus-
interessiert, wie Sie persönlich bisher versucht
füllen (ein beispielhafter Fragebogen kann bei
haben, mit diesen Erinnerungen und Gedanken
der Erstautorio angefordert werden). Solch eine
umzugehen. Wenn Sie diese Erinnerungen, Ge-
Erhebung eignet sich auch, um Veränderungen
danken und Gefühle haben, über die wir eben
in den wichtigsten Kognitionen über den Verlauf
gesprochen haben, was tun Sie dann üblicher-
der Therapie hinweg zu überprüfen.
weise? Tun Sie bestimmte Dinge, damit die Erin-
nerungen aufhören? (Falls der Patient es schwierig
fi ndet, diese Fragen zu beantworten, kann man
Erfassung kognitiver Vermeidung
genauer nachfrage n: Tun Sie etwas, um sich ab-
Im nächsten Schritt werden alle Verhaltensweisen zulenken? Versuchen Sie, an etwas anderes zu
erhoben, die der Patient bisher zur Bewältigung denken? Tun Sie bestimmte Dinge, um die Ge-
belastender Situationen beim Auftreten von In- danken aus Ihrem Kopf zu vertreiben? Grübeln Sie
trusionen angewandt hat, wie z. B. Gedanken- über bestimmte Dinge dann nach? Über was ge-
unterdrückung, Grübeln, Alkohol trinken etc. nau?): Was ist Ihr Ziel. wenn Sie dies tun? Haben
Möglicherweise empfindet der Patient es als be- Sie den Eindruck. dass dies Ihnen hilft, die Erin-
schämend, über bestimmte Bewältigungsver- nerung oder den Gedanken loszuwerden? Bewirkt
suche (z. B. der Patient befriedigt sich selbst, s. dies, dass Sie die Erinnerung als weniger belastend
oben) zu sprechen. Wenn dieser Eindruck im the- erleben? Hilft es, dass die Erinnerung seltener
rapeutischen Gespräch entsteht, kann der Thera- auftritt? Haben Sie den Eindruck, dass dies Ihnen
peut bestimmte, möglicherweise mit Scham ver- auf Dauer hilft, besser mit den Erinnerungen zu-
bundene Reaktionen vorgeben und versichern, rechtzukommen? Was passiert, wenn Sie ver-
dass diese sehr verständlich sind (im Sinne von suchen, sich abzulenken, wenn Sie dann über ...
»Wir hatten viele Patienten, die ... «). Der Patient nachg rübeln?«
wird zu jeder Reaktion auf das Auftreten von In-
100 Kapitel 5 · Kognitive Aspekte bei der Behandlung der posttraumatischen Belastungsstörung

Erfassung der Vermeidung intrusionsaus- 5.2.4 Wichtige Aspekte am Ende


lösender Situationen und Verhaltensweisen der ersten Therapiesitzung

Erhoben wird auch die Vermeidung von Auslö- Gegen Ende der ersten Sitzung sollte das Rational
sern von Intrusionen. Wenn der Patient es schwer der Behandlung ausführlich und verständlich er-
findet, entsprechende Informationen zu geben, läutert werden.
kann man fragen, welche Bereiche des Lebens
sich seit dem Trauma verändert haben. Der Pa-
tient wird dazu befragt, ob er die Vermeidung
Im Mittelpunkt der Beratung steht, die
dieser Situationen oder Dinge bisher als langfris-
persönliche Bedeutung des Traumas für den
tig hilfreich oder weniger hilfreich erlebt hat. Patienten gemeinsam zu diskutieren und
Bezogen auf das spezifische Trauma kann
positiv zu verändern sowie neue, hilfreichere
man dem Patienten auch Listen mit Situationen
Wege zu finden , mit den belastenden Erinne-
oder Verhaltensweisen vorgeben, die PTB-Patien-
rungen und Gedanken an das Trauma umzu-
ten nach einem solchen Trauma üblicherweise gehen.
vermeiden (ein beispielhafter Fragebogen für
Personen, die einen Verkehrsunfall erlebten, kann
bei der Erstautorio angefordert werden). Der Patient sollte Informationen erhalten über
normale Reaktionen von Menschen auf extrem
f) Beispiel belastende Ereignisse. Dies kann dem Patienten
Therapeut: »Gibt es Dinge, die Sie vermeiden, weil helfen, die Wahrnehmung seiner Symptome zu
sie Sie an das Trauma erinnern? Vermeiden Sie sie dekatastrophisieren. So bedeuten z. B. die immer
immer oder nur unter bestimmten Umständen? und immer wieder auftretenden Erinnerungen an
Warum, glauben Sie, umgehen Sie diese Situatio- das Trauma keinesfalls, dass er verrückt wird,
nen? Ist Ihr Eindruck, dass das Vermeiden auf sondern sie sind Teil eines ganz normalen Ver-
Dauer hilfreich ist oder weniger hilfreich? Hat die arbeitungsprozesses traumatischer Erlebnisse.
Anzahl der Dinge, die Sie umgehen oder vermei- Auch die Reaktion des Patienten ist sehr ver-
den, mit der Zeit zu- oder abgenommen?« ständlich: Es ist nur normal, dass Menschen ver-
suchen, sich vor sehr unangenehmen Erfahrun-
Hausaufgabe gen zu schützen. Wenn der Patient das Auftreten
der Intrusionen und der dazugehörigen Bedeu-
Als Hausaufgabe erhält der Patient über eine Wo- tungen als belastend erlebt, so ist es sehr gut
che hinweg ein ausführliches Tagebuch zum Auf- nachvollziehbar, dass er alles daran setzt, diese
treten von Intrusionen, den mit ihnen verbunde- unangenehmen Gedanken und Erinnerungen los-
nen Gefühlen und Gedanken, der Belastung zuwerden. Der Patient soll erkennen, dass er mit
durch die Intrusion und seinen Reaktionen da- seinen Beschwerden und Problemen keinesfalls
rauf zu führen. Mit dessen Hilfe kann überprüft alleine steht.
werden, ob vielleicht wichtige Aspekte des Erle-
bens der Intrusionen und des Umgangs mit ihnen
in der therapiespezifischen Diagnostik vergessen
Tenor dieses Teils der ersten Sitzung könnte
oder falsch eingeschätzt worden sind. a rabelle 5.1
sein, dass es den Therapeuten eher wundern
zeigt ein Beispiel für ein solches Tagebuch. Auch
würde, wenn der Patient angesichts der be-
das Tagebuch kann zum Ende oder im Verlauf der lastenden Dinge, die er erlebt hat, keine
Behandlung zur Erfolgskontrolle eingesetzt wer- Probleme haben würde.
den. Als hilfreich hat es sich ferner erwiesen, dass
der Patient eine Audiokassette mit der Aufzeich-
nung der Sitzung zu Hause erneut anhört, sich Als hilfreich hat sich erwiesen, am Ende jeder Sit-
Fragen und Bemerkungen hierzu notiert und zung den Patienten zu fragen, ob es etwas gibt,
zur nächsten Sitzung mitbringt. was ihn daran hindern könnte, wiederzukom-
men. Diese abschließende Frage soll dem Patien-
Vl
D Tabelle 5.1. Tagebuch zu Erinnerungen und Gedanken an das belastende Ereignis iv
)>
::>
Zelt Inhalt der Erinnerung Was haben Sie Wie haben Sie sich gefühlt? Was haben Sie Was haben Sie ge-
oder des Gedankens gedacht? Wie belastend war die Erinnerung für Sie? getan, als die tan, um die Erinne-
"'"'fJ
'0
Erinnerung auftrat? rung zu beenden7
c
(O = überhaupt nicht. lOO=sehr belastend) ::>
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Gab es Auslöser? War das hilfreich? n;
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0 .. 10 .. 20 . . 30 .. 40 .. 50 .. 60 .. 70 . . 80 .. 90 .. 100 ~
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0 .. 10 .. 20 . . 30 .. 40 .. 50 . . 60 .. 70 .. 80 .. 90 .. 100

I 0 .. 10 .. 20 .. 30 .. 40 .. 50 .. 60 .. 70 .. 80 .. 90 . . 100

I 0 .. 10 .. 20 .. 30 .. 40 .. 50 .. 60 .. 70 .. 80 .. 90 .. 100

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I -
U1
102 Kapitel 5 · Kognitive Aspekte bei der Behandlung der posttraumatischen Belastungsstörung

ten die Gelegenheit geben, negative Erfahrungen bei äußern, was er empfindet und denkt. Wichtig
in der Therapiesitzung zu äußern. Nur wenn ist zu erfassen, ob sich am Erleben des Patienten,
der Patient diese offenlegt, hat der Therapeut an seinen Gefühlen oder Gedanken, die mit die-
die Chance, sie zu bearbeiten, dem Patienten spe- ser Schilderung auftreten, etwas verändert hat.
zifische Hilfen oder Lösungen anzubieten. Bei- Unsere Erfahrung hat gezeigt, dass die Gefühle,
spielsweise hat der Patient vielleicht die imagina- die Interpretation und Bedeutung, die durch die
tive Konfrontation mit dem Trauma und das Ge- Imagination aktiviert werden, sich im Laufe der
spräch über seine Folgen doch als belastender er- Zeit sehr verändern können. Möglicherweise tre-
lebt, als er erwartet hat. Hilfreich erscheint es ten auch noch nach einigen Sitzungen völlig neue
auch, wenn man dem Patienten nach Ende der kritische Bewertungen und Bedeutungen des
Sitzung die Gelegenheit geben kann, in einem traumatischen Erlebens zutage, die dann Gegen-
geschützten Raum so lange zu verweilen, bis die stand der Diskussion werden sollten. Möglich
durch die Konfrontation ausgelöste Erregung ab- ist auch, dass der Patient sich an neue Aspekte
geklungen ist. des Traumas erinnert, die ihm vorher noch nicht
zugänglich waren.

Festlegen von Therapiezielen


Am Ende der ersten Sitzung sollten Patient und Kognitive Interventionen
Therapeut zusammen ein möglichst konkretes
Therapieziel festlegen. Wichtig dabei ist, dass es Ab diesem Zeitpunkt wird mit Hilfe kognitiver
möglichst realistisch ist. Unangemessen, aber Methoden an der Überprüfung und Veränderung
sehr häufig bei PTB-Patienten, ist z. B. der dysfunktionaler Gedanken und der Verringerung
Wunsch, wieder genauso wie vor dem Trauma des Vermeidungsverhaltens gearbeitet. Das Vor-
zu werden. Konkrete Therapieziele könnten sein, gehen wird individuell auf die Kognitionen und
mit Partner und Freunden über das traumatische das Verhalten des Patienten zugeschnitten, Haus-
Erlebnis reden zu lernen, Dinge wieder tun zu aufgaben werden individuell gegeben. Dabei
können, die seit dem Trauma vermieden wurden, kommt ein breites Spektrum an Methoden der
oder die Gedanken an das Trauma nicht mehr als kognitiven Therapie nach Beck & Emery (1985)
so belastend wahrzunehmen. zur Anwendung:
- Demonstrationen zum Zusammenhang zwi-
schen Gedanken und Gefühlen:
5.2.5 Weiterer Behandlungsverlauf »Immer, wenn ich denke, dass ich es hätte ver-
hindern können, fühle ich mich noch trauriger
Zu Beginn einer jeden weiteren Sitzung wird zu- und schlechter.«
nächst die Hausaufgabe diskutiert. Am Anfang »Wenn ich in Situationen, die mich an den
der zweiten Sitzung sollte das persönlich auf Unfall erinnern, solche starken körperlichen
den Patienten bezogene und in der ersten Sitzung Symptome bekomme, dann denke ich, dass
erarbeitete und graphisch veranschaulichte Mo- ich doch nicht normal bin, dass ich vielleicht
dell der Aufrechterhaltung posttraumatischer verrückt werde. Diese Gedanken ängstigen
Symptomatik im Rahmen eines Rollentausches mich dann sehr.«
wiederholt werden: Der Patient erklärt dem The- - Die Betrachtung von Befürchtungen und Er-
rapeuten das Modell. Danach wird das Tagebuch wartungen als Hypothesen, die man testen
angeschaut. Ziel ist, einen möglichst umfassen- kann sowie der Gebrauch von Wahrschein-
den überblick über die verschiedenen Intrusio- lichkeitsschätzungen, Beweissammlung und
nen und die dazugehörigen Gedanken, Gefühle Verhaltensexperimenten, um Überzeugungen
und Reaktionen zu erhalten. und Erwartungen zu überprüfen:
In jeder Sitzung sollte der Patient erneut, wie »Sie nehmen an, dass Ihre Frau sich von Ihnen
oben beschrieben, die am meisten belastende Er- abwenden und Sie weniger lieben wird, wenn
innerung in der Vorstellung durchleben und da- Sie Ihr erzählen, wie hilflos und ängstlich Sie
5.2 · Ansatzpunkte einer kognitiven Behandlung
103 5
sich während des Überfalles gefühlt haben. »Dass ich so starkes Herzklopfen bekomme
Woher kommt diese Erwartung? Haben Sie und dass mir übel wird, wenn ich an der Stelle
schon einmal erlebt, dass sie in einer ähnli- vorübergehe, an der es passiert ist, ist ganz
chen Situation so auf Sie reagiert hat? Welche normal. Es ist kein Zeichen dafür, dass etwas
Dinge sprechen dafür, dass sie sich so verhal- mit mir nicht stimmt. Anderen geht es genau-
ten wird, welche Dinge sprechen dagegen?« so.«
»Sie befürchten, dass Sie nicht mehr aufhören
können zu weinen, wenn Sie mir genau erzäh- Als Basis all dessen dient der Gebrauch des sokra-
len, was vorgefallen ist. Haben Sie schon ein- tischen Dialogs im Gespräch mit dem Patienten.
mal einen Menschen erlebt, der bei einer trau- Welche Belege hat der Patient dafür, dass seine
rigen Erinnerung nie mehr aufhören konnte, Interpretation, Erwartung oder Auffassung zu-
zu weinen? Wie wahrscheinlich ist es, dass treffend ist? Sind auch andere Auffassungen
Sie 3 Stunden lang weinen werden?« denkbar?
»Sie glauben, dass die Erinnerung nie mehr
weggehen und Sie überwältigen wird, wenn
Sie sich nicht sehr bemühen, sie zu bekämpfen. Von zentraler Bedeutung ist es, den Patienten
Ausprobiert haben Sie das aber noch nie. Wie nicht zu überreden, sondern gemeinsam mit
können wir herausfinden, was wirklich passie- ihm Argumente für und wider seine Auffas-
ren wird?« sung abzuwägen und den Patienten selber zu
- Die logische Analyse von Gedanken und Über- Schlussfolgerungen kommen zu lassen.
zeugungen:
»Wenn Sie sich an das Ereignis erinnern, dann
Zur Überprüfung bestimmter Annahmen oder
denken Sie, Ihr Leben sei ruiniert. Was meinen
Befürchtungen werden Verhaltensexperimente
Sie genau damit? Bedeutet das, dass in Ihrem
eingesetzt. So kann man z. B. mit Hilfe der klassi-
Leben nie mehr etwas Positives wird passieren
schen Experimente zu den Folgen von Gedanken-
können? Welche Bereiche in Ihrem Leben sind
unterdrückung den Patienten erleben lassen, ob
Ihnen wichtig? Welche Dinge genießen Sie in
man tatsächlich seine Gedanken steuern kann
Ihrem Leben? Auf welche Dinge in der Zukunft
oder nicht: Man bittet den Patienten in der Sit-
könnten Sie sich sogar freuen?«
zung, in der nächsten Minute an alles Mögliche
»Sie sind davon überzeugt, dass nur Sie alleine
zu denken, bloß nicht an weiße Bären (oder einen
an dem Ereignis schuld waren. Welche Argu-
anderen festgelegten Reiz). Der Patient wird erle-
mente sprechen dafür, dass Sie alleine alle
ben, dass er nicht vermeiden kann, an den fest-
Schuld tragen? Welche Argumente sprechen
gelegten Reiz zu denken. Die Rolle der Gedanken-
dagegen? Welche Argumente sprechen dafür,
unterdrückung bei der Aufrechterhaltung seiner
dass X ebenfalls Verantwortung trägt? Welche
belastenden Erinnerungen an das Trauma kann
Rolle könnte der Zufall gespielt haben? Welche
dann besprochen werden. Als Hausaufgabe kann
äußeren Dinge könnten auf das Geschehen
sich hier anschließen, für einige Tage die belas-
Einfluss gehabt haben?«
tenden Erinnerungen nicht zu bekämpfen und
- Die Entwicklung alternativer und hilfreicher
zu beobachten, ob sie dann häufiger oder weniger
Gedanken und Erwartungen: »Wenn ich ande-
häufig auftreten bzw. ob sich am Grad der Belas-
ren von den belastenden Erinnerungen erzäh-
tung etwas verändert.
le, werde ich vielleicht recht traurig werden
und weinen müssen, aber das wird vorüber ge-
hen. Ich werde nicht die Kontrolle über mich
verlieren, und die anderen werden wahr-
scheinlich gut verstehen können, warum ich
so traurig bin. Ich werde mich vielleicht nicht
mehr so isoliert fühlen, wenn ich über meine
Erinnerungen sprechen kann.«
104 Kapitel 5 · Kognitive Aspekte bei der Behandlung der posttraumatischen Belastungsstörung

Literatur
Unsere Erfahrung zeigt, dass bei der Behand- 8eck, A. T. & Emery, G. (1985}. Anxiety disorders and phobias: A
lung der PTB meist auch der Einsatz von Ver- cognitive perspective. New York: 8asic 8ooks.
fahren aus anderen Bereichen der kognitiven 8orkovec, T. D. & lnz, J. (1990}. The nature of worry in general-
ized anxiety disorder: A predominance of thought-activ-
Therapie und der Verhaltenstherapie notwen-
ity. 8ehaviour Research and Therapy, 28, 153-158.
dig bzw. hilfreich ist. So können Methoden zur
Chembtob, C., Roitblat, H. L., Hamada, R. S., Carlson, J. G. &
Schmerzbewältigung, zum Ärgermanagement Twentyman, C. T. (1988}. A cognitive action theory of
und zur Veränderung der Partner- und Fami- post-traumatic stress disorder. Journal of Anxiety Disor-
lienkommunikation zusätzlich zur Anwendung ders, 2, 253-275.
kommen. Diese Methoden lassen sich sehr gut Clark, D. M. (1986}. A cognitive approach to panic. 8ehaviour
Research and Therapy, 24, 461-470.
mit den kognitiven Interventionen kombinie-
Creamer, M., 8urgess, P. & Pattison, P. (1992}. Reaction to trau-
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lin: Springer.
Eine überprüfung der differentiellen Wirksam- Ehlers, A. & Steil, R. (1995}. Maintenance of intrusive memories
keit des hier geschilderten Vorgehens im Ver- in Posttraumatic Stress Disorder: A cognitive approach.
gleich mit den schon überprüften klassischen 8ehavioural and Cognitive Psychotherapy, 23, 217-249.
Foa, E. 8. & Riggs, D. S. (1993}. Post-traumatic stress disorder in
Methoden steht noch aus. Vor dem Hintergrund
rape victims. American Psychiatrie Press Review of Psy-
erster Erfahrungen erwarten wir einen Vorteil chiatry 12. Washington DC: Author.
für den Verlauf der Behandlung, wenn man das Foa, E. B., Steketee, G. & Rothbaum, 8. 0 . (1989} . 8ehavioral/
verhaltenstherapeutische Vorgehen mit den spe- cognitive conceptualizations of post-traumatic stress dis-
order. 8ehavior Therapy, 20, 155-176.
zifisch kognitiven Methoden ergänzt: Beim klas-
Foa, E.8., Rothbaum, 8.0., Riggs, D.S. & Murdock, T. (1991}.
sischen Vorgehen stehen Exposition und Habi- Treatment of posttraumatic stress disorder in rape-vic-
tuation an die traumatischen Erinnerungen im tims: A comparison between cognitive-behavioral proce-
Vordergrund. Man erwartet natürlich auch eine dures and counseling . Journal of Consulting and Clinical
Veränderung der Einstellungen und Gedanken Psychology, 59, 715-723.
des Patienten zum Trauma und seinen Folgen, Foa, E. 8., Riggs, D.S., Massie, E.D. & Yarczower, M. (1995}. The
impact of fear activation and anger on the efficacy of ex-
die sich durch die neuen Erfahrungen, die der Pa- posure treatment for Posttraumatic Stress Disorder. 8e-
tient während der Konfrontation macht, ergeben havior Therapy, 25, 487-499.
sollen. Mit Hilfe kognitiver Methoden kann man Horowitz, M.J. (1976}. Stress response syndromes. New York:
eine überprüfung und Veränderung kritischer Aronson.
Jones, J. C. & 8arlow, D. H. (1990}. The etiology of posttrau-
Einstellungen und Erwartungen ganz gezielt pla-
matic stress disorder. Clinical Psychology Review, 10,
nen und herbeiführen und so u.U. schneller zu ei-
299-328.
ner Verringerung der Belastung des Patienten Keane, T. M., Zimering, R. T. & Caddell, R. T. (1985}. A behavioral
durch die posttraumatische Symptomatik beitra- formulation of PTSD in Vietnam Veterans. 8ehavior Thera-
gen. Sobald Befürchtungen und Erwartungen des pist, 8, 9-12.
Lavy, E. H. & Van den Hout, M. (1994}. Cognitive avoidance and
Patienten, was geschieht, wenn er sich den Erin-
attentional bias: Causa! relationships. Cognitive Therapy
nerungen aussetzt, verändert werden konnten, and Research, 18, 179-191.
wird möglicherweise die Exposition für den Pa- Mayou, R., 8ryant, B. & Duthie, R. (1993}. Psychiatrie conse-
tienten weniger belastend und einfacher. quences of road traffic accidents. 8ritish Medical Journal,
307, 647-651.
Morgan, I.A., Matthews, G. & Winton, M. (1995}. Coping and
personality as predictors of post-traumatic intrusions,
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tims of the Perth flood. 8ehavioural and Cognitive Psy-
chotherapy, 23, 251-264.
Literatur 105
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6, 441-450.
6

M.J. Horowitz

6.1 Der natürliche Verlauf von Belastungs-


folgesyndromen - 108
6.1.1 Ein prototypisches Fallbeispiel - 110

6.2 Psychodynamisch-kognitive Konzeptualisierung - 111

6.3 Allgemeine Behandlungsstrategien - 113

6.4 Der histrionische Persönlichkeitsstil


unter Belastung - 114
6.4.1 Besonderheiten der Gedanken- und Gefühlskontrolle - 116
6.4.2 Therapietechnik: Klärung - 117
6.4.3 Beziehungsaspekte bei histrionischen Patienten - 118

6.5 Der zwanghafte Persönlichkeitsstil


unter Belastung - 118
6.5.1 Besonderheiten der Gedanken- und Gefühlskontrolle - 120
6.5.2 Therapietechnik: An ein Thema binden - 121
6.5.3 Beziehungsaspekte bei zwanghaften Patienten - 122

6.6 Der narzisstische Persönlichkeitsstil


unter Belastung - 123
6.6.1 Besonderheiten der Gedanken- und Gefühlskontrolle - 124
6.6.2 Therapietechnik: Umstrukturierung und Stabilisierung - 126
6.6.3 Beziehungsaspekte bei narzisstischen Patienten - 127

Literatur - 128

1 Basierend auf einem klassischen Artikel in Archives of General Psychiatry (Horowitz, 1974) mit Über-
arbeitungen des Autors.
108 Kapitel 6 · Persönlichkeitsstile und Belastungsfolgen

Ein Zugangsweg zur psychotherapeutischen Ar- bestätigt wurde (vgl. Horowitz, 1976, 1986 für ei-
beit besteht darin, das eigene Wissen zu struktu- ne Übersicht).
rieren und einzugrenzen. Mein seit mehreren Eine zweite Beobachtung war die der gedank-
Jahrzehnten verfolgter Ansatz beschränkt sich in- lichen Verleugnung und emotionalen Erstarrung.
nerhalb der Störungen auf die Belastungsfolge- Diese Symptome scheinen im Gegensatz zur
syndrome2 und innerhalb der verschiedenen zwanghaften Wiederholung zu wirken und
Persönlichkeitsstile auf den zwanghaften, den können als Schutzreaktion betrachtet werden.
histrionischen sowie den narzisstischen Typ.
Der integrative psychodynamisch-kognitive An-
Phasen posttraumatischer Belastungen
satz beruht auf einer Informationsverarbeitungs-
theorie, in deren Mittelpunkt die Verarbeitung Sowohl die intrusive Wiederholung als auch die
konflikthafter Gedanken und Gefühle und die Verleugnung und emotionale Erstarrung können
Veränderung von persönlichen Schemata stehen. entweder gleichzeitig oder in Phasen nacheinan-
Aufgrund dieses theoretischen Bezugssystems der bei einer Person auftreten. Eine allgemeine
ist es möglich, eine Reihe von Vermutungen über Zusammenfassung dieser Prozesse gibt D Abbil-
beobachtbares Verhalten aufzustellen und daraus dung 6.1 .
spezifische therapeutische Techniken abzuleiten Eine Extrembelastung, besonders wenn sie
(Horowitz spricht im Originalartikel von »Nuan- plötzlich und unvorhersehbar auftritt, erzeugt
cen der Therapie«, was in der vorliegenden Fas- heftige Gefühlsreaktionen, z. B. einen »Aufschrei«
sung zugunsten einer leichteren Lesbarkeit in oder eine gefühlsmäßige Erstarrung. Nach Ab-
den meisten Fällen mit »therapeutischen Techni- klingen dieser ersten emotionalen und körperli-
ken« übersetzt wurde; Anm. des Hrsg.). chen Reaktionen durchleben die Personen unter-
Als prototypisches Fallbeispiel einer Extrem- schiedliche Verläufe:
belastung soll in den folgenden Abschnitten ein - Diese können mit einer Phase intensiver Ver-
Patient mit einem Autounfall dienen. Variationen leugnung oder dem »Gefühl der Gefühllosig-
dieses prototypischen Beispiels sollen die jeweili- keit« beginnen,
gen theoretischen überlegungen veranschauli- - gefolgt von Episoden sich aufdrängender Vor-
chen. stellungen (Intrusionen),
- Anstürmen intensiver Gefühle oder zwang-
hafter Verhaltensweisen.
6.1 Der natürliche Verlauf - Darauf können wiederum Phasen anhaltender
von Belastungsfolgesyndromen Vermeidung, Gefühllosigkeit und anderer Ab-
wehrversuche der heftigen Gefühle folgen.
Freud & Breuer (1895/1970} entdeckten, dass
traumatische Ereignisse abgewehrt werden, sich Bei einigen Personen treten frühzeitig einsetzen-
aber gleichzeitig ungewollt in Form hysterischer de, übermäßige Turbulenzen auf (akute Belas-
Symptome wieder aufdrängen. Obwohl bei eini- tungsreaktionen), bei denen die Intrusionen im
gen der Freudschen Patienten manche traumati- Vordergrund stehen (Creamer et al., 1992}. Es
schen Erinnerungen mehr der Phantasie als der kann auch zu Kommunikationsformen kommen,
Realität entsprangen, wurden schon damals zent- bei der die erlebte Geschichte ständig wiederholt
rale Beobachtungen gemacht. wird. Das Erzählen kann später nachlassen, aber
Eine Beobachtung betraf die zwanghafte Wie- die Intrusionen halten während dieser Phase der
derholung des Traumas, die in zahlreichen späte- Kommunikationshemmung an (Pennebaker &
ren klinischen, experimentellen und Feldstudien Harber, 1993).
Schließlich kann ein Abschnitt des »Durch-
2 Der Autor wählt in diesem Kapitel den allgemeinen Begriff arbeitens« auftreten, in dem es weniger intrusive
der Belastungsfolgesyndrome (vgl. !CD-Klassifikation, F43), Gedanken und weniger unkontrollierte emotio-
zu denen als eine Form die posttraumatischen Belastungs- nale Reaktionen gibt. Diese Phase ist durch stär-
störungen gehören (Anm. des Hrsg.). kere kognitive Verarbeitung, Gefühlsstabilität
6.1 · Der natürliche Verlauf von Belastungsfolgesyndromen
109 6

Normale Reaktionen Pathologische Reaktionen

D Abb. 6.1. Normale und pathologische Phasen posttraumatischer Reaktionen


110 Kapitel 6 · Persönlichkeitsstile und Belastungsfolgen

und das Akzeptieren der Konsequenzen des Er- 8 Beispiel


eignisses gekennzeichnet (Bowlby & Parkes, 1970; Harry ist ein 40-jähriger Dispatcher. Er hatte sich in
Horowitz, 1986). einer kleinen Lieferfirma hochgearbeitet. Eines
Nachts fuhr er aus Personalmangel selbst einen
alten LKW, in dem sich eine Ladung Stahlrohre
Psychodynamisch-kognitive Theorie
befand. Dieses ungeeignete Fahrzeug besaß zwar
Die ursprüngliche Freudsche Konzeption einer eine Panzerung zwischen dem Laderaum und der
energetischen Überlastung durch ein Trauma 3 Fahrerkabine, diese schützte jedoch den Beifah-
kann durch ein Konzept der Informationsüberlas- rerbereich nicht vollständig. Spät in der Nacht fuhr
tung ersetzt werden (Horowitz & Becker, 1972; Harry an einer attraktiven Frau vorbei, die auf ei-
Horowitz, 1986; Lazarus, 1966). Informationen nem verlassenen Autobahnabschnitt per Anhalter
sind dabei sowohl Kognitionen innerer und äu- fahren wollte. ln einer spontanen Entscheidung,
ßerer Verursachung als auch Emotionen. das Verbot des Unternehmens zur Mitnahme jeg-
licher Beifahrer zu missachten, ließ er sie einstei-
gen, da sie ein ahnungsloser Hippie zu sein schien
Bei der Informationsüberlastung verweilen die und womöglich vergewaltigt werden könnte.
Personen in einem Zustand ständiger Belas- Kurze Zeit später überfuhr ein Auto die Mit-
tung oder sind für wiederkehrende Belas- tellinie und kam auf seine Fahrbahn, sodass ein
tungszustände anfä ll ig, solange die Informa- Frontalzusammenstoß drohte. Er lenkte den LKW
tionen noch nicht verarbeitet sind. Die Infor- über den Seitenstreifen hinaus und kam auf einem
mationen werden sowohl abgewehrt als auch Kieshaufen ins Schlingern. Die Rohre verrutschten,
zwanghaft wiederho lt, bis zu dem Zeitpunkt, drangen auf der Beifahrerseite in die Fahrerkabine
an dem die Verarbeitung weitestgehend ab- ein und spießten die Frau auf. Harry flog auf das
geschlossen ist. Die Emotionen, denen im Lenkrad und in die Windschutzscheibe und war
Zusammenhang mit Belastungsfolgesyndro- kurzzeitig bewusstlos. Als er wieder zu Bewußtsein
men eine große Bedeutung zukommt, werden kam, nahm er den grausigen Anblick seiner toten
als Antworten auf kognitive Konflikte und als Begleiterin wahr. Harry wurde im Krankenwagen
Motive für Abwehr-, Kontroll- und Bewälti- zur Notaufnahme eines Krankenhauses gebracht.
gungsverhalten angesehen. Man entdeckte keine Brüche, seine Schnittverlet-
zungen wurden genäht, und er wurde zur Be-
obachtung über Nacht dagelassen. Am ersten Tag
war er verängstigt und benommen, wobei er nur
6.1.1 Ein prototypisches Fallbeispiel
bruchstückhaft von den Ereignissen berichtete.
Am nächsten Tag wurde er entlassen. Ent-
Die bisherigen allgemeinen Überlegungen sollen
gegen den Empfehlungen des Arztes, sich aus-
durch einen Fallbericht einen konkreten Bezug
zuruhen und den Wünschen seiner Frau, kehrte er
erhalten. Der Bericht wird in den nachfolgenden
zur Arbeit zurück. Von da an ging er mehrere Tage
Abschnitten zu Veranschaulichungszwecken auf
lang seiner üblichen Arbeit nach, als sei nichts
verschiedene Weise variiert werden.
geschehen. Es fand sofort ein Treffen mit seinen
Vorgesetzten statt. Im Ergebnis erhielt er einen
Verweis, weil er gegen die Vorschrift zur Mitnahme
von Beifahrern verstoßen hatte. Gleichzeitig wurde
ihm aber versichert, dass der Unfall nicht sein
3 Die energetische Erklärung definierte Ereignisse als trauma- Verschulden war und er deshalb nicht zur Ver-
tische Ereignisse, wenn sie zum übermäßigen Eindringen von antwortung gezogen werde.
Reizen führen und dabei eine »Reizbarriere« oder einen Während dieser Phase der Benommenheit und
»Schutzschild« durchbrechen (Freud, 1917/1972). Das Ich ver- Abwehr dachte Harry zwar ab und zu an den
sucht dann das innere Gleichgewicht durch Entladen, Binden T
oder Abreagieren der Energie wiederherzustellen.
6.2 · Psychodynamisch-kognitive Konzeptualisierung
111 6
Unfall, war dabei aber überrascht, dass der Vorfall ln geringem Ausmaß existierte auch eine aber-
so wenig emotionale Wirkung bei ihm hinterlassen gläubische Überzeugung, dass die Frau per An-
zu haben schien. Er war verantwortungsbewusst halter gefahren war und dadurch den Unfall
und korrekt in seiner Arbeit, seine Frau berichtete »verursacht« hatte. Mit dieser Auffassung war Wut
jedoch, dass er sich beim Schlafen im Bett auf die Frau verbunden, die wiederum die ver-
herumwarf und mit den Zähnen knirschte, schiedenen Schuldgefühle verstärkte.
außerdem schien er angespannter und gereizter
als gewöhnlich.
Vier Wochen nach dem Unfall hatte er einen
6.2 Psychodynamisch-kognitive
Alptraum, in dem verstümmelte Körper auftauch-
ten. Er erwachte mit einem AngstanfalL Während
Konzeptualisierung
der folgenden Tage sah er wiederkehrende, in-
Der Unfall hat für Harry viele Bedeutungsele-
tensive und sich aufdrängende Bilder des Frau-
mente, die seinen früheren Weltsichten (Schema-
enkörpers in seiner Vorstellung. Diese Bilder und
ta) widersprechen. Die eigene Lebensbedrohung,
das gleichzeitige Nachsinnen über die Frau wur-
die Möglichkeit, Schaden angerichtet zu haben,
den von Angstattacken zunehmender Stärke be-
das Grauen vor Tod und Verletzung sowie die
gleitet. Er entwickelte eine Phobie gegenüber dem
Angst vor Beschuldigungen durch Dritte stehen
Fahren zur und von der Arbeit. Er erlebte Wut-
früheren Vorstellungen eines Wunsches nach Un-
ausbrüche bereits bei kleinen Ärgernissen, hatte
versehrtheit, dem bisherigen Selbstbild und bis-
Konzentrationsprobleme bei der Arbeit und sogar
herigen Rollenauffassungen gegenüber.
beim Fernsehen.
Dieser Konflikt zwischen neuen und alten
Harry bemühte sich erfolglos, seine Grübelei-
Selbstkonzepten erzeugt stark belastende Ge-
en über Schuldgefühle im Zusammenhang mit
fühle, die Harrys Bewusstsein zu überfluten dro-
dem Unfall zu unterdrücken. Besorgt über Harry's
hen. Um solche schwer erträglichen Gefühle zu
Klagen über Schlaflosigkeit, Gereiztheit und zu-
vermeiden, schränkt Harry vielleicht sowohl die
nehmenden Alkoholgenuss, überwies ihn sein Arzt
fortgesetzten Gedanken über die »realen« als
in psychiatrische Behandlung.
auch die »phantasierten« Konsequenzen des
Harry weigerte sich zu Beginn der psychiatri-
Traumas ein. Dadurch werden die traumatischen
schen Diagnostik, von den Details des Unfalls zu
Wahrnehmungen nicht vollständig verarbeitet
berichten. Dieser Widerstand ließ relativ schnell
und integriert. Sie werden aber gespeichert, weil
nach, und er berichtete von wiederkehrenden, sich
sie für ein Vergessen zu wichtig und bedeutungs-
aufdrängenden Bildern des Frauenkörpers in sei-
voll sind.
nen Vorstellungen.
Während der folgenden psychotherapeuti-
schen Behandlung bearbeitete Harry verschiedene
Vorstellungs- und Gefühlsbereiche, die assoziativ Die gespeicherten Informationen bleiben aktiv
mit dem Unfall und den sich aufdrängenden Bil- und diese aktive Speicherung hat eine Ten-

dern verknüpft waren. Die auftauchenden Kon- denz zu wiederheiter Repräsentation zur Fol-
ge. Diese Tendenz verursacht so lange unge-
fliktthemen umfassten
wollte Erinnerungen, bis die Verarbeitung ab-
- Schuldgefühle, den Tod der Frau verursacht zu
geschlossen ist. Mit Abschluss der Verarbei-
haben,
tung werden die gespeicherten Bilder aus dem
- Schuldgefühle über die sexuellen Phantasien,
aktiven Gedächtnis gelöscht (Horowitz, 1976,
die er über sie vor dem Unfall hatte,
1986; Horawitz & Becker, 1972).
- Schuldgefühle, dass er froh war, noch am Le-
ben zu sein, während sie gestorben war,
- und Angst und Ärger, dass er in einen Unfall Die Intrusionen können adaptiv sein, wenn sie ei-
und ihren Tod verwickelt worden war. ne Fortsetzung der Verarbeitung bewirken. Sie
T können aber auch maladaptiv sein, wenn sie
von anderen Gedanken ablenken, sehr schmerzli-
112 Kapitel 6 · Persönlichkeitsstile und Belastung sfolgen

ehe Erinnerungen hervorrufen sowie Angst vor Alle 6 Themen können durch den Unfall akti-
einem Verlust der geistigen Kontrolle und patho- viert werden. Bei verschiedenen »Harrys« mit
logische Abwehrmechanismen verursachen. verschiedenen Persönlichkeitsstilen werden eini-
Manchmal kann die Vermeidung allerdings auch ge Themen besonders wichtig bzw. konflikthaft.
die Anpassung fördern, da sie eine dosierte Inte-
gration der Traumainhalte erlaubt. Sie behindert
dagegen eine Anpassung, wenn sie ein Durch- Wichtige Problemthemen in
arbeiten verhindert, zu unrealistischen Kognitio- Abhängigkeit vom Persönlichkeitsstil
nen führt oder weitere Probleme verursacht, wie Bei einem histrionischen Harry kann das
etwa Harrys Alkoholismus. Thema der sexuellen Schuld vorherrschen
(T3).
Bei einem zwanghaften Harry dominiert
Problemthemen möglicherweise das Thema der Schuld

Sechs Problemthemen aus Harrys späterer Psy- wegen aggressiver Impulse (T2), der Sor-

chotherapie sollen als kognitiv-emotionale Struk- gen um die Pflichtverletzung (01) und das
Bild von sich selbst als unschuldigem
turen in schematischer Form betrachtet werden.
Opfer (03).
In D Tabelle 6.1 ist jedes Thema einem Konflikt-
Bei einem narzisstischen Harry überwiegt
bereich und einem resultierenden Gefühl gegenü-
vielleicht das Thema der Erleichterung,
bergestellt.
dass er selbst am Leben blieb und die Frau
Die 3 ersten Themen (»Täterthemen«: Tl-T3)
das Opfer war (Tl).
lassen sich dadurch zusammenfassen, dass sich
Harry selbst als Täter und die Frau als Opfer
sieht. In den folgenden 3 Themen (»Opferthe-
men«: 01-03) betrachtet sich Harry selbst als
das Opfer.

D Tabelle 6.1. Themen, die durch den Unfall aktiviert wurden


ln den ersten 3 Themen (T1-T3l sieht sich der Patient als Täter, in den letzten 3 Themen (01-03} als Opfer

I
Thema Im Konflikt mit ..• Resultiert in ...
(Momentane Vorstellung}

Selbst als Täter

Tl Erleichterung, dass sie und nicht er Moralischen Vorstellungen Schuldgefühl


das Opfer war (Überlebensschuld)

T2 Aggressionen ihr gegenüber Moralischen Vorstellungen Schuldgefilhl


(da sie seine Probleme verursachte)

T3 Sexuelle Vorstellungen über sie Moralischen Vorstellungen Schuldgefühl

Selbst als Opfer

01 Ihre Körperverletzung hätte ihm Vorstellung vom unver- Angst (vor Tod
widerfahren können wundbaren Selbst und Verletzung)

02 Er hat gegen Regeln verstoßen Verantwortung gegenüber Angst


dem Unternehmen (vor Anschuldigungen)

03 Das Trampen hat die Situation Allgemeine Unschuldig- Wut


herbeigeführt keitsvorstellung. Die

I Schuld liegt außerhalb


6.3 · Allgemeine Behandlungsstrategien
113 6
6.3 Allgemeine Behandlungsstrategien Anamnese. Die Anamnese des Patienten im Rah-
men einer psychodynamisch-kognitiven Thera-
Mindestens zwei Prozesse bestimmen die Intensi- pie schließt immer die eingehende Betrachtung
tät der Belastungssyndrome: von Konflikten ein, die bereits vor dem traumati-
- die Tendenzen zu Intrusionen und schen Ereignis bestanden haben und die durch
- die Tendenzen zur Vermeidung und Verleug- das Ereignis weiter verschärft wurden. Gleichzei-
nung. tig werden die vorangegangenen Entwicklungs-
erfahrungen untersucht, um Hinweise zu erhal-
Das allgemeine Behandlungsrational besteht da- ten, welche Phantasien das Ereignis ausgelöst ha-
rin, die übermäßige Intensität dieser beiden Pro- ben können.
zesse zu reduzieren. Zunächst ist es das Ziel, die
extremen psychischen Zustände nach Traumen TherapiezieL Allgemeines Ziel der Therapie ist es,
beherrschbar zu machen, denn diese gefährden die Bewusstmachung solcher Konflikte und
den Patienten selbst oder andere Personen. Sind Phantasien zu fördern, da dies bei der Lösung
die anfangliehen extremen Symptome reduziert, weiterer noch unbewusster Probleme hilft. Die
besteht die Aufgabe, die belastenden Erinnerun- therapeutische Kommunikation dient dabei der
gen zu integrieren (»zu komplettieren«). Bewusstmachung und wiederholten Betrachtung
Auf der theoretischen Ebene kann diese Kom- der Konflikte und Phantasien. Das strategische
plettierung als eine Entschärfung des Konflikts Problem der Therapie liegt darin, subjektiv er-
zwischen den neuen Konzepten und den früher trägliche Mengen von bewussten Erinnerungen
ausgebildeten Schemata definiert werden. des Traumas herzustellen. Auf sich allein gestellt
hat der Patient die Erinnerungen abgewehrt, um
schmerzliche Gefühle zu vermeiden. In der The-
Der entscheidende Punkt für die Therapie liegt rapie werden die emotionalen Reaktionen, die ge-
dabei in Veränderung der früher ausgebilde- nauso schmerzhaft sein können, innerhalb er-
ten Schemata (z. B. wie das Selbst im Bezug zur träglicher Grenzen gehalten, weil die therapeuti-
Umwelt steht). sche Beziehung das Sicherheitsgefühl des Patien-
ten erhöht. Zusätzlich setzt der Therapeut ver-
schiedene Interventionstechniken den Vermei-
Es ist dabei nicht maßgeblich, wie ältere psycho-
analytische Konzeptionen nahelegen, dass der dungsstrategien des Patienten entgegen. Diese In-
terventionen bestehen in der Regel in einer Reali-
Patient zur Entladung angestauter Erregung
durch »Abreagieren« und »Katharsis« gebracht tätsüberprüfung und der aktiven Interpretation
wird. spezieller Erinnerungen, Phantasien und Vermei-
dungsimpulse (Horowitz, 1986).
Um den Veränderungsprozess zu vollziehen,
müssen entweder neue Informationen aufgenom-
men werden oder frühere Konzepte so umgestal-
tet werden, dass sie dem veränderten Leben nach Es ist zu beachten, dass der hohe Belas-
dem traumatischen Erlebnis genügen. Emotiona- tungsgrad nach einem Trauma eine allgemei-
le Reaktionen treten in diesem Prozess immer ne Regression verursachen kann, in der ent-
dann auf, wenn zwei Überzeugungen miteinan- wicklungsmäßig primitive Verhaltensmuster
der im Konflikt stehen. beobachtet werden können (einschließlich
primitiver Konflikte). Ein Bedürfnis nach elter-
lichen Objekten kann dabei die therapeutische
Praktischer Therapieansatz Beziehung beeinflussen. Diese Regressivitäts-
zeichen können aber ohne besondere thera-
Der praktische Ansatz einer Kurztherapie ist in
peutische Maßnahmen wieder abklingen,
a Tabelle 6.2 zusammengefasst.
wenn der traumatische Belastungszustand
nachhaltig reduziert wird.
114 Kapitel 6 · Persönlichkeitsstile und Belastung sfolgen

D Tabelle 6.2. Allgemeine Behandlungsziele nach Phasen der Patientenreaktionen


(verschiedene Persönlichkeitsstile sind dabei noch nicht berücksichtigt)

Aktueller Zustand des Patienten Behandlungsziel

Anhaltende Belastung durch das traumatische Ereignis Beendigung des Ereignisses oder Entfernung
des Patienten aus seinem Umkreis
Aufbau einer temporären Beziehung
Hilfe bei Entscheidungen, Plänen oder beim
Abstand finden

Umschwünge zu unerträglichen Zuständen: Verringerung der Schwingungsamplituden hin zu


Attacken von GefOhlen und Bildern erträglichen Dosen der Erinnerungen und GefOhle
- Lähmende Vermeidung und Betäubtheil

Erstarrung in Oberkontrolliertem Zustand Dem Patienten Hilfe geben und begleiten fOr
der Vermeidung und Betäubtheil begrenztes Wiedererleben des Traumas und
seiner Folgen; ihm helfen, sich für eine Zeitlang zu
erinnern, eine Zeitlang die Erinnerung weg·
zuschieben, eine Zeitlang sich zu erinnern usw.
Während der Erinnerungsphasen dem Patienten
helfen, seine Erfahrungen zu organisieren und
auszudrücken; wachsende Sicherheit in der
therapeutischen Beziehung ermöglicht die
weitere Verarbeitung des Traumas

Fähigkeit, Phasen der Erinnerung und Gefühls- Dem Patienten Hilfe geben, die Assoziationen und
erregung wahrzunehmen und auszuhalten lmplikationen (kognitive, emotionale, relationale
und selbstbildbezogene) zu verarbeiten
Dem Patienten Hilfe geben, das Trauma mit frühe-
ren Bedrohungen, Beziehungsmustern, Selbst-
konzepten und Zukunftsplänen in Beziehung zu
setzen

Fähigkeit zur unabhängigen Verarbeitung Bearbeiten der therapeutischen Beziehung


(•Durcharbeiten•) von Gedanken und Gefühlen Beendigung der Behandlung

Ziel der eingesetzten Techniken ist es zu einer 6.4 Der histrionische Persönlichkeitsstil
kognitiven und emotionalen Integration von unter Belastung
Schemata zu gelangen und damit den Belastungs-
zustand zu reduzieren. Es ist nicht das Ziel, um- Das Konzept des hysterischen oder histrioni-
fassende Änderungen der Persönlichkeit herbei- schen Charakters wurde im Kontext psychoana-
zuführen. Allerdings zeigen Personen mit unter- lytischer Studien zu hysterischen Neurosen ent-
schiedlicher Persönlichkeitsstruktur verschiede- wickelt. Die Hauptsymptome hysterischer Neuro-
ne Arten von Widerstand und Beziehungsgestal- sen galten entweder Konversions- oder dissoziati-
tung während dieser Prozesse. ven Episoden (Freud, 1893/1975; Janet, 1965).
Die allgemeinen Techniken werden deshalb, Heute wird die histrionische Persönlichkeit als ei-
abhängig von den Persönlichkeitsdispositionen ne Konstellation gesehen, die für Konversions-,
des Patienten, in verschiedenen technischen Nu- Angst- und dissoziative Störungen prädisponiert
ancen abgewandelt und eingesetzt. Welche Unter- oder die eigenständig mit bestimmten Mustern
schiede finden sich bei histrionischen, zwanghaf- an Impuls-Vermeidungs-Strategien und verschie-
ten und narzisstischen Patienten unter Belastung? denen Verhaltensbesonderheiten auftritt. Die his-
6.4 · Der histrionische Persönlichkeitsstil unter Belastung
115 6
trionische Persönlichkeit lässt sich als besonders Diese unsachliche Weltsicht fördert auf der
lebhaft, dramatisch, extravertiert, stimmungs- Verhaltensebene dramatische Liebesverhältnisse,
labil und mit erregbaren emotionalen Zügen be- ein Leben in Phantasmen und »la belle indiffe-
schreiben. rence« (angenehmer Gleichgültigkeit). Zum Bei-
Klinische Untersuchungen legen nahe, dass spiel kann ein histrionischer Mensch sehr schnell
histrionische Personen aufgrund ihres Hangs mit einem emotionalen Ausbruch reagieren und
zum Dramatisieren besonders anfällig für Belas- dabei gleichzeitig unfähig sein, diesen Vorgang
tungsfolgesyndrome sind (Horowitz, 1991). Dies und seine Gründe dafür zu benennen und zu er-
tritt in besonderem Maße auf nach klären. Nach Abschluss eines Gefühlsausbruchs
- sexuellen Träumen, erinnert er sich u.U. nur undeutlich an seine eige-
- Verlust von Personen oder Positionen, die di- nen emotionalen Empfindungen und betrachtet
rekt oder symbolisch Aufmerksamkeit oder sie so, als seien sie fremderzeugt gewesen und
Liebe zur Verfügung stellen, nicht von ihm selbst hervorgerufen worden.
- Verlust von Körperteilen, Die beschriebenen Stile der Wahrnehmun-
- Ereignissen, die mit Schuld über persönliches gen, Gedanken und Emotionen führen zu Verhal-
Handeln zusammenhängen. tensmustern, die sich auf zwischenmenschliche
Beziehungen, Persönlichkeitseigenschaften und
Außerdem kann jedes Ereignis, das starke Emo- Kommunikationsformen auswirken. Die folgende
tionen wie Erregung, Ärger, Angst, Schuld oder Übersicht fasst systematisch zusammen, was die
Scham hervorruft, verstärkt belasten. einzelnen Komponenten des histrionischen Stils
Klinische Studien geben auch einen Hinweis bedeuten und wie sie zu beobachten sind.
darauf, welche Art von Reaktionen bei histrio-
nischen Patienten während und nach Extrembe-
lastungen häufiger auftreten können (Horowitz, Informationsverarbeitungsstil
1991). Unter Belastung wird der histrionische Pa- bei histrionischen Personen
tient emotional, impulsiv, labil, lebhaft, drama- Gefühle und Gedankenfluss (beobachtbar in
tisch und möglicherweise in Motorik, Wahrneh- kurzen Zeitausschnitten)
mung und Denkvorgängen verändert. Global gestreute Aufmerksamkeit,
Die kognitiven und emotionalen Muster wur- verschwommene oder unvol lständige
den schon von Shapiro (1965) beschrieben. Er Repräsentationen von Gedanken und
hob die Bedeutung von Impressionismus (d. h. Gefühlen, oft mit mangelnden Details
dem Nebeneinander von unverbundenen Ideen) oder vagen Begriffsbezeichnungen; non-
und Ausblenden (Informationsunterdrückung) verbale Kommun ikation korrespondiert
als Teil des histrionischen Stils hervor. Das be- nicht mit Worten oder bewussten Aus-
deutet, dass dem prototypischen histrionischen drücken,
Patienten eine deutliche Aufmerksamkeitsfokus- Gedankenfolgen (Assoziationen) sind
sierung fehlt und er sehr schnell zu einer globa- unvollständig oder einseitig,
len aber oberflächlichen Einschätzung der Bedeu- Kurzschlüsse beim Lösen von Problemen
tung von Wahrnehmungen, Erinnerungen, Phan- oder mehrdeutige Lösungen.
tasien und eigenen Gefühlen gelangt. Damit kor- Persönlichkeitseigenschaften (beobachtbar
respondiert ein Mangel an sachlichen Details und in mittelfristigen Zeitausschnitten, z. B. Ge-
Definitionen in der Wahrnehmung sowie leichte sprächen)
Ablenkbarkeil und Unfähigkeit zu anhaltender Aufsehen-suchendes Verhalten, z. B. For-
oder intensiver Konzentration. Die überdauernde derungen nach Aufmerksamkeit und/oder
Kontinuität solcher Wahrnehmungs- und Vorstel- Einsatz von Charme, Vita lität, sexuel ler
lungsstile führt zu einer relativ unsachlichen Anziehung, Kindlichkeit,
Weitsicht, in der die wesentlichen Selbst-, Bezie-
hungs- und Weltschemata eine oberflächliche
Qualität aufweisen.
116 Kapitel 6 · Persönlichkeitsstile und Belastungsfolgen

- Vermeidung von automatischen Assoziations-


häufige Stimmungs- und Gefühlswechsel, verbindungen: Das dritte Manöver besteht da-
einschließlich Gefühlsausbrüchen, rin, weiterführende gedankliche Verbindun-
Unbeständigkeit von Einstel lungen. gen zu vermeiden, um das volle Bewusstwer-
Zwischenmenschliche Beziehungen den der bedrohlichen Bedeutungen zu ver-
(beobachtbar in Langzeitmustern der meiden.
Patientenbiografie)
Sich wiederholende, impulsive, stereotype Gäbe es diese Kontrollbemühungen nicht, würde
zwischenmenschliche Beziehungen, oft Harry sich vielleicht wieder an den Tod der Frau,
in Form einer Opfer-Täter-, Kind-Eitern-, seine Erleichterung, selbst überlebt zu haben und
Rettungs- oder Verführungsthematik, seine Einstellung, auf ihre Kosten überlebt zu ha-
klischeehafte Phantasien und Selbst- ben, erinnern. Sollten diese Anstrengungen nicht
Objekt-Beziehungen, ausreichen, bedrohliche Gedanken und Gefühle
getriebener oder dramatischer Lebensstil, abzuwehren, stehen zusätzliche Methoden zur
oft mit einem existenziellen Gefühl, dass Verfügung:
die Realität nicht real sein könnte. - Ein viertes Manöver besteht in der Rollen-
umkehrung von aktiv zu passiv. Harry kann
vermeiden, sich selbst als aktiv zu sehen, in-
dem er andere Faktoren dominieren lässt,
6.4.1 Besonderheiten der z. B. das allgemeine Schicksal oder die
Gedanken- und Gefühlskontrolle Persönlichkeit der Frau. Er kann dann seine
Gedanken darüber ändern, dass er am Leben
Harry wird im Folgenden als eine Person be- blieb, weil es möglicherweise der aktive
trachtet, die auf eine Extrembelastung in typisch Wunsch der Frau war, sich durch das Tram-
histrionischer Weise reagiert. Insbesondere eines pen in Lebensgefahr zu begeben.
der 6 konflikthaften Themen, die an früherer - Das fünfte histrionische Manöver ist eine Ver-
Stelle beschrieben wurden (s. D Tabelle 6.1), soll änderung des Bewusstseinszustandes. Meta-
dazu verwendet werden, die histrionische Art phorisch ausgedrückt, kann der histrionische
der Gedanken- und Gefühlskontrolle zu erläu- Patient eine Idee nicht daran hindern, ins Be-
tern. Dieses Thema betrifft Harrys Erleichterung, wusstsein zu dringen, so entzieht er der Idee
dass nicht er selbst, sondern eine andere Person das Bewusstsein. Dies gelingt, indem er die
gestorben ist (Tl). Bewusstseinsqualität sowie die Selbstreflekti-
Von einem mikrogenetischen Standpunkt aus on verändert. Harry setzte zu diesem Zweck
betrachtet, dominieren bei Harry 3 Vermeidungs- Alkohol ein, um in einen hypnoiden Zustand
bzw. Kontrollbemühungen (»Manöver«): zu gelangen. Zur Herstellung von solchen
- Vermeidung der Repräsentation: Die Hem- (leichten) Bewusstseinsveränderungen und
mung der bewussten Repräsentationen kann den Verlust des reflektierenden Selbstbe-
in dem Versuch bestehen, die auftretenden wusstseins sind allerdings äußere Kräfte (wie
bildhaften Vorstellungen des Frauenkörpers der Alkohol) nicht unbedingt erforderlich.
abzuwehren.
- Vermeidung der Übersetzung bedrohlicher Ein histrionischer Mensch hat weitere Manöver
Informationen von einer Repräsentationsart aufzuweisen, die sich jedoch über einen längeren
in eine andere: Die Übersetzung aus der ur- Zeitraum erstrecken:
sprünglichen in andere Repräsentationsfor- - Harry könnte die Erinnerung an die Situatio-
men bedeutet, dass Harry es vermeidet, seine nen so verändern, dass ein Außenstehender
visuellen Bilder in verbale Konzepte, die Tod, für sein überleben verantwortlich gemacht
Erleichterung und Verursachung betreffen, zu wird. Damit wird die Gefahr eines Schuldbe-
überführen. wusstseinsaufgrund einer persönlichen Akti-
vität reduziert.
6.4 · Der histrionische Persönlichkeitsstil unter Belastung 117 6
- Harry könnte durch eine überdauernde Harry, die der Therapeut in neutralem oder
Persönlichkeitsänderung vermeiden, sich freundlichem Ton wiederholt, weniger selbstbe-
selbst als verantwortlich für sein Tun, als be- strafend erscheinen. Der Patient hört Bedeutun-
wusst, ja sogar als vollständig wirklich zu er- gen vielleicht klarer, hört zusätzliche neue Bedeu-
leben. Er könnte sich durch solch ein histrio- tungen seiner eigenen Aussagen, und die vorher
nisches Manöver vollständig mit anderen Per- vermiedenen Ideen können bei Wiederholung
sonen, realen oder fiktiven, identifizieren, durch den Therapeuten weniger bedrohlich er-
was ihm für sein späteres Leben jede eigene scheinen.
Verantwortung abnehmen würde. Die einfache Wiederholung ist natürlich alles
andere als »einfach«. Der Therapeut wählt be-
stimmte Formulierungen aus und kann diese so
6.4.2 Therapietechnik: Klärung kombinieren, dass dem Patienten ursächliche Zu-
sammenhänge klarer werden. Zu Beginn hatte
Harry noch vage gesagt: »Vielleicht habe ich
Glück gehabt, dass ich noch lebe«. Die Bestätigung
Das Ziel des Therapeuten bei einer Person mit
mit einem »Ja« durch den Therapeuten betont le-
histrionischer Persönlichkeit besteht darin,
diglich den Gedanken. Eine vollständigere Wie-
den Belastungszustand dadurch zu beenden,
derholung mit anderen Worten, wie etwa »Sie
dass er ihm zu einer Verarbeitung der
fühlen sich glücklich, überlebt zu haben«, kann
traumabezogenen Gedanken und Gefühle
klärende Auswirkungen haben. Sie leitet Harry
verhilft. Es besteht nicht darin, den Persön-
zum potentiell nächsten Gedanken: »Die junge
lichkeitsstil des Patienten zu ändern.
Frau hatte nicht solch ein Glück; ich fühle mich
schlecht, weil es mir gut geht.« Mit seinen eigenen
Diese Behandlung beruht auf dem Verstehen des Gedanken allein gelassen, sind Harry möglicher-
Persönlichkeitsstils und folgt den oben beschrie- weise die verschiedenen Aspekte des Themas
benen allgemeinen Therapietechniken (s. a Tabel- schon vereinzelt zu Bewusstsein gekommen, er
le 6.2), wozu allerdings einige spezifische Techni- hat z. B. Gewissensbisse und Angst. Dabei hat er
ken hinzukommen. aber seinen eigenen Gedanken und Gefühlen
Als hauptsächliche Therapiestrategie wird die noch nicht richtig »zugehört«.
Klärung eingesetzt, die sich verschiedener For-
men oder Akzentuierungen bedient.
Interpretationen oder Klarstellungen

Interpretationen oder Klarstellungen sollten sehr


Wiederholung
kurz und einfach gehalten sein und auf nüchtern-
Eine Form der Klärung ist die einfache Wieder- sachliche Art vorgetragen werden. Diese Form
holung dessen, was der Patient gesagt hat. Durch dient dazu, der Verschwommenheit, Emotionali-
die Wiederholung kann der Therapeut beim hist- tät sowie der Tendenz zu begegnen, jegliche The-
rionischen Patienten einen gewissen Klärungs- rapeutenaktivität in eine Phantasiebeziehung
effekt erreichen, weil dieser möglicherweise auf umzudeuten. Als Reaktion auf vage Aussagen
die Spiegelung seiner eigenen Aussage mit des Patienten kann der Therapeut vereinzelte
Schreck, Verwunderung, Lächeln oder anderen Formulierungen zusammenziehen, z. B. »Sie hat-
Gefühlsausdrücken antwortet. Die gleichen Wor- ten den Gedanken: >Ich bin so froh, dass ich noch
te, vom Therapeuten ausgesprochen, bedeuten et- lebe<, denken aber gleichzeitig >Ist es nicht furcht-
was ganz anderes, als wenn sie vom Patienten bar, froh zu sein, während sie tot ist?<«.
selbst gedacht oder ausgesprochen werden. Sie Harry kann seinen eigenen Ideen und Gedan-
werden in diesem Fall ernster genommen. ken über das Vehikel des Therapeuten zuhören
In die Wiederholung von Äußerungen fließen und dabei zu selbständigen Bekräftigungen oder
jedesmal zusätzliche Bedeutungen mit ein. Zum Zustimmungen gelangen. Wiederholungen der
Beispiel kann eine schuldbewusste Aussage von Patientenworte sind abstrakterem Zusammenfas-
118 Kapitel 6 · Persönlichkeitsstile und Belastungsfolgen

sen vorzuziehen, bei dem man z. B. sagen würde: Auf der anderen Seite:
»Sie haben ein schlechtes Gewissen aufgrund eines - Verharrt der Therapeut in der Näheposition,
Gedankens, den jeder in einer solchen Situation so wird ein Durcharbeiten der Gedanken
haben würde.« zwar beginnen, aber bald durch die An-
spruchshaltungen im Patient-Therapeut-Ver-
hältnis (Übertragung) behindert werden.
6.4.3 Beziehungsaspekte
bei histrionischen Patienten
6.5 Der zwanghafte Persönlichkeitsstil
Nach einem Extremereignis reagiert der histrio- unter Belastung
nische Patient häufig mit extremen Gefühls-
schwankungen. Durch diese Schwankungen kann Theoretische Annahmen
der Therapeut selbst zwischen Nähe und Distanz Die heutige Theorie vom zwanghaften Stil ent-
gegenüber dem Patienten hin und her gerissen wickelte sich aus der Analyse von neurotischen
sein. Der histrionische Patient kann versuchen Zwangsgedanken, Zwangshandlungen, Grübeln
zu erzwingen, Fürsorge und Aufmerksamkeit zu und irrationalen Ängsten. Abraham (1942) und
erhalten. Besonders nach einer Extrembelastung Freud (1909/1971) glaubten, dass die zwanghafte
braucht er die Wärme und menschliche Unter- Neurose sekundär aus der Regression oder Fixa-
stützung des Therapeuten. Ohne diese wird die tion auf die anal-sadistische Phase der psycho-
therapeutische Beziehung zerbrechen und der sexuellen Entwicklung hervorgeht. Der haupt-
Patient weitere psychische Störungen entwickeln. sächliche Konflikt ergibt sich aus dem Neben-
Während dieser Anfangsphase sollte der Thera- einanderbestehen bzw. dem Kampf zwischen Do-
peut dem Patienten auf pragmatische Weise nä- minanz- und Unterordnungsbestrebungen.
her kommen: gerade nahe genug, um die notwen- Eine Fixierung auf eine der beiden Positionen
dige Unterstützung zu geben, aber nicht so nah, (Dominanz oder Unterordnung) wird dadurch
wie es der Patient scheinbar wünscht. verhindert, dass der Zwanghafte sehr schnell zwi-
Wenn sich der Patient später besser fühlt, kann schen beiden wechselt. Dieser Wechsel verhindert
ihn das Ausmaß der Vertrautheit, die in der the- zwar Entscheidung und Entschlossenheit, resul-
rapeutischen Beziehung erreicht wurde, auf ein- tiert beim Zwanghaften aber in einem Gefühl
mal ängstigen, weil er fürchtet, vom Therapeuten von Kontrolle und der Vermeidung unangeneh-
vereinnahmt zu werden. An diesem Punkt begibt mer Gefühlszustände. Der schnelle Wechsel ver-
sich der Therapeut zurück in eine stärker distan- hindert, dass Gefühle voll ins Bewusstsein ein-
zierte oder »kühlere« Haltung. Damit schwingt dringen können. Trotzdem gelingt es nicht, die
der Therapeut hin und her, um den Patienten in- Gefühle vollständig auszuschalten. Einige Zwang-
nerhalb eines Sicherheitsbereiches zu halten, in- hafte erleben Intrusionen von Gefühlen in Form
dem er sensibel die Art und Weise seiner Bezie- von Wutanfällen.
hung zum Patienten modifiziert. Diese Sicherheit
erlaubt es dem Patienten, sich in Richtung einer Kognitive Stile bei zwanghaften Personen. Salz-
größeren Klarheit seiner Gedanken zu bewegen man (1968) beschrieb »verbales Jonglieren« der
(Sandler, 1960; Weiss, 1971). zwanghaften Patienten zur Aufrechterhaltung
Die Schwingungsbewegung des Therapeuten des eigenen Kontrollgefühls. Die Bemühungen,
vermeidet beide Extreme: Kontrolle aufrechtzuerhalten, schließen Bedeu-
- Wenn der Therapeut in einer distanzierten tungsveränderungen, den Einsatz von Patent-
Position verharrt, während der Patient gerade rezepten, Wechsel von einer über- zu einer Un-
einer Stabilisierung seines Selbst durch eine terschätzung und - in einigen Fällen - die Zu-
Beziehungsaufnahme bedarf, so wird der Pa- schreibung magischer Eigenschaften für be-
tient diesen Konflikt so schmerzhaft erleben, stimmte Worte ein.
dass er seine inneren Probleme nicht weiter Shapiro (1965) hat den eingeengten Fokus der
offenlegt Aufmerksamkeit von zwanghaften Personen be-
6.5 · Der zwanghafte Persönlichkeitsstil unter Belastung
119 6
schrieben. Bestimmte Aspekte der Welt blendet
er aus, während er sich mit anderen detailliert Informationsverarbeitungsstil
beschäftigt. Normalerweise besteht die Aufmerk- bei zwanghaften Patienten
samkeit in einer idealen Flexibilität zwischen eng Gefühle und Gedankenfluss
gerichteter Aufmerksamkeit und mehr impressio- (beobachtbar in kurzen Zeitausschnitten)
nistischen Formen der Kognition. Dem Zwang- Detailreicher, enger Fokus der Aufmerk-
haften fehlt eine derartige Flüssigkeit. Shapiro samkeit.
beschreibt ebenfalls, wie der Zwanghafte in sei- klare Repräsentation von Gedanken,
nen Gedankengängen, Emotionen und in seinem schwache Repräsentation von Gefühlen,
Verhalten durch »sollte« und ))müsste« getrieben Wechsel in gedanklicher Organisation und
wird, die von seinem Pflichtbewusstsein, seinen Ausrichtung, Gedankenfolgen (Assoziatio-
Ängsten vor Kontrollverlust und von seinem nen) werden nicht bis zu Schlussfolge-
Bedürfnis diktiert werden, die Wahrnehmung rungen geführt, die der ursprünglichen
seiner Wünsche abzuwehren. Absicht oder ihren intrinsischen Bedeu-
Trotz allgemeiner Fähigkeiten zu harter Ar- tungen entsprechen,
beit, Produktivität und ))Willenskraft« kann die vermeidet Abschluss oder Entscheidung
zwanghafte Person Schwierigkeiten und Unwohl- eines vorliegenden Problems, statt dessen
sein empfinden, wenn eine Entscheidung zu tref- wird zwischen verschiedenen Einstellun-
fen ist. Statt auf der Grundlage von Wünschen gen hin- und hergewechselt
und Befürchtungen zu entscheiden, muss der Persönlichkeitseigenschaften
Zwanghafte ein Gefühl der Allmacht aufrecht- (beobachtbar in mittelfristigen Zeitausschnit-
erhalten und deshalb die gefährlichen Fehler ver- ten, z. B. Gesprächen)
meiden, die einer Welt des Versuch-und-Irrtum Zweifeln, Grübeln, Zögern,
innewohnen. Die Entscheidung zwischen ver- einseitig, schwer zu beeinflussen,
schiedenen Wahlmöglichkeiten stützt sich häufig lntellektualisierer,
auf eine Regel, die zur Sicherung einer ))fichti- angespannt, bedächtig, wenig begeiste-
gen« Entscheidung herangezogen wurde, oder rungsfähig,
wird ansonsten impulsiv getroffen, um die Angst rigide, zu Ritualen neigend.
zu beenden. Das Ergebnis dieser kognitiven Stile
Zwischenmenschliche Beziehungen
ist die subjektiv erlebte Distanz gegenüber den ei-
(beobachtbar in Langzeitmustern
genen Gefühlen. Die Ausnahme bildet ein Gefühl
der Patientenbiografie)
ängstlicher Selbstzweifel, eine Stimmung, die
Entwickelt reglementierte, routinemäßige
durch das Fehlen eines kognitiven Zu-Ende-kom-
und beständige zwischenmenschliche
men-Könnens verursacht wird.
Beziehungen, mit wenig Lebendigkeit
Diese Diskussion hat Aspekte des kognitiven
oder Freude; ein Zusammensein kann sich
Stils in den Mittelpunkt gestellt. Diese Aspekte
oft frustrierend gestalten,
sind nachfolgend zusammen mit allgemeinen
anfällig für Dominanz-Unterordnungs-
Persönlichkeitsmerkmalen und Verhaltensmus-
Themen,
tern überblicksmäßig dargestellt.
Pflichterfüller, hart Arbeitender; sucht für
sich selbst oder versucht bei anderen
Belastung und Druck; tut eher was man
tun »sollte« als das, wofür er sich selbst
entscheiden würde,
Selbstwahrnehmung als distanziert von
emotionalen Bindungen, obwohl ein
inneres Verpflichtungsgefühl besteht,
mit anderen in Kontakt zu sein.
120 Kapitel 6 · Persönlichkeitsstile und Belastungsfolgen

6.5.1 Besonderheiten der Gedanken- von einem Aspekt eines Themas zu einem ande-
und Gefühlskontrolle ren die gefühlsauslösenden Wirkungen vermie-
den werden, die durch die Themen impliziert
Anfänglich kann im Erleben von Personen mit werden.
histrionischem und zwanghaftem Stil kaum ein In der Diskussion eines histrionischen Harrys
Unterschied bestehen. Allerdings bleibt die wurde das Thema der Überlebensschuld (Tl) als
zwanghafte Person, abgesehen von äußerst extre- Beispiel genutzt. Ein zwanghafter Harry kann die
men Belastungen, im Unterschied zu den emotio- Dominanz für das Auftreten des gleichen Themas
nalen Ausbrüchen des histrionischen Patienten teilen, der Bedrohung durch dieses Thema jedoch
möglicherweise in ihrem Verhalten ruhig und mit einem Stil begegnen, der eher durch Positi-
emotionslos. (Diese Abhandlung erfordert der- onswechsel (»shifts«) als durch Vagheit und Ab-
artige Generalisierungen, es sollte jedoch beach- schwächung gekennzeichnet ist (z. B. »shift« zwi-
tet werden, dass bei manchen Ereignissen Zwang- schen Tl und 01, s. a rabelle 6.1).
hafte recht emotional reagieren und histrionische
Patienten ruhig bleiben können. Der Unterschied 8 Beispiel
besteht in der Qualität des bewussten Erlebens Ein zwanghafter Harry
der einzelnen Personen. Die histrionische Person ln der Psychotherapie beginnt Harry von den in-
kann eine »histrionische Ruhe« erfahren, die auf trusiven Vorstellungsbildern des tot daliegenden
einer Hemmung verschiedener Aspekte potentiel- Frauenkörpers zu berichten. Er kommt dann auf
len Wissens beruht. Es treten dann deshalb keine sein Gefühl zu sprechen, dass er erleichtert war,
Emotionen auf, weil die Implikationen unbekannt noch zu leben. Idealerweise würde er jetzt das
sind. Falls und wenn sich der Zwanghafte emotio- Überlebensschuldgefühl benennen. Ein zwang-
nal verhält, kann es von ihm als ein Kontrollver- hafter Harry wechselt allerdings auf einen anderen
lust erlebt werden. Dieser muss dann durch ret- Inhalt, um den belastenden Gefühlen auszuwei-
rospektive Bedeutungsveränderungen, Rituale, chen.
Entschuldigungen oder Selbstbeschuldigungen Das Thema, auf das er wechselt, ist assoziativ
»ungeschehen« gemacht werden.) ebenfalls mit den Vorstellungsbildern des Frau-
Nach einem belastenden Ereignis weist der enkörpers verbunden. Der Ansatzpunkt zum
Zwanghafte wie der histrionische Patient die all- Wechsel ist die Vorstellung der Körperverletzung,
gemeinen Belastungsfolgen auf, d.h. sowohl Pha- die ihm hätte zustoßen können (01 ). Da dies aber
sen der Abwehr, emotionalen Betäubung als auch seinem Wunsch nach Unverletzbarkeit entgegen-
der Intrusion. Jedoch kann der Zwanghafte in der steht, resultiert aus dieser Vorstellung Angst. Ob-
Lage sein, die Phase der emotionalen Betäubung wohl die Angst als unangenehm und bedrohlich
mit größerer Stabilität aufrecht zu erhalten. Wäh- erlebt wird, ermöglicht der Wechsel von Tl zu 01
rend der Oszillationsphase zwischen Vermeidung ein Vermeiden von Schuldgefühlen. Erst wenn das
und Intrusionen kann der Zwanghafte bei der Be- zweite Thema (01) zu deutlich wird, kann die
schreibung der aufdringlichen Bilder genau und Angst möglicherweise zu stark werden. Der Pro-
klar sein, sich dabei aber auf Details konzentrie- zess kann mit einer Rückkehr zu Tl umgekehrt
ren, die z. B. mit »Pflicht« zusammenhängen, und werden. Harry kann zwischen Tl und 01 hin- und
sich von einfachen, Gefühle auslösenden Teilen herpendeln, ohne dass eine der beiden Mengen
des Erinnerungsgesamtbildes abwenden. Auf die gefährlicher Gedanken und Gefühle voll erlebt
bedrohlichen Intrusionen während der Oszillati- wird. Harry muss seine kognitiven Wechsel nicht
onsphase reagiert der Zwanghafte mit kognitiven auf die zwei Themen, die mit Körperverletzung
Manövern wie Positionswechseln (»shifts«). Der einhergehen, beschränken. Er kann zwischen allen
Zwanghafte kann durch einen »shift« auf etwas Themen wechseln. Er kann Schuld in Angst oder
anderes die kognitiven Prozesse blockieren und Wut verwandeln, umkehren oder Schuld durch
damit verhindern, dass vermiedene Inhalte stän- Angst oder Wut ungeschehen machen. Er kann
sich selbst als Opfer, dann als Täter, dann wieder
dig wieder auftreten. Das heißt, dass durch ein
Umschalten von einem Thema zum anderen oder ,.
6.5 · Der zwanghafte Persönlichkeitsstil unter Belastung
121 6
als Opfer betrachten usw. Diese »shifts« dämpfen die für ein bestimmtes Thema relevant waren,
die gefühlsmäßige Belastung, aber vermindern entwickelt und aufrechterhält. Während dieses
gleichzeitig auch die kognitive Verarbeitung der Vorgehens empfinden zwanghafte Patienten in-
Themen. tensive Gefühle.
Das Umschalten kann inmitten eines Gedan-
kenganges geschehen, zwischen seiner eigenen
Aussage und einer Antwort des Therapeuten oder
langsamere Wechsel
sogar als quasi simultaner Gedankengang. Manchmal gelingt es nicht, den Patienten an ein
Thema zu binden und der Therapeut muss das
Diese abrupten Umschaltvorgänge können The- Thema wechseln. Er sollte dies seltener und lang-
rapeuten, die bei Zwanghaften um Klärung samer tun als der Patient - so wie ein Schlepp-
bemüht sind, einen Strich durch die Rechnung anker die Fahrt abbremst. Bei jedem Wechsel
machen. Angenommen, der Therapeut unter- wird der Patient dann etwas mehr Zeit haben,
nimmt einen Klärungsversuch über Tl, das The- sich mit dem Thema auseinanderzusetzen, bevor
ma der Überlebensschuld. Der zwanghafte Harry ihn die Gedanken daran erschrecken und er das
hat aber bereits zu Ol umgeschaltet, seiner Angst Thema wieder verlassen will.
vor Körperverletzung, und hört die Bemerkun-
gen des Therapeuten somit in einem inkongruen-
ten Zustand. Der Klärungsprozess funktioniert Wiederholungen
darin vielleicht deshalb nicht, weil Harry nicht Der Therapeut kann Wiederholungen einsetzen,
aus seiner ursprünglichen Position heraus zuhört um den zwanghaften Patienten zu binden oder
und die Interventionsversuche des Therapeuten das Themenwechseln zu verlangsamen. Beim
durch weitere Wechsel erschwert werden. Zwanghaften sind längere Frageformulierungen
von Seiten des Therapeuten notwendig, um den
spezifischen Inhalt darzustellen, der vermieden
6.5.2 Therapietechnik: wird. Wenn Harry z. B. über Körperverletzung
An ein Thema binden spricht und vom Kontext der Überlebensschuld
(Tl) zu seinen Ängsten vor Verletzung (Ol)
wechselt, so muss der Therapeut beim Wieder-
holen das Körperverletzungsthema ganz spezi-
fisch mit dem Überlebensschuldthema verbin-
Häufigkeit von Themenwechseln zu vermin-
den.
dern, sodass der Patient mit der Bearbeitung
eines gegebenen Gedankens vorankommen Rückkehr zum Anfang
kann.
Manchmal schließt die umfangreichere Wieder-
holung beim Zwanghaften die Technik des
Der Patient benötigt dabei Hilfe, die Gefühle zu
Rückkehrens zum Anfang eines Gedankenaus-
ertragen, die er erfährt, wenn seine Erinnerungen
tauschs ein, wobei der Gedankenfluss sorgfältig
und die damit verbundenen Vorstellungen ins Be-
nachvollzogen und dabei aufgezeigt wird, an wel-
wusstsein dringen.
chen Stellen belanglose oder nur wenig relevante
Details vom Patienten eingebracht wurden. Re-
Ein Thema wählen konstruktionen können vermiedene Details hin-
zufügen.
In Harrys Fall kann der Therapeut den Patienten
einfach an eines der beiden Themen (Tl oder Ol)
binden. Der Therapeut darf »binden« nicht mit
»zwingen« verwechseln. Man kann z. B. darauf
hinwirken, dass der Patient visuelle Phantasien,
122 Kapitel 6 · Persönlichkeitsstile und Belastungsfolgen

Zeit lassen Nachfragen statt Interpretieren

Mehr Zeit, die auf ein Thema verwandt wird, ge- Zum Schutz des Selbstwertgefühls des Patienten
stattet mehr Verarbeitungsmöglichkeit und setzt der Therapeut eine weitere Technik ein. Er
bringt den Patienten damit einer abschließenden verzichtet auf Interpretationen und verwendet
Integration des Themas näher. Gefühle, die durch die Fragetechnik, um Klärung zu erzielen und
den Gedankenfluss hervorgerufen werden, sind das Thema zu vertiefen. Die Fragen lenken den
innerhalb der therapeutischen Beziehung leichter Patienten auf Antworten, in denen wichtige, bis-
zu ertragen, als wenn der Patient allein ist. Au- her vermiedene Gedanken enthalten sind. Der
ßerdem erlaubt Zeit, die auf ein Thema und mit zwanghafte Patient kann dann erstmals diese Ge-
dem Therapeuten verwandt wird, eine anhaltende danken ausdrücken und die Gefühle erleben.
Verarbeitung in einem dialogischen Rahmen. Da- Beim Durcharbeiten der Themen spielt bei
mit kann die Realität und das Problemlösen be- Zwanghaften der Zeitablauf eine wichtige Rolle.
tont werden, anstelle Phantasie und magischen Nachdem der Therapeut einige Erfahrung im
Glaubenssystemen Raum zu geben. Umgang mit einem bestimmten Patienten gesam-
melt hat, weiß er vielleicht intuitiv, wann der
nächste Themenwechsel ansteht. Zu eben diesem
Konzentration auf Details
Zeitpunkt oder kurz vorher stellt der Therapeut
Die Konzentration auf Details schreckt beim seine Fragen. Dadurch wird das Umschalten un-
Zwanghaften teilweise das Themenwechseln ab. terbrochen und »Zeit und Raum« für ein Thema
Das Ziel besteht darin, sich von abstrakten Ebe- können sich vergrößern, das gerade vermieden
nen, auf denen Umschaltvorgänge einfach sind, werden sollte.
zu einem konkreten Inhalt zu bewegen. Details
fungieren als »Bedeutungspflöcke« in konkreten
Themen und machen Wechsel schwieriger. Dieses 6.5.3 Beziehungsaspekte
Manöver nutzt die Prädisposition des Zwanghaf- bei zwanghaften Patienten
ten für Details. Hier ist die Technik hilfreich, kon-
krete Details zu erbitten. Der Therapeut schafft dem Patienten eine sichere
Situation, indem er stetig innerhalb seiner eige-
Komplexes Vergegenwärtigen nen Beziehungsgrundsätze (freundlich-unter-
stützend, neutral-hart oder anderweitig) bleibt.
Wenn Wechselvorgänge so schnell geschehen, Der Patient gewinnt Vertrauen, dass der The-
dass sie einfache Wiederholung oder Befragung rapeut weder aggressiv noch verführerisch rea-
ausschließen, kann der Therapeut eine komplexe- gieren wird. Dieses Vertrauen erhöht die Bereit-
re Form der Wiederholung einsetzen. Der Thera- schaft des Patienten, z. B. aggressive Vorstellun-
peut wiederholt das Ereignis, z. B. Harrys auf- gen auszudrücken. Der Therapeut wird auf die
dringliche Vorstellung des Frauenkörpers, und Probe gestellt, die Wechsel des Patienten mit-
wiederholt im selben Atemzug die verschiedenen zuvollziehen. Die Neigung des Patienten zu Posi-
Kognitionen, zwischen denen der Patient hin- tionswechseln führt allerdings nicht dazu, dass er
und herschwingt Der Therapeut kann Harry z. B. Veränderungen in der Art der therapeutischen
sagen, dass das Bild des Frauenkörpers vermut- Beziehung ertragen kann. Eine gleichbleibende
lich zu zwei Themen geführt hat. Ein Thema Einstellung, ob sie nun freundlich-unterstützend,
war der Gedanke von Erleichterung, vom Tod neutral-hart, oder anderweitig ausgeprägt vor-
verschont geblieben zu sein, der aber andererseits liegt, ist am wenigsten gefährlich. Trotz der An-
Gefühle von Angst und Schuld hervorgerufen hat. strengung des Therapeuten, eine therapeutische
Das andere Thema war die Vorstellung von Beziehung aufrecht zu erhalten, werden Wider-
körperlichem Schaden, der ihm selbst zugefügt stände auftreten. Das kann dazu führen, dass In-
werden könnte. terventionen, falls erforderlich, in einer entgegen-
gesetzten Form ausgedrückt werden können.
6.6 · Der narzisstische Persönlichkeitsstil unter Belastung
123 6
Angenommen, Harry sprach davon, die Frau 6.6 Der narzisstische Persönlichkeitsstil
mitgenommen zu haben, und der Therapeut unter Belastung
wusste, dass er für Schuldgefühle anfällig war,
diese jedoch vermied. Bei einem kooperativen Bei den narzisstischen Persönlichkeitsstörungen
Harry mag er sagen: »Brauchen Sie sich wirklich wird eine große Selbstliebe, Grandiosität oder
Vorwürfe zu machen, dass Sie die Frau mitgenom- Idealisierung anderer Personen beobachtet, der
men haben?« Bei einem Zwanghaften, der eine eine extreme Verletzlichkeit des eigenen Selbst-
Widerstandshaltung eingenommen hat, mag er konzepts zugrundeliegt In psychoanalytischen
dagegen sagen: »Es macht Ihnen also gar nichts Theorien wurde die Verletzlichkeit des Selbst
aus, dass Sie die Frau mitgenommen haben.« auf Schwierigkeiten während der Phase der Diffe-
Der widerständige Harry widerspricht vielleicht renzierung des Selbstkonzepts in Rollenbezie-
und redet über seine Schuldgefühle. hungen mit der Mutter oder anderen frühen Be-
Wenn der Kontext im Grunde genommen ei- zugspersonen zurückgeführt (Kernberg, 1975;
ne stabile therapeutische Beziehung ist, in der Kohut, 1971). Das Vorherrschen narzisstischer
der Patient ein Bild des Therapeuten als objektiv, Charaktereigenschaften in einem oder beiden El-
freundlich und dauerhaft kompetent hat, muss ternteilen kann ein Kind für Schwierigkeiten bei
der Umgangston nicht unbedingt so aufrichtig, der Entwicklung eines stabilen und unabhängi-
neutral und ernst sein (wie dies bei einem hist- gen Selbstkonzepts anfällig machen, da die Eltern
rionischen Patienten hilfreich ist). Leichter Sar- das Kind möglicherweise so behandeln, als wäre
kasmus oder gelinder Humor können dem es eine ihrer eigenen Funktionen und nicht eine
zwanghaften Harry helfen, eine harte Position selbständige Existenz.
zu bewahren, während er seine eigenen weichen Wenn die habituellen narzisstischen Befriedi-
Vorstellungen ausprobiert (Salzman, 1968). gungen, die daraus gezogen werden, geliebt zu
Durch Strenge kann, wie die obigen Ausfüh- werden, besondere Behandlung zu erfahren und
rungen nahelegten, der Therapeut den Effekt er- das Selbst zu bewundern, zerstört sind, können
zielen, dem Zwanghaften das Nachdenken über daraus Depression, Hypochondrie, Angst, Scham,
vermiedene Vorstellungen zu »verordnen«. Diese Selbstzerstörung oder Wut gegenüber jeder ande-
scheinbare Unfreundlichkeit ist insofern freund- ren Person, die für die schlechte Situation verant-
schaftlich, als dass sie dem Patienten Verantwor- wortlich gemacht werden kann, resultieren.
tung abnimmt und ihm erlaubt, bisher Undenk- Kohut (1971) hat drei nebeneinander existie-
bares zu denken. Aber diese Strenge, der leichte rende, aber gespaltene Selbstkonzepte beschrie-
Sarkasmus oder gelinder Humor müssen ein rela- ben, die häufig bei narzisstischen Persönlichkei-
tiv beständiges Merkmal des Therapeuten blei- ten vorliegen. Diese sind:
ben. - Das grandiose Selbst, das aus einem aufgebla-
Das ist nicht so schwierig, wie es klingen senen, übertriebenen, exhibitionistischen
mag, da diese spezifischen Techniken das mit Selbstbild besteht,
sich bringen, was sich der Therapeut als natürli- - das geringgeschätzte, beschämte und schutz-
che Reaktion auf die Situation erlaubt. Die Inter- lose Selbstbild,
ventionen werden nicht vorgetäuscht oder - das gefährlich chaotische, zerstörte, unstim-
künstlich angewendet. Für einige Therapeuten mige Selbstbild.
sind allerdings Freundlichkeit, Offenheit, Milde
und eine urteilsfreie Atmosphäre bevorzugte Be- Es werden Ersatzbilder für (imaginierte) Eltern
ziehungsstile gegenüber jeglicher Härte, Strenge, aufrechterhalten, die das eigene Selbstbild unter-
Sarkasmus oder Humor, und können dem selben stützen, den Selbstwert anheben, Zurückweisun-
Zweck dienen. gen verhindern und als ein Spiegel dienen, indem
sich das grandiose Selbst bewundern kann. Die
Selbst- und Objektrepräsentationen sind stark
egozentrisch und zwischenmenschliche Bezie-
hungen finden sich mehr in Form von »Ich-Es«-
124 Kapitel 6 · Persönlichkeitsstile und Belastungsfolgen

als von »lch-Du«-Beziehungen, die Buher (1959) Ebenso kann ein Verlangen nach sekundären Ge-
beschrieb. winnen wie Sympathie auftreten oder das Spielen
Themen von Macht und Kontrolle treten in einer Rolle als »verletzter Held«.
zwischenmenschlichen Beziehungen in den Vor- Diese verschiedenen Aspekte einer prototypi-
dergrund (auf andere Weise als bei zwanghaften schen narzisstischen Persönlichkeit werden in
Persönlichkeiten). Der narzisstischen Persönlich- der folgenden Übersicht dargestellt, je nachdem,
keit geht es um den Besitz von Macht zur Steige- ob sie Eigenschaften des Informationsverarbei-
rung ihres eigenen Gefühls von Kompetenz und tungsstils, Persönlichkeitseigenschaften oder
Kontrolle bzw. die Selbsterhöhung durch An- überdauernde Muster zwischenmenschlicher Be-
schluss an eine mächtige Person. Kern dieses ziehungen sind.
Wunsches ist die Verwendung der Bewunderung
oder Nähe für die Erhaltung des Selbstwertes.
Informationsverarbeitungsstil
von narzisstischen Patienten
Gefühle und Gedankenfluss
6.6.1 Besonderheiten der
(beobachtbar in kurzen Zeitausschnitten)
Gedanken- und Gefühlskontrolle
Verschiebt Bedeutungen von Informatio-
nen, die das Selbstkonzept beschädigen
Tritt ein belastendes Ereignis von größerer Be-
könnten,
deutung ein, soll ein Abweichen von der Kenntnis
setzt Verleugnung, Entwertung und Ne-
der Realität den potentiell katastrophalen Zu-
gierung zum Schutz des Selbstkonzepts
stand verhindern. Dieser potentielle Verlust des
ein,
Selbstgefühls würde aus intensiv erlebten Emo-
Aufmerksamkeit wird auf Quellen von Lob
tionen und einem qualvoll erlebten Gefühl der
und Kritik gerichtet,
Hilflosigkeit und Desorientierung stammen. Um
Externalisierung schlechter Eigenschaften,
diesen Zustand zu verhindern, verschiebt die nar-
Internalisierung guter Eigenschaften,
zisstische Persönlichkeit die Bedeutungen von Er-
zeitweilige Aufrechterhaltung miteinander
eignissen, um das Selbst in einem besseren Licht
unvereinbarer psychischer Einstellungen
erscheinen zu lassen. Jene Qualitäten, die gut
in separaten Clustern (multiple Selbstbil-
sind, werden dem Selbst zugeordnet (Internali-
der).
sierung). Jene, die unerwünscht sind, werden
vom Selbst durch Verleugnen ihrer Existenz, Ab- Persönlichkeitseigenschaften
werten damit verbundener Eigenschaften, Exter- (beobachtbar in mittelfristigen Zeitausschnit-
nalisierung und Negieren früherer Selbstdarstel- ten, z. B. Gesprächen)
lungen ausgeschlossen (Externalisierung). Selbstzentriert,
Solche Formen fließender Bedeutungsver- Überhöhung oder Unterschätzung des
schiebungen erlauben es der narzisstischen Selbst und anderer,
Persönlichkeit, eine scheinbare Konsistenz auf- Selbsterhöhung (oder Pseudo-Demut): bei
realen oder phantasierten Leistungen, in
rechtzuerhalten. Die verzerrten Bedeutungen er-
der Art sich zu kleiden oder im Auftreten,
zwingen jedoch weitere Verzerrungen, um beste-
Vermeidung selbsterniedrigender Situa-
hen zu können. Die daraus resultierenden Schwie-
tionen,
rigkeiten verleihen den kognitiv-emotionalen
variabler Einsatz von Verhaltensweisen
Strukturen eine subjektiv erlebte Unsicherheit.
in Abhängigkeit vom Zustand des Selbst-
Während Belastungszuständen können Lücken
wertes und dem Kontext in Form von:
in der Vermeidung bedrohlicher Vorstellungen
Charme, Verführungsqualitäten,
auftreten. Dadurch können Wut oder paranoide
Bemühungen um Kontrolle oder
Zustände genauso wie Episoden von Panik, Scham Charisma
oder Depersonalisierung vorkommen. Selbstzer-
störerische Handlungen können motiviert sein
durch Wünsche, solche Belastungen zu beenden.
6.6 · Der narzisstische Persönlichkeitsstil unter Belastung
125 6
Diese »doppelte Gefährdung« der narzisstischen
Überlegenheit, Überheblichkeit, Kälte Persönlichkeit gestaltet die Therapie besonders
oder Rückzug schwierig.
Schamgefühle, Panik, Hilflosigkeit, Beide Ängste motivieren Abwehrmanöver.
hypochondrisches Verhalten, De- Die Vorstellung, dass »jemand stirbt«, ist dabei
personalisierung oder Selbstdestrukti- ein weniger beängstigendes Konzept, als dass
vität man selbst umkommt. Das Thema »Sterben
Neid, Wut, Paranoia oder Forderungen. müssen« wird nun von seiner Bedeutung, selbst
Zwischenmenschliche Beziehungen sterben zu müssen, zur persönlichen Unsterb-
(beobachtbar in Langzeitmustern der Patien- lichkeit verschoben. Statt Angst ermöglicht die
tenbiograflei Bedeutungsverschiebung nun ein Gefühl des Tri-
Verarmte Zwischenmenschlichkeit, umphes. Dasselbe Bild, welches zuvor Angst her-
Machtorientierung oder Kontroll- vorrief, führt nun, aufgrund einer leichten Irra-
intentionen über andere, die nur Zubehör tionalisierung, zu einem eher positiven emotio-
darstellen, nalen Erlebnis. Durch seine Abwehrnatur ist die-
Abwesenheit von »lch-Du«-Gefühlen, ser Zustand allerdings instabil, und Harry wird
Sozialer Aufstieg oder Benutzung anderer dazu tendieren, seinen Angstzustand wiederholt
Menschen zur positiven Spiegelung, zu erleben. Dieses Leugnen der eigenen Sterblich-
Vermeidung von Selbstkritik durch keit verdient nähere Beachtung. Der narzisstische
Anstachelung anderer zu unfairer Kritik, Harry befreit sich selbst von den Gegebenheiten
Fallenlassen und Abwertung von des Menschseins, indem er denkt: »Sie ist Vertre-
Personen, die nicht mehr nützlich sind. terin der Art, die stirbt. Ich bin von anderer Art.«
Unter Verwendung dieser Form der narziss-
tischen Abwehr klassifiziert sich Harry als Aus-
f) Beispiel nahme. Das bedeutet weiterhin, dass er als Aus-
Ein narzisstischer Harry nahme etwas Besonderes ist.
Für den Fall eines narzisstischen Harry soll im fol- Diese Art der Bedeutungsverschiebung ist mit
genden das Thema 01 betrachtet werden, in dem einem positiven Affekt verbunden: die Dinge sind
Harry von seinen aufdringlichen Bildern des besser als angenommen. Indem Bedeutungen
Frauenkörpers in Verbindung mit Vorstellungen verschoben und ungeschehen gemacht und tödli-
von seiner eigenen Anfälligkeit für den Tod be- che Gefahren wie Sterben müssen und Verletz-
richtet. Die Vorstellung von seinem möglichen Tod lichkeit externalisiert wurden, konnte eine kom-
ist unvereinbar mit Harrys Wunschvorstellung von plette Umkehrung der Emotionen erreicht wer-
Unverletzbarkeit. Die Gefahr, die diese unverein- den. Dieses Manöver der Bedeutungsverschie-
baren Vorstellungen mit sich bringen, ist für eine bung ähnelt der Methode des Wechsels (»shifts«)
narzisstische Persönlichkeit besonders groß, da sie bei Zwanghaften, bei der ein Gedankengang dazu
ein empfindlich-zerbrechliches, aber unversehrtes eingesetzt wird, einen anderen zu blockieren. Je-
ideales Selbstbild aufrechterhalten will. doch empfindet ein narzisstischer Harry, im Un-
Um zu verhindern, dass diese unerträglichen terschied zu einem zwanghaften, verschiedene
Emotionen andauern, werden Kontrollen ein- Gefühle, zu denen möglicherweise sowohl Angst
geführt. Für diese Kontrollen bestehen zwei als auch Triumph gehören. Die narzisstische
Gründe: Persönlichkeit wird den Triumph nicht durch
Verhinderung der bedrohlichen Angst- ein Angstgefühl rückgängig machen. Wenn sie
gefühlszustände und trotzdem weiterhin für Angst anfällig bleibt, wird
Vermeidung der Angstkognitionen, denn zu- sie die Bedeutungsverschiebungen immer dann
zugeben, dass er Angst hat, wäre für Harry wiederholen, bis die jeweilige Angst reduziert ist.
ebenfalls eine »narzisstische Kränkung«.
126 Kapitel 6 · Persönlichkeitsstile und Belastungsfolgen

Realistische Situationserfassung
Bei der narzisstischen Persönlichkeit liegt ein Während der Umstrukturierung sollte der Thera-
doppeltes Problem vor, wie weiter oben dar- peut besonderen Wert darauf legen, Harry in sei-
gestellt wurde. Es liegt sowohl die Bedrohung nen Opfer- und seinen Tätererfahrungen zu be-
durch vermiedene Vorstellungen und Erleb- stätigen. Sowohl Therapeut als auch Patient soll-
nisse als auch die Vemeidung des Zugebens, ten versuchen zu klären, wie stark der Patient bei
dass etwas vermieden wird, vor. jedem Aspekt der Handlung beteiligt war, d. h.
was wirklich seine Tat war und was durch äußere
Umstände hervorgerufen wurde. Diese Klärung
6.6.2 Therapietechnik: Umstrukturierung beinhaltet, zwischen Realem, Wahrscheinlichem
und Stabilisierung und Phantasien zu unterscheiden.
Beim Klären und Umstrukturieren werden ei-
Wie kann ein Psychotherapeut mit solchen flie- nige der Externalisierungen wieder rückgängig
ßenden Bedeutungsverschiebungen umgehen? gemacht. Angenommen, ein narzisstischer Harry
Hinsichtlich der kognitiv-emotionalen Verarbei- drückt z. B. Wut auf den anderen Fahrer aus, der
tung ist eine neubewertende Umstrukturierung ihn dazu zwang, die Straße zu verlassen. Diese
ein nützliches Mittel in der Therapie. Externalisierung der Verantwortung stellt einen
Versuch dar, das Verschulden nicht bei sich
selbst, sondern beim Fahrer der Gegenrichtung
Langsames Vorgehen zu suchen. Dem liegen nicht nur ängstliche Vor-
Der therapeutische Prozess sollte langsam durch- stellungen von eigenen Fehlern zugrunde, son-
geführt werden; so langsam wie notwendig, um dern auch unrealistische Anschuldigungen.
Harry zu helfen, sich einer Bedrohung zu öffnen,
die stark genug wäre, ihn in einen Zustand der
Selbstzersplitterung zu werfen. Während dieses Verantwortungen herausarbeiten
langsamen Prozesses werden dann die Anstren- Die Umstrukturierung bezieht jedes mögliche
gungen unternommen, die Ereignisse und ihre Element der Verantwortung ein:
verschiedenen Deutungsmöglichkeiten neu zu - seine Verantwortung, die Frau mitgenommen
bewerten. zu haben,
- seine Verantwortung für die anderen Autos,
Taktgefühl die fast zusammengestoßen wären,
- dafür, das Auto auf seine Weise von der Stra-
Hinsichtlich der therapeutischen Beziehung ße heruntergelenkt zu haben,
spielt das Taktgefühl eine wichtige Rolle. Takt- - seine Verantwortung für seine Handlungen
gefühl ist unerlässlich, da die narzisstische nach dem Unfall.
Persönlichkeit stärker auf den Therapeuten als
auf die thematischen Bedeutungen konzentriert Das alles muss jetzt neu bewertet werden. Für je-
ist. Der Therapeut stellt eine wichtige aktuelle des Thema wird bei der Umstrukturierung ein
Quelle für Lob oder Kritik dar. Die realistischen Endpunkt erreicht, an dem eine realistische Ent-
oder verzerrten Beobachtungen des Patienten, scheidung über die Bewertung des Themas er-
wie stark das Interesse oder Desinteresse des folgt, die Harry von unrealistischen Schuldkom-
Therapeuten ausgeprägt ist, beeinflussen das all- ponenten befreit.
gemeine Gleichgewicht des Patienten. Die Überprüfung und Neubewertung durch
den Therapeuten ermöglicht es Harry, eine be-
wusste Entscheidung über sein Ausmaß an Straf-
barkeit zu erzielen. Außerdem kann er die Erfah-
rung machen, vom Therapeuten nicht mit Kritik
angegriffen zu werden. Der Therapeut vermeidet
6.6 · Der narzisstische Persönlichkeitsstil unter Belastung
127 6
solche Angriffe, obgleich er durch die krassen artigkeit, verbunden mit der Erwartung, bewun-
Externalisierungen des Patienten dazu angesta- dert zu werden, charakterisiert. Die andere be-
chelt werden kann. steht in der Idealisierung des Therapeuten, des-
sen »Licht« wiederum auf den Patienten zurück-
fällt.
Eingehen auf Persönlichkeitsentwicklung
Die großartige Quasi-Beziehung tritt meist
Umstrukturierungen und Überprüfungen schlie- entweder zu Beginn einer Behandlung auf oder
ßen das angstauslösende Thema, z. B. der Sterb- in der Genesungsphase direkt nach einem erfolg-
lichkeit (01), mit ein. Für den narzisstischen reich überwundenen anfänglichen Belastungs-
Harry ist es besonders schwierig, dieses Thema zustand nach einer Extrembelastung. Prahlerei
durchzuarbeiten. Realistische Bedrohungen sei- und Selbstlob treten in subtilen oder stärkeren
nes Selbstbildes stellen seine Achillesferse dar, Formen auf und bewirken, dass die Therapiezeit
die aus der narzisstischen Persönlichkeitsent- von belastungsrelevanten Themen abgezogen
wicklung herrührt. Wird ersichtlich, dass frühere wird.
Erinnerungen und Phantasien wachgerufen wur- Das Taktgefühl, wie an früherer Stelle betont
den, benötigen diese ebenfalls eine Umstruktu- wurde, lässt diese Bemühungen auch zu, um
rierung im Licht der Gegenwart. Diese Umstruk- das Selbstwertgefühl wiederherzustellen, anstatt
turierungen bei narzisstischen Patienten erfor- darauf zu bestehen, bei zentralen Konflikten zu
dern besonders ausgedehnte Anstrengungen, in bleiben, oder die großartigen Bemühungen als
der Unterscheidung von Selbst und Anderen hin- Kompensation zu interpretieren.
sichtlich ihrer Motive, Handlungen und Empfin- Dieses Taktgefühl oder diese Zurückhaltung
dungen geklärt werden. können für solche Therapeuten besonders schwer
sein, die es gewöhnt sind, sich auf die positive
therapeutische Beziehung zu verlassen, um dem
6.6.3 Beziehungsaspekte Patienten über Perioden harter Arbeit an bedroh-
bei narzisstischen Patienten lichen Vorstellungen hinwegzuhelfen. Es ist
schwierig, daran zu denken, dass die Beziehung
Die Behandlung narzisstischer Persönlichkeiten mit narzisstischen Patienten nicht stabil ist und
ist für den Therapeuten häufig schwierig, da dass ihr Bedürfnis oft gebieterisch und nicht
der narzisstische Patient den Therapeuten eher mit der üblichen Anteilnahme verbunden ist.
benutzt, als dass er eine Beziehung mit ihm ein- Bei der zweiten Form von Quasi-Beziehung,
geht. Obwohl sich der Therapeut als wirkliche der Idealisierung des Therapeuten, wird die Wie-
Person unwichtig vorkommt und als Reaktion dergutmachung des Schadens dadurch erreicht,
darauf z. B. selbst Desinteresse empfinden kann, dass der Patient sich einbildet, er werde erneut
muss er verstehen, was gerade abläuft, und dem durch eine mächtige oder attraktive Bezugsper-
Patienten sachlich näherkommen. Der Therapeut son beschützt und als wertvoll erachtet. Das Be-
muss eine Zeitlang unterstützend wirken. Beim lastungsreaktionssyndrom wird zur Eintrittskarte
narzisstischen Patienten können Unterstützung für diese Art der Selbstwertverbesserung. Aber-
und Nähe weniger eine Frage der Wärme als mals ist zu Beginn der Behandlung, wenn der Pa-
der Akzeptanz seiner Externalisierungen sein. tient noch teilweise vom Belastungsfolgesyndrom
Dies geschieht jedoch nicht ohne Konsequenzen, überwältigt ist, taktvolle Toleranz erforderlich.
da es zu einem späteren Therapiezeitpunkt not- Die glorifizierenden Aussagen über den Thera-
wendig sein kann, solche Externalisierungen zu peuten weisen auf Idealisierung hin, die den
entmutigen. Die narzisstische Persönlichkeit ver- Schaden, der dem Selbst zugefügt wurde, vorü-
schafft sich durch zwei Formen einer »Quasi-Be- bergehend wiedergutmacht. In diesem Fall muss
ziehung« das Sicherheitsgefühl, das notwendig auf sicherere Zeitabschnitte gewartet werden, in
ist, um ihre normalerweise vermiedenen Vorstel- denen an der Umstrukturierung und Integration
lungen und Gefühle zu erleben und auszu- der belastenden Ereignisse gearbeitet werden
drücken. Eine Form ist durch persönliche Groß- kann.
128 Kapi tel 6 · Persönlichkeitsstile und Belastungsfolgen

Auch die Externalisierungen können einem Literatur


Patienten helfen, zu belastenden Themen ausrei-
chenden emotionalen Abstand zu gewinnen, so- Abraham, K. {1942). A short study of the development of the
Iibido, viewed in the light of mental disorders. ln K. Abra-
dass er es ertragen kann, über sie nachzudenken. ham {ed.), Selected Papers. London: Hogarth.
Wird beispielsweise ein Gefühl des Ekels gegenü- Bowlby, J. & Parkes, C. M. {1970). Separation and loss within the
ber dem Tod auf den Therapeuten projiziert, be- family. ln E. Anthony & C. Kopernik {eds.), The Interna-
steht die entscheidende Methode darin, den Pa- tional Yearbook for Child Psychiatry and Allied Disciplines.
New York: Wiley.
tienten zu bitten, mehr über das augenblickliche
Buber, M. {1959). Ich und Du. Heidelberg: Lambert Schneider.
Empfinden des Therapeuten zu sprechen. Da- Creamer, M., Burgess, P. & Pattison, P. {1992). Reaction to trau-
durch wird dem Patienten ermöglicht, die eige- ma: A cognitive processing model. Journal of Abnormal
nen Gefühlspfade so zu begehen, als wären es Psychology, 101 , 452-459.
die Wege des Therapeuten. Eine direkte Interven- Freud, S. {1893/1975). Über den psychischen Mechanismus
hysterischer Phänomene. ln: Gesammelte Werke, Nach-
tion, etwa in der Form: »Sie fühlen sich vom Tod
trags-Bd. Frankfurt/ M.: S. Fischer.
angeekelt«, sollte erst später geschehen. Freud, S. {1909/ 1971 ). Bemerkungen über einen Fall von
Natürlich sind narzisstische Überzeugun- Zwangsneurose. ln: Gesammelte Werke, Bd. 7. Frank-
gen wie histrionische und zwanghafte Einstellun- furt/M.: S. Fischer.
gen in einem gewissen Maße Bestandteil eines je- Freud, S. {1917/1972). Vorlesungen zur Einführung in die Psy-
choanalyse. ln: Gesammelte Werke, Bd. 11 . Frankfurt/ M.: S.
den Persönlichkeitstyps und einige der darge-
Fischer.
stellten Behandlungstechniken können jeder Zeit Freud, S. & Breuer, J. {1895/ 1970). Studien über Hysterie.ln: Ge-
auch in anderen Therapien relevant sein. sammelte Werke, Bd. 1. Frankfurt/M.: S. Fischer.
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to the psychoanalytic theory of therapy. International
Journal of Psychoanalysis, 52, 459-467.
7

M. Bauer, S. Priebe

7.1 Rolle der Psychopharmakatherapie


bei posttraumatischen Störungen - 130

7.2 Indikationen und praktische Leitlinien


zur Psychopharmakatherapie - 130
7.2.1 Zielsymptomatik - 131
7.2.2 Praktische Durchführung - 131

7.3 Empirische Evidenz - 131


7.3.1 Antidepressiva - 132
7.3.2 Tranquilizer/Anxiolytika - 134
7.3.3 Alternativen - 135
7.3.4 Neuroleptika - 136

7.4 Abschließende Betrachtung - 136

Literatur - 137
130 Kapitel 7 · Psychopharmakatherapie

7.1 Rolle der Psychopharmakotherapie 7.2 Indikationen


bei posttraumatischen Störungen und praktische Leitlinien
zur Psychopharmakotherapie
Die Psychopharmakotherapie besitzt in der Be-
handlung posttraumatischer Störungen bislang Zunächst stellt sich die Frage, bei welcher Symp-
in der Literatur eine eher untergeordnete Rolle. tomatik und zu welchem Zeitpunkt der Behand-
Verglichen mit der relativ großen Zahl an Publi- lung eines Patienten mit PTB an eine Pharmako-
kationen über posttraumatische Störungen und therapie gedacht werden sollte:
ihrer psychotherapeutischen Behandlung (vgl. - Der Einsatz von Psychopharmaka sollte vor
Ebbinghaus et al., 1996) gibt es vergleichsweise allem bei PTB-Syndromen mit ausgeprägter
wenige Studien über den therapeutischen Einsatz klinischer Symptomatik in Betracht gezogen
von psychotropen Substanzen. werden.
- Eine bereits initial zu Behandlungsbeginn
durchgeführte Pharmakotherapie könnte von
Die Symptomüberlappung zwischen post- Vorteil sein, um einen psychotherapeutischen
traumatischen Störungen und anderen psy- Zugang für den Patienten zu ermöglichen
chiatrischen Erkrankungen, die auf eine Phar- bzw. zu erleichtern.
makatherapie ansprechen, haben zu Überle- - Eine Indikation für eine medikamentöse The-
gungen geführt, dass die Pharmakatherapie rapie kann auch dann bestehen, wenn psy-
wirksam sein könnte. chotherapeutische Bemühungen erfolglos ge-
blieben sind oder wenn Patienten einer Be-
handlung mit Psychopharmaka besonders
Obwohl die Diagnose der posttraumatischen Be-
positiv gegenüberstehen, während sie andere
lastungsstörung (PTB) bereits 1980 als eigene di-
Ansätze eher ablehnen.
agnostische Kategorie in das Diagnostische und
Statistische Manual Psychischer Störungen
Bevor mit einer medikamentösen Therapie be-
(DSM-III; American Psychiatrie Association,
gonnen wird, ist eine sorgfaltige diagnostische
1980) aufgenommen wurde (Gersons & Denis,
Beurteilung des Patienten erforderlich. Mögli-
1996), erschienen die ersten kontrollierten Studi-
cherweise begleitende psychische Erkrankungen
en über den Einsatz von Psychopharmaka bei
(Komorbidität) müssen identifiziert werden (s.
PTB erst gegen Ende der BOiger Jahre. Ein Grund
Kap. 1). Wenn gleichzeitig andere wesentliche
für den bisherigen zögerlichen Einsatz von Psy-
psychische Störungen vorliegen, müssen diese
chopharmaka mag darin liegen, dass erst in den
bei einer Psychopharmakotherapie berücksich-
letzten Jahren vermehrt biologische Modelle zur
tigt werden - in der Regel sollte eine direkte
Ätiologie posttraumatischer Störungen ent-
und ggf. auch primäre Behandlung dieser Be-
wickelt wurden (vgl. Charney et al., 1993; Yehuda,
gleiterkrankungen in Betracht gezogen werden.
2002). Allerdings wurden in den vergangenen 5
Darüber hinaus ist stets zu prüfen, ob und
Jahren mit Hilfe plazebokontrollierter Studien er-
mit welchem Effekt der Patient bereits Medika-
hebliche Fortschritte erzielt, effizientere pharma-
mente wegen der PTB-Symptomatik eingenom-
kotherapeutische Behandlungen für PTB zu etab-
men hat bzw. derzeit einnimmt. Dabei werden so-
lieren (vgl. Davis et al., 2001; Hageman et al.,
wohl frei verkäufliche als auch verschreibungs-
2001; Pearlstein, 2000; Yehuda, 2002).
pflichtige Beruhigungs- und Schlafmittel häufig
als Eigenmedikation eingenommen (s. Abschn.
7.3.2), oft in Verbindung mit oder als Alternative
zu Alkohol (Brady et al., 2000a).
7.3 · Empirische Evidenz 131 7
mit den jeweiligen Substanzen und evtl. spezifi-
sche Vorerfahrungen des Patienten gehören.
Grundsätzlich sollte vor Beginn jeder Psycho-
pharmakatherapie von PTB-Patienten, die
psychotrope Substanzen einnehmen, ein me-
dikamentenfreies Intervall liegen, um Aus- ln erster Linie bieten sich Antidepressiva vom
gangssymptome sowie spätere Wirkungen Typ der selektiven Serotonin-Wiederaufnah-
und Nebenwirkungen besser beurteilen zu mehemmer (SSRI) an, da für diese Gruppe der
können. Obwohl Patienten mit PTB häufig eine Antidepressiva die Wirksamkeit bei PTB am
vielgestaltige Symptomatik aufweisen, ist jede besten belegt ist (Foa et al., 1999; Gorman et
medikamentöse Behandlung vorzugsweise als al., 2002; Yehuda, 2002). Zudem weisen SSRI
Monotherapie zu beginnen. Von primären ein günstigeres Nebenwirkungsprofil auf als
Kombinationsbehandlungen, die erfahrungs- die trizyklischen und tetrazyklischen Antide-
gemäß bei PTB-Patienten häufig gegeben pressiva.
werden, ist im Einzelfall abzuraten. Auch im
späteren Behandlungsverlauf ist eine gleich- Für die Behandlung mit Antidepressiva gilt gene-
zeitige Behandlung mit mehreren Psycho- rell, dass ein Therapieversuch mindestens 8-12
pharmaka selten sinnvoll. Wochen dauern sollte, bevor ein Behandlungs-
erfolg beurteilt werden kann. Bei einer erfolgrei-
chen Therapie sollte die Medikation, einem
7.2.1 Zielsymptomatik Grundprinzip der antidepressiven Pharmakathe-
rapie folgend, für mehrere Monate fortgeführt
Die heute vorliegende Literatur legt nahe, dass werden (Davidson et al., 2001a). In a rabelle 7.1
die Pharmakatherapie vorrangig gegen bestimm- sind einige wichtige Leitlinien zur Pharmakathe-
te Symptomkonstellationen der Erkrankung rapie bei posttraumatischen Störungen zusam-
wirksam ist. Hierzu gehören: mengefasst.
- Wiederkehrende und belastende, sich auf- Benzodiazepine sollten wegen der Gefahr ei-
drängende Erinnerungen an das Ereignis, ner Abhängigkeitsentwicklung äußerst zurück-
- Flashback-Episoden, Albträume, haltend eingesetzt und - wenn überhaupt - nur
- Schlafstörungen, zur kurzfristigen Anwendung (4-8 Wochen)
- Depressionen, kommen. Neuroleptika haben dann einen Stellen-
- Panikattacken, Angstzustände, wert in der Pharmakotherapie, wenn Patienten
- erhöhtes Arousal (übererregtheit), über starke, nicht anders beherrschbare Schlaf-
- psychotisches Erleben (Wahn, Wahrneh- störungen klagen, fremd- oder autoaggressiv sind
mungsstörungen, Halluzinationen). sowie psychotisches Erleben zeigen.

7.2.2 Praktische Durchführung 7.3 Empirische Evidenz

Bei Patienten, die keine spezielle psychiatrische Es gibt eine Reihe von offenen unkontrollierten
Komorbidität (z. B. psychotische Erkrankung) Studien über den Einsatz verschiedener psycho-
aufweisen, ist zunächst ein Therapieversuch mit troper Substanzen bei Patienten mit PTB, die
einem Antidepressivum indiziert. Dies gilt auch über zumeist gute Therapieerfolge berichten (vgl.
für PTB-Patienten, bei denen keine depressive Kolk, 1987; Davidson, 1992; Yehuda, 2002). Die
Symptomatik besteht. Welches Medikament aus Zahl systematischer, kontrollierter pharmakolo-
der großen Gruppe der Antidepressiva gewählt gischer Studien ist angesichts der relativ hohen
wird, kann im Einzelfall von zahlreichen Fak- Prävalenz dieses Krankheitsbildes jedoch ver-
toren abhängen, zu denen auch die Erfahrung gleichsweise gering (Solomon et al., 1992). So
des verantwortlichen Arztes in der Behandlung existieren bislang nur weniger als 10 plazebokon-
132 Kapitel 7 · Psychopharmakatherapie

a rabelle 7.1 . Leitlinien für den Einsatz von Psychopharmaka bei posttraumatischen Storungen

Substanzgruppe Belspiele {Generika) Tagesdosls, Therapiedauer Spezielle Indikationen

Antidepressiva

SSRI Citalopram, Fluoxetin, 10- 60 mg, mindestens Depression, Panikattacken,


Paroxetin, Sertralin 8- 12 Wochen Angst

Trizyklika Amitriptylin, Clomipramin, 100- 250 mg, mindestens Depression


Doxepin 8- 12 Wochen

MAO-Hemmer Moclobemid, 10-40 mg, mindestens Depression, Panikattacken,


Tranylcypromin 8- 12 Wochen Angst

•Mood Stabilizer• Carbamazepin, lamotrigin, Dosierung nach Serum- Depression, Panikattacken,


lithlumcarbonat. spiegel, Ausnahme: Angst
Valproinsäure lamotrlgin: 200-400 mg,
mindestens 8- 12 Wochen
I
Tranquilizer/Anxiolytika

Benzodiazepine Alprazolam, Lorazepam 1-4 mg, nur kurzzeitige Panikattacken,


Anwendung, 4- 8 Wochen Schlafstörungen

Azapirone Buspiron 15-60 mg, mindestens Panikattacken, Angst

I 6-8 Wochen

I Neuroleptika

Perazin, Quetiapin 100- 500 mg, mindestens Sch lafstörungen,


6-8 Wochen Aggressivität

Haloperidol. Olanzapin, 2- 15 mg, mindestens Psychotisches Erleben


Risperidon, Ziprasidon 6-8 Wochen, bei (Halluzinationen)
Ziprasidon 10-40 mg

trollierte Doppelblindstudien mit PTB-Patienten, dass sich die Patienten der Plazebogruppe prak-
die überwiegend bei amerikanischen Vietnam- tisch nicht besserten; dies wird als ein Hinweis
kriegsveteranen durchgeführt wurden. auf die Beteiligung biologischer Prozesse bei
Bei den kontrollierten Studien wurden fast PTB gewertet (Davidson, 1992}.
ausschließlich Antidepressiva verschiedener Sub-
stanzgruppen (trizyklische Antidepressiva,
MAO-Hemmer, SSRI) geprüft. Die teilweise nega- 7 .3.1 Antidepressiva
tiven Studienergebnisse mit Antidepressiva ha-
ben möglicherweise ihre Ursache in zu niedrigen Die Medikamentengruppe der Antidepressiva ist
Dosierungen und in zu kurzen Untersuchungs- zur Behandlung vieler unterschiedlicher psychi-
dauern, da die Studien mit längerer Prüfzeit atrischer Störungen von Nutzen. Die Behandlung
günstigere Ergebnisse zeigten. Von einigen Auto- depressiver Störungen ist jedoch die Hauptindi-
ren wird deshalb eine mehrmonatige Therapie kation für Antidepressiva, wo sie sich seit nun-
mit einem Antidepressivum in einer Dosis emp- mehr über 40 Jahren bewährt haben. Andere In-
fohlen, wie sie bei der Behandlung depressiver dikationen für den Einsatz von Antidepressiva
Erkrankungen üblich ist (s. Abschn. 7.3.1). Allen sind z. B. Angst- und Paniksyndrome, Zwangs-
plazebokontrollierten Studien war gemeinsam, störungen und Schmerzsyndrome.
7.3 · Empirische Evidenz 133 7
Selektive adäquater Dosierung (Tagesdosis 150 mg) und
Serotonin-Wiederaufnahmehemmer adäquater Therapiedauer (8-12 Wochen) sollte
und andere serotonerge Antidepressiva auch in der Behandlung der posttraumatischen
Störungen beibehalten werden, bevor der Thera-
Die selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehem-
pieerfolg beurteilt werden kann. Kommt es d~­
mer (SSRI) sind eine Gruppe von Antidepressiva,
runter zu keiner Besserung, kann der Versuch ei-
die in den vergangenen Jahren große Bedeutung ner Höherdosierung (Tagesdosis bis 300 mg) un-
in der Behandlung depressiver Erkrankungen er-
ternommen werden. Dabei ist dann mit einer
langt haben und mittlerweile weltweit die am
Zunahme der typischen Nebenwirkungen der
häufigsten verordneten Antidepressiva darstellen
trizyklischen Antidepressiva zu rechnen (z. B.
(Bauer et al., 2002a). Darüber hinaus werden
Mundtrockenheit, Verstopfung, Blasenentlee-
SSRI auch bei Zwangs- und Angststörungen mit
rungsstörungen, Verschwommensehen). Zum
Erfolg eingesetzt, insbesondere bei Vorliegen
weiteren Vorgehen bei Vorliegen einer begleiten-
von Komorbidität von Depression und Angst
den schweren Depression bzw. bei Therapieresis-
bzw. Zwang. Ihre weite Verbreitung verdanken
tenz auf die antidepressive Therapie sei auf die wei-
die SSRI auch der Tasache, dass sie weniger Ne-
terführende Literatur verwiesen (Bauer & Berg-
benwirkungen als trizyklische Antidepressiva
höfer, 1997; Bauer et al., 2002a).
und MAO-Hemmer besitzen (Bauer et al., 2002 a).
Bei Patienten mit PTB wurden bislang 2 ran-
Was das Indikationsspektrum und die Verträg-
domisierte plazebokontrollierte Doppelblindstu-
lichkeit angeht, sind weitere - relativ neue - An-
dien mit trizyklischen Antidepressiva publiziert.
tidepressiva (Mirtazapin, Nefazodon, Venlafaxin)
In einer 4-wöchigen Studie verglichen Reist et
zu nennen, die wie die SSRI ebenfalls primär »se-
al. (1989) Desipramin (mittlere Tagesdosis
rotonerg« wirksam sind.
165 mg) mit Plazebo bei 18 Vietnamkriegsvetera-
Heute werden daher in erster Linie SSRI und
nen. Dabei zeigte sich in der Desipramingruppe
andere, »serotonerg« wirksame Antidepressiva
nur bei einigen Depressionssymptomen eine
zur Behandlung der PTB eingesetzt (Gorman et
leichte Verbesserung; ansonsten hatte das Antide-
al., 2002; Yehuda, 2002). Eine Umfrage unter 57
pressivum keinen Einfluss auf die PTB-Sympto-
amerikanischen Pharmakotherapieexperten, die
matik. Patienten der Plazebogruppe zeigten
auch Erfahrung in der Behandlung der PTB besit-
ebenfalls keine Besserung. Davidson et al. (1990)
zen, bestätigte, dass SSRI und andere »serotonerg«
fanden in ihrer 8-wöchigen Studie bei 46 ame-
wirksame Antidepressiva zu den am häufigsten
rikanischen Kriegsveteranen (2. Weltkrieg, Korea,
verordneten Medikamenten in der Behandlung
Vietnam), dass die Werte auf den Hamilton-De-
der PTB gehören (Foa et al., 1999). Tatsächlich
pressions- und Angstskalen bereits nach 4 Wo-
wurde die Wirksamkeit von SSRI (Fluoxetin, Pa-
chen in der Amitriptylingruppe (Dosis bis zu
roxetin, Sertralin) bei PTB in den vergangenen
300 mg!Tag je nach individueller Verträglichkeit)
Jahren wiederholt in großen, plazebokontrollier-
signifikant gesenkt wurden. Darüber hinaus
ten Doppelblindstudien mit Erfolg geprüft (Kolk
wurden nach 8 Wochen auch solche PTB-Symp-
et al., 1994; Connor et al., 1999; Brady et al., 2000 b;
tome verbessert, die der anhaltenden Vermei-
Davidson et al., 2001 a; Davidson et al., 2001 b;
dung von Stimuli dienen, die mit dem Trauma
Marshallet al., 2001; Zohar et al., 2002). In diesen
in Verbindung stehen (Vermeidungssymptome;
Studien besserte sich die PTB-Symptomatik in al-
s. Kap. I). Keinen Effekt zeigte Amitriptylin hin-
len Symptomkategorien; die Verträglichkeit der
gegen auf die Symptome des Wiedererlebens
SSRI war in diesen Studien gut.
des Traumas (intrusive Symptome). Auch hier er-
gab sich für Patienten der Plazebogruppe auf kei-
ner Skala eine Symptomverbesserung.
Trizyklische Antidepressiva
Trizyklische Antidepressiva (s. D Tabelle 7.1 ) gehö-
ren zu den bewährtesten Medikamenten in der
Depressionsbehandlung. Das generelle Prinzip
134 Kapitel 7 · Psychopharmakatherapie

MAO-Hemmer 7.3.2 Tranquilizer/Anxiolytika

Die MAO-Hemmer (Monoaminoxidase-Hemm- Benzodiazepine


stoffe) gehören zur Gruppe der Antidepressiva,
die sich insbesondere bei so genannten »atypi- Benzodiazepine gehören zu den am häufigsten
schen« (Untergruppe depressiver Störungen) eingesetzten Psychopharmaka. Hauptindikatio-
und therapierefraktären Depressionen, aber auch nen sind die Behandlung von Angst-, Spannungs-
bei Panikstörungen bewährt haben. Sie zeichnen und Erregungszuständen sowie die Behandlung
sich durch eine relativ gute Verträglichkeit aus, von Schlafstörungen. Die Vorteile dieser Sub-
sofern die entsprechenden Diätvorschriften ein- stanzklasse sind (vgl. Rollweg & Soyka, 1996):
gehalten werden. überprüft wurde die Wirksam- - Eine relativ große therapeutische Breite,
keit eines MAO-Hemmers bei PTB in der ersten - sehr gute Verträglichkeit und
plazebokontrollierten Studie bei 13 israelischen - fehlende Arzneimittelinteraktionen.
Patienten (Shestatzky et al., 1988). Sie verwende-
ten Phenelzin - ein in Deutschland derzeit nicht Nachteilig ist das relativ hohe Abhängigkeits-
zugelassener MAO-Hemmer, der eine vergleich- potential, weswegen die Zahl der Verordnungen
bare Wirksamkeit mit dem in Deutschland er- in den vergangenen Jahren deutlich zurückgegan-
hältlichen Tranylcypromin aufweist - in einer Ta- gen ist. Wegen des Risikos der Entwicklung einer
gesdosis von 45-75 mg. Bei den Patienten, die Abhängigkeit sollten Benzodiazepine daher in
ganz unterschiedliche Traumata aufwiesen (z. B. der Regel nicht länger als durchgehend 4-8 Wo-
Kriegserlebnisse, Bombenanschlag, Flugzeug- chen verordnet werden. Von einigen Autoren
absturz), besserte sich die Symptomatik während wird vor dem Gebrauch von Benzodiazepinen
der 4-wöchigen Studiendauer nur geringfügig in bei PTB gewarnt (z. B. Yehuda, 2002) oder sogar
beiden Gruppen. Kosten et al. (1991) verglichen prinzipiell abgeraten (z.B. Friedman, 1988). Der
bei 60 Vietnamkriegsveteranen die Wirkung Grund hierfür liegt nicht nur in den Risiken einer
von Phenelzin (mittlere Tagesdosis 68 mg) mit Abhängigkeitsentwicklung, sondern auch in den
dem trizyklischen Antidepressivum Imipramin negativen Ergebnissen kontrollierter Studien. So
(mittlere Tagesdosis 225 mg) sowie mit Plazebo. konnte in einer randomisierten Doppelblindstu-
Beide Gruppen verbesserten sich während der die bei Patienen mit chronischer PTB kein sig-
8-wöchigen Studiendauer in der PTB-Symptoma- nifikanter Unterschied zwischen Alprazolam
tik signifikant. Dies traf vor allem auf die soge- und Plazebo festgestellt werden (Braun et al.,
nannten aufdrängenden Erinnerungen zu; die 1990). In einer anderen prospektiven Studie wa-
Vermeidungssymptome besserten sich jedoch ren unmittelbar nach einem Trauma weder Alpra-
nicht. Auch in dieser Studie fand sich keine zolam noch Clonazepam besser als Plazebo (Gel-
Symptomreduktion in der Plazebogruppe. pin et al., 1996). Andere Autoren lehnen Benzo-
Die neueren, so genannten reversiblen Mono- diazepine nicht generell ab und empfehlen die
aminoxidase-A-Hemmstoffe (RIMA) haben ge- Hinzugabe von Benzodiazepinen zu einem Anti-
genüber den älteren MAG-Hemmstoffen den Vor- depressivum z. B. dann, wenn frei flottierende
teil, dass keine Diätvorschriften eingehalten wer- Angst persistiert (Kolk, 1987; Davidsoii, 1992)
den müssen. In einer offenen Studie mit Moclo- oder die Behandlung mit Antidepressiva zu ei-
bemid zeigte sich eine deutliche Wirksamkeit in nem Erfolg geführt hat (Foa et al., 1999).
der Behandlung der PTB (Neal et al., 1997). Bei
einer multizentrischen Doppelblindstudie in
den USA wurde hingegen im Vergleich mit Plaze-
bo keine Wirksamkeit des RIMA-Antidepressi-
vums Brofaromin, das in Deutschland nicht auf
dem Markt ist, festgestellt (Baker et al., 1995).
7.3 · Empirische Evidenz 135 7
7.3.3 Alternativen
Auf keinen Fall sollten Patienten mit Benzo-
Antikonvulsiva und Lithium
diazepinen behandelt werden, die gegen-
wärtig oder in der Vorgeschichte einen Sub- Antikonvulsiva sind Medikamente, die ihre
stanzmissbrauch oder eine Substanzabhän- Hauptindikation in der Behandlung von Epilep-
gigkeit aufweisen oder zu einer Risikogruppe sien haben. Aus dieser Gruppe haben 3 Substan-
für Abhängigkeitsentwicklungen gehören zen (Carbamazepin, Valproinsäure und Lamotri-
(z. B. Alkohol- oder Drogenabhängigkeit in der gin) in den vergangenen Jahren zunehmend an
Familie). Bedeutung gewonnen {Müller-Oerlinghausen et
al., 2002}:
Unverzichtbar vor Therapiebeginn mit Benzodia- - In der prophylaktischen Behandlung von af-
zepinen ist die ärztliche Aufklärung des Patienten fektiven Erkrankungen - insbesondere bei
über Abhängigkeitsrisiken und Entzugserschei- manisch-depressiven (bipolaren) Störungen
nungen bei längerfristiger Einnahme. Manche und rezidivierenden depressiven Störungen
Patienten mit einem Missbrauch oder einer Ab- -sowie
hängigkeit von Benzodiazepinen berichten - in der Behandlung der akuten Manie - neben
hierüber spontan nur ungern oder gar nicht. Eine den bewährten Lithiumsalzen.
gezielte Exploration und eine Beachtung mögli-
cher Benzodiazepineffekte (insbesondere starke Antikonvulsiva und Lithium werden heute in der
Sedierung) sind deshalb unerlässlich. Zu berück- internationalen Literatur bevorzugt als die Grup-
sichtigen ist dabei, dass Benzodiazepine zwar re- pe der »Mood Stabilizer« zusammengefasst. Die
zeptpflichtig sind, von einigen Ärzten aber im- Dosierung dieser Substanzen erfolgt - mit Aus-
mer noch relativ leichtfertig verschrieben werden nahme von Lamotrigin - nicht nach einem festen
und daher auch leicht beschafft werden können. Regime, sondern in Abhängigkeit vom Medika-
Falls bei abhängigkeitsgefährdeten Patienten mit mentenspiegel im Blut. Dieser ist dehalb regelmä-
PTB eine pharmakologische Behandlung indi- ßig, und bei Lithium wegen der geringen thera-
ziert ist, sollten Antidepressiva verordnet werden. peutischen Breite besonders engmaschig, zu be-
stimmen. Anzustreben sind Serumspiegel von
0,5-0,8 mmol/1 für Lithium, 5-12 mg/1 für Carba-
Buspiron
mazepin und 50-100 mg/1 für Valproinsäure. Als
Buspiron, ein Anxiolytikum aus der Stoffgruppe mögliche Nebenwirkungen können nach Bauer
der Azapirone mit serotoninagonistischen Eigen- et al. (2002 b) auftreten:
schaften, wird primär zur Behandlung der gene- - bei Lithium hauptsächlich Tremor, häufiges
ralisierten Angststörung eingesetzt und ist inzwi- Wasserlassen und Gewichtszunahme,
schen in Nordamerika das am häufigsten verord- - bei Carbamazepin am häufigsten übelkeit,
nete Anxiolytikum. Auch bei Patienten mit PTB Hautausschläge und Schwindel,
wird es häufig eingesetzt, z. B. als Zusatzmedika- - bei Valproinsäure vor allem übelkeit und
tion zu einem Antidepressivum (Foa et al., 1999}. - bei Lamotrigin vor allem Hautausschläge,
Da bei Buspiron bislang keine Abhängigkeitsent- Schwindel und Kopfschmerzen.
wicklungen bekannt geworden sind, kann es im
Gegensatz zu Benzodiazepinen bei PTB ohne Sowohl die beiden Antikonvulsiva Carbamazepin
Befürchtung einer möglichen Abhängigkeit ein- und Valproat als auch Lithium wurden bei Piß-
gesetzt werden. Empirische Studien zu Buspiron Patienten bislang nur in offenen, unkontrollierten
in der Behandlung von Piß-Patienten gibt es je- Studien untersucht. Lediglich Lamotrigin wurde
doch nur wenige: In einer offenen 4-wöchigen in einer kürzlich publizierten, relativ kleinen pla-
Studie konnte bei 7 von 8 Patienten eine signifi- zebokontrollierten Studie mit Erfolg geprüft
kante Reduktion aller PTB-Symptomkategorien (Hertzberg et al., 1999}. In dieser Studie war La-
beobachtet werden (Duffy & Malloy, 1994). motrigin im Hinblick auf die so genannten auf-
136 Kapitel 7 · Psychopharmakatherapie

drängenden Erinnerungen und Vermeidungs- 7.4 Abschließende Betrachtung


symptome der PTB den Plazebo signifikant über-
legen. PTB ist eine pharmakatherapeutisch schwierig zu
Der Gebrauch der Antikonvulsiva wurde von behandelnde Erkrankung. Weitere Studien zur
theoretischen Überlegungen abgeleitet, wonach Ätiologie und Pathophysiologie dieser Störung
das so genannte »Kindling« als pathophysiologi- bringen möglicherweise neue Erkenntnisse für
scher Prozess der PTB-Symptomatik zugrunde die Behandlung. Derzeit können noch keine ver-
liegen könnte (s. Kap. 1; Kolk & Greenberg, 1987). bindlichen psychopharmakalogischen Empfeh-
Das Modell des »Kindling« beinhaltet die Hypo- lungen zur Behandlung von posttraumatischen
these, dass die wiederholte Präsentation unter- Störungen aufgestellt werden. Der Grund hierfür
schwelliger Reize das limbisehe System sensibili- liegt darin, dass man sich erst in den vergange-
siert und es dadurch zu erniedrigter neuronaler nen Jahren vermehrt der Frage gewidmet hat,
Aktivität kommt. Danach würden Substanzen wie bzw. ob man überhaupt Patienten mit PTB
mit bekannter Anti-Kindling-Wirkung wie Car- psychopharmakalogisch (mit-)behandeln kann.
bamazepin und Valproinsäure eine durch wieder- Wenngleich in jüngster Zeit eine Reihe plazebo-
holte Stressoren verursachte abnorme Aktivität kontrollierter Studien publiziert wurde, mangelt
limbischer Neurone dämpfen (Post & Weiss, es weiterhin an sorgfältig durchgeführten klini-
1989). In der Tat konnten sowohl für Carbamaze- schen Studien, die den Einsatz von Psychophar-
pine (Lipper et al., 1986) als auch für Valproin- maka allein und in Kombination mit Psychothe-
säure (Fesler, 1991) positive Effekte auf die spezi- rapie bei verschiedenen PTB-Patientengruppen
fischen PTB-Symptome wie z. B. Hyperarousal untersuchen. Eine wichtige Einschränkung der
und Wiedererleben des Traumas verzeichnet wer- bisherigen Studienergebnisse ist die Tatsache,
den. dass die meisten Pharmakatherapiestudien mit
Bei ausgeprägter Aggressivität, einschließlich Kriegsveteranen durchgeführt wurden, die be-
Autoaggressivität (Suizidalität), und auch bei kanntlich einen hohen Grad an Behandlungs-
Symptomen der Übererregtheit kann ein Thera- resistenz aufweisen.
pieversuch mit Lithium indiziert sein. Nach dem gegenwärtigen Kenntnisstand stellt
die Psychopharmakotherapie jedoch eine sinn-
volle Ergänzung im Gesamtbehandlungsplan
7 .3.4 Neuroleptika posttraumatischer Störungen dar, die insbeson-
dere bei schweren PTB-Syndromen mit Über-
Der Einsatz von Neuroleptika (Gruppe von anti- erregbarkeit, Panikattacken und depressiver
psychotisch wirksamen Substanzen) bei Patien- Symptomatik möglichst in Kombination mit Psy-
ten mit PTB wird in der Literatur aufgrund von chotherapie indiziert ist. Medikamente der ersten
Einzelfallstudien sehr zurückhaltend beurteilt. Wahl sind Antidepressiva aus der Gruppe der
Nur selten haben Neuroleptika einen Platz in SSRI oder ähnlicher Substanzen (z. B. Mirtazapin,
der Therapie (Friedman, 1988; Davidson, 1992). Nefazodon, Venlafaxin). Bei Unwirksamkeit oder
Indikationen zur Verordnung von Neuroleptika Unverträglichkeit dieser Medikamente ist an den
sind gegeben, wenn psychotische Symptome (z. B. Einsatz anderer Antidepressiva-Klassen (trizykli-
Paranoia, visuelle und auditive Halluzinationen sche Antidepressiva oder MAO-Hemmstoffe) zu
von den traumatischen Erlebnissen) oder aggres- denken. »Mood Stabilizer« stellen eine weitere
sives Verhalten auftreten (Friedman, 1988). Hier Alternative dar, die auch in Kombination mit ei-
bieten sich mittelpotente Neuroleptika wie z. B. nem Antidepressivum verordnet werden können.
Perazin oder neuere, relativ gut verträgliche (aty- Ein pharmakatherapeutischer Behandlungsver-
pische) Neuroleptika (z. B. Olanzapin, Risperi- such sollte sich über mindestens 8-12 Wochen er-
don, Quetiapin) an. strecken (s. a rabelle 7.1).
Abschließend ist auf den wesentlichen Um-
stand hinzuweisen, dass gerade wegen des noch
begrenzten Wissens über die möglichen Effekte
Literatur 137 7
unterschiedlicher Psychopharmakotherapien bei randomized controlled trial. Journal of the American
Patienten mit PTB eine solche Behandlung stets Medical Association, 283, 183 7-1844.
Braun, P., Greenberg, D., Dasberg, H. & Lerer, B. (1990). Core
von einem Arzt durchgeführt werden sollte, der symptoms of posttraumatic stress disorder unimproved
sich sowohl allgemein mit der Psychopharmako- by alprazolam treatment. Journal of Clinical Psychiatry,
therapie als auch speziell mit der jeweils einge- 51, 236-238.
setzten Substanz gut auskennt und bereits über Charney, D. S., Deuteh, A. Y., Krystal, J. H., Southwick, S. M. & Da-
entsprechende Erfahrungen verfügt. Dies kann vis, M. (1993). Psychebiologie mechanisms of posttrau-
matic stress disorder. Archives of General Psychiatry, SO,
im Einzelfall dazu führen, dass mehrere Behand-
294-305.
ler für den gleichen Patienten zuständig sind Connor, K.M., Sutherland, S.M., Tupler, LA., Malik, M.L. & Da-
(z. B. Hausarzt, Psychotherapeut und psychiatri- vidson, J. R. (1999). Fluoxetine in post-traumatic stress dis-
scher Facharzt). Eine solche Konstellation muss order. Randomised, double-blind study. British Journal of
ggf. in Kauf genommen werden, um dem Patien- Psychiatry, 175, 17-22.
Davidson, J. (1992). Drug therapy of post-traumatic stress dis-
ten eine kompetente Therapie anbieten zu order. British Journal of Psychiatry, 160, 309-314.
können; sie erfordert jedoch klare Absprachen Davidson, J., Kudler, H., Smith, R., Mahorney, S. L., Lipper, S.,
und entsprechende Rückmeldungen der beteilig- Hammett, E., Saunders, W. B. & Cavenar, J. 0 . (1990). Treat-
ten Therapeuten. ment of posttraumatic stress disorder with amitriptyline
and placebo. Archives of General Psychiatry, 47, 259-266.
Davidson, J., Pearlstein, T., Londborg, P., Brady, K. T., Rothbaum,
B., Bell, J., Maddock, R., Hegel, M. T. & Farfel, G. (2001 a).
Literatur Efficacy of sertraline in preventing relapse of posttrau-
matic stress disorder: results of a 28-week double-blind,
American Psychiatrie Association (1980). Diagnostic and statis- placebo-controlled study. American Journal of Psychiatry,
tical manual of mental disorders (3rd edition). Washing- 158, 1974-1981.
ton: American Psychiatrie Association. Davidson, J. R., Rothbaum, B. 0., Kolk, B. A. van der, Sikes, C. R. &
Baker, D.G., Diamond, B.l., Gillette, G., Hamner, M., Katzelnick, Farfel, G.M. (2001 b). Multicenter, double-blind compari-
D., Keller, T., Mellman, T.A., Pontius, E., Rosenthal, M. & son of sertraline and placebo in the treatment of post-
Tucker, P. (1995). A double-blind, randomized, placebo- traumatic stress disorder. Archives of General Psychiatry,
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ogy, 122, 386-389. macotherapy for post-traumatic stress disorder: A com-
Bauer, M. & Berghöfer, A. (1997). Leitlinien und praktische prehensive review. Expert Opinion Pharmacotherapy, 2,
Durchführung der Pharmakatherapie mit Antidepressiva. 1583-1595.
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138 Kapitel 7 · Psychopharmakatherapie

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Spezifische
Traumagruppen
8

P. Nishith, P.A. Resick

8.1 Das Erklärungsmodell der kognitiven


Verarbeitungstherapie ~ 142

8.2 Falldarstellung ~ 144

8.3 Behandlungsablauf ~ 145

8.4 Behandlungsergebnisse - 149

8.5 Abschließende Bemerkungen - 149

Literatur - 150

Arbeitsblätter - 151
142 Kapitel 8 · Kognitive Verarbeitungstherapie für Opfer sexuellen Missbrauchs

Sexueller Missbrauch ist ein Problem von großer 8.1 Das Erklärungsmodell der
individueller und sozialer Bedeutung. Nach re- kognitiven Verarbeitungstherapie
präsentativen Untersuchungen der Bevölkerung
lässt sich die Häufigkeit (Lebenszeitprävalenz) Die Entwicklung und Aufrechterhaltung von
von sexuellem Missbrauch bei Frauen zwischen posttraumatischen Belastungsstörungen ist in-
13,5% und 44o/o schätzen (Kilpatrick et al., 1985, nerhalb des Rahmens der Informationsverarbei-
1992; Koss et al., 1987). Sexueller Missbrauch be- tungstheorie konzeptualisiert worden (eherntob
einflusst sowohl das körperliche als auch das psy- et al., 1988; Foa et al., 1989; Horowitz, 1976; Jones
chische Gleichgewicht von Opfern, wie man an & Barlow, 1990; McCann et al., 1988, 1990; s. auch
der nachfolgend erhöhten Nutzung von medizini- Kap. 1 und Kap. 4). Diese Theorie erklärt die Or-
schen und psychiatrischen Diensten ablesen kann ganisation und Verarbeitung von Information
(Golding et al., 1988; Koss et al., 1988). durch die Entwicklung von Schemata. Ein Sche-
In einer retrospektiven Untersuchung fanden ma ist definiert als ein allgemein gespeicherter
Kilpatrick et al. (1992) heraus, dass 31 o/o aller be- Wissenskörper, der mit der neu aufgenommenen
fragten Vergewaltigungsopfer irgendwann in ih- Information so interagiert, dass er beeinflusst,
rem Leben posttraumatische Belastungsstörun- wie die Information aufgenommen, verstanden
gen (PTB) entwickelten, und dass 11 o/o zum Zeit- und verarbeitet wird.
punkt der Befragung noch PTB hatten. Sie In der sozialpsychologischen Literatur wur-
schätzten, dass 3,8 Mio. erwachsene US-ameri- den eine Reihe von Belegen für die Neigung
kanische Frauen vergewaltigungsbedingte PTB von Menschen gewonnen, zu glauben, dass die
gehabt haben, und 1,3 Mio. zu einem Stichtags- Welt gerecht ist, dass guten Menschen gute Dinge
datum (Punktprävalenz) vergewaltigungsbeding- und schlechten Menschen schlimme Dinge pas-
te PTB haben. In einer retrospektiven Studie fan- sieren (Lerner & Miller, 1978). Dieser Glaube
den Rothbaum et al. (1992) mit Hilfe strukturier- dient wahrscheinlich einer Abwehrfunktion, so-
ter diagnostischer Interviews, dass 94o/o der un- dass sich die Menschen weniger verletzlich ge-
tersuchten Vergewaltigungsopfer die Symptom- genüber zufällig auftretenden negativen Ereignis-
kriterien für PTB eine Woche nach der Vergewal- sen fühlen. Das Auftreten eines besonders negati-
tigung erreichten (das Zeitkriterium von einem ven Ereignisses, so wie eine Vergewaltigung,
Monat, das für die Diagnose vorausgesetzt wird, weicht vom Glauben an ein »Schema der gerech-
wurde hier nicht benutzt). 3 Monate nach der ten Welt« ab. Holion & Garher (1988) schlagen
Vergewaltigung erreichten 47o/o der Frauen noch vor, die Reaktionen, die auftreten, wenn eine Per-
immer die Kriterien für PTB. Die Frauen, die son neuer und nicht schema- oder überzeu-
schließlich wieder gesundeten, zeigten eine zu- gungskonformer Information begegnet, Assimila-
nehmende Verbesserung über die 3 erfassten Mo- tion oder Akkommodation zu nennen:
nate. Hingegen berichteten die Frauen, die eine - Assimilation bezeichnet die Prozesse, bei de-
längeranhaltende PTB entwickelten, sowohl an- nen Information verändert oder verzerrt
fänglich größeres Leid als auch wenig Verbes- wird, um in ein vorhandenes Schema hinein-
serungen nach dem Ablauf des ersten Monats zupassen (assimiliert zu werden),
auf den verschiedenen Symptomskalen. Ähnlich - Akkommodation bezeichnet andererseits die
berichteten Mechanic et al. (1994) in einer Studie Veränderungen bestehender Schemata, um
des natürlichen Verlaufes der Genesung von vor neue, unvereinbare Information akzeptieren
kurzem vergewaltigten Frauen, dass 2 Wochen zu können.
nach der Vergewaltigung 72o/o ihrer Stichprobe
die vollen Symptomkriterien für die Diagnose ei-
Rolle früher bestehender Überzeugungen
ner PTB (s. Kap. 1) erreichten. Nach 3 Monaten
erreichten 44o/o noch immer die vollen Kriterien Es hat sich gezeigt, dass vor der Vergewaltigung
für PTB. vorhandene Oberzeugungen und Erlebnisse ei-
nen wichtigen Einfluss darauf haben, wie das
traumatische Ereignis verarbeitet wird. Frühere
8.1 · Das Erklärungsmodell der kognitiven Verarbeitungstherapie
143 8
Verluste und Traumen können zu negativen Sche- durch einen Bekannten etwas schemaabweichen-
mata führen (z. B. »Mir passieren immer schlim- des (schema-inkongruentes) ist; die eigenen Er-
me Dinge«), die durch die Vergewaltigung lebnisse passen nicht zu der vorherrschenden
scheinbar bestätigt werden. Im Kontrast dazu Oberzeugung von Vergewaltigungen, die Verge-
kann eine allzu behütete Kindheit zu einem un- waltigungen als etwas von Fremden ausgeführtes
realistischen Schema der gerechten Welt führen definieren.
(z. B. »Solange ich mich gut benehme, wird mir Eine Akkommodation wie »Manchmal
niemals etwas Schlimmes passieren«), was im können schlimme Dinge guten Menschen passie-
Angesicht eines traumatischen Erlebnisses eben- ren« ist zwar notwendig für eine erfolgreiche Ver-
falls zerstört werden mag. arbeitung des Ereignisses, gleichzeitig kann sie
aber eine Symptomverminderung dann verhin-
dern, wenn das Opfer seine Weltsicht vollständig
PTB-Symptom-Prozessmodell
dahingehend ändert, dass Vertrauen oder Intimi-
Wenn die Information nicht angemessen ver- tät nicht möglich sind und allgemeine Furcht vor-
arbeitet wird, treten mit hoher Wahrscheinlich- herrscht. Dieser Prozess wird als Überakkom-
keit die Symptome der PTB, wie intrusives Wie- modation bezeichnet, bei dem das Opfer zu
dererleben, Flashbacks und Alpträume auf. Diese Schlüssen kommt wie »Es kann niemandem ver-
Intrusionssymptome werden von starken traut werden« oder »Ich bin nirgendwo sicher«.
Gefühlsreaktionen wie Furcht, Ekel, Schuld und 5 Bereiche ließen sich identifizieren, in denen
Ärger begleitet. Diese führen wiederum zu traumatische Erlebnisse zu gestörten Selbstkon-
Flucht- und Vermeidungsverhalten, z. B. dem Ver- zepten (durch Assimilation) und Konzepten von
meiden von Situationen, die die Betroffenen an anderen Menschen (Fremdkonzepten, durch
das Ereignis erinnern. Die Vermeidung der Ge- überakkommodation) führten (McCann et al.,
danken, dass etwas Schlimmes passiert ist oder 1988, 1990; s. auch Kap. 1). Diese 5 Bereiche sind:
das Erlebte in die eigene Lebenserfahrung ein- - Sicherheit,
zuordnen, verhindert allerdings die Löschung - Vertrauen,
der starken Gefühlsreaktionen von Furcht, - Macht/Einfluss,
Schuld, Ekel und Ärger. Im weiteren Verlauf - Selbstachtung und
können starke Gefühlsreaktionen jederzeit durch - Intimität.
Umgebungsreize hervorgerufen werden, solange
die detailreichen Erinnerungen an das traumati- PTB wird als Ereignis einer Unfähigkeit gesehen,
sche Ereignis weiterhin von den Schemata abwei- die traumatischen Erfahrungen und die früheren
chen (Hollon & Garber, 1988). Diese Angstreize Überzeugungen und Einstellungen miteinander
können insbesondere die Symptome der chroni- zu integrieren. Dadurch kommt es zu »Verfesti-
schen Erregung und Hyperaktivität verursachen gungen« (Resick & Schnicke, 1990, 1992a) in
und allgemein werden lassen. den Bereichen von Sicherheit, Vertrauen, Ein-
fluss, Selbstachtung und Intimität.
Beispiel für Assimilation
und Überakkommodation Kognitive Verarbeitungstherapie
Assimilation wird häufig bei Opfern von Ver- Resick & Schnicke (1992a; 1993) haben die
gewaltigungen durch Bekannte (z. B. Familien- kognitive Verarbeitungstherapie (KVT; eng!.:
mitglieder) beobachtet. Das Opfer gibt sich selbst »Cognitive Processing Therapy«, CPT) ent-
die Schuld für das Überfallenwerden oder den wickelt, um den Patienten zu helfen, die durch
nicht erfolgreichen Widerstand, indem es sich das Trauma verursachten Gefühle zu verarbeiten
fragt, ob das Ereignis wirklich eine Vergewalti- und ihre Verfestigungen zu identifizieren. (Wei-
gung war. Es kann auch Amnesien für Teile oder tere Literatur zur KVT siehe Calhoun & Resick,
für das gesamte Ereignis ausbilden. Diese Phäno- 1993; Ellis, Black & Resick, 1992; Resick, 1992;
mene rühren daher, weil die Vergewaltigung Resick, 1994; Resick & Gerth Markaway, 1991).
144 Kapitel 8 · Kognitive Verarbeitungstherapie für Opfer sexuellen Missbrauchs

In der Therapie werden die Verfestigungen ange- Veränderung des Leidens, welche sie dazu führte,
sprochen und auf systematische Weise i n Frage erneut eine Therapie aufzusuchen.
gestellt. Dabei werden Patientenedukation (s.
Testdiagnostik
Kap. 2), Konfrontationsverfahren (s. Kap. 4)
Auf der »PTSD Symptom Scale« (PSS, s. Kap. 3)
und kognitive Komponenten (s. Kap. 5) einge-
wurde ein Wert von 29 (mittelstarke bis starke
setzt, um den Patienten zu helfen, das Trauma
PTB), im Beck Depressions Inventar (BDI, Beck et
in ihre vorbestehenden Schemata zu integrieren.
al., 1961) ein Wert von 14 (milde Depression) und
auf der Beck-Hoffnungslosigkeits-Skala (BHS,
Beck et al., 1974) ein Wert von 4 (keine bis milde
Das Ziel der KVT ist es, den Patienten bei der
Hoffnungslosigkeit) angezeigt. Die diagnostische
Integration des Ereignisses dadurch zu helfen,
Beurteilung mit strukturierten klinischen Inter-
dass die Gefühle vollständig verarbeitet wer-
views zeigte, dass die Patientin die diagnostischen
den und die Schemata so zu verändern, dass
Kriterien für die PTB erfüllte.
die Patienten eine ausgeglichene Weltsicht
beibehalten (d.h. die Überakkommodation Biographische Entwicklung
wird verringert). und gegenwärtige Lage
Die Patientin wurde in einer stark traditionell und
religiös geprägten, katholischen Familie groß-
gezogen, wo sie das jüngste von 6 Kindern war. Sie
8.2 Falldarstellung erinnerte sich, Gott als einen häufigen >>Spielge-
fährten<< gehabt zu haben, wenn sie sich als Kind
Im folgenden Abschnitt wird das Vorgehen der
mit Phantasiespielen beschäftigte. Was gut und
kognitiven Verarbeitungstherapie anband einer
was schlecht war, wurde durch den religiösen
Fallstudie erläutert.
Kontext streng definiert. Zum Beispiel galt Ho-
mosexualität als Unrecht, und sie erinnert sich,
f) Beispiel
dass ihr Vater und Brüder erklärten, dass Homo-
Die Patientin war eine 23-jährige, alleinstehende,
sexuelle in die Hölle kommen müssten. Dies legte
katholische Frau weißer Hautfarbe mit einem All-
das Fundament für den Glauben an eine gerechte
gemeinschulabschluss. Sie arbeitete als Frisöse in
Welt, in der guten Menschen gute Dinge und
einem Salon und wohnte bei ihren Eitern zu
schlechten Menschen schlechte Dinge passieren.
Hause. Sie wurde in unsere Einrichtung von ihrer
ln ihrer Beschreibung war die Beziehung mit
Mutter vermittelt, die von dem Behandlungs-
ihrem Freund, den sie mit 15 Jahren in der Schule
angebot in der lokalen Zeitung las.
hatte, schwierig. Er hatte mit Drogen zu tun und
Problemdarstellung sie versuchte, ihn zu veranlassen, einen Thera-
Die Patientin kam zur Behandlung mit Sympto- peuten aufzusuchen, um ihn zu retten. Als sich die
men der Intrusion, Vermeidung und chronischen Beziehung verschlechterte, begann sie sich
Übererregung (s. Kap. 1 und 3). Diese Symptome zurückzuziehen. Sie berichtete, dass er daraufhin
hatten sich nach einer traumatisch erlebten Ver- beleidigend wurde und Sex mit ihr erzwingen
gewaltigung im Alter von 15 Jahren durch ihren wollte. Letztendlich beendete sie die Beziehung
damaligen Freund herausgebildet. 8 Monate nach mit ihm.
dem traumatischen Ereignis hatte sie eine Thera- Eines frühen Morgens, als sie noch schlief,
pie (unterstützende Therapie) aufgesucht, die 2 schlich sich der junge Mann durch ihr Schlafzim·
Jahre dauerte, ohne dass sie zu einer bedeut- merfenster und vergewaltigte sie. Sie berichtete,
samen Reduktion ihrer Symptome führte. Sie litt dass sie anfangs extrem verwirrt war. Sie war noch
unter mittelschweren Symptomen der posttrau- in einem Traum, in dem Gott ihr ein Zeichen ge-
matischen Belastungsstörung für die nächsten 4 geben hatte, mit ihm in seinen wunderschönen
bis 5 Jahre. Während ihrer Verlobungszeit wurde Garten zu gehen. Als sie an diesem Punkt im
die Intensität ihrer Symptome stärker. Es war diese Traum war, bemerkte sie auf einmal die Be-
T T
8.3 · Behandlungsablauf
145 8
ckenstöße des Vergewaltigers. Sie beschrieb, wie dungen für sie treffen würden. Sie berichtete, dass
sie »wegtrieb<< und wieder nach Gott suchte, der sie manchmal wütend mit ihnen sei, aber Angst
sie retten sollte. Nur war sie plötzlich in einem habe, ihre Wut zu zeigen oder sich ihnen ge-
dunklen, kalten Zimmer und Gott war nirgendwo genüber durchzusetzen, denn es könne ja sein,
zu finden. Als sie zu sich kam, hatte der Ver- dass beide grundsätzlich Recht hätten.
gewaltiger sich gerade fertig angezogen und sie
sah ihn durch das Fenster herausschleichen.
Während dieser ganzen Zeit wurde kein Wort ge- 8.3 Behandlungsablauf
wechselt. Aufgrund ihrer vorherrschenden frühe-
ren Überzeugungen von einer gerechten Weit,
Die kognitive Verarbeitungstherapie umfasst 12
versuchte die Patientin via Assimilation aus dem Sitzungen innerhalb von 6 oder 12 Wochen, wo-
Ereignis Sinn zu machen. Wenn es gilt, dass bei sie Patientenedukation, Konfrontationstech-
schlechte Dinge schlechten Menschen passieren niken und kognitive Komponenten einschließt.
und ihr etwas Schlechtes passiert war, so hieß das, Die folgende Übersicht fasst die Themen der ein-
dass sie ein schlechter Mensch war, der dies ver- zelnen Sitzungen zusammen.
diente. Sie gab sich selbst die Schuld dafür, das
Fenster nicht verschlossen zu haben, und dafür,
Zentrale Themenbereiche
sich während der Vergewaltigung nicht gewehrt
in den 1 2 KVT -Sitzungen
zu haben. Sie interpretierte den zweiten Teil ihres
Einführung und Edukation,
im Dissoziationszustand erlebten Traumes dahin-
Herausarbeiten der Bedeutung
gehend, dass Gott sie verlassen habe, weil sie et-
des traumatischen Ereignisses,
was Schlechtes getan hatte.
Identifikation von Gedanken und Gefühlen,
Diese Selbstbeschuldigung war so stark, dass
Erinnerung an die Vergewaltigung,
sie 8 Monate brauchte, ihren Eitern von der Ver-
Identifikation der Verfestigungspunkte,
gewaltigung zu erzählen. Sie lehnte es ab, auf ei-
herausfordernde Fragen,
ner Anklage zu bestehen und den Vergewaltiger
fehlerhafte Denkmuster,
vor Gericht zu bringen.
Probleme des Sicherheitsgefühls,
Die Selbstbeschuldigungen verursachten wei-
Vertrauensprobleme,
terhin auch Beschädigungen ihrer Überzeugungen
Probleme mit Macht und Einfluss,
(aus den Bereichen) von Sicherheit, Vertrauen,
Selbstachtungsprobleme,
Macht/Einfluss, Selbstachtung und Intimität. Sie
lntimitätsprobleme.
hatte Schwierigkeiten, ihrer eigenen Urteilskraft
und Stärke zu vertrauen, um sich in Beziehungen
sicher zu fühlen. Ein Resultat war, dass sie in ihren
1. Sitzung: Einführung und Edukationsphase
Beziehungen mit nachfolgenden Freunden Inti-
~ Der Patientin wurde ein Überblick von der Be-
mitäten vermied und sich für alle alltäglichen
handlung gegeben.
Entscheidungen Ratschläge und Rückversiche-
rungen holte.
~ Die Patientin wurde über PTB im Kontext der ln-
Dies verfestigte einen zirkulären Gedanken,
formationsverarbeitungstheorie aufgeklärt.
dass ihre Freunde sie leiten und kontrollieren
würden, was ihr implizit den Verlust des Vertrau- ~ Der Patientin wurde eine Hausaufgabe gege-
ens in ihre eigene Urteilskraft bestätigte und was ben, in der sie gebeten wurde aufzuschreiben,
nachfolgend ihr Selbstbewusstsein weiter unter- welche Auswirkungen die Vergewaltigung hatte.
grub. Insbesondere hatte die Patientin eine Reihe Hierbei ging es um Auswirkungen auf sie selbst,
von Schwierigkeiten in der gegenwärtigen Bezie- auf ihre Überzeugungen von anderen Menschen
hung mit ihrem Verlobten und ihrer Freundin auf und die Weit insgesamt und zwar in den Bereichen
der Arbeit. Beide beschrieb sie als extrem beherr- von Sicherheit, Vertrauen, Einflussmöglichkeiten,
schend, und dass beide alle alltäglichen Entschei- Selbstachtung und Intimität.
T
146 Kapitel 8 · Kognitive Verarbeitungstherapie für Opfer sexuellen Missbrauchs

2. Sitzung: Die Bedeutung des Ereignisses >>Hatten Sie einen Grund zu vermuten, dass diese
.,. Die Patientin las die Hausaufgabe vor und die besondere Nacht anders sein würde?« .
Bedeutung der Vergewaltigung für die Patientin (Der sokratische Dialog ist eine Methode der Ge-
wurde diskutiert (s. Arbeitsblatt 1 im Anhang). sprächsführung in der kognitiven Therapie, die v.a.
von Ellis (z. B. Ellis, 1977) eingeführt wurde. Der Be-
.,. Verfestigte Sichtweisen (d. h. unangebrachte An- griff leitet sich aus der Form der Gespräche zwi-
nahmen), die mit der Vergewaltigung in Verbin- schen Sokrates und Platon ab. Durch gezieltes Hin-
dung standen, wurden identifiziert (z. B. »Ich hätte terfragen werden Annahmen identifiziert, über-
mein Sch lafzimmerfenster verschließen sollen«). prüft und ggf. verändert. Dabei liefert der Thera-
peut keine fertigen Antworten, sondern leitet
.,. Der Patientin wurde geholfen, einige Verbin- den Patienten durch seine Fragen dahin, neue Er-
dungen zwischen unangebrachten Gedanken kenntnisse selbst zu gewinnen; Anm. des Hrsg.).
und negativen Gefühlen zu sehen.
.,. Als Hausaufgabe wurde die Patientin gebeten,
.,. Der Patientin wurde eine Hausaufgabe gege- noch einmal einen Bericht über den gesamten Vor-
ben, in der sie gebeten wurde, ihre Gedanken fall mit viel mehr sensorischen Einzelheiten zu
und Gefühle auf >>ABC-Blättern« einzutragen (s. Ar- schreiben, da die erste Version meist wie ein Poli-
beitsblatt 2 im Anhang). zeibericht abgefasst wird.

3. Sitzung: Identifikation von Gedanken 5. Sitzung: Identifikation


und Gefühlen der Verfestigungspunkte

.,. Die >>ABC-Blätter« der Patientin wurden bespro- .,. Die Therapeutin konzentrierte die Patientin auf
chen und die Verbindungen zwischen Gedanken das Verarbeiten der Gefühle während des Lesens
und Gefühlen weiter diskutiert. des zweiten Vergewaltigungsberichtes. Sie nutzte
»ABC-Blätter<<, um die Verbindung zwischen unan-
.,. Die Patientin wurde gebeten, einen detaillierten gebrachten Gedanken und Gefühlen weiter zu klä-
Bericht von der Vergewaltigung zu geben und alle ren.
sensorischen Einzelheiten (Anblicke, Geräusche,
.,. Die Therapeutin stellt weitere Selbstbeschuldi-
Gerüche etc.), Gedanken und Gefühle einzuschlie-
gungen in den Mittelpunkt des Gesprächs (z. B.
ßen, um die Gefühle und anderen Verfestigungen
>>Wenn Sie gekämpft hätten, könnte das Ereignis
bearbeiten zu können.
viel schli mmer gewesen sein?<<, »Könnte nicht zu
sch reien ein Beweis für gutes Urteilsvermöge n ge-
4. Sitzung: Erinnerung an wesen sein, anstelle von schlechtem?«).
die Vergewalt igung
.,. Ein weiteres Arbeitsblatt wurde vorgestellt, das
.,. Die Patientin las ihren Bericht von der Vergewal- dazu helfen sollte, unangemessene Gedanken in
tigung vor (s. Arbeitsblatt 3 im Anhang). Dabei Frage zu stellen (s. Arbeitsblatt 4 im Anhang).
wurden die Gefühle, die sie während der Verge-
waltigung erlebt hatte, wieder präsent. .,. Als Hausaufgabe wurde die Patientin gebeten,
ihre Probleme (Verfestigungspunkte) unter Ver-
.,. Die Therapeutin konzentrierte sich darauf, Ver-
wendung des Arbeitsblattes >>ln Frage stellen un-
festigungen zu identifizieren, indem sie weitere
angemessener Überzeugungen<< zu beleuchten.
>>ABC-Blätter« nutzte. Vorsichtig wurden die Selbst-
beschuldigungen der Patientin in den Mittelpunkt
gestellt, wobei die Fragemethode des sokratischen
Dialogs zum Einsatz kam (z. B. >>Hatten Sie jemals
das Fenster in der Vergangenheit verschlossen?«,

T
8.3 · Behandlungsablauf 147 8
6. Sitzung: Herausfordernde Fragen .,. Als Hausaufgabe wurde die Patientin gebeten,
.,. Die Hausaufgabe, die sich auf das lnfrage stellen ihre Verfestigungspunkte lnfrage zu stellen, wo-
[ bei sie das vorgestellte Arbeitsblatt benutzen soll-
des Verfestigungspunkts »Ich hätte mein Fenster
schließen sollen« bezog, wurde besprochen (Ar- te.
beitsblatt 4).

.,. Die Therapeutin erläuterte, was man sich unter 8. Sitzung: Probleme des Sicherheitsgefühls
»fehlerhaften Denkmustern« vorstellt (vgl. Beck & .,. Die Therapeutin half der Patientin, ihre Hausauf-
Emery, 1985), um zu zeigen, wie sich Verallgemei- gabe zu besprechen und ihre Probleme des Sicher-
nerungen über verschiedene Verfestigungspunkte heitsgefühls zu bearbeiten.
ausbreiten können (z. B. »Sie missachteten wichti-
ge Aspekte der Situation, als Sie sich selbst die .,. Das Behandlungsmodul zum Vertrauen wurde
Schuld dafür gaben, da sie nicht das Fenster ge- eingeführt und der Patientin wurde geholfen, ihre
schlossen hatten; Sie hatten niemals in Ihrem ge- Vertrauensprobleme zu beschreiben (z. B. »Ihr Ver-
samten Leben das Fenster geschlossen, und waren trauen in Gott wurde zerstört, weil Sie den letzten
nicht vergewaltigt worden«). Teil Ihres dissoziativen Traumes während der Ver-
gewaltigung als Beweis interpretierten, dass Gott
.,. Als Hausaufgabe wurde die Patientin aufgefor- Sie verlassen hatte, weil Sie vergewaltigt worden
dert, noch einmal alle ihre »ABC-Blätter« durch- waren«.
zugehen und die gemeinsamen fehlerhaften
.,. Die Patientin wurde gebeten, ihre Vertrauens-
Denkmuster aller ihrer Verfestigungspunkte he-
probleme unter Benutzung des Arbeitsblattes 7
rauszufinden.
>>lnfrage stellen von inneren Annahmen, Themen-
bereich: Vertrauen<< zu bearbeiten.
7. Sitzung: Fehlerhafte Denkmuster
.,. Die Therapeutin besprach mit der Patientin die
Hausaufgabe über fehlerhafte Denkmuster (s. Ar- 9. Sitzung: Vertrauensprobleme
beitsblatt 5). .,. Die Hausaufgabe der Patientin bezüglich der
Vertrauensprobleme wurde besprochen (Arbeits-
.,. Die Therapeutin führte dann das Behandlungs- blatt 7), und der Patientin wurde geholfen, ihre
modul zur Sicherheit ein und half der Patientin, die Verfestigungspunkte im Vertrauensbereich durch-
Probleme im Bereich ihres Sicherheitsgefühls zu zuarbeiten.
beschreiben (z. B. alles über einen neuen Ort wis-
.,. Die Therapeutin stellte das Behandlungsmodul
sen zu müssen, bevor sie dort hin geht). Das wur-
zu Macht und Einfluss vor und half der Patientin,
de getan, indem der Patientin gezeigt wurde, wie
bei sich selbst zu bemerken, wie sehr ihr Sinn
sich ihre Lebensgewohnheiten seit der Vergewalti-
für Eigenständigkeit (z. B. selbst etwas zu können)
gung verändert hatten.
seit der Vergewaltigung reduziert worden war. Die
.,. Der Patientin wurde geholfen, zwischen ihren Patientin gab sich selbst die Schuld, keine bessere
übergeneralisierten Gedanken, sich nicht sicher Wahl in ihren Beziehungen getroffen zu haben,
zu sein, sich ängstlich zu fühlen und verschiedene was sie in zunehmende Abhängigkeiten von ihren
Situationen zu vermeiden, eine Verbindung zu er- Freunden geführt habe, die ihr letztlich alle Ent-
kennen. scheidungen abgenommen hätten .

.,. Die Therapeutin stellte das Arbeitsblatt >>lnfrage .,. Als Hausaufgabe wurde ihr die Aufgabe zuge-
stellen von inneren Annahmen, Themenbereich: wiesen, den Verfestigungspunkt lnfrage zu stellen,
Sicherheit« vor, um der Patientin zu helfen, ihre un- durch den sie glaubt, dass sie nicht in der Lage ist,
angebrachten Überzeugungen lnfrage zu stellen den Verlauf ihrer Beziehung mit ihrem Freund zu
und adäquatere, veränderte Sichtweisen zu ent- gestalten und zu beeinflussen.
wickeln (s. Arbeitsblatt 6).
148 Kapitel 8 · Kognitive Verarbeitungstherapie fü r Opfer sexuellen Missbrauchs

10. Sitzung: Probleme mit Macht .,. Die Patientin wurde gebeten, ihre Probleme mit
und Einfluss der Intimität infrage zu stellen und dabei das Ar-
.,. Die Therapeutin besprach die Hausaufgabe zu beitsblatt 10 »lnfragestellen von inneren Annah-
Macht- und Einflussproblemen mit der Patientin men, Themenbereich: Intimität« zu verwenden.
(Arbeitsblatt 8).
.,. Für eine weitere Hausaufgabe wurde sie gebe-
.,. Danach wurde das Behandlungsmodul zur ten, die erste Aufgabe in der ersten Stunde, in
Selbstachtung vorgestellt, und die Überzeugun- der es um die Auswirkungen der Vergewaltigung
gen der Patientin in Bezug auf Akzeptanz und ging, noch einmal zu beantworten. Dabei ging
Kompetenz besprochen. es darum, festzustellen, wie sich ihre Überzeugun-
gen seit dem Beginn der Behandlung verändert
.,. Der Patientin wurde geholfen, die Verbindung hatten.
zwischen ihrem Verlust an Vertrauen in ihre eigene
Urteilsfähigkeit, die zunehmende Abhängigkeit
von anderen und dem gesunkenen Selbstwert-
12. Sitzung: Intimitätsprobleme
gefühl zu sehen. .,. Die Therapeutin und die Patientin besprachen
die Hausaufgabe bezogen auf Intimitätsprobleme
.,. Die Patientin wurde gebeten, ihre Probleme in (Arbeitsblatt 10).
bezug auf ihren Selbstwert lnfrage zu stellen
und dabei das Arbeitsblatt 9 »lnfragestellen von .,. Danach wurde die Patientin gebeten, ihre Ant-
inneren Annahmen, Themenbereich: Selbstach- wort zur Frage nach der Auswirkung des Traumas
tung« zu benutzen. zu lesen (Arbeitsblatt 11 ). Sie wurde ermutigt,
selbst zu beschreiben, wie sich ihre Annahmen
als ein Ergebnis ihrer Arbeit in der Therapie verän-
11. Sitzung: Selbstachtungsprobleme dert hatten .
.,. Die Therapeutin und die Patientin besprachen
die Hausaufgabe zu Selbstachtungsproblemen .,. Die Antwort zu den Auswirkungen reflektierte
(Arbeitsblatt 9). Der Patientin wurde geholfen, eine das wachsende Verständnis der Patientin für sich
Verbindung zu erkennen zwischen der Selbst- selbst und den Fortschritt, den sie hinsichtlich ih-
beschuldigung für die Vergewaltigung, der darauf- rer Selbstbeschuldigungen gemacht hatte. Die Er-
folgenden Zerstörung ihres Gefühls, für ihre eige- klärung zeigte weiterhin, dass sie in der Lage war,
ne Sicherheit sorgen zu können, Vertrauen in ihr das Ereignis der Vergewaltigung als etwas Vergan-
eigenes Urteilsvermögen zu haben sowie sich genes zu akzeptieren, was nicht dazu führen sollte,
kraftvoll und kompetent zu fühlen . Die Verbin- dass der Rest ihres Lebens nicht mehr zu verän-
dung wurde weiterhin hergestellt zur eigenen Be- dern sei.
einflussungsmöglichkeit ihrer derzeitigen Partner-
.,. Das Ende der Sitzung befasste sich mit einem
beziehungen und dazu, Entscheidungen für sich
Überblick über alle Gedanken und Fähigkeiten,
selbst treffen zu können, ohne ständig das Bedürf-
die sie in der Therapie gelernt hatte. Es wurde be-
nis zu fühlen, alle anderen müssten dies jederzeit
tont, dass die Patientin weiterhin die in der Thera-
akzeptieren.
pie gelernten Fähigkeiten als Rückfallprophylaxe
.,. Die Therapeutin führte das Behandlungsmodul üben muss. Weitere, verbleibende Probleme wur-
zur Intimität ein, und der Patientin wurde gehol- den identifiziert. Als therapeutisches Ziel für die
fen, die Verbindung zwischen ihrer zunehmenden Zukunft wurde die Patientin gebeten, weiterhin
Abhängigkeit von Freunden beim Treffen von Ent- an diesen Problemen zu arbeiten.
scheidungen und der Vermeidung von Konflikten
in Freundschaften zu erkennen.

T
8.5 · Abschließende Bemerkungen 149 8
8.4 Behandlungsergebnisse 8.5 Abschließende Bemerkungen

Da die Patientin sowohl ihre durch die Vergewal- Die kognitive Verarbeitungstherapie ist sowohl
tigung bedingten als auch ihre gegenwärtigen, si- im gruppentherapeutischen Setting als auch in
tuationsspezifischen Annahmen und Überzeu- der Einzeltherapie effektiv. Bei der Mehrheit der
gungen in jedem der 5 Behandlungsmodule (Si- Patienten lassen sowohl Symptome der posttrau-
cherheit, Vertrauen, Macht/Einfluss, Selbstach- matischen Belastungsstörungen als auch komor-
tung und Intimität) bearbeitete, war sie in der La- bide Depressionssymptome nach. Die Therapie-
ge, gleichzeitig ihre vergewaltigungsbedingten abbruchraten sind bei der KPT mit etwa 10-12%
Schemata und ihre gegenwärtigen Verhaltens- gering (Resick & Schnicke, 1993) im Vergleich zu
muster zu verändern. Das kognitive Umstruktu- anderen Behandlungsprogrammen bei sexuellem
rieren in den aufeinanderfolgenden Sitzungen Missbrauch, wo die Abbrecherquoten auf etwa
setzte sich in Veränderungen des Verhaltens fort. 28% geschätzt werden {Foa et al., 1991).
Die Patientin wurde durchsetzungsfähiger in ih- Ein weiterer Vorteil der KPT ist die kurze und
ren Beziehungen und es gelang ihr besser, ihre zielorientierte Durchführung der Therapie. Auch
Meinungen auszudrücken. In ihrer Beziehung ist die KPT für verschiedene Gruppen von sexu-
zu ihrem Verlobten legte sie erst einmal eine Pau- ellen Missbrauchsopfern geeignet, was neuere Er-
se ein und handelte dabei einige Bedingungen der kenntnisse in der Anwendung der KPT bei er-
Beziehung neu aus, bevor sie ihn später endgültig wachsenen Opfern sexuellen Kindesmissbrauchs
heiratete. Ihr Verlobter respektierte ihre Bedürf- zeigen (Chard, Weaver & Resick, 1997).
nisse, und war in der Lage, sie zu unterstützen. Da sich die psychischen Reaktionen von Ver-
Sie sah einige Ereignisse in ihrem Leben als »An- gewaltigungsopfern und erwachsenen Opfern se-
zeichen« dafür, dass Gott sich um sie kümmerte xuellen Kindesmissbrauchs ähneln, kann die KPT
(z. B. die Therapie in der Universität gefunden als Ausgangspunkt für die Entwicklung neuer Be-
zu haben; die Tür zu einer Kirche offen zu finden, handlungsmodelle angesehen werden, die sich
während einer Zeit, in der sie gewöhnlich ge- angesichts vieler weder theoretisch noch empi-
schlossen war, und drinnen den Chor singen zu risch fundierter Therapieprogramme bewährt
hören; Finden eines Hochzeitrings, den sie in ih- hat.
rem Zimmer verloren hatte etc.). Weitere Forschungsschwerpunkte sind die
Sie war -was für sie wichtig war- in der La- Probleme im Zusammenhang mit Vergewaltigung
ge, mit Gott Frieden zu schließen, indem sie sag- in der Ehe. Es konnte gezeigt werden, dass Frau-
te, dass er sie nicht betrogen hatte, sondern sie en, die in der Ehe sowohl vergewaltigt als auch
dafür bestimmt hatte, aus der Erfahrung etwas geschlagen wurden, über signifikant mehr Prob-
zu lernen. In ihrem Fall bedeutete das, dass sie leme berichteten als Frauen, die nur geschlagen
stärker wurde und für andere Menschen da sein wurden (Shields, Resick & Hanneke, 1990). Ver-
würde, die sie brauchen könnten. Sie berichtete, mutlich benötigen verheiratete Vergewaltigungs-
nicht mehr nur Gefühle der Fremdheit oder des opfer aufgrund der Anzahl an Vergewaltigungen
Ärgers zu verspüren, sondern auch fähig zu sein, und der sich daraus ergebenden Probleme eine
Glücks- und Ruhegefühle zu verspüren (d.h. der ausführlichere Behandlung als die 12 KPT-Sit-
Affektbereich war nicht länger eingeschränkt). zungen (Resick & Schnicke, 1993).
Das kommende Jahrzehnt wird viele neue
Therapieevaluation. Die Punktwerte der Patientin und interessante Ergebnisse für eine verbesserte
bei Therapieende waren für den PSS 2, für den Behandlung posttraumatischer Belastungs-
BDI 2 und für den BHS 0. Die diagnostischen störungen mit der KPT bringen, was eine Viel-
Kriterien für die PTB, die mit einem strukturier- zahl von Anwendungsmöglichkeiten bei den ver-
ten klinischen Interview untersucht wurden, tra- schiedensten Patientengruppen betrifft.
fen nicht mehr zu. Diese Verbesserungen zeigten
sich auch bei weiteren Katamneseuntersuchun-
gen nach 3 Monaten.
150 Kapitel 8 • Kognitive Verarbeitungstherapie für Opfer sexuellen Missbrauchs

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Arbeitsblätter 151 8
Arbeitsblatt 1

Die Vergewaltigung hat die Art, wie ich die Welt im


Patientenhausaufgabe: Auswirkungen des Allgemeinen sehe, dahingehend verändert, dass
Traumas niemand selbst im eigenen Haus sicher ist. Und nicht
Bitte schreiben Sie mindestens eine Seite nur körperlich sicher, sondern auch geistig (spiritu-
darüber, wa es für Sie bedeutet, vergewaltigt ell). Die Vergewaltigung rief eine Furcht vor Zusam-
worden zu sein. Bitte berücksichtigen Sie die mensein mit anderen Menschen hervor, und eine
Auswirkungen, die die Vergewaltigung auf Angst, das Vertrauen zu anderen könnte verletzt
Ihre Ansichten von sich selbst, Ihre Ansichten werden. Ich vertraute meinem Vergewaltiger. Aber er
über andere und Ihre Weltsicht gehabt hat. entschied sich dafür, dieses Vertrauen zu benutzen,
Bitte berücksichtigen Sie auch die folgenden um mich zu verletzen und in Probleme zu bringen.
Themen für Ihre Antwort: Sicherheit, Vertrau- Ich verstehe nicht, warum Menschen eine Freund-
en, Macht/Einfluss, Selbstachtung und Intimi- schaft in einer so grausamen Art ruinieren.
tät.
Bringen Sie Ihre Antwort zu Ihrer nächsten
Sitzung mit.

Arbeitsblatt 2

»ABC-Blatt«
Datum: - - - - - - -
Patient-Nr.: _ _ _ __ _

AUSLÖSENDES EREIGNIS ÜBERZEUGUNG FOLGERUNG


A B c
»Etwas ist passiert« »Ich sage zu mir selbst...« »Ich fühle mich .. . und mache...«

Ich kann mich an einen Ich habe diese kleine Person, Traurig
ganzen Abschnitt meines die ich wirklich mochte,
Lebens nicht erinnern. verloren.

Von Jack vergewaltigt Es war meine Schuld, Traurig


zu werden. da ich nicht mein Fenster
verschloß.

Macht es Sinn, dass Sie »B« zu sich selbst sagen? - - - - - - - -- - - - - - - - - - -

Was können Sie sich selbst bei solchen Gelegenheiten in der Zukunft sagen?
----------------
152 Kapitel 8 • Kognitive Verarbeitungstherapie für Opfer sexuellen Missbrau chs

Arbeitsblatt 3

Ich war gerade auf die Schule gewechselt, wo er in


Bericht von der Vergewaltigung der nächsthöheren Klassenstufe war. Es war Liebe
Bitte beginnen Sie mit dieser Aufgabe so bald auf den ersten Blick oder so ähnlich, dachte ich. Er
wie möglich. Schreiben Sie einen vollen Be- war so anders. Ich hatte Mitleid mit ihm. Er wuchs in
richt über die Vergewaltigung einschließlich so einer gewalttätigen, zerissenen Familie auf. Wir
vieler Sinneseindrücke (Bilder, Geräusche, würden darüber reden, und ich würde ihm von Gott
Gerüche etc.) wie möglich. Bitte schließen Sie erzählen. Mit der Zeit wurden wir die besten Freunde
möglichst viele Ihrer Gedanken und Gefühle und ich wurde seine feste Freundin. Er drängte mich,
ein, an die Sie sich noch erinnern können. Sex mit ihm zu haben, aber ich wollte nicht. Ich
Wählen Sie Zeitpunkt und Ort so, dass Sie drängte ihn, in die Kirche zu gehen, aber er wollte
genug Privatheit und Zeit zum Ausfüllen ha- nicht. Die Monate vergingen und mit meinen 15
ben. Machen Sie nicht vor dem Auftauchen Jahren entschied ich, dass ich mehr Freiheit wollte.
Ihrer Gefühle halt. Wenn Sie einmal das Diese Idee fand er gar nicht gut. Er verprügelte und
Schreiben unterbrechen müssen, ziehen Sie bedrohte jeden Kerl. mit dem ich mich danach ver-
bitte eine Linie dort auf das Papier, wo Sie abredete und schickte mir dann meine Lieblings-
aufgehört haben. Fangen Sie wieder zu blumen, um sich zu entschuldigen. Komischerweise
schreiben an, wenn Sie können und fahren Sie redeten wir noch immer miteinander und ich war
fort den Bericht zu schreiben, selbst wenn es erfolgreich dabei ihn zu überreden, zu einem
mehrerer Gelegenheiten dazu bedarf. Lesen Schulpsychologen in unserer Schule zu gehen. Es
Sie sich den gesamten Bericht wenigstens war der 3. Januar 1988 und soweit ich weiß, ging er
noch einmal vor der nächsten Sitzung durch. noch zu diesem Psychologen. Nur würde die heutige
Erlauben Sie sich Ihre Gefühle zu erleben. Nacht mein Leben verändern. Sie würde meine Weit
Bringen Sie Ihren Bericht zur nächsten Sitzung ruinieren. Sie würde mich meines Selbstwertgefühls,
mit. meiner Würde und Vertrauens berauben. Ich hatte
Bitte fahren Sie außerdem fort, Ihre »ABC- am nächsten Morgen Schule, deshalb ging ich zeitig
Blätter« zu benutzen, um die Gedanken auf- ins Bett. Mein warmes Wasserbett fühlte sich so gut
zuzeichnen, die sich auf Ihre Vergewaltigung an. Ich schlief ein mit der Erinnerung an die Weih-
beziehen und die Gedanken, die sich auf all- nachtsferien und wusste nicht, was sich bald ereig-
tägliche Ereignisse beziehen. Das wird Ihnen nen würde. Wenn ich nur mein Fenster geschlossen
ermöglichen, sich bewusster über die Verbin- hätte. Meine verschlafenen Augen öffnen sich und
dungen zwischen Ihren Gedanken, Gefühlen ich sehe Jack auf mir. »Was ist los?<<, denke ich, »Oh
und Ihrem Verhalten zu werden. lieber Gott, was passiert hier?<<. Meine Hosen sind
ausgezogen, und meine Beine sind auseinander.
Mein Oberteil ist weg, und meine Arme drücken sich
fest an meine Brust durch sein Gewicht. Er hat keine
Sachen an, und seine Bewegungen sind schnell und
schmerzhaft. Ich schließe meine Augen und flüchte.
Mein Geist löst sich vom Körper und nimmt mich mit
zu einem sehr großen und dunklen Ort. Ich fühle
mich winzig an diesem riesigen Ort unter meiner
Hülle aus Fleisch. Jedoch fühle ich die Gegenwart
von jemand anderem hier. Es umgibt mich, hält mich,
beschützt mich vor Jack. Eine Silhouette eines Man-
nes ist vor mir und ich weiß, es ist Gott in einer
Gestalt, die ich verstehen würde. Ich bin sicher hier
und habe Frieden. Wir laufen in der gewaltigen
Dunkelheit, aber plötzlich führt mich Gott zu einem
Arbeitsblätter 153 8
schönen, grünen Feld. Fließende Hügel sind mit habe? Wie kann ich den Teppich sehen, wenn mein
Blumen bedeckt. Die Sonne scheint und ich fühle Bett einen Fuß von der Wand entfernt ist und ich ihn
mich frei. Gott ist mit mir, und wir sind die einzigen nicht einmal sehen kann, wenn ich stehe? Dort still
beiden, die existieren. Ich fange an zu rennen, aber liegend, Augen geschlossen, kann ich meinen eige-
Gott folgt mir nicht. Er wird in den Horizont nen Körper im Bett sehen. »Bin ich tot?« Nein, bin ich
zurückgezogen. >>Bitte geh nicht. Bitte geh nicht nicht. Jack zieht sich an, so schließe ich meine Au-
weg« denke ich, »Nimm mich mit Dir.« gen. Ich möchte nicht, dass er weiß, dass ich munter
Ich bin in meinen Körper zurückgefallen und alle bin. Ich höre, wie er seine Schuhe anzieht und zum
körperlichen Gefühle sind wieder da. Jack's Gewicht Fenster geht. Mein Rollo geht hoch, das Fenster
fühlt sich wie Tonnen an. Mein Körper ist gelähmt öffnet sich und Jack klettert raus. Ich fühle einen
und ich kann mich nicht bewegen, ungeachtet der Zustrom der Erleichterung. Es schließt sich wieder. Es
Stärke meiner Versuche. Ich kann auch nicht spre- muss 5 Uhr morgens gewesen sein, weil ich meinen
chen. Ich habe solche Angst. Jeder seiner Stöße ist Vater in der Dusche hören konnte. Ich habe 1 Stunde
schmerzhaft. Meine Existenz ist gebrochen und ich bis ich für die Schule aufstehen muss. So, ich werde
kann das nicht ertragen. Die Dunkelheit des Zimmers versuchen zu schlafen.
wartet auf mich und ich folge ihr. Meine Seele wird Die Schule verging wie gewöhnlich. Niemand
von den anwesenden Geistern gestreichelt. Ihr sah die Narben der letzten Nacht. Niemand wusste,
Summen und ihre Sanftheit führen mich zu einem dass ich vergewaltigt wurde. Ich bin noch nicht
hell erleuchteten und doch nebligen Ort. Sie schei- einmal bereit es zu wissen. Ich fühle mich so betro-
nen um mich herumzutanzen. Plötzlich bin ich wie- gen. Ich bin verloren und wem kann ich vertrauen,
der in dem dunklen Zimmer. Diesmal kann ich Jack mir den Weg zu zeigen? Es ist ein Stein in meiner
körperlich fühlen. Der Raum ist nicht länger warm Magengrube. Ich möchte einfach nur sterben. Wa-
und schützend, sondern kalt und leer. Ein Abgrund rum machte er das? Warum vergewaltigte er mich?
der Dunkelheit, wo jeder Stoß wiederhallt Ich fühle Ich bin nicht bereit. mit diesen Gefühlen umzuge-
mich so schwach und dünn gescheuert. Es dauert hen? Ich werde nicht daran denken. Ich werde vor-
ewig. »Bitte hör auf. Bitte mach Schluss.« Ich muss täuschen, dass es niemals passierte. Das Leben wird
ein Blackout gehabt haben, weil ich mich nicht an weitergehen und mir wird es gut gehen. Es ist ko-
den Rest erinnern kann. Ich fühle mich so ge- misch, wie Gott einem helfen kann, mit etwas um-
wichtslos und wie als ob ich dahintreibe. zugehen, was zu groß für uns ist, dadurch, dass er
Als ich die Augen öffne, sehe ich Jack auf meiner etwas so Schönes wie das Feld erschafft. Bitte Gott,
Bettkante sitzen. Ich bleibe bewegungslos, als ich an erschaffe etwas Schönes, um das andere auszulö-
ih.m heruntersehe. Ich kann meinen Teppich unter schen. Das Leben wird weitergehen und mir wird es
seinen Füßen sehen. Aber wie kann ich das, wenn ich gut gehen. Aber von jetzt an verschließe ich mein
noch im Bett bin und meine Augen geschlossen Fenster.
154 Kapitel 8 · Kognitive Verarbeitungstherapie für Opfer sexuellen Missbrauchs

Arbeitsblatt 4

Infragestellen unangemessener Überzeugungen


Im Folgenden finden Sie eine Liste von Fragen, die genutzt werden sollen, um Ihnen zu helfen, Ihre
unangemessenen oder problematischen Überzeugungen infrage zu stellen. Wählen Sie bitte eine
Überzeugung von Ihnen aus und beantworten Sie dann so viele Fragen, wie Sie können, für diese
Überzeugung.

Überzeugung:
Ich verschloss mein Fenster nicht. Es war meine Schuld. Ich bin ein schlechter Mensch.

Fragen: Ja, nur weil ich mein Fenster nicht verschloss und
etwas Schlimmes passierte, bedeutet nicht, dass
1. Was ist der Beweis für und gegen ich es verursachte.
diese Ansicht?
7. Machen Sie Entschuldigungen? (z. B.lch ha-
Dafür: Ich sollte mein Fenster geschlossen haben. be keine Angst. Ich möchte nur ausgehen.
Dagegen: Ich hatte vorher keinen Grund mein Andere Leute erwarten von mir, vollkom-
Fenster zu verschließen oder daran zu glauben, men zu sein, oder ich möchte nichts
dass jemand, dem ich vertraute, mich vergewal- aufwühlen, weil ich keine Zeit dazu habe)
tigen würde. Ich hatte Jack nicht eingeladen.
Ja, ich gebe mir selbst die Schuld anstatt Jack.
dann habe ich nicht mit dem Vertrauensverlust
2. Verwechseln Sie eine Gewohnheit umzugehen. Wenn ich mir selbst die Schuld ge-
mit einer Tatsache? be, kann ich noch vertrauen.

Ja, die Tatsache ist, es ist nicht meine Schuld.


8. Ist die Informationsquelle verlässlich?

3. Sind Ihre Interpretationen der Situation zu Nein, Jack belog andere und mich.
weit entfernt von der Realität, um genau
zu sein? 9. Denken Sie in Bestimmtheitsbegriffen an-
stelle von Wahrscheinlichkeiten?
Ja, ich konnte physisch nicht kämpfen oder
wegrennen. Ja, schlimmere Dinge hätten passieren können,
wenn manches anders gewesen wäre.

4. Denken Sie in Alles-oder-Nichts-Begriffen?


10. Vertauschen Sie eine geringe Wahrschein-
Ja. lichkeit mit einer hohen Wahrscheinlich-
keit?

5. Benutzen Sie Wörter oder Ausdrücke, die Ja.


stark oder übertrieben sind? (z. B. immer,
für immer, niemals, brauche, sollte, muss, 11. Begründen sich Ihre Beurteilungen mehr
kann nicht, jedes Mal) auf Gefühle als auf Tatsachen?

Ja. Ja, Tatsache ist, es ist nicht meine Schuld.

6. Nehmen Sie ein einzelnes Detail aus einer 12. Achten Sie eher auf unwichtige Faktoren?
Gesamtsituation heraus?
Ja, das Fenster.
Arbeitsblätter 155 8
Arbeitsblatt 5

Fehlerhafte Denkmuster
Im Folgenden sind verschiedene Arten fehlerhafter Denkmuster aufgeführt, die Menschen in verschie-
denen Lebenssituationen benutzen. Diese Muster werden oft zu automatischen, gewohnheitsmäßigen
Gedanken, die uns zu selbstzerstörerischem Verhalten veranlassen können.
Bitte finden Sie, wenn Sie an Ihre »Verfestigungspunkte« denken, Beispiele für jedes dieser Muster.
Schreiben Sie den »Verfestigungspunkt« unter das zugehörige Muster und beschreiben Sie, wie er in
dieses Muster passt. Denken Sie darüber nach, wie Sie dieses Muster beeinflusst.

1. Ziehen von Schlussfolgerungen, wenn 4. Übermäßige Vereinfachung von


kein Beweis vorhanden oder die Aus- Ereignissen als gut/böse, falsch/richtig
gangsJage sogar widersprüchlich ist
Ich habe es falsch gemacht, nicht allen gleich von
Wenn ich mich anderen öffne oder vertraue, der Vergewaltigung zu erzählen.
werde ich verletzt werden. Männer kümmern Ich bin ein schlechter Mensch, weil ich Jack nicht
sich nur um sich selbst und nutzen schwache gestoppt habe.
Frauen aus. Ich bin ein schlechter Mensch, weil ich mich nicht
selbst gerettet habe.
Ich habe es von Anfang an falsch gemacht, Jack
2. Übertreiben oder Minimierung
der Bedeutung eines Ereignisses zu vertrauen.
Ich bin ein schlechter Mensch, weil ich nicht so
schnell oder so gut mit Nägeln kratzen kann wie
Wenn ein Mann nett zu mir ist, will er nur das
Susan. Ich bin ein schlechter Mensch, weil ich
eine.
allein mit Scott in einen Park ging.
Weil es keine erkennbaren Verletzungen gab,
muss die Vergewaltigung nicht so schlimm
gewesen sein. 5. Übergeneralisieren eines einzelnen
Ereignisses

3. Nichtbeachten von wichtigen Aspekten


Kein Gelände ist jemals sicher.
der Situation
Keinem Mann kann vertraut werden. Alle Männer
lügen, um zu bekommen, was sie wollen.
Da ich nicht kämpfte oder schrie, muss die Ver-
gewaltigung meine Schuld gewesen sein.
Da ich das Fenster nicht verschloss, muss die 6. Gedankenübertragung
Vergewaltigung meine Schuld gewesen sein.
Weil ich mich wie ein schlechter Mensch fühle,
müssen andere auch das gleiche denken.
Da die Leute mich nicht fragen, wie es mir geht,
interessieren sie sich nicht für mich.
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Spalte A Spalte B Spalte C Spalte D Spalte E Spalte F
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Situation Automatischer ln Frage stellen Fehlerhafte Alternative Entkatastrophisieren 0
'0
Gedanke des automatischen Denkmuster Gedanken ~
Gedankens "'X
"'c
~
Beschreiben Sie die Schreiben Sie Benutzen Sie das Benutzen Sie das Was kann ich anstelle Was ist das Schlimmste, iD
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Ereignisse, Gedanken automatische Arbeitsblatt »lnfrage- Arbeitsblatt »Fehler- von Spalte B sagen? das sich jemals wirklich
oder Überzeugungen, Gedanken auf, die stellen unangemesse- hafte Denkmuster«, ereignen könnte?
~
"'CT
ner Überzeugungen«, um Ihre automatischen Wie kann ich das Ql
die zu unangenehmen den Gefühlen in c
n
Spalte A voraus- um Ihre automatischen Gedanken von Spalte B Ereignis anstelle Ich könnte verletzt ::T
Gefühlen führen.
"'
gehen. Gedanken von Spalte B zu überprüfen. von Spalte B werden.
zu überprüfen. interpretieren?
Schätzen Sie Ihren Selbst wenn das passiert,
Glauben an jeden der Schätzen Sie Ihren was könnte ich tun?
automatischen Gedan- Glauben an die
ken unten von 0-1 00% alternativen Gedanken
ein. von o-1 00% ein.
T Arbeitsblatt 6 {Fortsetzung) )>
a-
11>
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Einen Ort kennen zu Wenn eine schlimme Beweis dafür: Keiner Übergeneralisierung: Einen neuen Ort Schreien, kämpfen, CT
"'
müssen, bevor ich Situation auftreten Die Tatsache, dass ich auszuprobieren kann wegrennen, meine i:iT:
Beweis dagegen: :::1
dahin gehe (z. B. was würde, wäre ich Spaß machen, und ich Selbstverteidigungs- ~
Ich gehe an ziemlich zu Hause vergewaltigt
für Leute, wie das vorbereitet oder sichere Orte und gehe worden bin, bedeutet gehe immer mit einer fähigkeiten benutzen.
Gebäude angelegt ist, könnte ich verhindern, nicht zu Orten, über nicht, dass jeder Ort Gruppe.
was anzuziehen ist). dass mir etwas die ich noch nichts unsicher ist.
zustößt? von meinen Freunden Emotionale Argumen-
85% gehört habe. tation: Wenn ich mich
Ich bin vielleicht nicht Gewohnheit: vor bereitet füh le,

in der Lage, mich zu Ich bin niemals ver- dann wird meine
letzt worden, wenn ich Angst weniger.
schützen.
zu neuen Orten Schlussfolgerungen
Ich bin hilflos und
gegangen bin. ziehen: Die Tatsache,
verletzlich, und
dass ich vergewaltigt
könnte verletzt Entschuldigungen:
Vorbereitet zu sein, als worden bin, bedeutet
werden.
nicht, dass ich
ich vergewaltigt
Ich mache mich wie anfälliger bin als
wurde, hätte es auch
der selbst runter. andere.
nicht verhindert.

Gefühl(e) Ergebnis
Welches Gefühl tritt Bestimmen Sie Ihren
auf? Schätzen Sie die Glauben an die
Stärke des Gefühls von automat ischen Gedanken
0-100% ein. von Spalte B von 0- 100%
erneut.
Angst 85%
40% VI
......
Welches Gefühl tritt auf?
Schätzen Sie die Stärke
des Gefühls von 0- 100%
ein.
Angst 40%

00
VI
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Arbeitsblatt 7 "'2"
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Infragestellen von inneren Annahmen: Themenbereich: Vertrauen rii"

Spalte A Spalte B Spalte E Spalte F


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Spalte C Spalte D 0
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Situation Automatischer Infragestellen Fehlerhafte Alternative Entkatastrophisieren ~
Gedanke des automatischen Denkmuster Gedanken "'X
"'c
Gedankens ~
iD
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Beschreiben Sie die Schreiben Sie Benutzen Sie das Benutzen Sie das Was kann ich anstelle Was ist das Schlimmste,
Ereignisse, Gedanken automatische Gedan- Arbeitsblatt »lnfrage- Arbeitsblatt »Fehler- von Spalte B sagen? das sich jemals wirklich ~
"'CT
oder Überzeugungen, ken auf, die den stellen unangemesse- hafte Denkmuster«, ereignen könnte? Ql
c
n
die zu unangenehmen Gefühlen in Spalte A ner Überzeugungen«, um Ihre automatischen Wie kann ich das ::T

Gefühlen führen. vorausgehen. um Ihre automatischen Gedanken von Spalte B Ereignis anstelle von Wenn »B« wahr wäre
"'
Schätzen Sie Ihren Gedanken von Spalte B zu überprüfen. Spalte B interpretieren?
Glauben an jeden der zu überprüfen.
automatischen Gedan- Schätzen Sie Ihren
ken unten von Q-1 00% Glauben an die
ein. alternativen Gedanken
von 0-1 00% ein.
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~ Arbeitsblatt 7 (Fortsetzung) a-
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CT
"'
Gott ließ mich allein, Gott mag nur gute Tatsache: Übertreibung: Gott verließ mich nie. Selbst wenn das passiert, i:iT:
:::1
als ich vergewaltigt Menschen. Guten Gott macht Dinge in Gute und schlimme Ich konnte ihn nur was könnte ich tun? ~
wurde. Menschen passieren meinem täglichen Dinge passieren allen nicht sehen.
gute Dinge. Eine Leben, also verließ er Menschen, nicht nur Etwas machen, damit
schlimme Sache pas- mich nicht. mir. Gott beschützt mich schlimme Dinge gut
sierte mir, also muss vor schlimmeren werden, um anderen zu
ich schlecht sein. Verletzungen. helfen.

85% Gott gab mir eine gute


Unterstützungsgruppe
mit meiner Familie,
Freunden und dem
YMCA.
Gefühl(e) Ergebnis
Welches Gefühl tritt Schätzen Sie den Glauben
auf? Schätzen Sie die an automatische
Stärke des Gefühls von Gedanken in Spalte B
0-1 00% ein. erneut von 0- 100% ein.

Traurig - 98% 30%


Wütend - 85%
Welches Gefühl tritt auf?
Schätzen Sie die Stärke
des Gefühls von 0-100%
ein.
.....
V1
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Traurig - 45%
Wütend - 30%

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Arbeitsblatt 8 a-
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Infragestellen von inneren Annahmen: Themenbereich: Macht und Einfluss "'Ql
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rii.
Spalte A Spalte B Spalte C Spalte D Spalte E Spalte F
~
Situation Automatischer Infragestellen Fehlerhafte Alternative Entkatastrophisieren 0
"0
Gedanke des automatischen Denkmuster Gedanken ~
Gedankens "'X
"'c
~
Beschreiben Sie die Schreiben Sie Benutzen Sie das »lnfrage Benutzen Sie das Was kann ich anstelle Was ist das Schlimmste, iD
;;;)

Ereignisse, Gedanken automatische Ge- stellen unangemessener Arbeitsblatt »Fehlerhafte von Spalte B sagen? das sich jemals wirklich
~
oder Überzeugun- danken auf, die den Überzeugungen«, um Ihre Denkmuster«, ereignen könnte? "'CT
Ql
gen, die zu Gefühlen in Spalte A Gedanken von Spalte B zu um Ihre automatischen Wie kann ich das c
n
::T
unangenehmen vorausgehen. überprüfen. Gedanken von Spalte B zu Ereignis anstelle von Ich hätte schlimm
"'
Gefühlen führen. überprüfen. Spalte B verletzt werden
Schätzen Sie Ihren interpretieren? können.
Glauben an jeden
der automatischen Schätzen Sie Ihren
Gedanken unten von Glauben an die
0- 100% ein. alternativen Gedan-
ken von 0- 100% ein.
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't' Arbeitsblatt 8 (Fortsetzung)
a-
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Überzeugung: Ich dachte, ich wäre Beweis dafür: keiner Übervereinfachung: Nur Ich bin immer noch Selbst wenn das CT
"'
i:iT:
Es war meine eigentlich ein guter weil ich ein guter ein guter Mensch. passiert. was könnte :::1
Beweis dagegen: Jack war ~
Schuld, dass ich ver- Mensch, der Jack Mensch war, bedeutet ich machen?
mein Freund vor der Ich konnte nicht
gewaltigt wurde. hilft. das nicht, dass ich nach
Vergewaltigung. Kein kämpfen oder weg- Hilfe suchen und mich
der Vergewaltigung kein
80% Verbrechen wurde in meiner rennen. erholen.
guter Mensch mehr bin.
Nachbarschaft verübt. Ich
Ich hätte wissen Ich habe vertraute
hatte andere vertraute Nichtbeachten: Jack gab
müssen, dass man Freunde jetzt, die
Menschen in meinem Leben, mir keinen Grund, ihm
Jack nicht trauen mir nicht weh getan
die mir niemals weh taten. vor der Vergewaltigung
konnte. Ich hatte ein haben.
nicht zu vertrauen,
schlechtes Urteils- Gewohnheit: Es war meine
deshalb war es nicht Ich war verliebt, und
vermögen . Es war Schuld.
mein Urteilsvermögen ich glaubte an ihn,
meine Schuld.
Tatsache: Ich kann die Hand- oder meine Schuld .. . aber es war seine
lungen anderer Menschen Schuld, das auszu-
nicht steuern, also ist es nicht nutzen.
meine Schuld.

Gefühl(e) Ergebnis
Welches Gefühl tritt Schätzen Sie den
auf? Schätzen Sie die Glauben an automa-
Stärke des Gefüh ls tische Gedanken in
von 0- 100% ein. Spalte B erneut von
0- 100% ein.
Traurig - 80%
Wütend- 85% 30%

30% ....
~
Welches Gefühl tritt
auf? Schätzen Sie die
Stärke des Gefüh ls von
0-100% ein.

Traurig - 25%
Wütend- 30%
00
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Arbeitsblatt 9 "'2"
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Infragestellen von inneren Annahmen: Themenbereich: Selbstachtung rii"

Spalte A Spalte B Spalte C Spalte D Spalte E Spalte F


~
0
"0
Situation Automatischer Infragestellen des Fehlerhafte Alternative Entkatastrophisieren ~
Gedanke automatischen Gedankens Denkmuster Gedanken "'X
"'c
~
Beschreiben Sie die Schreiben Sie Benutzen Sie das Arbeitsblatt Benutzen Sie das Was kann ich anstelle Was ist das Schlimmste, iD
;;;)
Ereignisse, Gedanken automatische Ge- »lnfragestellen unangemesse- Arbeitsblatt »Fehlerhafte von Spalte B sagen? das sich jemals wirklich
oder Überzeugun- danken auf, die den ner Überzeugungen«, um Ihre Denkmuster«, um Ihre ereignen könnte? ~
"'CT
gen, die zu Gefühlen in Spalte A automatischen Gedanken von automatischen Gedanken Wie kann ich das Ql
c
n
unangenehmen vorausgehen. Spalte B zu überprüfen. von Spalte B zu Ereignis anstelle von Ich hätte meine ::T

Gefühlen führen. überprüfen. Spalte B Freunde verlieren


"'
Schätzen Sie Ihren interpretieren? können.
Glauben an jeden
der automatischen Schätzen Sie Ihren
Gedanken unten von Glauben an die
0-100% ein. alternativen Gedan-
ken von 0-100% ein.
)>
~ Arbeitsblatt 9 (Fortsetzung) a-
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Ich muss anderen Wenn ich andere Beweise dafür: Schlussfolgerungen zie- Selbst wenn das CT
"'
i:iT:
gefallen und verletze, weil ich Die Vergewaltigung. hen: Ich weiß nicht, ob passiert, was könnte :::1
~
machen was ich mache, was ich ich Freunde verlieren ich machen?
Beweise dagegen: Ich habe
kann, um sie nicht fühle, dann könnte werde.
anderen vorher nicht weh Fragen, warum so
zu verletzen, egal ich Freunde verlie
getan, oder falls ich es habe, Übertreiben: Ich werde weitermachen, und
wie ich mich fühle. ren.
sind sie immer noch meine andere verletzen, wie ich Vertrauen haben, dass
Freunde. verletzt worden bin, ich tat, was am besten
wenn ich meinen für mich war.
Gewohnheit: Ich vertraute
Gefühlen folge.
Dan, und er tat mir weh.
Andere vertrauen mir, und Gedanken lesen: Sie
ich könnte ihnen weh tun. werden verletzt sein,
Tatsache: Ich habe mir selbst und ich werde nicht
geachtet.
geschadet, weil ich nicht
ehrlich war.
Gefühl(e) Ergebnis
Welches Gefühl tritt Schätzen Sie den
auf? Schätzen Sie die Glauben an automa-
Stärke des Gefüh ls tische Gedanken in
von 0-100% ein. Spalte B erneut von
0-100% ein.
Traurig - 90%
40%

Welches Gefühl tritt


auf? Schätzen Sie die
0\
Stärke des Gefühls von w

0- 100% ein.

Traurig - 40%

00
~

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~
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a-
Arbeitsblatt 10 "'2"
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Infragestellen von inneren Annahmen: Themenbereich: Intimität rii.
~
Spalte A Spalte B Spalte C Spalte D Spalte E Spalte F 0
'0
Situation Automatischer Infragestellen des Fehlerhafte Alternative Entkatastrophisieren ~
Gedanke automatischen Gedankens Denkmuster Gedanken "'X
"'c
~
Beschreiben Sie die Schreiben Sie Benutzen Sie das Arbeitsblatt Benutzen Sie das Was kann ich anstelle Was ist das Schlimmste, iD
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Ereignisse, Gedanken automatische Ge- »lnfragestellen unangemesse- Arbeitsblatt >>Fehlerhafte von Spalte B sagen? das sich jemals wirklich
oder Oberzeugun- danken auf, die den ner Überzeugungen«, um Ihre Denkmuster«, um Ihre ereignen könnte?
~
"'CT
gen, die zu Gefühlen in Spalte A automatischen Gedanken von automatischen Gedanken Wie kann Ich das Ql
c
n
unangenehmen vorausgehen. Spalte B zu überprüfen. von Spalte B zu Ereignis anstelle von Ich könnte sie ::T
"'
Gefühlen führen. überprüfen. Spalte B verlieren.
Schätzen Sie Ihren interpretieren?
Glauben an jeden
der automatischen Schätzen Sie Ihren
Gedanken unten von Glauben an die
0-100% ein. alternativen Gedan-
ken von 0-100% ein.
)>
~ Arbeitsblatt 10 (Fortsetzung) a-
11>
;:;·
Micheile und ich Sie ist nicht meine Beweis dafür: Sie sagte, sie Missachten von Es gibt Menschen, Selbst wenn das CT
"'
i:iT:
gerieten in einen Freundin, sie mag wolle keinen Teil davon. Beweisen: Nur weil wir die mich lieben. passiert, was könnte :::1
~
großen Streit auf mich nicht. uns streiten heißt nicht, ich machen?
Beweis dagegen: Sie redet Ich bin nicht allein.
der Arbeit. dass wir keine Freunde
90% ohne zu denken. Wir haben Fragen warum, und
mehr sein werden. Ich brauche ihren
uns vorher gestritten, und wir weiter machen.
Sie hat mich nicht Respekt nicht, um
sind noch immer Freunde. Schlussfolgerungen zie-
respektiert. mich zu
hen: Nur weil Micheile
respektieren.
85% und ich uns vielleicht
streiten, bedeutet nicht,
Ich bin ganz allein,
dass ich ganz alleine bin.
und keinen interes-
siert das.

97%
Gefühle Ergebnis
Welches Gefühl t ritt Schätzen Sie den
auf? Schätzen Sie die Glauben an automa-
Stärke des Gefühls tische Gedanken in
von 1- 100% ein. Spalte B erneut von
0-100% ein.
Traurig - 95%
Wütend - 90% 50%
Ängstlich - 95%
Welches Gefühl tritt
auf? Schätzen Sie die
Stärke des Gefühls von
0- 100% ein.
0\
U1
Traurig - 40%
Wütend- SO%
Ängstlich - 40%

00
166 Kapitel 8 · Kognitive Verarbeitungstherapie für Opfer sexuellen Missbrauchs

Arbeitsblatt 11

Ich wurde vergewaltigt. Ich wurde nicht nur


Letzte Hausaufgabe: körperlich beraubt, sondern auch gefühlsmäßig und
Abschließende Auswirkungen des Traumas geistig. Ich kann wiedergewinnen, was ich verloren
habe. Ich kann lernen, anderen und mir selbst zu
Bitte schreiben Sie mindestens eine Seite vertrauen. Jack ist ein schlechter Mensch. Er betrog
darüber, was es für Sie bedeutet, vergewaltigt mich in jeder Hinsicht. Das ist nicht meine Schuld.
worden zu sein. Bitte beachten Sie die Aus- Die Vergewaltigung ist nicht meine Schuld. Ich
wirkungen, die die Vergewaltigung auf Ihre glaube, dass sich Dinge aus einem bestimmten
Ansichten von sich selbst, Ihre Ansichten über Grund ereignen. Warum ich vergewaltigt wurde,
andere und Ihre Weltansicht gehabt hat. Bitte weiß ich nicht, aber ich weiß, dass Gott etwas Gutes
berücksichtigen Sie auch die folgenden The- daraus entstehen lassen wird. Ich weiß, dass es mir
men für Ihre Antwort: mit Unterstützung und Liebe gelingen wird, Leben in
mein Herz zurückzubringen. Das wird kommen und
Sicherheit, Vertrauen, Macht/Einfluss, Achtung, ich bin dabei, es wieder zu fühlen. Ich habe noch
Intimität. einmal das kleine Mädchen kennengelernt, das Jack
wegwarf. Ich weiß, dass sie etwas wert ist. Sie
möchte ihr Fenster öffnen. Ich weiß, ich bin nicht
perfekt, und dass sich schlechte Dinge in meinem
Leben ereignen werden, aber »Was Dich nicht um-
bringt, macht Dich härter«. Ich fühle, dass die Ver-
gewaltigung mich für eine lange Zeit begrub, aber
ich komme zurück. Ich werde nicht zulassen, dass
Jack mich weiter zum Sündenbock macht. Ich kann
mich wieder sicher fühlen und ich kann aufhören,
immer alles unter Kontrolle haben zu müssen. Ich
werde wieder glücklich sein. Das weiß ich.

8 »Die gleiche Sonne, die Wachs schmilzt,


kann Ton härten.
Und der gleiche Regen, der die Ratte ertränkt,
kann das Gras wachsen lassen.
Und die gewaltigen Winde, die uns umwerfen,
wenn wir uns hinein lehnen, werden unsere Ängste
wegblasen.«
(von der Patientin zitiert nach Amy Grant)
9

K. Wenninger, A. Boos

9.1 Definition von sexuellem Kindesmissbrauch - 168

9.2 Epidemiologie - 168

9.3 Symptomatik erwachsener Opfer


sexuellen Kindesmissbrauchs - 169
9.3.1 Emotionale Reaktionen und Selbstwahrnehmung - 170
9.3.2 Interpersonelle Probleme - 171
9.3.3 Einfluss der Traumamerkmale auf die Symptomatik - 172

9.4 Diagnostik - 172

9.5 Überblick zum therapeutischen Vorgehen - 173


9.5.1 Therapieziele - 173
9.5.2 Die therapeutische Beziehung - 174

9.6 Verschiedene Therapieverfahren - 174


9.6.1 Angstbewältigung und konfrontative Verfahren - 175
9.6.2 Kognitive Methoden - 176
9.6.3 Imaginatives Neuschreiben und Verarbeiten - 177
9.6.4 Gruppentherapie - 180

9.7 Die Borderline-Persönlichkeitsstörung - 181


9.7.1 Behandlung der Borderline-Persönlichkeitsstörung - 181

Literatur - 182
168 Kapitel 9 · Behandlung erwachsener Opfer sexuellen Kindesmissbrauchs

9.1 Definition von 8 Sexueller Missbrauch an Kindern ist jede sexuelle


sexuellem Kindesmissbrauch Handlung, die an oder vor einem Kind entweder
gegen den Willen des Kindes vorgenommen wird
Sexueller Kindesmissbrauch stellt einen Angriff oder der das Kind aufgrund körperlicher, psy-
auf die körperliche und psychische Integrität chischer, kognitiver oder sprachlicher Unterlegen-
des Kindes dar, der in der Regel mit Verwirrung, heit nicht wissentlich zustimmen kann. Der Täter
Hilflosigkeit oder starker Angst erlebt wird. Die nutzt seine Macht- und Autoritätsposition aus, um
Opfer eines solchen Traumas zeigen häufig seine eigenen Bedürfnisse auf Kosten des Kindes
schwerwiegende psychische Langzeitfolgen, zu zu befriedigen.
denen die chronische posttraumatische Belas-
tungsstörung zählt. Die unterschiedlich strengen
Definitionen des Begriffes sexueller Missbrauch 9.2 Epidemiologie
unterscheiden sich hinsichtlich verschiedener Di-
mensionen: Für die Bundesrepublik Deutschland liegen erste
repräsentative Schätzungen der Prävalenz von
Gewalterfahrungen in der Kindheit durch das
Kriterien einer operationalen Definition Kriminologische Forschungsinstitut Niedersach-
sexuellen Kindesmissbrauchs sen vor (Wetzels, 1997). Den Schätzungen dieser
Zum einen wird ein Alterskriterium für das Untersuchung zu Folge ist davon auszugehen,
Opfer als Obergrenze festgelegt, welches dass für das Jahr 1996 in der Generation der
üblicherweise zwischen 14 und 1B Jahren 16- bis 29-jährigen jungen Menschen 120.000
liegt. Männer (1,6%) und 520.000 Frauen (7o/o) vor
Weiter unterscheiden sich die Definitionen dem 16. Lebensjahr sexuelle Gewalterfahrungen
dahingehend, ob sie sich auf sexuelle mit Körperkontakt machten. Wird die dabei zu-
Handlungen mit Körperkontakt beschrän- grundegelegte Definition von sexuellem Miss-
ken (»contact abuse«), oder ob auch brauch mit Körperkontakt (ohne sonstige sexuel-
Handlungen, bei denen es nicht zu le Handlungen und unter Ausschluss jugendlicher
Körperkontakt kommt, wie Masturbation Täter) auf sexuellen Missbrauch inklusive Exhibi-
oder Exhibitionismus in Anwesenheit des tionismus ausgeweitet, so muss man bei den jun-
Kindes oder das Vorführen eines porno· gen Männern von 510.000 (6,4%) und bei den
graphischen Videos (»noncontact abuse«) jungen Frauen von 1,35 Mio. (18,2%) Betroffenen
eingeschlossen sind. ausgehen.
Schließlich wird in einem weiteren Kriteri-
um festgelegt, wann ein sexueller Kontakt
als Missbrauch einzustufen ist. Hierzu wird
Der größte Teil der sexuellen Missbrauchs-
üblicherweise ein Mindestaltersabstand
delikte findet im sozialen Nahraum, aber au-
(von in der Regel 5 Jahren) zwischen Opfer
ßerhalb der Familie statt. Die Täter sind dem
und Täter in die Definition aufgenommen,
Kind in der Regel bekannt. Bei den meisten
oder es wird die Ausübung von Druck
Delikten handelt es sich um Körperberührun-
oder Zwang durch den Täter bzw. ein
gen, ohne dass es zur Penetration kommt. Das
entwicklungspsychologisches und sozial
durchschnittliche Alter bei Erstviktimisierung
begründetes höheres Macht- und Auto-
durch sexuellen Missbrauch liegt in Deutsch-
ritätspotenzial des Täters als Kriterium
herangezogen. land bei etwa 11 Jahren. Die Prävalenz für
Jungen und Männer ist in allen Untersuchun-
gen geringer als die für Mädchen und Frauen,
man geht in der Regel von einem Verhältnis
Eine hilfreiche, sich an der empirischen For- von 1 :3 aus (Wetzels, 1997).
schung orientierende Definition sexuellen Miss-
brauchs liefern Bange & Deegener (1996, S. 105):
9.3 · Symptomatik erwachsener Opfer sexuellen Kindesmissbrauchs 169 9
Prävalenzangaben für die amerikanische Bevöl- nis gesprochen. Insgesamt wurden nur 9,5% aller
kerung schwanken zwischen 5% (Siegel et al., schlimmsten Erfahrungen zur Anzeige gebracht,
1987) und 62% (Wyatt, 1985). Die in der ame- was einer Dunkelfeldrelation von 1 : 10 entspricht.
rikanischen Literatur am häufigsten zitierten Insbesondereexhibitionistische Taten und famili-
Prävalenzwerte stammen aus der bisher einzigen enexterne Vorfälle werden zur Anzeige gebracht,
landesweiten Erhebung in den USA von Pinkel- schwere Delikte dagegen gelangen häufig nicht
bor et al. (1990). Eine repräsentative Stichprobe zur Anzeige.
von 2626 Männern und Frauen wurde in einem
halbstündigen anonymen Telefoninterview zu ih-
rer Einstellung und ihren eigenen Erfahrungen 9.3 Symptomatik erwachsener Opfer
bezüglich sexuellen Kindesmissbrauchs befragt. sexuellen Kindesmissbrauchs
Eine Anamnese sexuellen Kindesmissbrauchs
wurde dabei durch 4 konkrete Fragen erhoben. Der heutige Wissensstand lässt keinen Zweifel
Es gaben 27% der Frauen und 16% der Männer mehr daran, dass eine sexuelle Traumatisierung
an, vor ihrem 19. Lebensjahr sexuell missbraucht in der Kindheit mit schwerwiegender Symptoma-
worden zu sein. Die Prävalenzraten für versuch- tik im Erwachsenenalter verbunden sein kann;
ten oder vollendeten Geschlechtsverkehr lagen die Existenz eines sog. »Missbrauchssyndroms«
für Frauen bei 13% und für Männer bei 9%. mit für dieses Trauma spezifischen Symptomen
Die starke Schwankungsbreite der berichteten hat sich jedoch nicht zeigen lassen (vgl. Rowan
Prävalenzen kann nur unter Berücksichtigung & Foy, 1993; Moggi, 1997). Vielmehr wurde eine
des jeweiligen methodischen Vorgehens der Stu- Vielzahl sehr breit gestreuter Langzeitprobleme
dien interpretiert werden. Sie hängt zusammen beobachtet, die sich am besten der Diagnosekate-
mit der Verwendung von unterschiedlich stren- gorie Posttraumatische Belastungsstörung (PTB)
gen Definitionen sexuellen Missbrauchs sowie zuordnen lassen, da die charakteristischen Symp-
verschiedenen Erhebungsmethoden, z. B. unter- tome der 3 Symptomgruppen (Intrusionen, Ver-
schiedlicher Anzahl und Konkretheit der gestell- meidung/emotionale Taubheit, Übererregung; s.
ten Fragen, unterschiedlichen Untersuchungspo- Kap. 1) bei Opfern sexuellen Kindesmissbrauchs
pulationen. In klinischen Stichproben mit statio- beobachtet werden können. So werden beispiels-
när psychiatrischen Patienten finden sich über- weise häufig Albträume oder Flashbacks be-
einstimmend hohe Prävalenzraten von 40-50%. schrieben, in denen Missbrauchserfahrungen
In der Allgemeinbevölkerung ergeben Studien wiedererlebt werden. Im Bereich der Vermeidung
mit städtischen Populationen höhere Raten als und Einschränkung der allgemeinen Reagibilität
nationale Erhebungen in städtischen und länd- sind Dissoziationssymptome besonders charakte-
lichen Gebieten. Vergleichsweise niedrige Präva- ristisch für Opfer sexuellen Kindesmissbrauchs.
lenzraten werden in Untersuchungen an Studen-
ten berichtet (vgl. Wenninger, 1994).
Aus den nachfolgenden Ausführungen zur
Symptomatik erwachsener Opfer sexuellen
Das Dunkelfeldproblem Kindesmissbrauchs wird jedoch deutlich, dass
sexueller Gewalterfahrungen PTB kein hinreichendes Konzept für die be-
obachteten Langzeitwirkungen darstellt. Viel-
Ein großer Teil sexuell missbrauchter Menschen mehr gehen diese in 2 weiteren wesentlichen
berichtet weder ihnen bekannten oder vertrauten Bereichen, nämlich der
Personen von ihren Erfahrungen, noch werden negativen Selbstwahrnehmung und
die Strafverfolgungsbehörden oder professionelle selbstdestruktiven Verhaltensweisen sowie
Helfer in Kenntnis gesetzt. Insgesamt haben verstärkten Problemen im interpersonellen
42,5% der Untersuchungsteilnehmer der Studien Bereich
von Wetzeis (1997) bis zu der Untersuchung mit
niemandem über das erfragte schlimmste Erleb-
170 Kapitel 9 · Behandlung erwachsener Opfer sexuellen Kindesmissbrauchs

Opfer sexuellen Kindesmissbrauchs im Erwach-


über die PTB hinaus (vgl. Beitchman et al.,
senenalter vermehrt Somatisierungssymptome
1992; Briere & Runtz, 1993; Maggi, 1997 für
entwickeln (Cunningham et al., 1988).
Übersichten).
Eines der am häufigsten in der Literatur ge-
nannten Symptome im Zusammenhang mit sexu-
Allerdings lässt unser Wissenstand keine Beurtei- ellem Kindesmissbrauch ist Depression (Boude-
lung darüber zu, in welchem Prozentsatz der Fälle wyn & Liem, 1995). Peters (1988) fand heraus,
Opfer sexuellen Kindesmissbrauchs in der Lage dass 85% einer nicht-klinischen Stichprobe von
sind, das Trauma so zu verarbeiten, dass sie kei- Opfern sexuellen Kindesmissbrauchs in ihrem Le-
nen Leidensdruck im Erwachsenenalter aufwei- ben mindestens eine Episode einer schweren de-
sen. Aus methodischen Gründen der Stichpro- pressiven Störung (Major Depression) erlebt hat-
benselektion lassen die vorliegenden Unter- ten. Dabei treten dysfunktionale Überzeugungen
suchungen über diesen Aspekt häufig keine in den Themenbereichen Selbstbeschuldigung
Schlüsse zu. In einer ersten Studie zum Thema und Selbstabwertung (Jehu, 1989} und ein ernied-
positive Verarbeitung gaben 47% der befragten rigtes Selbstwertgefühl (Carson et al., 1988) auf.
Opfer sexuellen Kindesmissbrauchs an, neben In diesem Zusammenhang soll auf das
den negativen auch positive Konsequenzen des erhöhte Suizidrisiko von Opfern sexuellen Kin-
Missbrauchs für sich zu sehen (McMillen et al., desmissbrauchs hingewiesen werden (Bayatpour
1995). et al., 1992; Boudewyn & Liem, 1995).

9.3.1 Emotionale Reaktionen Selbstdestruktives Verhalten


und Selbstwahrnehmung
Weiter kann es zu Automutilationen kommen, die
Die folgende übersieht fasst mögliche emotionale vom Aufkratzen der Haut bis hin zu selbst-
Reaktionsweisen erwachsener Missbrauchsopfer zugefügten schweren Brand- und Schnittverlet-
zusammen. zungen (ohne suizidale Intention) reichen
können (Briere, 1988; Shapiro, 1987}. Zu selbst-
destruktivem Verhalten im weiteren Sinne
Psychische Symptomatik von erwach- können Alkohol- und Drogenmissbrauch, der
senen Opfern sexuellen Kindesmiss- ein weiteres sehr häufig auftretendes Langzeit-
brauchs problem nach sexuellem Kindesmissbrauch dar-
Angst (chronische Angst, Angstanfälle), stellt (z. B. Peters, 1988), sowie Essstörungen
Somatisierungssymptome, (z. B. Smolak et al., 1990} gezählt werden.
Depression (erhöhtes Suizidrisiko),
selbstdestruktives Verhalten
(auch Substanzmissbrauch, Essstörungen), Dissoziative Symptome
dissoziative Symptome,
Schließlich sind Dissoziationssymptome, die als
interpersonelle Probleme
Vermeidungsverhalten verstanden werden kön-
(Vertrauensverlust, sexuelle Störungen).
nen, besonders charakteristisch für diese Patien-
tengruppe. Darunter fallen:
- ((spacing out(( (kognitives »Weggehen(( aus
der Situation in einen scheinbar neutralen
Ängste, Somatisierung, Depression
Zustand),
Ängste im Erwachsenenalter sind ein charakteris- - Derealisation,
tisches Symptom nach sexuellem Kindesmiss- - Depersonalisation,
brauch. Es wurden sowohl chronisch erhöhte - das Gefühl, nicht im eigenen Körper zu sein
Angstwerte als auch Angstanfalle (Briere & bzw. Taubheitsgefühle sowie
Runtz, 1988) berichtet. Darüber hinaus können - Amnesien (Briere, 1989).
9.3 · Symptomatik erwachsener Opfer sexuellen Kindesmissbrauchs
171 9
able für sexualisierte Gewalterfahrungen, nicht-
Während partielle Amnesien für bestimmte
sexuelle Übergriffe und eheliche Partnergewalt
Aspekte eines erlebten Traumas sehr häufig
gut untersucht worden. Es zeigt sich hierbei ein
aufzutreten scheinen und nicht spezifisch für
eindeutig erhöhtes Risiko, auch im späteren Le-
Missbrauchsopfer sind, fanden verschiedene
ben wieder Opfer von v. a. sexualisierter Gewalt
Autoren übereinstimmend, dass bei einer
zu werden. Diese Häufung ist ein robustes und
Untergruppe der Opfer sexuellen Kindes-
wiederholt erbrachtes Ergebnis der empirischen
missbrauchs für einen umschriebenen Zeit-
Forschung (im Überblick: Messman & Long,
abschnitt in ihrem Leben eine vollständige
1996; Messman-Moore & Long, 2002; Breitenbe-
Amnesie für die Missbrauchserfahrungen vor-
cher, 2001). Eine Metaanalyse belegte, dass
lag (Briere & Conte, 1989; Williams, 1994). 15-79% aller Frauen mit Erfahrungen von sexuel-
lem Missbrauch in der Kindheit später wieder se-
xualisierte Gewalterfahrungen erleiden (Rood-
Es liegt nahe, amnestische Symptome als Über- man & Clum, 2001). Zudem existiert ein additiver
reste von Bewältigungsstrategien zu verstehen, Effekt anderer traumatischer Erfahrungen wie
die vom Kind entwickelt wurden, um trotz des körperliche Misshandlung und Zeugenschaft el-
Missbrauchs weiterleben bzw. funktionieren zu terlicher Partnergewalt. Die erste deutsche epi-
können. Eine extreme Form dissoziativer Symp- demiologische Studie über sexuellen Missbrauch
tomatik findet sich bei der Dissoziativen Identi- und körperliche Misshandlung bestätigt für
tätsstörung (vormals Multiple Persönlichkeits- Deutschland die Reviktimisierungshypothese
störung genannt), die in klinischen Berichten in (Wetzels, 1997): Frauen, die »multimodal« miss-
Zusammenhang mit sexuellem Kindesmiss- braucht wurden (sexueller Missbrauch, körperli-
brauch und Kindesmisshandlung gebracht wurde che Misshandlung und Zeuge elterlicher Partner-
(Coons & Milstein, 1986). gewalt), weisen dabei für das Erwachsenenalter
ein 13mal höheres Risiko für Reviktimisierung
auf. Eine mögliche Erklärung besteht darin, dass
9.3.2 Interpersonelle Probleme missbrauchte Kinder evtl. versuchen, ihrer Umge-
bung früh durch Weglaufen oder Heirat zu ent-
Vertrauensverlust rinnen und sich dabei in Situationen begeben,
die ein erhöhtes Risiko für Vergewaltigung oder
Schwierigkeiten, anderen Vertrauen entgegen-
Missbrauch in der Ehe mit sich bringen. Auch
zubringen, ist eine der häufigsten Auswirkungen
könnte ein Lerndefizit bezüglich der Wahrneh-
sexuellen Kindesmissbrauchs auf das soziale
mung und Interpretation von Gefahrensignalen
Funktionieren der Opfer. Dies hängt nicht zuletzt
bestehen, da Selbstbestimmung und das Setzen
mit der Tatsache zusammen, dass es sich bei dem
eigener Grenzen nicht gefördert wurden. Gefühle
Täter oft um eine Person handelt, der das Opfer
der Wertlosigkeit und Selbstbeschuldigungen
ursprünglich vertraut hat oder auf die es bezüg-
können schließlich den Teufelskreis der Revikti-
lich der eigenen Versorgung angewiesen war. Ne-
misierung mit aufrechterhalten.
ben Misstrauen werden außerdem verstärkte
Gefühle von Ärger und Feindseligkeit berichtet
(Briere, 1988; Edwards & Donaldson, 1989).
Sexualität
Empirische Untersuchungen zu Langzeitfolgen
Reviktimisierung
sexueller Traumatisierung im Kindesalter berich-
Der Begriff der Reviktimisierung umschreibt den ten neben einer niedrigeren Zufriedenheit in in-
Zusammenhang zwischen sexualisierter Gewalt timen Beziehungen im Vergleich zu Kontrollper-
in der Kindheit und späteren sexuellen und oder sonen mit großer Übereinstimmung spätere
körperlichen Gewalterfahrungen im Erwachse- Schwierigkeiten im Bereich der Sexualität, wie
nenalter. Sexueller Missbrauch ist als Risikovari- Angst vor Sex, Schuldgefühle über Lusterleben
172 Kapitel 9 · Behandlung erwachsener Opfer sexuellen Ki ndesmi ssbrauchs

oder sexuelle Funktionsstörungen (z. B. Finkel- Aus diesen Gründen ist es wichtig, dass jede Ein-
hor et al., 1989; Tsai et al., 1979). gangsdiagnostik anamnestische Fragen zu einem
sexuellen Kindesmissbrauch einschließt. Eine
einzelne Überblicksfrage ist hierbei häufig nicht
9.3.3 Einfluss der Traumamerkmale ausreichend. Die Formulierung der Fragen sollte
auf die Symptomatik nichtsuggestiv und möglichst konkret sein. Im
Folgenden werden einige Beispiele gegeben:
Studien berichten über folgende Zusammenhän-
ge zwischen Traumamerkmalen und der Sympto-
matik: Beispiele für diagnostische Fragen
- Der Ausprägungsgrad der Symptomatik kor- bezüglich sexuellen Kindesmissbrauchs
reliert positiv mit der Anzahl der Miss- Hatten Sie vor Ihrem 16. Lebensjahr jemals
brauchsverfälle und der Länge des Zeitraums, sexuellen Kontakt mit einer Person, die
über den sich der Missbrauch erstreckte mindestens 5 Jahre älter war als Sie? Unter
(Briere, 1988; Briere & Runtz, 1988; Tsai et al., sexuellem Kontakt verstehe ich z. B.
1979). Berührungen an den Genitalien oder den
- Eine engere Beziehung zwischen Opfer und Brüsten, Geschlechtsverkehr oder ver-
Täter ist mit stärkerer posttraumatischer suchten Geschlechtsverkehr.
Symptomatik assoziiert (Wyatt & Newcomb, Hatten Sie vor Ihrem 16. Lebensjahr jemals
1990). sexuellen Kontakt, zu dem Sie sich ge-
- Versuchter oder vollendeter Geschlechtsver- drängt oder gezwungen gefühlt haben?
kehr zieht stärkere psychische Auswirkungen Hatten Sie vor Ihrem 16. Lebensjahr jemals
nach sich als sexuelle Kontakte ohne Ge- oralen oder analen sexuellen Kontakt?
schlechtsverkehr (Briere, 1988; Wyatt & Damit meine ich z. B., dass jemand seinen
Newcomb, 1990). Penis in Ihren Mund gesteckt hat oder
seinen Penis, einen Finger oder Gegen-
Unklar ist, ob ein Zusammenhang zwischen dem stände in Ihren Anus eingeführt hat bzw.
Alter des Kindes bei Beginn des Missbrauchs und dies versucht hat?
dem Schweregrad der späteren Symptomatik be- Waren Sie vor Ihrem 16. Lebensjahr jemals
steht (vgl. Beitchman et al., 1992). Insgesamt han- an sexuellen Handlungen beteiligt oder
delt es sich bei den gefundenen Zusammenhän- wu rden mit solchen konfrontiert, ohne
gen um eher niedrige Korrelationen (r=0,2-0,3). dass es zu Körperkontakt kam? Hiermit
meine ich z. B., dass jemand seine Genita-
lien vor Ihnen entblößt hat oder in Ihrer
Anwesenheit masturbierte.
9.4 Diagnostik

Verschiedene Faktoren tragen dazu bei, dass Opfer


sexuellen Kindesmissbrauchs in der Therapie den Bevor eine solche Anamnese erhoben wird, sollte
Missbrauch häufig nicht von sich aus ansprechen: erwähnt werden, dass viele Menschen solche be-
- Zum einen bringen Traumaopfer ihre Proble- lastenden Erfahrungen in ihrer Kindheit machen
me, anlässlich derer sie eine Therapie auf- und dass es Ihnen oft schwer fällt, darüber zu
suchen (z. B. Schlafstörungen oder Depressi- sprechen. Es sollte weiter darauf hingewiesen
on), oft nicht in Verbindung mit dem Trauma. werden, dass es sich bei den Tätern auch um be-
- Zum anderen erschweren Gefühle der Stigma- kannte oder nahestehende Personen oder um Fa-
tisierung, von Schuld und Scham, über die milienmitglieder handeln kann, da dies evtl.
Erfahrungen zu sprechen. nicht dem Missbrauchskonzept der betroffenen
- Dissoziationssymptome können ebenfalls da- Person entspricht.
zu beitragen, dass der Missbrauch von derbe- Wie zuvor erwähnt, sind Gedächtnisbeein-
troffenen Person nicht angesprochen wird. trächtigungen ein häufiges Phänomen bei Trau-
9.5 · Überblick zum therapeutischen Vorgehen 173 9
maopfern. Verschiedene Autoren weisen darauf
hin, dass es für den Erfolg einer Therapie nicht Komorbidität/andere Störungsbilder
notwendig ist, dass alle Details des sexuellen (z. B. Depression, Alkoholmissbrauch),
Missbrauchs erinnert werden. Es kann vielmehr Suizidalität,
kontraproduktiv sein, Erinnerungen zu forcieren, gegenwärtiges Funktionsniveau (z.B. in
wenn die betroffene Person die Ressourcen und sozialen Beziehungen, am Arbeitsplatz),
die notwendige Stabilität noch nicht besitzt, um allgemeine Anamnese psychischer
diese Erinnerungen zu verarbeiten (vgl. Bolton Störungen.
et al., 1989).

Für die Erhebung der Symptomatik ist die Ver-


wendung standardisierter Instrumente (z. B. di-
Auf keinen Fall sollte von Therapeutenseite agnostische Interviews und Fragebögen) hilf-
das Vorliegen eines Missbrauchs vorgeschla- reich, wie sie in Kap. 3 vorgestellt werden.
gen werden, wenn die Patientin oder der Pa-
tient keine Erinnerungen an ein solches Trau-
ma hat. 9.5 Überblick zum
therapeutischen Vorgehen
Eine weiterführende Diskussion des diagnosti-
Die im Folgenden dargestellten Erkenntnisse be-
schen Vergehens bei der Erhebung eines sexuel-
ruhen zum Großteil auf Erfahrungen und For-
len Kindesmissbrauchs in der Vorgeschichte fin-
schung mit weiblichen Opfern sexuellen Kindes-
det sich bei Courtois (1995).
missbrauchs. Aus diesem Grund und zur bes-
Abschließend wird ein Überblick über die In-
seren Lesbarkeit werden im Text nur die weibli-
formationen gegeben, die in der Eingangsdiag-
chen Formen verwendet. Es ist davon auszuge-
nostik erhoben werden sollten (vgl. Meichen-
hen, dass die meisten therapeutischen Ver-
baum, 1994; Resnick & Newton, 1992).
gehensweisen auf die Behandlung männlicher
Opfer sexuellen Kindesmissbrauchs übertragbar
sind. Für eine ausführliche Diskussion spezieller
Informationen, die in der Eingangs- Aspekte bei der Diagnostik und Therapie männ-
diagnostik erhoben werden sollten licher Opfer sexuellen Kindesmissbrauchs wird
Traumabezogene Informationen auf Watkins & Bentovim (1992) verwiesen.
Anamnese sexuellen Kindesmissbrauchs,
auf den Missbrauch bezogene Variablen
(z. B. Alter des Kindes, Anzahl der Täter,
9.5.1 Therapieziele
Dauer, Häufigkeit, Beziehung zum Täter,
In Entsprechung zu den oben dargestellten Prob-
Reaktionen des Kindes auf der Verhaltens-,
lemhereichen lassen sich eine Reihe von Zielen
emotionalen und kognitiven Ebene),
Anamnese anderer traumatischer Erfah- für die Behandlung von Opfern sexueller Trau-
rungen, matisierung in der Kindheit formulieren. Grund-
derzeitige verfügbare Ressourcen sätzlich soll durch die Auseinandersetzung mit
(z. B. soziale Unterstützung, Bewälti- traumarelevanten Themen in der Therapie eine
gungsfähigkeiten), Integration des traumatischen Materials in die
bisherige Bewältigungsversuche. kognitive Repräsentation der Erfahrungswelt
der Patientin gefördert werden (vgl. Kap. 1).
Symptomatik
Die Patientin soll zu einem Verständnis der Be-
PTB (einschließlich Erhebung angstauslö-
deutung des Traumas und seiner Auswirkungen
sender Stimuli),
gelangen sowie Kontrolle über symptomatisches
Verhalten gewinnen und alternative Bewälti-
gungsstrategien erlernen.
174 Kapitel 9 . Behandlung erwachsener Opfer sexuellen Kindesmissbrauchs

Erfahrung mit emotionsfördernden Ver-


Therapieziele in der Behandlung von fahren,
Opfern sexuellen Kindesmissbrauchs ein situationsunabhängiges therapiebe-
Selbstdestruktive Verhaltensweisen ab- zogenes Selbstwertsystem sowie
bauen, ausreichende themenbezogene Selbst-
überwältigende negative Affekte (z. B. die erfahrungen.
im Zusammenhang mit Erinnerungen an
das Trauma erlebte intensive Angst) re-
In der Anfangsphase der Therapie steht der Auf-
duzieren,
bau einer vertrauensvollen therapeutischen Be-
maladaptive Überzeugungen (z. B. ein ne-
ziehung im Vordergrund. Gleichzeitig sollte ein
gatives Selbstbild) korrigieren,
weiterer Schwerpunkt auf der Normalisierung
Kompetenzen im Bereich interpersoneller
bzw. Depathologisierung der Symptome der Pa-
Beziehungen aufbauen.
tientin durch Informationsvermittlung bezüglich
der Folgen von sexuellem Kindesmissbrauch lie-
gen. Hierbei kann es sich als hilfreich erweisen,
Symptome als ursprüngliche Anpassungsleistu.ng
9.5.2 Die therapeutische Beziehung an die traumatisierende Umgebung zu konzeptio-
nalisieren. So stellt z. B. die Dissoziation eine
Die durch den Missbrauch erlebten Vertrauens-
»Leistung« der Person dar, sich aus einer ausweg-
brüche und die Erfahrung des Ausgeliefertseins
losen und unerträglichen Situation innerlich
kann zu Herausforderungen in der Gestaltung
zurückzuziehen. Andere Symptome, wie z. B. Ri-
der therapeutischen Beziehung führen, der in
sikoverhalten, können ebenfalls aus der Lern-
der Behandlung von Opfern sexuellen Kindes-
geschichte der Patientirr erklärt werden. Dieses
missbrauchs eine besondere Bedeutung zu-
Konzept ist entlastend für Patientinnen, die ihre
kommt. Als eine durch Sicherheit, Vertrauen
Symptome als »Mängel« verstehen, weist aber zu-
und Unterstützung gekennzeichnete soziale Um-
gleich darauf hin, dass die entsprechenden Ver-
gebung kann die Therapiesituation für ..die ~a­
haltensweisen in der Umwelt der Erwachsenen
tientin eine korrektive Erfahrung gegenuber Ih-
nicht mehr adaptiv sind, und es somit zu dem er-
ren bisherigen sozialen Beziehungen darstellen
lebten Leidensdruck kommt.
(s. Kap. 2; vgl. Roth & Batson, 1993).
Die Therapeutinnen stehen vor der Aufgabe,
bei manchen Patientinnen mit Beziehungstest,
starker Verschlossenheit und anderen überge- 9.6 Verschiedene Therapieverfahren
neralisierten Verhaltensstrategien sowie starker
Sensibilität gegenüber Selbstwertbedrohungen Die im Therapieverlauf üblicherweise eingesetz-
umgehen zu müssen: ten kognitiv-behavioralen Therapieverfahren
sind zum großen Teil nicht spezifisch für die Be-
handlung von Opfern sexuellen Kindesmiss-
brauchs. So können z. B. zum Aufbau von Verhal-
Hilfreich im Umgang mit diesen Patientinnen
tenskompetenzen Kommunikations-, Selbst-
können nach Zielke (1997) fo lgende Kompe-
sicherheits- und Problemlösetrainings eingesetzt
tenzen sein:
werden oder Selbstkontroll- und Ärgermanage-
Kompetenzen in der Gestaltung von Be-
ment-Strategien vermittelt werden (Jehu, 1988).
ziehungen, Toleranz für Irritationen und
Diese Verfahren sind aus anderen therapeuti-
starke Emotionalität,
angemessene Modulation von Engage- schen Zusammenhängen bekannt und unter-
ment und Abstinenz, Kompetenz in der scheiden sich bei der Behandlung von Opfern se-
Nähe-Distanz-Regulierung, xuellen Kindesmissbrauchs nicht wesentlich von
diesen. Die spezielle Anwendung einer Reihe kog-
nitiv-behavioraler Verfahren, insbesondere der
9.6 . Verschiedene Therapieverfahren 175 9
Konfrontation und der kognitiven Umstrukturie- Weitere therapeutische Strategien
rung, in der Behandlung von Opfern sexueller
Für den Umgang mit intensiver Angst und der
Traumatisierung in der Kindheit soll im Folgen-
Dissoziationssymptomatik (z. B. Depersonalisati-
den genauer beschrieben werden (s. Kap. 4, Kap.
on oder Derealisation), die in als bedrohlich
5). Auf die besonderen Herausforderungen an die
wahrgenommenen Situationen plötzlich auftreten
Therapeutin bei der Behandlung von Borderline-
können, sind eine Reihe weiterer Techniken be-
Patientinnen wird in einem nachfolgenden Ab-
schrieben worden (Briere, 1989). Die sog.
schnitt eingegangen. Abschließend wird die
Grounding-Techniken haben zum Ziel, die Pa-
Nützlichkeit eines gruppentherapeutischen An-
tientin zurück ins »Hier und Jetzt« zu bringen
satzes diskutiert.
und den Realitätsbezug wieder herzustellen. Sie
beinhalten z. B.:
- Sich selbst oder Gegenstände zu berühren,
9.6.1 Angstbewältigung - die Aufmerksamkeit auf Gegenstände in der
und konfrontative Verfahren nahen Umgebung zu lenken,
- mit jemandem zu sprechen oder
Angstbewältigungstraining - sich auf sensorische Eindrücke wie das
Spüren der Fußsohlen auf dem Boden oder
Ziel des Angstbewältigungstrainings (Angst-
der Handinnenflächen auf der Stuhllehne zu
managementtrainings) ist es, der Patientin Co-
konzentrieren.
pingstrategien für den Umgang mit dem häufig
erlebten, extrem hohen Angstniveau an die Hand Allerdings kann die Fähigkeit zur Dissoziation
zu geben. auch gezielt therapeutisch für den Umgang mit
In der Therapie von Traumaopfern wurden traumatischen Erinnerungen genutzt werden, in-
verschiedene Angstmanagementstrategien einge- dem die Patientinnen lernen können, sich vor als
setzt, wobei das Stressimpfungstraining (»Stress zu bedrohlich oder intensiv erlebten Gefühlen zu
Inoculation Training«, SIT; Veronen & Kilpatrick, schützen. Techniken wie »das innere Kind in Si-
1983; s. Kap. 4) speziell für die Behandlung der cherheit bringen« und der Einsatz »innerer Hel-
Angstsymptomatik vergewaltigter Frauen ent- fer« und »sicherer Orte« sollen der Patientin hel-
wickelt wurde. Das Stressimpfungstraining wur- fen, Stabilität zu gewinnen. Die sog. Bildschirm-
de in kaum veränderter Form in der Therapie technik und die Einnahme einer Beobachterper-
von Opfern sexuellen Kindesmissbrauchs über- spektive wird dazu genutzt, die Patientin in der
nommen (»Coping Skills Training«; Jehu, 1988). Konfrontation mit dem Trauma vor zu schmerzli-
Neben einer psychoedukativen Phase, in der ein chen oder unerträglichen Gefühlen zu schützen
lerntheoretisches Modell posttraumatischer (Reedemann, 2001).
Angst und das Therapierational vermittelt wer-
den, beinhaltet das Training folgende Komponen-
ten: Konfrontationsverfahren
- Atemkontrolltechniken und progressive Mus- Es herrscht weitgehende Einigkeit darüber, dass
kelrelaxation, die Konfrontation mit angstauslösenden Stimuli
- Rollenspiele angstauslösender Situationen, eine wichtige, wenn nicht entscheidende Kom-
- verdecktes Modelllernen durch Vorstellen er- ponente in der Behandlung von Angststörungen,
folgreich gemeisterter Situationen, einschließlich der PTB, darstellt.
- Gedankenstop, wobei die Patientin Kontrolle
über intrusive belastende Gedanken und Vor-
stellungen erlernt sowie
Das Ziel konfrontativer Verfahren in der The-
- geleiteter Selbstdialog nach Meichenbaum rapie von Opfern sexuellen Missbrauchs ist es,
(1974), in dem negative Selbstgespräche zum einen die angstauslösende Wirkung ob-
durch einen unterstützenden und verstärken-
den Selbstdialog ersetzt werden.
176 Kapitel 9 · Behandlung erwachsener Opfer sexuellen Kindesmissbrauchs

jektiv ungefährlicher konditionierter Reize


taktile Selbstexploration. wobei die Pa-
abzubauen, und zum anderen der Patientin zu
tientin sensitive Körperregionen kennen-
ermöglichen, sich an den Missbrauch zu erin-
lernt und die Gefühle, die die Berührungen
nern, ohne von intensiven Gefühlen der Angst
auslösen, zu tolerieren und zu genießen
und Hilflosigkeit überwältigt zu werden.
lernt,
genitale Selbststimulation, wobei das Ziel
darin besteht, sexuelle Erregung tolerieren
Durchführung der Konfrontation
und genießen zu lernen.
Bei der Konfrontation in sensu versetzt sich die
Patientin in der Vorstellung in die Missbrauchs-
situation hinein und erzählt dabei ihren Hergang, Ähnliche praktische Übungen als Hausaufgaben
wobei der Fokus unter anderem auf ihren eigenen in der Therapie sexueller Dysfunktionen von Op-
emotionalen und physiologischen Reaktionen fern sexuellen Kindesmissbrauchs werden bei Be-
während des Missbrauchs liegt. Dieses Nacherle- cker (1989) und Sprei & Courtois (1988) be-
ben der Situation wird so oft wiederholt, bis da- schrieben.
bei Angst und Unbehagen der Patientin deutlich
zurückgegangen sind. Die Hausaufgabe besteht
darin, sich die Tonbandaufnahme der Sitzung
Konfrontation mit den an das Trauma erin-
täglich anzuhören.
nernden Stimuli ist ein Bestandteil jedes the-
Für die Konfrontation in vivo wird eine Hie-
rapeutischen Gesprächs über den Missbrauch,
rarchie von Situationen erstellt, die die Patientin
seine Umstände und seine Folgen. Es ist an-
gegenwärtig vermeidet, objektiv aber als sicher
zunehmen, dass Konfrontation ein wirksames
einstuft, wie z. B. bei ausgeschaltetem Licht ein-
Prinzip in jeder Behandlung darstellt, in der
zuschlafen oder alleine zu Hause zu sein. Die Pa-
der sexuelle Kindesmissbrauch explizit ange-
tientin begibt sich in diese Situationen hinein
sprochen wird, auch wenn kein strukturiertes
und verweilt dort solange, bis ihr Angstniveau
konfrontatives Behandlungsverfahren wie die
deutlich abgesunken ist. Diese Verfahren werden
langandauernde Exposition gewählt wird.
auch als langandauernde Exposition (»prolonged
exposure«) bezeichnet (vgl. Kap. 1, Kap. 4; Foa et
al., 1991).
Roesler et al. (1992) setzten Videoaufzeich- 9.6.2 Kognitive Methoden
nungen ein, auf denen Patientinnen über ihren
Missbrauch berichteten, und mit denen sie sich In den letzten Jahren rückten kognitive Variablen
anschließend wiederholt konfrontierten. Jehu und ihr Zusammenhang mit der Symptomatik
{1988) setzte in vivo Konfrontation in der Behand- bei Traumaopfern vermehrt in den Mittelpunkt
lung sexueller Dysfunktionen von Opfern sexuel- des Forschungsinteresses (s. Kap. 5). Dabei wurde
len Kindesmissbrauchs ein. Er schlägt eine gradu- zum einen gezeigt, dass das Erleben eines Trau-
ierte Herangehensweise vor, wobei eine schwieri- mas eine Reihe von grundlegenden überzeugun-
gere Situation erst aufgesucht wird, wenn die vo- gen (z. B. die der eigenen Sicherheit) erschüttern
rangegangene kein Unbehagen mehr auslöst. kann und dass Traumaopfer zum Teil maladap-
tive Überzeugungen in verschiedenen Themen-
bereichen aufweisen. Zum anderen wurde ein Zu-
Situationshierarchie nach Jehu (1 988) sammenhang solcher maladaptiver Kognitionen
Visuelle Selbstexploration (z.B. unter Ver- mit einer stärker ausgeprägten Symptomatik be-
wendung eines Handspiegels) mit dem stätigt. In Bezug auf Opfer sexuellen Missbrauchs
Ziel, ein negatives Körperbild abzubauen, sind insbesondere die Themenbereiche
- Selbstbeschuldigung und Selbstwert sowie
- Sicherheit, Vertrauen und Kompetenz
9.6 · Verschiedene Therapieverfahren 177 9
von Bedeutung (Coffey et al., 1996; Draucker, Erklärungsmodell für kognitive Umstrukturie-
1989; Jehu, 1989; Resick & Schnicke, 1992; Wen- rung geben,
ninger, 1994; Wenninger & Ehlers, 2003, im selbstbeschuldigende Überzeugung identifi-
Druck; s. Kap. 1, Kap. 6, Kap. 8). zieren: >>Ich habe mich nicht körperlich gegen
Den Satz »Ich muss für den Sex verantwort- den Täter gewehrt, deshalb muss ich den Sex
lich gewesen sein als ich klein war, da er über gewollt haben«,
so lange Zeit fortgesetzt wurde« bejahten 86% ei- kognitive Irrtümer erkennen: Emotionales und
ner Patientinnenstichprobe mit sexuellem Miss- nichtlogisches Schlussfolgern, Personalisie-
brauch in der Kindheit; der Äußerung »Ich bin rung/Fehlattribution,
wertlos und schlecht« stimmten 78% zumindest alternative Denkweisen mit Hilfe von Infor-
teilweise zu (Jehu, 1989). mationen, logischer Analyse und Reattribution
explorieren,
selbstbeschuldigende Überzeugung durch
Ziel kognitiver Verfahren ist es, solche negati- adaptive Sichtweise ersetzen: >>Das Macht-
ven Überzeugungen der Patientin zu identifi- gefälle zwischen einem Erwachsenen und ei-
zieren, ihren Zusammenhang mit dem Trauma nem Kind macht es sehr schwierig für das
und mit gegenwärtigen negativen Affekten zu Kind, Nein zu sagen. Ich habe als Kind gelernt,
verdeutlichen, sie zu hinterfragen und ggf. dass ich Erwachsenen gehorchen muss. Ich bin
durch adaptivere Kognitionen zu ersetzen. gezwungen worden, da der Täter mir befahl.
ein braves Mädchen zu sein und ihm einen
Die angewendeten Verfahren basieren auf der von Gefallen zu tun. Ich wurde außerdem ge-
Beck (Beck et al., 1986) entwickelten kognitiven zwungen, weil jedes Kind Aufmerksamkeit
Therapie der Depression. Resick & Schnicke und Zärtlichkeit braucht, und meine Umwelt
(1993; s. insbesondere Kap. 8) beschrieben eine mir keine gesunde Art dieser Zuwendung
speziell auf Vergewaltigungsopfer zugeschnittene gegeben hat (etc.)«.
modifizierte Version der Beckschen Therapie, in
der die Themenbereiche Sicherheit, Vertrauen, Therapie sexueller Dysfunktionen. Beispiele für
Kompetenz, (Selbst)achtung und Intimität beson- kognitive Umstrukturierung in der Therapie se-
ders berücksichtigt werden. Es ist anzunehmen, xueller Dysfunktionen bei Opfern sexuellen Kin-
dass dieses Therapiekonzept auf Opfer sexuellen desmissbrauchs finden sich ebenfalls bei Jehu
Kindesmissbrauchs übertragbar ist, da gezeigt (1988). Dabei soll der Patientin der Zusammen-
werden konnte, dass bei ihnen maladaptive Kog- hang zwischen dem erlebten Missbrauch und
nitionen in denselben Themenbereichen auftre- Überzeugungen wie >>Für Liebe muss man immer
ten wie bei Vergewaltigungsopfern (Wenninger zahlen« oder »Männer nutzen Frauen immer aus«
& Ehlers, 1998). verdeutlicht werden, welche einer positiv erlebten
sexuellen Beziehung entgegenstehen. Nach einer
Kognitive Umstrukturierung Analyse der kognitiven Irrtümer (z. B. Überge-
neralisierung) werden dann wiederum alternative
Die Methode der kognitiven Umstrukturierung
Sichtweisen exploriert.
bei selbstbeschuldigenden und selbstabwerten-
den Überzeugungen von Opfern sexuellen Kin-
desmissbrauchs wurde von Jehu (1988) beschrie-
ben. Folgendes Beispiel soll das Vorgehen veran- 9.6.3 Imaginatives Neuschreiben
schaulichen. und Verarbeiten

f) Beispiel Die Technik des Imaginativen Neuschreibens und


Kognitive Umstrukturierung bei selbstbeschul- Verarbeitens (»Imagery Rescripting und Repro-
digenden und selbstabwertenden Überzeugun- cessing«; Smucker, 1997) wurde für erwachsene
gen Opfer von sexuellem oder körperlichem Miss-
T brauch in der Kindheit entwickelt, die aktuell un-
178 Kapitel 9 · Behandlung erwachsener Opfer sexuellen Kindesmissbrauchs

ter sich wiederholenden Intrusionen und Flash- erleben zu unterstützen und durch behutsames
backs leiden. Nachfragen Gedanken und Gefühle der Patientin
zu elaborieren.

Die in diesem Verfahren angewendete Kom-


bination von imaginierter Exposition, dem Es ist in diesem Zusammenhang wichtig, das
Aufbau von Bewältigungsbildern sowie von gesamte Furchtnetzwerk mit seinen visuellen,
Selbstberuhigungs- und Selbstbesänftigungs- verbalen, affektiven, sensorischen und kinäs-
möglichkeiten mit der verbalen Verarbeitung thetischen Reizen zu aktivieren, um eine um-
des Traumas und der Modifikation von dys- fassende Verarbeitung und Neubewertung zu
funktionalen kogn it iven Schemata hat neben erreichen.
der Reduktion der PTB die Veränderung wie-
derkehrender traumatischer Bilder zum Ziel Sobald die Patientin andeutet, dass sie das ge-
und fördert den Aufbau adaptiver Schemata samte traumatische Erlebnis geschildert hat, wird
sowie die Möglichkeiten zur Selbstberuhi-
dieser Schritt beendet und die Therapeutin leitet
gung.
zur nächsten Phase, der Konfrontation des Täters
über. Zunächst wird die Patientin gebeten, noch
Auch bei diesem Verfahren beginnt die Therapie einmal das traumatische Erlebnis zu schildern.
mit der Vermittlung eines Rationals der Behand- An dem für die Patientin belastendsten Punkt
lung. Traumatische Erfahrungen, die Inhalt von wird die Imagination unterbrochen und durch
intrusiven Erinnerungen, Flashbacks oder Alb- Fragen in die Täterkonfrontation übergeleitet.
träumen sind, werden dabei nach folgendem Vor-
gehen bearbeitet. 8 Beispiel
Können Sie sich vorstellen, wie Sie als ER-
WACHSENE in Ihrer aktuellen Gestalt die Szene
Zunächst kommt es zu e iner imaginierten Ex- betreten?
position mit dem traumatischen Erlebnis. Kann Sie der Täter sehen?
Dann wird die Patientin angeleitet die Erin- Wie reagiert er auf Ihre Anwesenheit?
nerungen zu verändern, indem sie zunächst: Was würden Sie, die Erwachsene, an dieser
den Täter imaginativ konfrontiert, dann Stelle gerne tun oder sagen?
das Kind aus dem Missbrauch befreit und Können Sie sich sehen, wie Sie diesen Hand-
schließlich lungswunsch ausführen?
das Kind liebevoll unterstützt. Und wie reagiert der Täter auf Ihre Interven-
tion?
Diese 3 Phasen der Konfrontation mit den Erin- Was passiert nun?
nerungen und ihre Veränderung finden jeweils
in einer Sitzung statt. Der genaue Ablauf wird Das Ziel dieser Phase ist der Aufbau von Bewälti-
im Folgenden skizziert. gungsbildern zur Beendigung der Viktimisie-
rung. Zunächst ist es die Aufgabe der erwachse-
nen Patientin, das traumatische Erlebnis umzu-
schreiben und damit einen anderen, für das Kind
Durchführung
günstigeren Ausgang zu entwickeln, indem sie
des Imaginierten Neuschreibens
zunächst den Täter konfrontiert und das Kind
und Verarbeitens
aus dem Missbrauch befreit.
Die imaginierte Exposition umfasst das visuelle Nach Entwicklung der Bewältigungsbilder -
und sensorische Wiedererleben des gesamten wenn also der Täter aus der Szene verschwunden
traumatischen Erlebnisses. Die Rolle der Thera- ist, weil er entweder verjagt wurde oder tot ist
peutin besteht darin, die Patientin beim Wieder- und der Missbrauch des Kindes beendet ist -
9.6 · Verschiedene Therapieverfahren 179 9
regt die Therapeutin die Imagination »Die Er-
wachsene unterstützt das Kind liebevoll« mit Fra-
Es ist bei dem Aufbau der Bewältigungs- und
gen an.
Selbstbesänftigungsbilder unbedingt not-

8 Beispiel
wendig, dass die Therapeutin die Patientin
sokratisch begleitet und auf das Führen oder
Was würden Sie, die ERWACHSENE, gerne für
gar das Suggerieren von Bewältigungsbildern
das Kind tun oder ihm sagen?
verzichtet, da davon ausgegangen wird, dass
Können Sie sich dies tun oder sagen sehen?
selbst aufgebaute Bewältigungs- und Selbst-
Wie reagiert das Kind? Wie reagieren Sie, die
besänftigungsbilder wirkungsvoller sind als
Erwachsene, auf die Reaktion des Kindes? Gibt
suggerierte Bilder.
es noch etwas, das Sie als Erwachsene für das
Kind tun oder ihm sagen möchten, bevor Sie
diese Imagination abschließen? Falls die Patientin nicht in der Lage ist selbst den
Abschlussfragen: Was nehmen Sie mit? Wie Täter zu konfrontieren oder das Kind zu befreien,
war das für Sie, wie fühlen Sie sich jetzt? kann die Therapeutin fragen, ob die Patientin an-
dere Menschen zu Hilfe holen möchte. Auch hier-
In der Regel beginnen die Patientinnen in dieser bei ist erforderlich, dass die Patientin diese Ent-
Phase, das Kind zu umarmen, zu liebkosen oder scheidung selbst trifft.
auf andere Art und Weise ihre Unterstützung und Hat eine Patientin mehrere Traumen erlebt,
Zuneigung auszudrücken. Manche Patientinnen wird zu Beginn eine Hierarchie dieser Erlebnisse
reden mit dem Kind und versichern ihm, dass nach ihrer aktuellen Belastung erstellt. Um einen
es in Sicherheit ist. Anderen Patientinnen scheint möglichst hohen Grad an Generalisierung zu er-
die liebevolle nonverbale Beschäftigung mit dem reichen kann es sinnvoll sein, mit der schlimms-
Kind wichtiger zu sein. ten oder einer der schlimmsten Erinnerungen zu
beginnen. Bei sehr instabilen Patientinnen kann
ein behutsameres, graduiertes Vorgehen sinnvoll
Sollte die Patientin nicht in der Lage sein, sein.
positive Gefühle gegenüber dem Kind zu er- Als Hausaufgabe zwischen den Sitzungen
leben und diese auszudrücken, ist es wichtig, werden die Patientinnen instruiert, sich den Kas-
dass sie die vorhandenen negativen Gefühle settenmitschnitt der Sitzungen täglich anzuhö-
(Ärger, Hass, Schuldvorwürfel gegenüber dem ren. Dabei ist es sinnvoll den Patientinnen zu er-
Kind aus nächster Nähe ausdrücken kann. läutern, dass der Fortschritt und der Erfolg der
Hilfreich kann dabei sein, die Patientin zu fra- Therapie von ihrer Bereitschaft abhängt, sich
gen, ob sie dem Kind direkt in die Augen se- über einen begrenzten Zeitraum den schmerzli-
hen kann, wenn sie die negativen Gefühle chen Erinnerungen zu stellen.
erlebt und gegenüber dem Kind ausdrückt. Ein weiterer Bestandteil der Behandlung ist
Dies leitet in der Regel eine von starken es, mit der Patientin neue Möglichkeiten des Um-
Gefühlen begleitete Neubewertung des Kin- gangs mit schwierigen Emotionen, die in der Zeit
des und seiner Situation ein. zwischen den Sitzungen zu erwarten sind, zu er-
arbeiten und zu erproben. Besonders bei Patien-
tinnen mit selbstverletzenden Verhaltensweisen
Sobald deutlich wird, dass die Erwachsene das
oder Suizidalität sind solche Strategien notwen-
Kind hinreichend unterstützt hat, wird diese Ima-
dig.
gination beendet. Danach wird die Bedeutung der
Das imaginierte Konfrontieren und Um-
Imagination besprochen und verarbeitet.
schreiben einer traumatischen Erinnerung wird
solange fortgesetzt, bis entweder die intrusiven
Erinnerungen bzw. Albträume verschwunden
sind oder diese Symptome nur noch in einem er-
träglichen Maße vorhanden sind. Bei mehrfach
180 Kapitel 9 · Behandlung erwachsener Opfer sexuellen Kindesmissbrauchs

traumatisierten Patientinnen wird das Vorgehen struktur festgelegt werden. Unterschieden wird
für jedes weitere traumatische Erlebnis wieder- zwischen offenen und geschlossenen Gruppen,
holt, bis eine deutliche Verbesserung der Sympto- die themenzentriert oder prozessorientiert arbei-
matik eingetreten ist. Vorhandene Generalisie- ten können.
rungserfahrungen bzw. funktionale Neubewer- Üblicherweise können 3 Phasen in der grup-
tungen sollten dabei exploriert und für das wei- pentherapeutischen Arbeit mit Opfern sexuellen
tere Vorgehen genutzt werden. Als weitere Metho- Kindesmissbrauchs unterschieden werden.
den bei der Verarbeitung des Missbrauchs wer-
den die Patientinnen angehalten, einen therapeu-
Durchführung der Gruppentherapie
tischen Brief an den Täter zu schreiben, ein trau-
matisches Erlebnis niederzuschreiben und gegen In der Einführungsphase liegt der Schwerpunkt
Ende der Behandlung einen »Followup-Brief« an auf der Schaffung einer sicheren und unter-
den Täter oder eine andere involvierte Person zu stützenden Umgebung sowie der Förderung von
verfassen. Vertrauen und Kohäsion innerhalb der Gruppe.
Hierzu werden von der Therapeutin bzw. dem
Therapeutenteam bestimmte Grundregeln vor-
gegeben (z. B. die Vertraulichkeit von allem, was
9.6.4 Gruppentherapie in der Gruppe gesagt wird) und positives Verhal-
ten durch Verstärkung und Modelllernen geför-
Es gibt eine Vielzahl von gruppentherapeutischen
dert. Weiter werden Informationen über sexuel-
Ansätzen für die Behandlung der Langzeitfolgen
len Kindesmissbrauch und seine langfristigen
sexuellen Kindesmissbrauchs (z. B. Abbott, 1995;
Auswirkungen auf die Opfer mit dem Ziel der
Knight, 1990; Sindair et al., 1995; Tsai & Wagner,
Normalisierung bzw. Depathologisierung der
1978).
Symptome und der Entkräftung allgemeiner My-
then über Missbrauch gegeben (vgl. Kap. 2).
Schließlich erzählt jede Teilnehmerio in der
Der wesentliche Vorteil einer Gruppentherapie Gruppe von ihrem Missbrauch, wobei sie dazu
gegenüber der Einzeltherapie besteht darin, ermutigt wird, Details einzuschließen und auch
dass durch den Erfahrungsaustausch mit Be- über ihre subjektiven Reaktionen zu sprechen.
troffenen an einem sicheren Ort und in einer Eine bestätigende Reaktion der anderen Grup-
unterstützenden Atmosphäre insbesondere penteilnehmerinnen ist hierbei besonders wich-
die Gefühle der Isolation, Stigmatisierung, des tig.
Andersseins und der Scham abgebaut werden In der mittleren Therapiephase steht zumeist
können. die themenzentrierte Arbeit im Vordergrund.
Hierbei werden die Auswirkungen des Miss-
Eine Reihe von Autoren empfehlen die parallele brauchs auf die Teilnehmerinnen und ihr Um-
Durchführung einer Einzeltherapie, da die gang mit den jeweiligen Problembereichen the-
Möglichkeiten in der Gruppentherapie begrenzt matisiert. Bearbeitete Themengebiete sind bei-
sind, mit einzelnen Teilnehmerinnen die für sie spielsweise Selbstwert, Sexualität, sexuelle Identi-
besonders relevanten Themen zu vertiefen (Ab- tät, Schuldgefühle, adäquate Maßnahmen sich zu
bott, 1995). schützen, die ambivalente Beziehung zum Täter
Vor Therapiebeginn muss die Therapeutin und der Herkunftsfamilie oder der Umgang mit
oder das Therapeutenteam eine Reihe von Ent- Ärger.
scheidungen treffen (vgl. Briere, 1989). Diese be- In der Abschlussphase werden Probleme und
treffen die Gruppenzusammensetzung, Aus- Ängste thematisiert, die in Zusammenhang mit
schlusskriterienund die Gruppengröße. Empfeh- dem Therapieende stehen, wie beispielsweise
lenswert ist eine Gruppengröße zwischen 5 und Ängste vor einer Symptomverschlimmerung nach
10 Teilnehmerinnen. Weiter muss die Anzahl Therapieende. Mit jeder Teilnehmerio wird ein
und Dauer der Sitzungen sowie die Gruppen- individueller Plan aufgestellt, ob und in welcher
9.7 · Die Borderline-Persönlichkeitsstörung 18 1 9
Form sie nach Beendigung der Gruppentherapie so zu der späteren Entwicklung eines solchen
an ihren Problemen weiterarbeiten möchte, wo- Störungsbildes beitragen.
hin sie sich im Krisenfall wenden kann etc. übli- Entsprechend geht Linehan (1994) in ihrer
cherweise beinhaltet die letzte Sitzung neben ei- biosozialen Verhaltenstheorie zur Entstehung
ner rückblickenden Bewertung des Therapiege- der Borderline-Persönlichkeitsstörung von einem
winns der einzelnen Teilnehmerinnen auch eine mehrfaktoriellen Ansatz im Sinne eines Diathese-
Form des zeremoniellen Abschlusses der gemein- Stress-Modells aus. Linehan zufolge werden Bor-
samen Arbeit. In manchen Gruppen werden in derline-Merkmale entwickelt, wenn Personen, de-
der letzten Sitzung auf Wunsch der Teilnehmerin- ren Vulnerabilität in einer biologisch begründe-
nen Telefonnummern ausgetauscht. ten defizitären Affektregulation besteht, auf eine
sog. invalidierende Umgebung treffen. Eine sol-
che Umgebung ist dadurch gekennzeichnet, dass
sie
9.7 Die Borderline-Persönlichkeits-
- emotionale - und hierbei besonders negative
störung
- Erfahrungen des vulnerablen Individuums
missachtet und
Das Hauptmerkmal der Borderline-Persönlich-
- Schwierigkeiten bei der Lösung von Proble-
keitsstörung ist ein durchgängiges Muster von
men herunterspielt.
Instabilität hinsichtlich des Selbstbildes, der zwi-
schenmenschlichen Beziehungen und der Stim-
Diese nichtunterstützenden Ursprungsfamilien
mung sowie eine starke Impulsivität, u. a. bezo-
tragen zu einer weiteren Entwicklung emotiona-
gen auf selbstschädigende Verhaltensweisen.
ler Fehlregulationen bei und versäumen es dem
Wiederholte Suiziddrohungen, Suizidversuche
Kind beizubringen, sich auf seine eigenen emo-
und Automutilation sind markante Symptome
tionalen Reaktionen als gültig und angemessen
des Störungsbildes. Sie können als Signale der
zu verlassen. Familien, in denen es zu sexuellem
Verzweiflung verstanden werden und als Reakti-
Kindesmissbrauch kommt, sind ein Beispiel für
on auf reales oder eingebildetes Verlassenwerden
invalidierende Ursprungsfamilien.
bzw. Zurückgewiesenwerden durch andere, was
als stark bedrohlich erlebt wird.

9.7.1 Behandlung der


Borderline-Persönlichkeitsstörung
Brieres (1989) Einschätzung nach ist die Bor-
derline-Persönlichkeitsstörung eine der am
Nachfolgend wird der Therapieansatz der dialek-
häufigsten vergebenen Diagnosen für psychi- tischen Verhaltenstherapie (Linehan, 1994) als
atrisch-stationäre Patientinnen mit schwer-
ein prominenter und aktueller Ansatz in der Be-
wiegender posttraumatischer Symptomatik
handlung von Borderline-Patientinnen vorgestellt
nach sexuellem Kindesmissbrauch.
(weiterführende Literatur bei Layden et al., 1993;
Linehan, 1993, 1994).
In der Tat belegt eine Reihe von Studien, dass ein Patientinnen mit einer Borderline-Persönlich-
hoher Prozentsatz der Patientinnen mit einer sol- keitsstörung neigen zu dichotomem, rigidem
chen Diagnose als Kind sexuell missbraucht wur- Denken und zeigen sich unfähig zu einer Synthe-
de (z.B. Bryer et al., 1987; Herman et al., 1989). se verschiedener relativierter Sichtweisen. Auf-
Die vorliegenden Untersuchungen lassen jedoch grund einer defizitären Affektregulation und ei-
nicht auf einen monokausalen Zusammenhang ner diese verstärkenden Lerngeschichte haben
zwischen sexuellem Kindesmissbrauch und einer sie Schwierigkeiten einzuschätzen, wann sie sich
späteren Borderline-Diagnose schließen. Andere auf ihre eigenen emotionalen Reaktionen als zu-
Variablen, z. B. Merkmale der Umwelt oder der treffend und angemessen verlassen können. Sie
Kind-Umwelt-Beziehung wie körperliche Miss- sind nicht in der Lage, ihre eigene Person in zwi-
handlung oder Vernachlässigung, könnten eben- schenmenschliche Beziehungen und Ereignis-
182 Kapitel 9 · Behandlung erwachsener Opfer sexuellen Kindesmissbrauchs

zusammenhänge einzuordnen und erleben sich - Manifeste Suizidgefährdung (parasuizidales


als sehr vulnerabel, wobei suizidales Verhalten Verhalten, Suizidgedanken und -pläne),
als Signal für Verzweiflung und als Reaktion auf Verhaltensweisen der Patientin oder der The-
Überforderung und vermeintliche Ablehnung rapeutin, die den Verlauf oder die Fortfüh-
durch andere verstanden werden kann. rung der Therapie erschweren (z. B. Stunden
Hieraus ergeben sich nach Linehan (1994) be- ausfallen lassen oder zu spät kommen),
sondere Anforderungen an das Therapeutinnen- - Vermeidungs- und Fluchtverhalten, das eine
verhalten. Diese bestehen insbesondere darin, ei- vernünftige Lebensführung gefährdet (z. B.
ne Synthese bzw. ein Gleichgewicht herzustellen Substanzmissbrauch oder kriminelles Verhal-
zwischen einer Reihe von Dimensionspolen ten),
(s. Übersicht). - Erwerb von Verhaltenskompetenzen (insbe-
sondere Stresstoleranz, Selbstkontrolle, Prob-
lemlösefähigkeiten, soziale Kompetenz oder
Zentrale Dimensionen in der Behand- emotionale Regulation) sowie
lung von Borderline-Patientinnen - andere Ziele der Patientin.
Akzeptanz versus Veränderungsstreben,
beharren auf einem »festen Standpunkt«
Literatur
und Acht geben auf das Einhalten von
Grenzen und Regeln versus »mitfühlende Abbott, B.R. (1995). Group therapy.ln C. (lassen & I.D. Yalom
Flexibilität«, wenn die Situation es erfor- (eds.), Treating women molested in childhood. San Fran-
dert, cisco: Jossey-Bass.
»wohlwollendes Fordern versus Versor- Bange, D. & Deegener, G. (1996). Sexueller Missbrauch an Kin-
gung«, wobei ein Mittelweg zwischen dern. Ausmaß, Hintergründe, Folgen. Weinheim: Beltz/
unnötiger Hilfestellung und notwendiger Psychologie Verlags Union.
Bayatpour, M., Wells, R. D. & Holford, S. (1992). Physical and sex-
Versorgung gefunden werden muss und ual abuse as predictors of substance use and suicide
ausgewogenes Reagieren auf »aktive Pas- among pregnant teenagers. Journal of Adolescent
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»Aktive Passivität« bezeichnet die Tendenz der Becker, J. V. (1989). Impact of sexual abuse on sexual function-
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Patientinnen, bei auftretenden Problemen hilflos practice of sex therapy: Update for the 1990 s. New York:
zu reagieren und eine Lösung von der Umwelt zu Guilford.
fordern. »Scheinbare Kompetenz« dagegen be- Beitchman, J. H., Zucker, K. J., Hood, J. E., DaCosta, G. A., Akman,
deutet, dass Borderline-Patientinnen häufig einen D. & Cassavia, E. (1992). Areview of the long-term effects
täuschend kompetenten Eindruck machen, wobei of child sexual abuse. Child Abuse and Neglect, 16, 101-
118.
ihre Bewältigungsfähigkeiten jedoch nicht stabil Bolton, F. G., Morris, L. A. & MacEachron, A.E. (1989). Males at
sind. Zusammenfassend ist es Aufgabe der Thera- risk: The other side of child sexual abuse. Newbury Park:
peutin, sowohl die Fähigkeiten als auch die Defi- Sage Publications.
zite der Patientin zu erkennen und ihnen gerecht Boudewyn, A.C. & Liem, J.H. (1995). Childhood sexual abuse
as a precursor to depression and self-destructive behavior
zu werden, wobei akzeptierend-versorgende wie
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auch änderungsorientierte Strategien flexibel zu Breitenbecher, K.H. (2001). Sexual revictimization among
integrieren sind. women: a review of the Iiterature focusing on empirical
Die Schwerpunkte der therapeutischen Inter- investigations. Aggression and Violent Behavior, 6, 415-
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9
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10

J. Bengel

10.1 Akute Belastungsstörung - 187

10.2 Diagnostik und Indikation - 188

10.3 Primäre Prävention - 189

10.4 Allgemeine Maßnahmen - 190

10.5 Psychologische Fr .. hinterventionen - 192


10.5.1 Psychologisches Debriefing - 192
10.5.2 Kognitiv-behaviorale Frühintervention - 196
10.5.3 »Eye Movement Desensitization and Reprocessing«
als Frühintervention - 197
10.5.4 Weitere Verfahren - 199

10.6 Organisierte Nachsorge - 199

10.7 Ausblick - 200

Literatur - 200
186 Kapitel 10 · Notfallpsychologische Interventionen bei akuter Belastungsstörung

Das Erleben eines Notfalls, einer Katastrophe, ei- nahmen zur Verhinderung der Exposition (s.
ner Gewalttat oder eines Anschlags ist immer mit Abschn. 10.3), während die sekundäre Prävention
einer psychischen Belastung, in vielen Fällen mit - oder Frühintervention - unmittelbar nach der
einer psychischen Traumatisierung verbunden. Exposition ansetzt und eine Verschlechterung
Diese Belastung oder Traumatisierung kann sich oder ein Wiederauftreten der Symptome verhin-
in einer akuten Belastungsstörung sowie mittel- dern soll. Die tertiäre Prävention überschneidet
und langfristig in einer chronischen Belastungs- sich mit therapeutischen Maßnahmen bei chro-
störung äußern. Die Prävalenz posttraumatischer nischen Beschwerden (Neria & Solomon, 1999)
Belastungsstörungen (PTB) bei Notfall- und Ka- und soll hier nicht weiter betrachtet werden.
tastrophenopfern, die Erfahrungen bei Großscha- Mit »psychologischen Frühinterventionen«
densereignissen sowie das zunehmende Wissen werden psychologisch fundierte Maßnahmen be-
über die Risikofaktoren einer posttraumatischen zeichnet, die jedoch nicht notwendigerweise von
Belastungsstörung und ihren Verlauf haben die Psychologen und Psychiatern durchgeführt wer-
Aufmerksamkeit auf früh einsetzende psycho- den. Derzeit wird die notfallpsychologische Ver-
logische Versorgungsangebote bei potenziell sorgung zu einem erheblichen Anteil von ver-
traumatischen Ereignissen gerichtet (Bengel, schiedenen Berufsgruppen mit unterschiedlich
1997; Hobfoll & Vries, 1995). Dabei wird davon fundierten Aus- und Weiterbildungen angeboten
ausgegangen, dass eine frühe psychologische Hil- (vgl. z.B. Fertig & Wietersheim, 1997).
feleistung die langfristigen psychischen Folgen
einer Traumatisierung mildern oder verhindern
kann (Peterson et al., 1991).
Die Frage nach der notwendigen Kompetenz
Die Terminologie für diese Interventionen ist
zur Durchführung einer Frühintervention kann
uneinheitlich und verwirrend: Begriffe wie se-
nur in Abhängigkeit von der Zielgruppe und
kundäre Prävention, Frühintervention, notfall-
den spezifischen Methoden beantwortet
psychologische Maßnahmen, psychologische
werden; sie besitzt zentrale Bedeutung für die
Nachsorge, psychologische Nachbereitung, psy-
Qualitätssicherung der psychotraumatologi-
chosoziale Versorgung und Psychische Erste Hilfe
schen Versorgung.
werden verwendet. Die Bezeichnung »psychologi-
sche Interventionen bei Personen nach traumati-
schen Erfahrungen« erreicht keine Abgrenzung Der Forschungsstand zu Frühinterventionen ist
von mittel- und langfristigen Maßnahmen. noch gering. Lehrbücher der Psychotraumatolo-
gie, der Klinischen Psychologie, der Psychothera-
pie sowie der Psychiatrie gehen kaum oder nur
am Rande auf die Frage einer Prävention bzw. ei-
Im Folgenden wird von psychologischen
ner frühen Intervention nach einer Traumaerfah-
Frühinterventionen oder gleichbedeutend von
rung ein. Für die wenigen existierenden Konzepte
notfallpsychologischen Interventionen ge-
liegen keine Indikationskriterien vor und sie sind
sprochen. Zur Abgrenzung gegenüber mittel-
hinsichtlich ihrer Wirksamkeit nicht ausrei-
und langfristigen Maßnahmen bietet sich das
chend, teilweise auch negativ evaluiert (s.
Zeitkriterium bei der Diagnose der Belas-
Abschn. 10.5; vgl. Schützwohl, 2000; Litz et al.,
tungsstörungen an: Alle Maßnahmen, die in-
nerhalb der ersten 4 Wochen nach dem trau- 2003, in Druck). Dieser hohe Forschungsbedarf
matischen Ereignis erfolgen, sind danach geht einher mit einem hohen Handlungsdruck
Frühinterventionen. bei Katastrophen auf Seiten der verantwortlichen
staatlichen Einrichtungen und Hilfsorganisatio-
nen. Nicht nur die Öffentlichkeit und die Medien
Der Begriff Frühintervention passt zu der von sind für das Thema der frühen und unmittel-
Caplan {1964) eingeführten Systematik der pri- baren Versorgung der Opfer sensibilisiert, auch
mären, sekundären und tertiären Prävention. die Frage der Krankheitskosten und der Fürsor-
Die primäre Prävention bezeichnet dabei Maß- gepflicht für spezifische Personengruppen, wie
10.1 · Akute Belastungsstö rung 1B7 10
z. B. Risikogruppen oder Einsatzkräfte, hat zu ei-
griff der Störung und spricht von einer akuten
ner wachsenden Bedeutung von psychologischen
Belastungsreaktion (F 43.0), die innerhalb we-
Hilfeleistungen insgesamt und Frühinterventio-
niger Minuten auftritt und bei einem psy-
nen im Besonderen geführt.
chisch nicht manifest gestörten Menschen in-
Dieses Kapitel geht auf verschiedene Aspekte
nerha lb von Stunden oder Tagen abklingt
der Diagnostik und Behandlung einer akuten Be-
(Dilling et al., 1993).
lastungsstörung ein:
- Zunächst werden die Merkmale einer akuten
Belastungsstörung beschrieben (Abschn. Die Bezeichnung »Reaktion« im ICD-10 soll da-
10.1); rauf hinweisen, dass es sich (zunächst noch)
- es folgen überlegungen zur psychologischen um eine normale physiologische bzw. psychologi-
Diagnostik und zu den Indikationskriterien sche Reaktion auf das traumatische Ereignis han-
für eine frühe Intervention (Abschn. 10.2); delt. Umgangssprachlich benutzte Bezeichnungen
- im Anschluss daran wird auf das noch nicht sind psychischer Schockzustand, Krisenzustand
ausgeschöpfte Potenzial einer primären Prä- oder akute Krisenreaktion.
vention von posttraumatischen Belastungs- Für die Diagnose einer akuten Belastungs-
störungen und psychischen Traumafolgen störung sind neben dem Zeitkriterium das Krite-
hingewiesen (Abschn. 10.3); rium des Stressors und die Symptome des Wie-
- Ansätze und Strategien notfallpsychologi- dererlebens, der Vermeidung und der Angst bzw.
scher Interventionen werden in allgemeine des erhöhten Arousals notwendig (s. Kriterien für
Maßnahmen (Abschn. 10.4) und spezifische die posttraumatische Belastungsstörung, Kap. 1).
Konzepte (Abschn. 10.5) unterteilt; Zusätzlich wird für die akute Belastungsstörung
- in Abschn. 10.6 wird auf die Notwendigkeit, gefordert, dass die Person während oder nach
die einzelnen Maßnahmen in ein Gesamtkon- dem extrem belastenden Ereignis mindestens 3
zept der Versorgung von Traumaopfern zu in- dissoziative Symptome zeigt (s. Übersicht).
tegrieren, hingewiesen;
zum Ende wird ein Ausblick auf notwendige
Forschungsaktivitäten und den unmittelbaren Dissoziative Symptome, von denen
Handlungsbedarf gegeben (Abschn. 10.7). mindestens 3 bei einer akuten Belas-
tungsstörung auftreten müssen
Subjektives Gefühl von emotionaler
10.1 Akute Belastungsstörung Taubheit, von Losgelöstsein oder Fehlen
emotionaler Reaktionsfähigkeit,
Die Diagnoseeinheit »Akute Belastungsstörung« Beeinträchtigung der bewussten Wahr-
(»Acute Stress Disorder«, ASD, dt. ABS) wurde nehmung der Umwelt (z. B. »wie betäubt
1994 in das amerikanische Klassifikationssystem sein«),
psychischer Störungen aufgenommen (DSM-IV, Derealisationserleben,
American Psychiatrie Association, 1994). Depersonalisationserieben oder
dissoziative Amnesie (z. B. Unfähigkeit, sich
an einen wichtigen Aspekt des Traumas zu
erinnern).
Nach DSM-IV wird eine akute Belastungs-
störung diagnostiziert, wenn nach einer Dauer
von mindestens 2 Tagen und höchstens 4
Wochen nach einem traumatischen Ereignis Ausgeschlossen werden muss, dass die Symptome
Symptome einer Belastungsstörung auftreten. auf die Wirkung einer Substanz (z. B. Droge, Me-
Das Klassifikationssystem der Weltgesund- dikament) oder auf einen medizinischen Krank-
heitsorganisation (ICD-1 0) vermeidet den Be- heitsfaktor zurückgehen. Ebenso dürfen die
Symptome nicht besser durch eine kurze psycho-
tische Störung erklärt werden und sich nicht auf
188 Kapitel 10 · Notfall psychologische Interventionen bei akuter Belastungsstörung

die Verschlechterung einer bereits vorher beste- Kap. 3) erfassen zwar Anpassungs- und Belas-
henden Achse I- oder Achse II-Störung (vgl. tungsstörungen, konzentrieren sich jedoch auf
DSM-IV; American Psychiatrie Association, die posttraumatische Belastungsstörung. Eine ak-
1994) beschränken. tuelle Übersicht über die Erhebungsinstrumente
findet sich bei Antony & Barlow (2002). Zu er-
wähnen ist, dass aufgrund der hohen Zahl von
Diagnostisch abzugrenzen sind neben den Betroffenen bei Großschadenslagen eine umfas-
posttraumatischen Belastungsstörungen sende und fachlich adäquate Diagnostik in der
(chronisch, Zeitdauer): Regel nur sehr schwer zu realisieren ist. Inzwi-
Anpassungsstörungen: Auftreten von schen gibt es Bemühungen zur Entwicklung von
Symptomen nach einem kritischen Screeninginstrumenten zur Identifizierung von
Lebensereignis oder nach einer Lebens- Risikopatienten (z. B. Stieglitz et al., 2002).
veränderung, Beginn nicht notwendiger-
weise direkt nach dem Ereignis, depressive
Symptome im Vordergrund und
Die akute Belastungsstörung gilt als Risiko-
kurzdauernde depressive Reaktionen.
faktor für die Entwicklung einer posttrauma-
tischen Belastungsstörung (Bremner et al.,
Nach dem Schweregrad lässt sich eine leichte von 1992; Harvey & Bryant, 1999; Marmar et al.,
einer schweren akuten Belastungsstörung unter- 1994). Daher ist ihre Diagnose wichtig für die
scheiden. differenzielle Zuweisung von therapeutischen
Die Einführung der Kategorie einer akuten Maßnahmen.
Belastungsstörung war vor allem auch wegen
der Assoziation zur posttraumatischen Belas- Für jede psychologische Intervention ist eine em-
tungsstörung klinisch sinnvoll. Es sind jedoch pirisch fundierte und fachlich begründete Indi-
noch viele Fragen zum Störungsbild insgesamt, kationsstellung notwendig. Für die psychologi-
zu den diagnostischen Kriterien und zur zeitli- sche Versorgung von Traumaopfern stellen sich
chen Dauer offen (s. Bryant & Harvey, 1997). folgende Fragen:
- Welche Art von psychologischer Intervention
10.2 Diagnostik und Indikation soll bei welchen Schadenslagen für welche
Personen vorgehalten werden?
Die Diagnostik einer akuten Belastungsstörung - Lassen sich Indikatoren für eine frühe psy-
kann über Anamnese und Exploration, Fragebo- chologische Versorgung benennen?
genverfahren und standardisierte klinische Inter- - Sind negative Auswirkungen einer Frühinter-
views erfolgen. Der Stanford Acute Stress Reac- vention zu befürchten?
tion Questionnaire (SASRQ; Cardena et al., 2000)
wurde speziell zur Erfassung der frühen Belas- Der derzeitige Forschungsstand lässt eine Beant-
tungsfolgen entwickelt. Auch die Impact of Event- wortung dieser Fragen kaum zu. Die Orientie-
Skala (dt. Ferring & Filipp, 1994; revidierte dt. rung am Vorliegen einer akuten Belastungs-
Form Maercker & Schützwohl, 1998; vgl. Kap. störung ist schwierig, da ihre Variabilität im zeit-
3) gibt diagnostische Hinweise, erfasst allerdings lichen Verlauf sehr groß ist. Die meisten Trauma-
nicht die dissoziativen Symptome. Weitere Ver- opfer entwickeln in den ersten Tagen und Wo-
fahren wie die SCL-90-R (Franke, 1995) können chen Symptome einer Belastungsstörung, die
ebenfalls Hinweise über das allgemeine Belas- sich jedoch bei den meisten Personen innerhalb
tungsausmaß geben. Die gängigen Interviewleit- der ersten 2-3 Monate zurückbilden. Mittel-
faden wie das Strukturierte Klinische Interview und langfristige Traumafolgen sind auch ohne
für DSM-IV (SKID; Wittchen et al., 1997; vgl. Kap. vorhergehende klinische Symptome denkbar.
3) und das Diagnostische Interview bei psychi- Möglicherweise bilden auch die derzeitigen
schen Störungen (DIPS; Margraf et al., 1994; vgl. Diagnosekriterien nicht die Vielfalt und die inter-
10.3 · Primäre Prävention 189 10
individuelle Varianz der Reaktionen während Neben den Symptomen einer akuten Belastungs-
und nach einem kritischen bzw. traumatischen störung sind
Ereignis ab: Die akute Belastungsstörung ist auf - vermeidende Bewältigungsstrategien,
dissoziative Symptome ausgerichtet und vernach- - frühere traumatische Erfahrungen und
lässigt u. a. Angstsymptome, depressive Reaktio- - geringe soziale Unterstützung
nen und Probleme im Sozialkontakt. Auch Sub-
stanzmissbrauch, aggressives Verhalten und ver- wichtige Indikationskriterien für eine frühe In-
schiedene funktionelle Beschwerden können eine tervention. Die aktuelle kognitive Verarbeitung
frühe Traumafolge sein. Aus diesen Gründen (Traumainterpretation), z. B. die Schwere der
müssen neben der akuten Belastungsstörung wahrgenommenen Bedrohung und Schuld-
mögliche weitere Indikationskriterien für eine zuschreibung auf die eigene Person, ist ebenso
Frühintervention diskutiert werden: zu berücksichtigen.

Mögliche weitere Indikationskriterien 10.3 Primäre Prävention


einer akuten Belastungsstörung
Ereignisfaktoren: Art des Traumas (Typ I Primäre Prävention meint im Folgenden Maß-
oder II; vgl. Kap. 1), Schwere des Traumas, nahmen zur psychologischen Vorbereitung auf
peritraumatische Situation: Dissoziation, mögliche traumatische Ereignisse. Die primäre
Kontrollverlust, Angst und Hilflosigkeit, Prävention einer posttraumatischen Belastungs-
Isolation, wahrgenommene Todesbedro- störung und weiterer Traumafolgen kann in be-
hung, grenztem Umfang bei bestimmten Risikogruppen
Zielgruppen: Opfer, Angehörige, Augen- und bei größeren Schadensfällen erfolgen. Da die
zeugen, Einsatzkräfte und Helfer, Möglichkeiten einer primären Prävention noch
Risikofaktoren bzw. fehlende Schutzfak- wenig beachtet und ausgeschöpft werden, sollen
toren: Belastende Lebensereignisse vor sie hier behandelt und denen der Frühinterventi-
dem Trauma bzw. frühere Traumaerfah- on vorangestellt werden. Die möglichen Maßnah-
rungen, vorbestehende psychische Belas- men lassen sich in die folgende Systematik brin-
tungen oder Störungen, aktuelle Sympto- gen:
me, Schuldzuschreibung, Kontrollierbar- - Vorbereitung und Ausbildung,
keit, Bewältigungsstrategien, Umfeld und - Kontrolle der Exposition sowie
soziale Ressourcen, Alter, negative Zu- - strukturelle Maßnahmen (s. a. O'Brien, 1998;
kunftserwartungen (s. Kap. 1; McFarlane & Sorenson, 2002).
Potts, 1999).

Vorbereitung und Ausbildung

Grundsätzlich kann gelten, dass direkte Betrof- Psychologische Maßnahmen zur Vorbereitung
fenheit und schwere Traumen immer eine Indika- auf das Erleben traumatischer Situationen sind
tion für eine frühe Intervention darstellen. Je- insbesondere für Berufsgruppen mit erhöhtem
doch darf nicht von einer direkten Proportionali- Risiko wie z. B. Soldaten, Polizisten, Feuerwehr-
tät zwischen Traumaschwere und Interventions- leute, Rettungsassistenten oder Lokführer sinn-
bedarf ausgegangen werden. voll. Zu den vorbereitenden Maßnahmen zählen:
- Die kognitive Vorbereitung auf bestimmte
Einsätze,
Eine akute Belastungsstörung führt nicht - die Simulation von Gefahren- und Notfall-
notwendigerweise zu einer posttraumatischen situationen,
Belastungsstörung, erhöht jedoch deren - die Automatisierung von Abläufen und
Wahrscheinlichkeit. - Stressbewältigungstrainings.
190 Kapitel 10 · Notfallpsychologische Interventionen bei akuter Belastungsstörung

Aber auch allgemeine und unspezifische Maß-


nahmen wie z. B. Steigerung der Arbeitszufrie- Prinzipien zur Frühintervention bzw.
denheit, adäquate Ernährung, Kontrolle des Al- Prävention von Belastungsfolgen
koholkonsums und körperliche Fitness können Schutz und Sicherheit geben und aktuelle
die Bewältigung von Traumaerfahrungen unter- Bedürfnisse befriedigen,
stützen (s. Bengel & Singer, 1997; North et al., dosiert und annehmbar über die Ereig-
2002). nisse informieren und Möglichkeit zum
Austausch anbieten,
über mögliche Belastungsfolgen und Be-
Kontrolle der Exposition
wältigungsstrategien informieren,
Die Kontrolle der Exposition bezieht sich auf Per- soziales Netz aktivieren und Zugang zu
sonengruppen, die von einer potenziell traumati- professioneller Versorgung ermöglichen.
sierenden Situation ferngehalten werden können.
Dies betrifft in erster Linie Zuschauer von Unfäl-
len oder größeren Schadenslagen. Der Anblick Die im Folgenden beschriebenen Maßnahmen ei-
von potenziell traumatisierenden Szenen, wie ner frühen Intervention basieren auf diesen Prin-
Verletzungen mit Verstümmelungen oder starken zipien. Sie sind unstrittig und gehören zum Stan-
Verbrennungen, sollte so weit wie möglich ver- dard klinisch-psychologischer und psychiatri-
mieden werden. Zur Kontrolle der Exposition scher Versorgung. Es ist jedoch nicht belegt, dass
kann auch die Selektion vulnerabler Personen ge- mit diesen Maßnahmen das Auftreten posttrau-
zählt werden. Danach sollten z.B. Helfer mit Risi- matischer Belastungsstörungen verhindert wer-
kofaktoren nicht für potenziell belastende Einsät- den kann. Auch wenn zwischen den Prinzipien
ze eingeteilt werden. der Krisenintervention, der Psycheedukation
und der Psychischen Ersten Hilfe Überschnei-
dungen bestehen, sollen sie hier getrennt abge-
Strukturelle Maßnahmen handelt werden.
Die Prävention von Verkehrsunfällen durch Ver-
besserung der Verkehrsführung und der Fahr-
zeugsicherheit oder die Verbesserung der Krisenintervention und Psychoedukation
Frühwarnsysteme bei Erdbeben, Stürmen oder Die Grundprinzipien der Krisenintervention sind
Flutwellen zählen zu den strukturellen Maßnah- die ereignisnahe Versorgung und die Mobilisie-
men. Programme zur Gewaltprävention im kom- rung aller verfügbaren Ressourcen. Der Fokus
munalen Bereich können ebenfalls primärprä- liegt auf der aktuellen Situation. Ziel der Maß-
ventiv wirken. nahmen ist es, Sicherheit und Schutz, Kontrolle
und Vorhersagbarkeit zu vermitteln. Die aktuell
verfügbaren Bewältigungsmöglichkeiten und die
10.4 Allgemeine Maßnahmen sozialen Ressourcen werden aktiviert, die Betrof-
fenen erhalten Information und Aufklärung über
Die allgemeinen Maßnahmen nach Traumaerfah- die Belastungsfolgen.
rung beruhen auf Prinzipien der Kriseninterven-
tion und der präventiven psychiatrischen Inter-
ventionen nach Caplan (1964). Die z. Z. diskutier-
Die zentrale Botschaft lautet, dass die erlebten
ten und empfohlenen allgemeinen Maßnahmen
Reaktionen eine normale Folge einer abnor-
zur frühen Intervention und zur Prävention mit-
men bzw. außergewöhnlichen Situation sind.
tel- und langfristiger Belastungsfolgen beruhen
auf den nachfolgenden Prinzipien:
Unmittelbar nach einer traumatischen Erfahrung
stehen also stabilisierende Maßnahmen wie Ver-
mitteln von Sicherheit, Hilfe bei der Orientie-
10.4 . Allgemeine Maßnahmen 191 10
rung, Befriedigung von Grundbedürfnissen,
Raum für Ausdruck von Gefühlen, Informations- Basisregeln für Laienhelfer am Unfallort
gabe und soziale Unterstützung im Vordergrund. (aus Lasogga & Gasch, 1997, S. 72)
Dies entspricht dem Vorgehen, wie es bei psychi-
Sage, dass du da bist und etwas geschieht!
schen Krisensituationen generell angezeigt ist (s.
Schirme den Verletzten vor Zuschauern
Übersicht).
ab!
Suche vorsichtigen Körperkontakt!
Sprich und höre zul
Therapeutische Maßnahmen
in der Frühintervention Regeln für professionelle Helfer (u.a. Ret-
tungspersonall am Unfallort
Der Therapeut bzw. die helfende Person
Verschaffen Sie sich einen Überblick!
gibt die Struktur vor, reagiert ruhig und
Sagen Sie, wer Sie sind und dass etwas
einfühlsam auf die Schilderungen des Be-
geschieht!
troffenen.
Halten Sie vorsichtigen Körperkontakt!
Eventuell auftretende Schuldgefühle wer-
Kompetenz im fachlichen Bereich beru-
den besprochen, eine Konfrontation mit
higt!
dem Erlebten wird jedoch weder visuell
Geben Sie Informationen über die einge-
noch verbal erzwungen.
leiteten Maßnahmen!
Es erfolgt eine verständliche und dosierte
Hören Sie »aktiv« zu, wenn der Betroffene
Aufklärung bzw. Information über Trau-
spricht!
mafolgen, mögliche Symptome, Hilfs-
Halten Sie das Gespräch mit dem Betrof-
angebote, weiterführende Versorgung so-
fenen aufrecht! Reden Sie von sich aus,
wie über mögliche weitere Auswirkungen
auch wenn der Betroffene nicht spricht!
und Konsequenzen: Welche Reaktionen
Schirmen Sie den Verletzten vor Zuschau-
sind nach einer traumatischen Erfahrung
ern ab!
zu erwarten? Wie können sich Betroffene
Erklären Sie dem Verletzten, wenn Sie ihn
helfen, wie können sie die Erfahrung ver-
verlassen müssen, und sorgen Sie für
arbeiten? Wie können Familie und Freun-
psychischen »Ersatz«!
de helfen?
Beachten Sie die Angehörigen!

Das Ziel dieser Maßnahmen ist, dem Betroffenen


einen Perspektivenwechsel vom ))hilflosen Opfer« Ergänzend ist zu empfehlen, Zeitangaben über
zum aktiven Bewältiger zu vermitteln. Die Infor- die Art und die Dauer der eingeleiteten Maßnah-
mationen können einzelnen Personen oder auch men zu machen und eigene Kontrolle durch die
Gruppen vermittelt werden. Wichtig ist, dass Übertragung von kleineren Aufgaben zu vermit-
auch die Partner und die Angehörigen in die In- teln.
formationsvermittlung einbezogen werden. Wie Diese Regeln sind aus der supportiven Psy-
in der psychotherapeutischen Betreuung kommt chotherapie abgeleitet. Wesentliche Merkmale
dem Erstkontakt mit der traumatisierten Person sind die emotionale Präsenz, das Zulassen von
besondere Bedeutung zu (s. Kap. 2). Gefühlen und die Vermittlung von Sicherheit.
Die Anwendung dieser Regeln soll die Situation
strukturieren und den Opfern Halt geben.
Die Regeln sollen Einsatzkräften, wie z. B.
Psychische Erste Hilfe
Feuerwehr und Rettungsdienst, helfen und ihnen
Auf der Basis von Interviews mit Einsatzkräften Sicherheit geben, wie sie neben der Bergung und
und Unfallopfern haben Lasogga & Gasch (1997, der medizinischen Hilfe mit Betroffenen umge-
2000) Regeln für die sog. Psychische Erste Hilfe hen sollen. Die Regeln sind insbesondere für
bei Unfallopfern vorgelegt. die Erstbetreuung von Unfallopfern geeignet
192 Kapitel 10 · Notfallpsychologische Interventionen bei akuter Belastungsstörung

und nicht spezifisch für die Prävention von post- lung bzw. Nichtversorgung traumatisierter Per-
traumatischen Belastungsstörungen. sonen ethisch sehr problematisch ist. Dies ist
Psychische Erste Hilfe und Psychoedukation ein Grund, warum bisher erst wenige methodisch
sollten Einzelpersonen sowie kleineren und adäquate Studien vorliegen. Hinzu kommt, dass
größeren Gruppen unabhängig von der wahr- sich die meisten Effektstudien nicht auf eine
genommenen oder diagnostizierten Belastung Frühintervention, sondern auf die Behandlung
nach einem traumatischen Ereignis angeboten der posttraumatischen Belastungsstörung kon-
werden. Da dies jedoch entscheidend von den zentrieren, und dass die Traumen oft mehrere
personellen Kapazitäten abhängt, ist gerade bei Jahre zurück liegen.
Großschadensereignissen die Identifizierung
von Hochrisikopersonen sinnvoll und notwendig.
Auch wenn der Forschungsstand noch keine ein-
10.5.1 Psychologisches Debriefing
deutigen Kriterien vorschlägt, so sind neben der
Diagnose einer akuten Belastungsstörung die ge-
Das psychologische Debriefing (PD, im Folgen-
nannten Risikofaktoren (s. Abschn. 10.2) zu
den auch als Debriefing bezeichnet) hat seinen
berücksichtigen. Im Falle von personellen Eng-
Ursprung im militärischen Bereich. Soldaten im
pässen sind vorrangig diejenigen Personen zu
ersten und zweiten Weltkrieg wurden zeitnah
versorgen, die nicht in ein stabiles soziales Netz
psychologisch beraten, um ihre Gefechtsbereit-
entlassen werden können.
schaft zu erhalten (vgl. Kap. 13).
Die in diesem Abschnitt vorgestellten Prinzi-
Gegenstand des Debriefings ist das belastende
pien und Empfehlungen sind - wie erwähnt -
Ereignis, die traumatische Erfahrung. Die Teil-
nicht empirisch validiert. Es ist jedoch anzuneh-
nehmer werden ermutigt und angeleitet, über ih-
men, dass sie dazu beitragen können, die Bewäl-
re persönlichen Erlebnisse und Erfahrungen zu
tigungsmöglichkeiten der Betroffenen zu verbes-
berichten (vgl. Abschn. 10.5.2; s. a. Kap. 13).
sern und eine soziale Unterstützung zu aktivie-
Das ursprünglich für Gruppen entwickelte Kon-
ren. Im Kontext von Großschadenslagen kommt
zept ist auch im Einzelsetting möglich (Conlon
solchen Maßnahmen eine wesentliche Bedeutung
et al., 1999; Hobbs & Adheads, 1997). PD ist heute
zu, da sie zu einem großen Teil auch von psycho-
eine häufig angewandte Intervention nach kriti-
logischen Laienhelfern durchgeführt werden
schen und traumatischen Ereignissen (Dyregrov,
können.
1989; Mitchell & Everly, 2001; Raphael, 1986; Ra-
phael & Wilson, 2000).

10.5 Psychologische Frühinterventionen

Die beschriebenen allgemeinen und unter- Konzept und Vorgehen


stützenden Maßnahmen sind sinnvoll und not- Das Debriefing wird in einer Sitzung zeitnah zum
wendig, werden jedoch als nicht ausreichend ein- Ereignis durchgeführt (im ursprünglichen Kon-
geschätzt (Bryant et al., 1998; Kilpatrick & Vero- zept innerhalb von 24-72 Stunden).
nen, 1984; Raphael & Wilson, 2000). Im Folgen-
den werden 3 differenzierte und erprobte Frühin-
terventionen vorgestellt. Die Darstellung geht je- Das psychologische Debriefing umfasst die
weils auf das Konzept und die Evaluation der Me- Rekonstruktion der Erfahrungen auf der Fak-
thode ein. Die einzelnen Elemente und Vor- ten-, Kognitions- und Emotionsebene, die
gehensweisen werden jedoch nur kurz beschrie- Psychoedukation über Traumafolgen und Be-
ben, da sie auch Thema in anderen Kapiteln handlungsstrategien, die Aktivierung von
dieses Buches sind. Zur Evaluation sei generell Ressourcen und Bewältigungsstrategien sowie
angemerkt, dass randomisierte Studien zur Wirk- die Sicherung der mittel- und langfristigen
sarnkeitsprüfung von Frühinterventionen drin- Versorgung.
gend notwendig sind, jedoch eine Nichtbehand-
10.5 · Psychologische Frühinterventionen 193 10
Der Debriefingprozess ist standardisiert und Eine Debriefinggruppe kann aus 4-30 Teil-
strukturiert; es werden zumeist 6 Phasen durch- nehmern bestehen. Im Gruppensetting wird der
laufen (Curtis, 1995; Dyregov, 1989; Dyregov, Prozess wie in einer Gruppenpsychotherapie
1997; Mitchell, 1983; s. Übersicht). durch den Austausch gemeinsamer Erfahrungen
verstärkt. Oft wird auf schon bestehende Grup-
pen zurückgegriffen, wodurch die vorhandenen
Die 6 Phasen des Debriefingprozesses Ressourcen einer Gruppe genutzt werden
Einführung, Zielsetzung und Ablauf, können. Dem steht das Risiko des Gruppen-
Bericht über die Fakten (Ablauf der Ereig- drucks entgegen, indem Teilnehmer gezwungen
nisse), werden können, sich zu früh mit traumatischen
Bericht über Gedanken und Eindrücke Erfahrungen erneut zu konfrontieren. Je nach
(Fokus auf die wichtigsten Gedanken), Gruppengröße dauert das Debriefing 2-3 Stun-
Bericht über Reaktionen, Gefühle und den; die direkte Nähe zum Ort des Geschehens
Symptome (schlimmster Moment, peri- ist zu vermeiden. Eine ruhige und störungsfreie
und posttraumatische Belastungsreaktio- Atmosphäre ist selbstverständlich notwendig.
nen), Die Intervention ist nach Abschluss der Grup-
Vermittlung von Informationen und Be- pensitzung beendet, eine Nachbetreuung bzw. ei-
wältigungsstrategien, ne Anschlussversorgung wird jedoch in der Regel
Abschluss der Sitzung und Mög lichkeiten angeboten. Die diagnostische Aufgabe setzt eben-
der Weiterversorgung. so wie die Gruppenleitung klinisch-psychologi-
sche Kompetenz beim Gruppenleiter voraus
(Armstrong et al., 1991; Hermanutz & Fiedler,
Die Teilnehmer können ihre Erfahrungen in ei-
1997; Wollmann, 1993).
nem geschützten Raum und in einem strukturier-
Debriefing ist als ein kurz dauernder und ein-
ten Prozess äußern. Das Erinnern und Bespre-
maliger Prozess von einer psychotherapeutischen
chen der emotionalen und kognitiven Reaktionen
Intervention und von anderen langfristigen Be-
auf das kritische Ereignis sollen zur Entlastung
handlungskonzepten abzugrenzen. Es wird unter-
und zur Erleichterung bei den Teilnehmern
stellt, dass ein formaler Debriefingprozess (stan-
führen.
dardisierte Nachbesprechung der Ereignisse)
dem »natural debriefing«, d. h. dem entlastenden
Gespräch und Austausch mit dem Partner, der
Die Phase, in der die Teilnehmer über ihre
Familie und anderen wichtigen Bezugspersonen,
Gefühle und Reaktionen berichten, ist die
überlegen ist (Ursano et al., 2000). Hinzu kommt,
wichtigste und intensivste Phase. Dyregov
dass der Betroffene das natürliche Debriefing ak-
(1997) nimmt an, dass vor allem diese Phase
tiv und selbständig sucht, was möglicherweise
Symptome der Belastungsstörung (Intrusio-
eher dem Verlauf der posttraumatischen Reakti-
nen, Übererregung, Vermeidungsverhalten)
on entspricht.
reduzieren und zu einer Normalisierung und
Basierend auf den oben genannten Grund-
Bewältigung beitragen kann.
prinzipien gibt es inzwischen eine große konzep-
tuelle Vielfalt und deutliche Unterschiede im kon-
Die Informationsvermittlung soll zur kognitiven kreten Vorgehen (s. McCammon & Allison, 1995;
Reorganisation und Vermeidung von Fehlinter- Raphael & Wilson, 2000). Welche der verschiede-
pretationen beitragen sowie das Gefühl des Kon- nen Versionen des Debriefings angewandt wird,
trollverlustes reduzieren. Die akuten psychischen ist durch verschiedene Faktoren wie z. B. die Ziele
Belastungen der Betroffenen sollen im Verlauf der Intervention, die Ausbildung der Debriefer
des Debriefings diagnostiziert werden (Screen- oder das Ausmaß des Traumas bestimmt.
ing). Zum Schluss wird der Teilnehmer auf die Die am häufigsten eingesetzte Form des Oe-
Möglichkeiten einer weiteren psychotraumatolo- briefings ist das Critical Incident Stress Debriefing
gischen Versorgung hingewiesen. (CISD) von Mitchell (1983, 1998). Es wurde spe-
194 Kapitel 10 · Notfallpsychologische Interventionen bei akuter Belastungsstörung

ziell für Einsatzkräfte der Feuerwehr und des verwendeten Effektmaße (s. Deahl et al., 2001;
Rettungsdienstes entwickelt und ist Teil des Criti- Gist & Woodall, 2000; Litz et al., 2003, in Druck).
cal Incident Stress Managements (CISM; Mitchell, Verschiedene Autoren weisen auf das Risiko einer
1998; Everly & Mitchell, 2000; Mitchell & Everly, Re- oder Sekundärtraumatisierung durch zu
2001). Das CISM enthält mehrere Komponenten frühe Intervention, durch Fokussierung auf die
für Interventionen, die je nach Bedarf vor, wäh- Symptome oder durch inadäquaten Umgang mit
rend und nach dem kritischen Ereignis eingesetzt Reaktionen der Teilnehmer und Gruppenprozes-
werden (Vor-Ort-Präsenz, Krisenintervention, sen hin (Bolwig, 1998; Busuttil, 1995; Raphael et
soziale Unterstützung, Nachsorge). Es sieht Inter- al., 1995). Eine Pathologisierung der normalen
ventionen für Individuen und Gruppen, aber Reaktion auf ein kritisches Ereignis wird ebenso
auch für spezielle Personengruppen (»communi- befürchtet wie eine potenzielle Verzögerung der
ties«) vor. Weitere Formen des Debriefings wer- Diagnostik und der Therapie von Symptomen ei-
den, ebenso wie die Anwendung bei verschiede- ner posttraumatischen Belastungsstörung (Bis-
nen Zielgruppen wie Polizisten, Soldaten, Ver- san & Deahl, 1994; Bolwig, 1998). Hinzu kommt,
kehrsunfallopfern, traumatisierten Kindern so- dass unter psychologischem Debriefing sehr un-
wie Personen nach kritischen Lebensereignissen terschiedliche Konzepte und Vorgehensweisen
und Gewalterfahrungen, in Raphael & Wilson subsummiert werden und sich die Interventionen
(2000) besprochen. auch danach unterscheiden, inwieweit eine Nach-
betreuung der Betroffenen vorgesehen ist.
Zentrales Problem für eine Effektivitäts-
Evaluation
bewertung sind die methodischen Einschränkun-
Die Mehrheit der Autoren von Reviews und Me- gen und Mängel der meisten Studien. Ferner sind
taanalysen schlussfolgert, dass psychologisches die Studien aufgrund ihrer Heterogenität kaum
Debriefing klinisch bedeutsame Belastungsfolgen zu vergleichen, da sie sich hinsichtlich Trauma-
nicht verhindern kann (Emmerik et al., 2002; Gist definition, Art und Schwere des Traumas (z. B.
& Woodall, 2000; Litz et al., 2003, in Druck). Rose Waldbrand, Erdbeben, Gewalterfahrung, Geburt),
et al. (2002) kommen in ihrer Metaanalyse, in der zu Grunde liegender Symptomatologie, Form des
11 Studien berücksichtigt wurden, zu dem Ergeb- Debriefings bzw. der Durchführungsbedingun-
nis, dass Debriefings weder die psychische Belas- gen, Messzeitpunkte und Erfolgskriterien (meist
tung verringern, noch zur Verhinderung von PTB-Diagnose) unterscheiden. Häufig liegen kei-
posttraumatischen Belastungsstörungen beitra- ne Informationen zu vorbestehenden Belastun-
gen. Von den 11 Studien zeigt eine sogar ein sig- gen und Risikofaktoren vor, es fehlen Angaben
nifikant höheres PTB-Risiko 1 Jahr nach der In- zum Debriefingprozess, zur Qualifikation der De-
tervention (s. Bisson et al., 1997). Auch Steil briefer, zum zwischenzeitliehen Geschehen und
(2001) zeigt in einer Metaanalyse mit 16 einge- zur Selektion in den Stichproben in Abhängigkeit
schlossenen Effektstudien kurz- und langfristig vom Befragungszeitpunkt
keinen von Null verschiedenen Effekt. Die Wirk-
samkeit von Einzel- und Gruppensettings unter-
scheidet sich dabei nicht. Everly et al. (2000) so- Debriefings sind eine eingeführte und häufig
wie Robinson & Mitchell {1993) hingegen berich- angewandte Frühintervention nach belasten-
ten in ihren Reviews, die allerdings überwiegend den Ereignissen. Sie werden von verschie-
auf unkontrollierten Studien basieren, von einer densten Personen mit unterschiedlicher psy-
deutlichen Stressreduktion, die zu einem erhebli- chotraumatologischer Kompetenz bei ver-
chen Teil auf die psychologische Nachbereitung schiedenen Notfallsituationen und Schadens-
zurückgeführt wird. lagen zur psychologischen Erstversorgung von
Die Diskussion um die Effektivität von De- Traumaopfern eingesetzt. Einzelne Kompo-
briefings dreht sich um die Frage des Zeitpunkts nenten des Konzepts sind unbestritten und
der Intervention, der standardisierten Vorgehens-
weise, der nur einmaligen Intervention und der
10.5 · Psychologische Frühinterventionen 195 10
vergleichbar mit Elementen anderer Frühin- die unvorbereitet auf das Ereignis sind und
terventionen (s. Abschn. 1 0.4, 10.5.2). Das keine Vorerfahrung mit psychologischer Bera-
formalisierte Vorgehen mit einer zeitnahen tung haben (s. Clemens & Lüdke, 2000).
Rekonstruktion der Erfahrungen und die Be-
grenzung auf nur eine Sitzung muss jedoch In welcher Art und Weise das Debriefing durch-
kritisch beurteilt werden . geführt wird, ist somit zusätzlich abhängig von
der vorbestehenden Gruppenstruktur, dem Pro-
Die subjektive Akzeptanz durch die Teilnehmer fessionalitätsgrad der Gruppe und dem Grad
ist in der Regel groß, die Bewertung positiv: Oe- der Vorbereitung (s. Übersicht).
briefings werden überwiegend als hilfreich und
entlastend erlebt (Rehli, 1998, unveröffentlichte
Diplomarbeit; Wilson et al., 2000). Aus Rückmel- Determinanten psychologischer
dungen von Einsatzkräften, die bei dem Zug- Debriefings
unglück in Eschede vor Ort waren, ist zu schlie-
Ein Debriefing sollte nicht in der Einwir-
ßen, dass das Debriefing vor allem deshalb ange- kungszeit und auch nicht zeitnah zum Er-
nommen werden konnte, weil bei diesen Nach- eignis in den ersten Tagen nach dem
besprechungen grundsätzlich speziell geschulte Trauma durchgeführt werden.
Kollegen als ))Peers« eingesetzt wurden (Koor- Es ist sehr wahrscheinlich nicht geeignet
dinierungsstelle Einsatznachsorge, 2002; Mit- für Personen mit hoher prätraumatischer
chell, 1998). Die Zufriedenheit hängt dabei vom Belastung und Risikofaktoren sowie für
kompetenten Auftreten des Teams, einem Personen mit dissoziativen Symptomen.
großzügigen Zeitrahmen und einem engen zeitli- In jedem Fall muss eine niederschwellige
chen Bezug zu dem Ereignis ab. Die Zufrieden- weiterführende Versorgung sichergestellt
heit der Teilnehmer korreliert jedoch nicht und erreichbar sein.
zwangsläufig mit Maßen der psychischen Ge- Debriefings können nicht bei Typ 11-Trau-
sundheit; Aussagen zur Zufriedenheit der Teil- men (s. Kap. 1) eingesetzt werden.
nehmer können dementsprechend nicht als pri- Wird die Indikation auf sekundär Betrof-
märes Erfolgskriterium verwendet werden. fene wie z. B. Einsatzkräfte eingeschränkt,
Am besten untersucht ist das Debriefing bei so ist nach der Zielsetzung der Interven-
Einsatzkräften der Feuerwehr und des Rettungs- tion zu fragen: Wenn sie primär die
dienstes, wo es vor allem die Funktion eines Ein- Gruppenkohäsion und die Einsatzbereit-
satzabschlusses und einer psychologischen Ein- schaft fördert, ist sie nicht automatisch
satznachbesprechung übernimmt; gerade diese präventiv im Hinblick auf posttraumati-
Funktion der Debriefings wird in der Regel von sche Belastungsstörungen.
den Teilnehmern positiv beurteilt. Reduktionen Für die Durchführung in der Gruppe sind
der psychischen Belastung werden in verschiede- besondere Risiken zu bedenken: Der
nen Maßen berichtet (Everly et al., 1999; Mitchell Gruppendruck kann zu zusätzlichen Be-
& Everly, 2000). lastungen bei den Teilnehmern führen,
besonders stark belastete Teilnehmer
werden nicht identifiziert und/oder nicht
Ein Debriefing sollte nach Weisaeth (1995) nur ausreichend betreut.
dann durchgeführt werden, wenn eine psy-
chologische Einsatzvo rbereitung stattgefun-
den hat, d. h. die Teilnehmer für eine psycho-
logische Bearbeitung von kritischen Ereignis- Die relativ hohe Standardisierung insbesondere
sen trainiert sind. Debriefings sind diesem des Critical Incident Stress Debriefing nach Mit-
Ansatz zufolge nicht geeignet für Personen, eheil (1983, 1998) macht diese Methode auch für
Nicht-Psychologen interessant und (scheinbar)
schnell erlernbar.
196 Kapitel 10 · Notfallpsychologische Interventionen bei akuter Belastungsstörung

10.5.2 Kognitiv-behaviorale
Frühintervention
Personen ohne fundierte klinisch-psychologi-
sche und psychotraumatologische Kenntnisse Die kognitive Verhaltenstherapie (KVT) ist eine
und ohne Erfahrungen mit psychotherapeuti- bewährte Intervention zur Behandlung von post-
schen Gruppenprozessen sollten jedoch keine traumatischen Belastungsstörungen. Sie wurde
Debriefings durchführen. auch auf den Bereich der Prävention bzw. Frühin-
tervention übertragen (Foa et al., 1995). Im Fol-
Ein abschließendes Urteil über die Indikation genden wird nur kurz auf die Elemente der Inter-
und die Wirksamkeit des psychologischen Oe- vention eingegangen, da sie sich nicht prinzipiell
briefings ist zum jetzigen Zeitpunkt nicht von denen der kognitiven Verhaltenstherapie bei
möglich. Der künftige Stellenwert psychologi- posttraumatischen Belastungsstörungen unter-
scher Debriefings in der Akutversorgung trauma- scheidet (s. a. Kap. 4).
tisierter Personen ist gegenwärtig Gegenstand in-
tensiver wissenschaftlicher Diskussionen und
Kontroversen (Ursano et al., 2000; Gist & Woo-
Konzept und Vorgehen
dall, 2000; Litz et al., 2003, in Druck). Der aktuel-
le Forschungsstand liefert keinen Beleg für die Die Kurzzeitintervention mit kognitiver Verhal-
Prävention einer posttraumatischen Belastungs- tenstherapie wurde von Foa et al. (1995) für Per-
störung (Bisson & Deahl, 1994; Raphael & Wil- sonen mit akuten Belastungsstörungen nach Ge-
son, 2000; Rose et al., 2002). Aufgrund der inhalt- walterfahrungen bzw. Vergewaltigung entwickelt.
lichen Differenzen und methodischen Probleme Das Programm kombiniert Psychoedukation, Re-
der vorliegenden Wirksamkeitsstudien kann je- konstruktion und Imagination sowie Entspan-
doch nicht abschließend beurteilt werden, ob be- nung und umfasst 4-5 Sitzungen mit dem jewei-
stimmte Formen eines Debriefings für bestimmte ligen Schwerpunkt:
Ziel- bzw. Betroffenengruppen zu empfehlen - Informationen über Belastungsfolgen,
sind. Darüber hinaus könnten Debriefings positi- - progressive Muskelentspannung,
ve Effekte auf weitere psychische Symptome, Dro- - Exposition in sensu,
genkonsum, Arbeitsfähigkeit und soziale Integra- - Angstbewältigung und kognitive Umstruktu-
tion haben - was jedoch nicht ausreichend unter- rierung,
sucht bzw. berücksichtigt wurde. - graduierte Exposition in vivo und
Psychologische Debriefings stellen eine öko- - Reduktion des Vermeidungsverhaltens.
nomische Kurzzeitintervention dar, die prinzi-
pielle Beherrschbarkeit von Schadenslagen und Ergänzende Hausaufgaben beziehen sich auf die
ihrer psychischen Folgen unterstellt. Die weite erneute Konfrontation mit belastenden Situatio-
Verbreitung der Debriefings resultiert u. a. aus nen und eine Dokumentation mittels Tagebuch.
der Notwendigkeit einer frühen Intervention Die KVT wurde bei Foa et al. (1995) und Bryant
und dem Mangel an evaluierten und für große et al. (1998) frühestens 10 Tage nach dem Ereig-
Betroffenengruppen einsetzbaren Konzepten nis begonnen. Die wöchentlichen Sitzungen wer-
und Methoden, aber auch daraus, dass keine um- den von klinischen Psychologen bzw. Psychothe-
fassende klinisch-psychologische Ausbildung zu rapeuten geleitet und dauern 1,5-2 Stunden.
ihrer Durchführung erforderlich sei. Debriefings
bedienen das Hilfeleistungsmotiv und scheinen
Evaluation
unter dem Handlungsdruck auch ethisch gerecht-
fertigt (s. Raphael, 2000; Wilson et al., 2000). Die Wirksamkeit des Programms ist für Personen
mit Gewalterfahrungen und Personen nach Un-
fällen gut belegt und auch über Halbjahreskatam-
nesen abgesichert (Foa et al., 1991, 1995; Bryant
et al., 1998, 1999). Für die genannten Patienten-
10.5 · Psychologische Frühinterventionen 197 10
gruppen muss die kognitive Verhaltenstherapie 10.5.3 ))Eye Movement Desensitization
als die z. Z. wirksamste Frühintervention gelten. and Reprocessing«
Es besteht die Hoffnung, dass sie auch bei ande- als Frühintervention
ren Stressoren und Traumen wirksam ist.
Die KVT findet ihre Begrenzung in der Er- Eye Movement Desensitization and Reprocessing
reichbarkeit bzw. Behandlungsbereitschaft der (EMDR) ist eine Methode zur Behandlung von
Betroffenen. Für eine wissenschaftliche Evaluati- traumatisierten Personen, die 1989 von Francirre
on der Effektivität ist eine Standardisierung auf Shapiro vorgestellt wurde (1995, 1999). Die Me-
4-5 Sitzungen sicher günstig. Aus klinischer Per- thode wird sowohl für die Behandlung der post-
spektive zeigt sich in der Regel jedoch erst im Be- traumatischen Belastungsstörung als auch für die
handlungsverlauf, ob diese Stundenzahl aus- Frühintervention nach Traumaerfahrungen emp-
reicht. Es ist anzunehmen, dass die Intervention fohlen bzw. eingesetzt (Hofmann, 1999).
zumindest am Schweregrad und am Verlauf der
Symptomatik, an dem Ausmaß der Komorbidität
und an den Umfeldbedingungen orientiert wer- Konzept und Vorgehen
den muss (s. Übersicht). Bei Großschadensereig- Das Grundprinzip der Methode besteht darin, die
nissen mit vielen Betroffenen reicht - unabhän- Aufmerksamkeit der Patienten auf einen äußeren
gig von der Organisation einer Versorgung - Reiz zu lenken, während sie sich gleichzeitig auf
die Zahl der verfügbaren und qualifizierten The- den Auslöser der Belastung und die Belastungs-
rapeuten in der Regel für eine einzeltherapeuti- folgen konzentrieren (s. Übersicht). Ziel ist es,
sche Frühintervention mit mehreren Sitzungen die fragmentierten Erinnerungen zusammenzu-
nicht aus. führen und durchzuarbeiten. Eine Analyse und
Beeinflussung der selbstbezogenen Kognitionen
soll zu einer Neubewertung und einer Integration
Vergleich psychologisches Debriefing der Erfahrungen führen (Shapiro, 1999).
und kognitive Verhaltenstherapie
Das psychologische Debriefing (PD) und
die kognitive Verhaltenstherapie (KVT) Die 8 Phasen des EMDR
unterscheiden sich in der Dosis und dem {Hofmann, 1999; Eschenröder, 1997)
Beginn der Intervention.
Anamnese, Diagnostik und Behandlungs-
Wesentliches Element der KVT ist die
planung,
kognitive Umstrukturierung.
Stabilisierung und Vorbereitung auf die
Die KVT betont stärker das Durcharbeiten
Exposition,
der traumatischen Erfahrung und die
Bewertung, Neubewertung und Einschät-
wiederholte Exposition.
zung des Traumas bzw. der Erinnerung,
Sowohl KVT als auch PD beinhalten psy-
Desensibilisierung und Prozessieren:
choedukative Elemente und trainieren
Abschwächen der Belastung durch die
Bewältigungstechniken.
Erinnerung,
Möglicherweise besteht bei nur einmali-
Assoziation der belastenden Ereignisse mit
gen Sitzungen w ie beim psychologischen
positiven Kognitionen,
Debriefing die Gefahr, dass die psychische
Suche nach sensorischen Fragmenten,
Belastung und die vegetative Erregung
Abschluss der Behandlung,
gesteigert werden, ohne dass ausreichend
Nachbefragung, Überprüfung oder Neu-
Zeit für eine Löschung zur Verfügung
bewertung.
steht (Bisson et al., 2000).

In der Phase der Desensibilisierung konfrontiert


sich der Patient mit der traumatischen Erfahrung
und den damit verbundenen Gedanken und
198 Kapitel 10 . Notfallpsychologische Interventionen bei akuter Belastungsstörung

Gefühlen. Gleichzeitig werden rhythmische Au-


genbewegungen induziert. Die EMDR-Behandlung setzt eine gute thera-
peutische Beziehung voraus. Bei akut trau-
matisierten Personen stellt ein noch beste-
Der Therapeut positioniert 2 Finger seiner hender Schock eine Kontraindikation dar
Hand in einer für den Patienten angenehmen (Hofmann, 1999). Prinzipielle Kontraindikatio-
Entfernung (25-30 cm) vor dessen Augen und nen für die Anwendung des Verfahrens sind
bewegt sie horizontal. Die Bewegung wird akute Psychosen, hirnorganische Erkrankun-
beschleunigt bis zu einer maximalen Ge- gen, körperlich eingeschränkte Belastungs-
schwindigkeit, der der Patient ohne Schwie- fähigkeit und Augenerkrankungen. Eine zeit-
rigkeiten mit den Augen folgen kann. Die erste liche Grenze für die Formation der Erinnerun-
Serie sollte ca. 24 Hin- und Herbewegungen gen scheint bei ca. 3 Monaten nach einem
beinhalten, die Augen des Patienten sollten traumatischen Ereignis zu liegen.
sich dabei innerhalb einer Sekunde etwa ein-
mal lateral hin- und zurückbewegen.
Evaluation
Wenn bei dem Patienten Unbehagen, Schwindel Für das EMDR liegen keine kontrollierten Studi-
oder Übelkeit auftritt, kann die Geschwindigkeit, en zur Wirksamkeit als Frühintervention vor.
die Richtung oder die Länge der Augenbewegung Sheperd & Stein (1998) kommen in ihrem Report,
verändert werden (Eschenröder, 1997). Die Auf- der auf 12 randomisierten Studien basiert, zu ei-
gabe, den Handbewegungen des Therapeuten ner positiven Bewertung des EMDR als Element
mit den Augen zu folgen, ist nur eine Möglich- bei der Behandlung der posttraumatischen Belas-
keit, die Aufmerksamkeit des Patienten auf äuße- tungsstörung, ohne allerdings speziell auf die
re Reize zu lenken; auch akustische oder taktile akute Belastungsstörung einzugehen (s. Etten &
Reize sind möglich. Taylor, 1998). Eine aktuelle Metaanalyse von
Es gibt verschiedene Versuche, die Wirkun- Barth (2003, in Vorbereitung) analysiert 23 ran-
gen des EMDR zu erklären. Shapiro (1999) geht domisierte, kontrollierte Studien. Es konnten
davon aus, dass ein traumatisches Ereignis das letztlich jedoch nur 13 Studien ausgewählt wer-
Erregungs-Hemmungs-Gleichgewicht im Gehirn den, bei denen eine vergleichende Untersuchung
irritiert und somit das normale Fortschreiten von EMDR und einer alternativen Intervention
der Informationsverarbeitung gestört wird. Erin- stattfand. Wiederum nur ein Teil dieser Studien
nerungen werden dadurch in der ursprünglichen, verwendete standardisierte Instrumente zur Ef-
angstauslösenden Form erhalten. Durch die Au- fektabschätzung. Die Metaanalyse zeigt eine gute
genbewegung wird möglicherweise ein Prozess kurzfristige Wirksamkeit des EMDR, die jedoch
der Verarbeitung belastender Erinnerungen in nach 3 Monaten nicht mehr nachweisbar ist. Mit-
Gang gesetzt und dadurch das Gleichgewicht wie- tel- und langfristig ist kein signifikanter Unter-
der hergestellt (Eschenröder, 1997). Möglich ist schied zu den Kontrollgruppen zu finden.
auch, dass die ablenkende Aufgabe konditionierte Festzuhalten ist, dass das EMDR seinen Stel-
Angstreaktionen vermindert (via klassische und/ lenwert im Kontext einer psychotherapeutischen
oder operante Konditionierung). Gesamtstrategie bei der Behandlung der PTB hat.
Inwieweit das EMDR als Frühintervention geeig-
net und indiziert ist, lässt sich bei der derzeitigen
Datenlage nicht beurteilen.
10.6 · Organisierte Nachsorge 199 10
10.5.4 Weitere Verfahren

Weitere Konzepte und insbesondere Varianten Eine psychologische Frühintervention sollte


des psychologischen Debriefings finden sich un- stets in ein Gesamtkonzept einer organisierten
ter anderem bei Neria & Solomon (1999), Arm- Nachsorge eingebettet sein. Die Möglichkeit
streng et al. (1991), Curtis (1995) sowie Raphael einer mittel- und langfristigen Weiterbetreu-
ung hat dabei zentralen Stellenwert.
& Wilson (2000). Auch das Konzept von Brom &
Kleber aus den Niederlanden weist deutliche Pa-
rallelen zum Debriefing auf (Brom & Kleber, Bei Großschadenslagen ist eine Vor-Ort-Präsenz
1989; Kleber & Brom, 1992). Im Mittelpunkt ihrer (»On Scene Support Service«) von Psychologen
Intervention steht die psychische Stabilisierung, und psychotraumatologisch geschulten Fachkräf-
auf die dann die Rekonstruktion der traumati- ten notwendig (s. Kap. 11, 14; Bengel, 2001; Ja-
schen Erfahrung aufbauen soll. Brom & Kleber cobs, 1995; Mitchell & Dyregrov, 1993; Mitchell
orientieren sich bei der Indikation nicht an den & Everly, 1996; Myers, 1988). Die Fachkräfte
Symptomen einer akuten Belastungsstörung, müssen dabei akute Belastungsstörungen, Ober-
sondern an der Schwere des Traumas. Eine um- forderungen, Erschöpfungszustände und weitere
fassende Evaluation des Konzepts liegt nicht vor. Belastungsfolgen erkennen können. Große Be-
deutung besitzt auch die Feldkenntnis und die
Akzeptanz bei den Betroffenen.
Bei Großschadensereignissen und Katastro-
Bei besonders schweren akuten Belastungs-
phen mit einer größeren Anzahl von potenziell
störungen ist zur Vorbereitung auf psycho-
traumatisierten Personen sind der Aufbau und
logische Behandlungen oder als Ergänzung zu
die Organisation der psychologischen Hilfeleis-
psychologischen Interventionen eine kurzzei-
tung entscheidend.
tige Therapie mit Psychopharmaka zu erwä-
gen. Die Indikation zu einer sedierenden
Pharmakatherapie sollte jedoch sehr eng ge-
stellt und auf diejenigen Fälle beschränkt Eine zentrale und effektive Organisation um-
werden, bei denen ein Zugang zum Patienten fasst die Abschirmung der Betroffenen, die
nicht möglich ist und kein ausreichender Koordination der psychologischen Helfer, die
Kontakt hergestellt werden kann (s. Kap. 7). Einbeziehung der sekundären Opfer wie An-
gehörige und Zeugen, die psychologische
Betreuung der Einsatzkräfte sowie eine effek-
tive Pressearbeit

10.6 Organisierte Nachsorge


Im Kontext der psychologischen Hilfeleistung
Der gegenwärtige Forschungsstand macht deut- und Versorgung bei den jüngsten Katastrophen
lich, dass neben der Frage der differenziellen In- und größeren Notfällen sind Dokumentationen
dikation und der Wirksamkeit von Frühinterven- entstanden, die - auch wenn in der Regel keine
tionen vor allem auch die Frage nach der Frühin- randomisierten Studien zur Effektivität von
tervention in Abhängigkeit von der Art des Not- Frühinterventionen möglich waren - die Erfah-
falls und der Zahl der Betroffenen gesehen wer- rungsbasis erweitern.
den muss. Eine Großschadenslage erfordert ein Eine Differenzierung zwischen den Betroffe-
komplexes und zentral gesteuertes Angebot für nengruppen - primäre Opfer, Zuschauer, An-
verschiedene Zielgruppen, während Opfer »all- gehörige, Einsatzkräfte - ist, wie erwähnt, not-
täglicher« Traumen, wie z. B. Verkehrsunfalle, wendig. Bei Großschadensereignissen sind ge-
bei Bedarf eine psychologische Frühintervention meindepsychologische Maßnahmen wie Aufklä-
im System der stationären oder ambulanten me- rung über Belastungsfolgen z. B. über lokale oder
dizinischen Versorgung erhalten sollten. nationale Medien, aufsuchende Beratung und die
200 Kapitel 10 · Notfallpsychologische Interventionen bei akuter Belastungsstörung

Aktivierung sozialer und kommunaler Ressour-


cen notwendig. Der Schutz vor Sekundärproble-
Erfahrungen bei Großschadensereignissen
men, wie z. B. der exzessiven Medienbericht-
zeigen, dass es vorkommen kann, dass Trau-
erstattung, kann ebenso wichtig sein wie die
maopfer vor inkompetenten »psychologi-
Durchführung der individuellen Maßnahmen.
schen« Helfern geschützt werden müssen.
Qualitätssicherung und qualifizierte Ausbil-
dung der Fachkräfte sind gerade in der
10.7 Ausblick
Frühintervention ein dringliches Gebot.
Der Forschungsstand zur Prävention von post-
traumatischen Belastungsstörungen und zu Nicht eine spezifische psychologische Interventi-
Frühinterventionen ist insgesamt noch sehr ge- on alleine, sondern ein Konzept der Traumabe-
ring. Nach wie vor ist nicht sicher, ob die Ent- wältigung ist in der Regel nötig. Das Programm
wicklung einer posttraumatischen Belastungs- muss differenziert auf die Erfordernisse der Ziel-
störung überhaupt verhindert werden kann (Bis- gruppen abgestimmt sein. Eine große Bedeutung
son, 1997}. Es besteht jedoch berechtigte Hoff- hat in diesen Programmen das Screening und die
nung, dass die neurobiologische und klinisch- frühe Identifizierung hoch belasteter Personen.
psychologische Forschung sowie die Erfahrungen Bei den Frühinterventionen sollte geprüft wer-
bei Katastrophen und Unglücken helfen werden, den, inwieweit bewährte Verfahren bei der Be-
die angemessenen psychologischen Interventio- handlung posttraumatischer Belastungsstörun-
nen zu definieren und Empfehlungen zu formu- gen für einen Einsatz unmittelbar nach dem kri-
lieren. Es zeichnet sich ab, dass tischen Ereignis modifiziert und angepasst wer-
- die Art des Traumas, den können.
der Zeitpunkt der Intervention, Der hohe Forschungsbedarf im Bereich der
- die Zielgruppe, Frühintervention ist hinreichend deutlich gewor-
- die Zusammensetzung der Gruppe und der den. Eine Verbesserung der z. Z. schwachen Da-
Gruppenprozess, tenlage ist wie in anderen Bereichen der Wirk-
- der Inhalt der Intervention, samkeitsforschung nur durch randomisierte Stu-
- die Zahl der Sitzungen und diendesigns mit standardisierter Intervention
die weitere Versorgung der langfristigen Be- und sichergestellter Qualität der Behandlung zu
lastungsfolgen erreichen. Der Veränderungsprozess im Rahmen
und in der Folge von Frühinterventionen muss
berücksichtigt werden müssen. Die Komplexität ebenso wie der optimale Zeitpunkt einer Inter-
in der Entwicklung einer PTB und der Einfluss vention zum Gegenstand von Studien gemacht
der prä-, peri- und posttraumatischen Bedingun- werden.
gen lässt erwarten, dass eine einmalige Interven-
tion bei schwer traumatisierten Personen mit Literatur
mehreren Risikofaktoren keine positive Wirkung
zeigen dürfte. American Psychiatrie Association (1994). Diagnostic and Statis-
Unabhängig von der Art der Frühintervention tical Manual of Mental Disorders (4th ed.). Washington:
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11

G. Pieper

11.1 Wer kann sinnvolle Betreuungsarbeit leisten? - 206


11.1.1 Helfer aus der Region - 206
11.1 .2 Überregionale Fachkräfte - 208

11.2 Organisaion eines Hilfsprogramms - 208


11.2.1 Wichtige Faktoren bei der Organisation
eines Hilfsprogramms - 208
11.2.2 Notwendige psychotherapeutische Kenntnisse
und Fähigkeiten - 209
11.2.3 Mögliche Komplikationen und Schwierigkeiten
beim Aufbau eines Hilfsprogramms - 210
11.2.4 Von der Katastrophe betroffene Gruppen - 21 0
11.2.5 Aufsuchende psychosoziale Hilfsangebote - 210

11.3 Behandlung von Katastrophenopfern - 212


11.3.1 Therapieziele und therapeutische Strategien
in der Einzeltherapie - 212
11.3.2 Gruppentherapeutischer Ansatz - 212

11 4 Therapeutisches Vorgehen 2 4
11.4.1 Konfrontationsverfahren bei Katastrophenopfern - 215
11.4.2 Lebensperspektiven nach der Traumabewältigung - 218
11.4.3 Symbolisieren der Katastrophe - 218

11.5 Faz1t - 219

Literatur - 219
206 Kapitel 11 · Betreuung von Katastrophenopfern

Am 1. Juni 1988 kam es in der Braunkohlengrube auswärtigen hochqualifizierten Fachkräften


Stolzenbach bei Borken/Kassel kurz vor Ende der kann allzuleicht an den Bedürfnissen der Be-
Mittagsschicht bei einer Routinesprengung zu ei- troffenen vorbeigeplant werden.
ner Kohlenstaubexplosion von ungeheurem Aus- - Andererseits gewährleistet der Erfahrungs-
maß. Nahezu das gesamte Streckennetz wurde hintergrund überregionaler Fachkräfte das
durch die Wucht der Explosion zerstört. Die Einbeziehen wissenschaftlicher Erkenntnisse
meisten der zu dieser Zeit eingefahrenen 57 Berg- im Umgang mit traumatisierten Personen
leute wurden entweder durch die Explosion und optimiert die Qualität von diagnosti-
selbst, oder bei dem Versuch sich zu retten durch schen, beraterischen und therapeutischen
die entstandenen C0 2 -Gase getötet. 6 Bergleute Maßnahmen.
konnten sich in einen Blindschacht zurückziehen,
in dem sich noch atembare Luft befand. Sie wur-
den in einer spektakulären Rettungsaktion 3 Tage
11.1.1 Helfer aus der Region
nach dem Unglück lebend gerettet. Die Katastro-
phe traf die Mitarbeiter und die gesamte Region
Werksfürsorge
vollkommen unerwartet, da bis zu diesem Zeit-
punkt Kohlenstaubexplosionen nur im Steinkoh- Die Werksfürsorge ist eine alte soziale Einrich-
leabbau vorgekommen waren und man der Mei- tung der Firma, die die Grube betrieb. In ihr ar-
nung war, wegen der hohen Feuchtigkeit könne beiten 2 Sozialfürsorgerinnen. Beide waren von
so etwas im Braunkohleabbau nicht vorkommen. der ersten Stunde des Unglücks an bei den war-
Mit einem Schlag hatte sich das Leben vieler von tenden Angehörigen auf dem Zechengelände
dieser Katastrophe betroffener Menschen geän- und standen ihnen zur Seite. Sie konnten auf
dert. die verzweifelten Angehörigen menschlich zuge-
Die mit dem Unglück verbundenen psychi- hen, sie in den Arm nehmen und ihnen in einer
schen Reaktionen und Probleme wurden 5 Jahre Art und Weise beistehen, die anderen Berufs-
lang intensiv psychologisch betreut und z. T. noch gruppen wie Therapeuten, Ärzten usw. meistens
bis zum heutigen Zeitpunkt begleitet. In den ver- nicht möglich ist und auch nicht passend wäre.
gangeneu Jahren wurden vielfältige Erfahrungen Da die Werksfürsorgerinnen alle Verunglückten
gesammelt im Umgang mit der psychologischen kannten, waren sie für die Betroffenen selbst,
Betreuung von Katastrophenopfern, von denen wie auch für die Gruppe derjenigen, die Hilfe leis-
die wichtigsten hier dargestellt werden sollen. ten wollten, die wichtigsten Ansprechpartner (s.
Beim Übertragen dieser Erfahrungen auf andere folgendes Beispiel).
Katastrophensituationen muss beachtet werden,
dass keine Katastrophe wie die andere ist und f) Beispiel
von daher Flexibilität gefragt ist (Meichenbaum, Bericht einer Werksfürsorgerin
1994). über die Unglücksstunden
Die Werksfürsorgerinnen werden gegen 13.30 Uhr
von dem Unglück benachrichtigt. Die ersten
11.1 Wer kann sinnvolle Angehörigen von Verschütteten sind auf dem
Betreuungsarbeit leisten? Werksgelände eingetroffen und müssen betreut
werden. Der Hof der Grube Stolzenbach füllt sich
Nach den in Borken gesammelten Erfahrungen mit Menschen: Grubenwehrmänner und Polizisten,
erscheint es sinnvoll, für die Betreuungsmaßnah- Helfer vom Roten Kreuz und vom Technischen
men Helfer aus der Region und überregional akti- Hilfswerk - und überall dazwischen Journalisten,
ve Fachleute gemeinsam einzusetzen. Dadurch ist die mit Fragen, Kameras und Mikrophonen
einerseits gewährleistet, Angehörige und Helfer regelrecht belagern.
- dass Bedürfnisse und Problemkonstellationen Schnell ist erkannt: Für die Angehörigen muss
unmittelbar aus Sicht der Betroffenen wahr- im wahrsten Sinn des Wortes ein Schutzraum
genommen und berücksichtigt werden. Von T
11.1 · Wer kann sinnvolle Betreuungsarbeit leisten? 207 11
geschaffen werden, wo sie sicher sind vor den Auch während der gesamten späteren Betreu-
Zudringlichkeiten von Neugierigen und Medien- ungsphase wurden die Pfarrer kontaktiert, um re-
vertretern. Ein Raum wird gefunden und füllt sich ligiöse Fragen bei der Trauerverarbeitung zu klä-
im Handumdrehen. Wir sind nun fast ständig mit ren, die Psychologen kooperierten mit den Ärz-
den Angehörigen der Opfer zusammen. Unsere ten und Lehrern, um die Therapien der betroffe-
Hilfe erschöpft sich in Zuspruch und Zuhören, im nen Erwachsenen und Kinder zu effektivieren.
einfachen Dasein. Das ist alles, was wir tun
können. Der seelische Druck ist enorm. Niemand 8 Beispiel
weiß etwas Genaues. Der Pfarrer
Bisher hatten wir hauptsächlich mit den jetzt Gegen Mitternacht besteht kaum noch Hoffnung
vermissten Männern zu tun. Von den Frauen sind für die Eingeschlossenen. Lähmende Stille macht
uns nur wenige bekannt. Der gesamte Warteraum sich breit. Gibt es jetzt überhaupt noch Worte, die
steht unter einer schwer zu beschreibenden gesagt werden können und nicht banal klingen
Spannung. Bei den türkischen Frauen, die sich um oder falsch? Einer der Pfarrer findet sie. Und er
die türkische Lehrerin versammelt haben, macht drückt für alle Anwesenden das Entsetzen und die
sich die Anspannung durch lautes Klagen und Angst aus, zugleich aber vermittelt er ein erstes,
Weinen Luft. Von einigen der deutschen Frauen vages Gefühl davon, dass dieses schwere Schicksal
wird das als so belastend empfunden, dass sie den nur miteinander geteilt und gemeinsam getragen
Raum verlassen. auszuhalten sein wird. Der Pfarrer spricht alte, ar-
Die Helfer sind selbst hilflos. Es ist schwer, die chaische Worte, den 23. Psalm:
richtigen Worte zu finden, schwer, mit zu warten
und eigentlich nichts tun zu können. Der Herr ist mein Hirte;
Wir suchen Zuflucht in versorgenden Tätig- mir wird nichts mangeln.
Er weidet mich auf einer grünen Aue
keiten: Kaffee kochen, Getränke reichen. Wenigs-
und führet mich zum frischen Wasser.
tens untereinander können wir Helfer uns unsere
Er erquicket meine Seele;
Hilflosigkeit eingestehen. Dass es allen ähnlich
er führet mich auf rechter Straße
geht, gibt Kraft: Keiner ist allein, auch die Helfer
um seines Namens willen.
nicht.
Und ob ich schon wanderte im finstern Tal,
fürchte ich kein Unglück,
Als Bezugsperson für die Familien der 11 ums Le-
denn Du bist bei mir, Dein Stecken und Stab
ben gekommenen türkischen Bergleute wurde ei-
trösten mich.
ne türkische Werksfürsorgeein von der Firma
eingestellt.
Betriebsangehörige
Natürliche Hilfspersonen Schließlich können noch Mitarbeiter der Firma
zu der Gruppe der regionalen Hilfskräfte gezählt
Durch z. T. schon lange bestehende Kontakte über
werden, wie z. B. der Betriebsrat und andere Be-
die Gemeinden zu den Familien und durch Beer-
triebsangehörige. Diese gehören z. T. auch schon
digungen der Verunglückten waren evangelische
zur Gruppe der überregionalen Fachkräfte, da sie
und katholische Pfarrer sowie der muslimische
z. T. aus der 200 km entfernten Landeshauptstadt
Hodga ebenso die »natürlichen Hilfspersonen«
kamen, dem Sitz der Hauptverwaltung des Unter-
wie Ärzte und Lehrer aus der Region.
nehmens.
Diese Personengruppen waren in den ersten
Stunden und Tagen des belastenden Wartens
und der quälenden Ungewissheit, ob die Verschüt-
teten überlebt hätten, die wichtigsten Stützen und
Orientierungshilfen für die Betroffenen.
208 Kapitel 11 · Betreuung von Katastrophenopfern

11.1.2 Überregionale Fachkräfte


Hilfsangebote für die Betroffenen
Koordination und Supervision
Kontaktaufnahme zwischen Betroffenen
der Hilfsmaßnahmen
anregen,
Der Leiter der psychosomatischen Abteilung der Durchführung von Debriefing-Gruppen
Universitätsklinik Marburg hatte Kontakt zu in- (dt Nachbearbeitungsgruppen): Dabei
ternationalen Fachkräften, die Erfahrungen auf handelt es sich um strukturierte Grup-
dem Gebiet der PTB und Katastrophenbewälti- pengespräche, die der emotionalen Ent-
gung hatten. Er konnte diese Kenntnisse auf theo- lastung der Traumatisierten dienen. Jeder
retischer Ebene von Anfang an in die Planung Beteiligte wird dabei gebeten, von seinem
und Gestaltung der Hilfsmaßnahmen einbringen. Erleben während des Extremereignisses zu

Ihm oblag während der gesamten Betreuungszeit berichten. Die Gruppengespräche finden

die Koordination der Hilfsmaßnahmen. üblicherweise kurz (einige Stunden oder

Zum besseren Verständnis der multikulturel- Tage) nach dem traumatischen Ereignis

len Probleme von Türken in der Emigration wur- statt. Es liegen verschiedene Debriefing-
Programme vor (z. B. Armstrong et al.,
de zur Projektsupervision eine türkische Psychi-
1991; Mitehe II & Everly, 1996. Für eine
aterin vierteljährlich aus Istanbul eingeladen.
ausführlichere Darstellung der Durchfüh-
rung von Debriefing-Gruppen s. auch Kap.
Klinische Psychologen 12; Anm. d. Hrsg.),
regelmäßige Kontaktaufnahme durch
Der Autor selbst war als klinischer Psychologe
Hausbesuche von regionalen Helfern,
mit Erfahrung in der Therapie traumatisierter
Angebot von Gruppentherapie für
Patienten für die Betreuung und Therapie aller
verschiedene Gruppen von Betroffenen,
von der Katastrophe betroffenen Gruppen zu-
Einzelbehandlungen für Personen mit
ständig. Die Betreuung der türkischen Witwen der Diagnose PTB.
übernahm eine türkische Psychologin.

Arbeitskreis Stolzenbachhilfe
11.2.1 Wichtige Faktoren bei der Organi-
Alle genannten Helfer schlossen sich im Arbeits- sation eines HUfsprogramms
kreis Stolzenbachhilfe zusammen und formulier-
ten das »Hilfsprogramm zur gesundheitlichen Finanzierung
Betreuung der Betroffenen des Grubenunglücks
in Stolzenbach bei Borken« mit folgender Ziel- Um die notwendigen finanziellen Hilfsmittel für
bestimmung: »Für die Betroffenen des Gruben- ein Hilfsprogramm zu schaffen ist zu prüfen, ob
unglücks in Stolzenbach werden Hilfen angebo- ein an der Katastrophe beteiligtes bzw. betroffe-
ten, die der Entstehung von Krankheiten und/ nes Unternehmen bereit und in der Lage ist,
oder Befindensstörungen sowie psychosozialer dafür aufzukommen.
Dekompensation entgegenwirken« (Arbeitskreis Weiterhin ist es sinnvoll, die Spendenbereit-
Stolzenbachhilfe, 1994}. schaft der Bevölkerung nach einer Katastrophe
für die Finanzierung eines Hilfsprogramms zu
nutzen.
11.2 Organisation eines HUfsprogramms In Borken wurden Spendenbeiträge aus aller
Welt und ein Millionenbetrag des Unternehmens
In einem Hilfsprogramm sollen folgende Ange- Preussen Elektra in ein Hilfswerk eingebracht,
bote für die Betroffenen definiert werden. aus dem die Kosten des Hilfsprogramms getragen
wurden.
11.2 . Organisation eines Hilfsprogramms 209 11
Bündelung der Hilfskräfte 11.2.2 Notwendige psychotherapeutische
Kenntnisse und Fähigkeiten
Im anfänglichen Chaos nach einer Katastrophe
muss von einem Organisator eine Richtlinie auf- Die Betreuung von Katastrophenopfern erfordert
gezeigt werden, an der sich freiwillige Helfer ori- vom Psychotherapeuten ein hohes Maß an eige-
entieren können und nach dem sich die Auf- ner Stabilität und psychischer Gesundheit.
gabengebiete der professionellen Fachleute kon- Er/sie muss die Bereitschaft haben, sich auf
kretisieren lassen. sehr belastende Schilderungen von erlebtem Leid,
Dieser »rote Faden« ist durch folgende Leit- Schmerz und Verlust einzulassen, auf Bilder von
fragen zu bestimmen: Gewalt, Zerstörung, Verletzung und Tod, die
- Wer sind die von der Katastrophe Betroffe- Gefühle von Faszination bis Abscheu beim The-
nen, die Hilfe benötigen? rapeuten hervorrufen. Dabei wird ein extremer
- Welche Möglichkeiten gibt es, auf diese Leute Leidensdruck von den Betroffenen an ihn heran-
zuzugehen bzw. welche Vertrauenspersonen getragen, der in dieser Intensität bei kaum einem
der Betroffenen stehen zur Verfügung? anderen Störungsbild zu finden ist und der sich
- Wer ist geeignet, um kurz-, mittel- und lang- durch die Häufung vieler Menschen, die von ei-
fristige Hilfestellungen zu geben? ner Katastrophe betroffen sind, zu einer Belas-
tung potenzieren kann, die für manche Helfer
zur Überforderung werden kann.
Kurzfristige Hilfestellungen
Er/sie braucht von daher einerseits die Fähig-
Medizinische/psychologische Erste Hilfe keit zur mitfühlenden Anteilnahme, andererseits
(Ärzte, Psychologen, Pfarrer, Sozialarbei- die Fähigkeit sich zu distanzieren, sich nicht voll-
ter), kommen gefangen nehmen zu lassen von all dem
Organisation von Trauerformalitäten Leid und Grauen. Auf diese Weise kann er von
(Sozialarbeiter), Anfang an als Modell für die Betroffenen wirken,
Debriefing-Gruppen mit Einsatzpersonal mit der Botschaft, dass es möglich ist, sich mit
(Psychologen). dem psychischen Leid einer Katastrophe intensiv
Mittelfristige Hilfestellungen zu beschäftigen, es dann aber auch wieder beisei-
Hilfe bei finanziellen Problemen, Anträgen te zu stellen, um sich anderen Aufgaben zu wid-
bei Behörden etc. (Sozialarbeiter, Werks- men.
fürsorge, Betriebsrat), Es müssen solide Kenntnisse in Notfallpsy-
Debriefing-Gruppen mit Betroffenen chologie und in der Therapie traumatischer
(Psychologen). Störungen vorhanden sein, insbesondere breite
Erfahrung im therapeutischen Umgang mit Mei-
Langfristige Hilfestellungen dungsverhalten.
Gruppentherapien (Psychologen).
Einzeltherapie (Psychologen),
Möglichkeiten für kollektive Trauer schaf-
Zu warnen ist davor, junge, unerfahrene und
fen (Pfarrer, Lehrer, Sozialarbeiter, Psycho-
hochmotivierte Therapeuten mit der Betreu-
logen, engagierte Persönlichkeiten aus
ung von Katastrophenopfern zu beauftragen,
dem Betrieb und der Gemeinde).
die Gefahr laufen, nach einer Phase des
Überengagements selber unter den Belastun-
gen zu dekompensieren und somit den Be-
Welche zentralen Ansprechpersonen lassen sich
troffenen die Metabotschaft zu geben, dass
benennen für einzelne relevante Untergruppen,
auch bei höchstem persönlichen Einsatz eine
(z. B. für die Ärzte, die Pfarrer, die Betriebslei-
solche Katastrophe offensichtlich nicht zu
tung, den Betriebsrat, die Lehrer, evtl. für auslän-
bewältigen ist.
dische betroffene Gruppen usw.)?
210 Kapitel 11 · Betreuung von Katastrophenopfern

11.2.3 Mögliche Komplikationen 11.2.4 Von der Katastrophe


und Schwierigkeiten beim Aufbau betroffene Gruppen
eines HUfsprogramms
Als Betroffene, bei denen eine posttraumatische
Rückgriff auf bekannte Expertenprogramme oder Belastungsstörung oder eine akute Belastungs-
Neuformulierung von Bedürfnissen und Zielen vor reaktion vorlag, wurden folgende Gruppen be-
Ort? Durch diese Diskussion kann sich die Kon- nannt:
zipierung und Umsetzung eines Hilfsprogramms - Die Witwen der umgekommenen Bergleute,
für Betroffene verzögern. Letztlich erscheint es je- - die Kinder,
doch u. E. sinnvoll und lohnenswert, eine gewisse - Mütter und Väter, die ihren noch unverhei-
Entwicklungszeit zu akzeptieren, um so wirklich rateten Sohn verloren hatten,
den durch die spezifische Katastrophe entstande- - die über Tage verletzten 8 Bergleute,
nen Fragestellungen gerecht werden zu können. - die 6 Geretteten,
- das Rettungspersonal,
Verhandlungen zwischen Geldgebern und profes- - in Verantwortungspositionen stehende
sionellen Helfern. Wenn der Geldgeber eine Firma Betriebsangehörige,
oder ein Konzern ist, muss um einen Kompro- - Helfer, einschließlich der freiwilligen und
miss gerungen werden zwischen therapeutisch professionellen Helfer aus dem Arbeitskreis.
wünschenswerten Maßnahmen und kaufmän-
Wegen der großen Anzahl Betroffener wurden in
nisch vertretbaren Investitionen. Dabei kann es
Borken die Personen zur psychologischen Be-
zu belastenden Situationen für beide Seiten kom-
treuung in Gruppen zusammengefasst. Zu Be-
men, die bei beiden jedoch auch zu konstrukti-
ginn stellten sich folgende Ausgangsprobleme
ven Lernprozessen führen können und wie im
und Hauptthemen dar (s. DTabelle 11.1).
Fall Borken bei den Verhandlungen mit der
Preussen Elektra vergrößertes psychologisches
Verständnis bei den Kaufmännern und klarere 11.2.s Aufsuchende
Sicht für das kaufmännisch Vertretbare bei den psychosoziale Hilfsangebote
Psychologen ergaben.
Erfahrungen im Umgang mit Katastrophen-
Konkurrenzen und unterschiedliche Zielsetzungen opfern zeigen, dass es wichtig ist, auf die Betrof-
unter den Helfern. Unterschiedliche Ziele und fenen zuzugehen. Aus verschiedenen Gründen
Konkurrenzen können sich z. B. ergeben, wenn sind die meisten von einer Katastrophe betroffe-
ein Teil der Helfer mehr wissenschaftliche und nen Menschen nicht in der Lage, psychosoziale
Forschungsinteressen hat, andere die alleinige Hilfe selbständig in Anspruch zu nehmen:
klinische Arbeit mit den Katastrophenopfern im - Sie sind in den ersten Wochen psychisch »im
Sinn haben. Schock« erstarrt und daher kaum zu planeri-
Solche Unstimmigkeiten verbunden mit schem Handeln fähig,
Kompetenzstreitigkeiten im Behandler-Betreuer- - durch die Symptome der PTB fühlen sie sich
team können zur Zerreißprobe des gesamten Pro- verunsichert. Sie nehmen i. Allg. nur ärztliche
jekts werden, zumal die Arbeit mit Katastrophen- Hilfe in Anspruch, die sich meist auf die me-
opfern ohnehin, wie oben beschrieben, emotio- dikamentöse Behandlung der körperlichen
nal sehr belastend ist. Symptome konzentriert,
- es besteht eine Hemmschwelle, Kontakt zu
Psychologen aufzunehmen (z. B. durch das
Es ist daher außerordentlich wichtig, von An- Vorurteil: »Ich bin doch nicht verrückt!«).
fang an eine Supervision für die Betreuer
Die Möglichkeit, psychosoziale Hilfe den Betrof-
einzuplanen, um Lösungsmöglichkeiten für
fenen direkt anzubieten, wurde in Borken folgen-
derartige Konflikte zu erarbeiten.
dermaßen verwirklicht.
11 .2 • Organ isat ion eines Hilfsprogramms
211 11
arabelle 11.1. Von der Katastrophe betroffene Gruppen und ihre Problemlagen I
Betroffene Auslöser für PTB oder ~kute Belastungsreaktionen

Witwen -- Der Verlust des Mannes

--
traumatische Erlebnisse während des tagelangen Wartens auf dem Grubengelände
die eigene Trauer

-
die Trauer der Kinder
Erziehungsprobleme

MütterNäter - Traumatische Erlebnisse während und nach dem Unglück (Beispiel: Eine alleinstehende
Mutter verlor ihren einzigen Sohn, einen Abiturienten, der sich vor Beginn des Studiums
durch die Arbeit in der Grube etwas Geld verdienen wollte. Der Tag des Unglücks war sein
erster Arbeitstag gewesen. Er wurde durch die Explosion so zerfetzt, dass sie ihn nur noch
anhand von Einzelteilen identifizieren konnte)

Kinder - Der Verlust des Vaters und oft die Unfähigkeit, die Trauer vor der Mutter zu zeigen

Verletzte - Der Explosionsschock und die Feuerwelle, die sie aus unmittelbarer Nähe miterlebt hatten
direkt betroffen durch Verbrennungen und eigene Verletzungen
z. T. noch zusätzlich betroffen durch den Tod der Söhne
der Verlust der vielen Freunde und Kollegen

Betriebsangehörige Verarbeitung besonders traumatischer Erlebnisse (Beispiel: Ein Betriebsratsmitglied


musste alle 51 Toten identifizieren)
die quälende Frage, ob man das Unglück hätte verhindern können
die eigene Trauer

Gerettete Das Trauma des Eingeschlossenseins


die Angst, nicht wieder lebend aus der Grube herauszukommen
Verlust der Freunde und Kollegen
keine Freude, eher Schuldgefühle wegen des eigenen überlebens. Nach der Rettung
standen sie Im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses - es galt ein vernünftiges Maß zu
finden zwischen Abschirmen vor der Öffentlichkeit und Aufheben von Rückzugsverhalten

Grubenwehr und Die schrecklichen Bilder der ersten Stunde über und unter Tage
andere Helfer das Bergen ihrer toten und z. T. bis zur Unkenntlichkeit verstümmelten Kumpel
das Leid der Angehörigen
der Einsatz des eigenen Lebens
die eigene Trauer (Beispiel: Ein sehr erfahrener Feuer- und Grubenwehrmann drückte die
Betroffenheit folgendermaßen aus: • Ich habe in den letzten 30 Jahren als Feuerwehr-
mann bei Unfällen viele schlimme Sachen gesehen, aber seit ich im Juni in
Stolzenbach war, kann ich nachts nicht mehr schlafen. <~

f) Beispiel stellung bestand z. B. darin, Hausbesuche bei den

Briefe Familien zu machen, den Frauen bei der Beantra-

ln Borken schrieb der Arbeitskreis Stolzenbachhilfe gung der Hinterbliebenenrenten zu helfen, die

zu Beginn der Betreuungsphase einen Brief an alle Verletzten im Krankenhaus zu besuchen. Gleich-

Betroffenen, in dem auf zu erwartende Probleme zeitig wiesen sie auf Elternabende hin, in denen

und Symptome hingewiesen wurde. die Mütter über ihre Situation als nunmehr Al-
leinerziehende mit einem Fachmann sprechen
Ansprechen durch die Werksfürsorge
konnten, und sie empfahlen den Betroffenen, an
Alle Betroffenen wurden zunächst von den Frauen
den psychologisch geleiteten Gruppen teilzuneh-
der Werksfürsorge angesprochen und in psycho-
men.
sozialer Hinsicht basisversorgt Diese erste Hilfe-
212 Kapitel 11 · Betreuung von Katastrophenopfern

11.3 Behandlung
von Katastrophenopfern hypnotherapeutische Ich-stärkende
Suggestionen (Gill igan & Ken nedy,
11.3.1 Therapieziele 1991).
und therapeutische Strategien Das Unnormale normalisieren:
in der Einzeltherapie Der Therapeut muss die Patienten aufklä-
ren, dass die Reaktionen und Symptome
Allgemeine Therapieziele unter den gegebenen Umständen normal
sind. Dadurch kann eine weitere Trauma-
Als generelles Ziel soll der Patient lernen, dass er
t isierung der Patienten durch die Symp-
die Erinnerungen ertragen kann. Er soll sein Bild
tome vermieden werden.
von sich als passives Opfer des Unglücks ändern
Vermeidungsverhalten abbauen:
hin zu dem eines aktiven überlebenden.
Vermeidung tritt auf bei Gefühlen, Erin-
nerungen an das Unglück, bestimmten
Orten und Gesprächen über das Unglück.
Wichtige therapeutische Ziele in der
Dem Geschehenen einen neuen Sinn
Einzeltherapie von Katastrophenopfern
verleihen:
Mit der Erinnerung leben lernen,
Es gibt verschiedene Techniken, den Pa-
Vermeidungsverha lten aufgeben,
tienten zu helfen, neue Erklärungen für
das Trauma in den Lebenslauf integrieren,
das Erlebte zu finden:
die Opferrolle verlassen und sich als akti-
Interpretationen (Horowitz, 1986),
ven Überlebenden begreifen,
Reframing (Figley, 1985),
Loslassen können von der Vergangenheit
kognitive Umstrukturierung
und Aufbau einer neuen Zukunftsper-
(Meichenbaum & Cameron, 1983),
spektive.
Aufmerksamkeitsfokussierung weg
von der Vergangenheit auf die Zu -
kunft hin (Gilligan & Kennedy, 1991 ).
Therapeutische Ansatzpunkte

4 übergreifende Strategien haben sich als erfolg-


reich herausgestellt, die auf den Ansätzen und
Zielen verschiedener Therapieschulen basieren. 11 .3.2 Gruppentherapeutischer Ansatz

Debriefing-Gruppen
Generelle therapeutische Strategien
in der Einzeltherapie In Borken wurde schnell deutlich, dass reine
Eigene Bewältigungsstrategien unter- Selbsthilfegruppen allein von den Betroffenen
stützen (sog. Ich-stützende Interventio- nicht organisiert werden konnten, da die meisten
nen): sich in einer Phase der Erstarrung und des inne-
Grundlegend wichtig ist eine positive Pa- ren wie äußeren Rückzugs befanden. Vorbild für
tient-Therapeut-Beziehung (s. Kap. 2). Zur die Gruppen sind die Debriefing-Gruppen (vgl.
Anwendung kommen spezielle Techniken: Holen, 1985).
Entspannu ngstraining,
systematische Desensibi lisierung,
positive Selbstgespräche (Meichen- Ziel dieser Gruppen ist es, mit den von einer
baum & Cameron, 1983), Katastrophe Betroffenen die traumatischen
hypnotherapeutisches Wiederherstel- Erlebnisse möglichst bald danach gemeinsam
len von Ressourcen, zu besprechen, um zu verhindern, dass sich
der Einzelne mit der psychischen Verarbeitung
überfordert fühlt.
11.3 · Behandlung von Katastrophenopfern 213 11
Die Möglichkeit, an den psychologischen Grup- »Was war das Schlimmste für Sie bei dem ge-
pen teilzunehmen, wurde von ca. 2/3 der Witwen samten Unglück?«
und Eltern, von allen Geretteten, von fast allen
Verletzten und Mitgliedern der Grubenwehr, Auf diese Weise wurde den Gruppenteilnehmern
von allen Betriebsangehörigen, denen das Ange- zunächst einmal deutlich, dass sie als Katastro-
bot gemacht worden war, in Anspruch genommen. phenopfer in einer kleinen Gemeinde das ent-
Das anfangliehe Misstrauen einem fremden Psy- standene Leid in potenzierter Form erleben, dass
chologen gegenüber löste sich allmählich auf, sie nicht nur unter dem eigenen Trauma leiden,
nachdem unmissverständlich klargemacht wurde, sondern auch noch unter dem Verlust und Trau-
dass die in den Gruppen besprochenen Inhalte we- ma des Freundes, der Freundin, der Nachbarin,
der an die Unternehmensleitung noch an die Öf- des Arbeitskollegen usw. Im Unterschied zu an-
fentlichkeit weitergeleitet werden (durch die nega- deren Traumaopfern wird die Trauer, das Leid,
tiven Erfahrungen mit der Presse waren viele Be- der Verlust, die Verletzung und Zerstörung von
troffene nachhaltig beeinflusst und verunsichert). Katastrophenopfern nochmal erheblich stärker
empfunden. Bei erfolgreicher therapeutischer Ar-
beit kann diese schwere Anfangshypothek jedoch
Inhalte der Gruppensitzungen
zum Motor werden, sich selbst und die anderen
Die Gruppenteilnehmer erhielten immer wieder zu motivieren, aus der Opferrolle herauszutreten
die Möglichkeit, frei über Probleme zu sprechen, und die des aktiv Bewältigenden auszuprobieren.
die sie im Moment besonders belasteten. Die fol- Die gemeinsam erlebte Katastrophe erzeugt
gende Struktur stellte sich dabei als sinnvoll he- ein Solidaritätsgefühl, das es ermöglicht, der
raus: Gruppe gegenüber soviel Vertrauen zu ent-
_ Faktenebene wickeln, dass man auch das individuell am
Anfangs wurden die Betroffenen aufgefordert schlimmsten Erlebte vor der Gruppe erzählen
zu berichten, was sie während des Unglücks kann. Diese Offenheit wiederum motiviert die
erlebt hatten. Jeder Teilnehmer erzählte aus Gruppe dazu, nach Lösungen für Einzelne und
seiner Perspektive den Verlauf der Katastro- die Gruppe zu suchen.
phe: Ein wechselseitiger Prozess kommt in Gang,
»Ich war gerade da und da und erfuhr von in dem der Einzelne von der Gruppe und die
dem Unglück durch ..., fuhr zum Zechengelän- Gruppe vom Einzelnen profitieren kann.
de und sah das und das ... «. Im Gegensatz zu Traumaopfern, die ein indi-
- Emotionsebene viduelles Trauma erlebt haben, und sich mit ih-
Die Betroffenen wurden ermutigt, ihre dama- ren Symptomen lange als unnormal empfinden,
ligen Gefühle zu äußern und deutlich zu ma- haben Katastrophenopfer die Möglichkeit, durch
chen, wie es ihnen heute geht. diese Gruppenprozesse schneller aus der Rolle
- Symptomebene des passiv leidenden Opfers herauszutreten.
Sammeln der körperlichen und psychischen Besonders wirksam ist dabei ein dauernder
Beschwerden. Wechsel zwischen der Gesprächsebene und der
- Verhaltensebene Verhaltensebene: z. B. nachdem eine Witwe er-
Welche neuen Verhaltensweisen sind bei den zählt hat, wo sie in ihrem Garten gestanden hat,
Gruppenmitgliedern nach der Katastrophe als sie die Explosion hörte, wurde mit der Gruppe
aufgetreten, insbesondere welche Vermei- dorthin gefahren. Die Gruppe ließ sich den Ort
dungsstrategien (bezüglich Situationen, Or- zeigen, dann wurde weiter zur Unglücksstelle ge-
ten, Gedanken, Gefühlen etc.) haben sie ent- fahren. Dort ließ sich die Gruppe erzählen, was
wickelt, um der Auseinandersetzung mit der die Witwe am Unglückstag dort erlebt hat und
Katastrophe zu entgehen. gemeinsam konnte erlebt und bearbeitet werden,
- Bewertungsebene was die gedankliche Auseinandersetzung und die
Herausarbeiten des individuellen Trauma- reale Konfrontation mit dem Unglück heute noch
erlebnisses: auslöst.
214 Kapitel 11 · Betreuung von Katastrophenopfern

f) Beispiel nerung und dem Wieder-Erleben machtlos aus-


Aus der Sicht des Therapeuten geliefert fühlten, sondern mehr und mehr frei
Die ersten Gruppensitzungen wurden vom Autor darüber verfügen konnten, ob sie sich bewusst
erlebt, als seien Dämme aufgebrochen, hinter erinnern wollten oder ob sie das Erlebte eine
denen eine ungeheuer stark angestaute Macht Zeitlang beiseite stellen wollten, um andere nötige
von Gefühlen der Verzweiflung, der Wut, der Aufgaben zu bewältigen.
Trauer, des Grams, der Hoffnungslosigkeit steckte. Die Teilnehmer der Gruppentherapien merk-
Das Ausmaß des psychischen Leidensdrucks war ten, dass sie es nicht mehr nötig hatten, die Erin-
so immens, dass es auch für einen von außen nerungen an das Unglück zu vermeiden. Durch die
Dazugekommenen nur schwer zu ertragen war aktive Konfrontation mit dem Trauma gewannen
und dass man sehr schnell kein Außenstehender sie zunehmend innere Stärke und erlebten sich
mehr sein konnte. Allein die Aufforderung: »Er- bald weiter und freier in der Katastrophenbewäl-
zählen Sie bitte, was Sie erlebt haben«, wirkte wie tigung als Betroffene, die die Gruppen nicht be-
das Öffnen eines Ventils. Die Tränen flossen als suchten.
Ausdruck dessen, dass man alle schmerzhaften
Nachdem die Gruppen fest etabliert waren, war
Gefühle, die mit dem Unglück in Zusammenhang
ein wesentliches Ziel der Arbeit in Borken schon
standen, erneut erlebte.
erreicht, nämlich, dass die Betroffenen aus ihrer
Aus der Sicht der Gruppenteilnehmer Isolation herauskamen, um miteinander zu reden
Viele Gruppenteilnehmer erlebten es als paradox, und auf diese Weise zu versuchen, das erlebte
dass es ihnen nach den ersten Gruppensitzungen Trauma zu bewältigen, den Verlust eines gelieb-
schlechter als vorher ging, waren sie doch in die ten Menschen zu verstehen und langsam eine
Gruppe gekommen, damit es ihnen besser gehe. neue Lebensplanung in Angriff zu nehmen.
Durch die intensive Beschäftigung mit dem eige- Abschließend sei der gemeinsame Besuch an
nen Schmerz und zusätzlich mit dem Leid der der Gedenkstätte genannt. Mit allen Gruppen
anderen war es vielen Gruppenteilnehmern in wurde die Gedenkstätte vor deren offizieller Er-
dieser Zeit unmöglich, nach einem Gruppenabend öffnung besucht. Die meisten der Frauen hatten
(der oft 3 bis 4 Stunden dauerte) den Schlaf zu den Ort bis dahin systematisch gemieden. Viele
finden. Alles wurde wieder aufgewühlt und nicht hatten größte Schwierigkeiten, das Gelände erst-
wenige zweifelten, ob es wirklich der richtige Weg mals nach dem Unglück zu betreten. Der
sei, sich dauernd mit den schrecklichen Gescheh- schwerste Augenblick war für die meisten der,
nissen zu beschäftigen. als sie die Namen ihrer Angehörigen auf dem
zentralen Bronzering fanden. Viele äußerten sich
Verlauf der Gruppentherapie
hinterher zwar sehr betroffen, aber auch erleich-
Mit der Zeit wuchs jedoch das Zusammengehö-
tert. Sie hatten das Gefühl, in der Bewältigung ih-
rigkeitsgefühl in den Gruppen, man scheute sich
rer Trauer durch das überstandene Wagnis, durch
nicht, immer und immer wieder vom Unglück zu
das Wiederaufleben der schmerzhaften Erinne-
erzählen, traute sich auch an intimere Gedanken
rungen, und v.a. durch die Erfahrung des unbe-
und Gefühle heran und merkte, wie es ganz
schadeten Ertragens dieser Erinnerungen, einen
langsam leichter wurde, darüber zu reden. Das
wichtigen Schritt vorangekommen zu sein.
gegenseitige Verständnis füreinander in der
Gruppe wurde im Gegensatz zu den Alltags-
erfahrungen in der Gemeinde als außerordentlich 11.4 Therapeutisches Vorgehen
hilfreich und heilsam erlebt.
Schließlich spürten die Gruppenteilnehmer, Die meisten Katastrophenopfer kommen mit der
dass in dem Maß, wie sie es schafften, ihren mehr oder weniger deutlich geäußerten Wunsch-
Gefühlen in der Gruppe Ausdruck zu geben, sie vorstellung in die Behandlung oder Betreuung,
seltener und weniger intensiv von der Erinnerung das Trauma zu vergessen oder verdrängen zu
>>überfallen« wurden, dass sie sich nicht der Erin- wollen. Andererseits vertreten auch viele vor-
T wurfsvoll die Haltung: »Sie können mir auch
11.4 · Therapeutisches Vorgehen
215 11
nicht helfen, Sie können mir das auch nicht weg- Ziel ist es, das Vermeidungsverhalten zu reduzie-
machen!« Die Betroffenen schwanken nach dem ren. Die Vorgehensweise ist folgendermaßen:
erlebten Schock zwischen Vermeidung und Kon-
frontation, zwischen Leugnung und Erinnerung.
Auf die direkte Frage des Therapeuten, ob sie Ablauf der Konfrontation in sensu
glauben, das Erlebte jemals in ihrem Leben ver- Vorbereitung
gessen zu können, antworten die meisten spontan 1. Schritt: Durchführung einer
mit »Nein«. So wird ihnen oft schlagartig klar, Entspannungsübung
dass es nur einen Weg aus der Sackgasse gibt, 2. Schritt: Imaginationsübung eines
nämlich den, zu lernen, mit dem Geschehenen angenehmen Inhalts
zu leben, das Ereignis durchzuarbeiten und in 3. Schritt: Langdauernde Konfrontation,
ihr Leben zu integrieren. Imaginieren des Traumas
4. Schritt: Durchführung einer
Entspannungsübung
Therapeutisches Vorgehen zur Bewälti-
gung des traumatischen Ereignisses
Der Patient benötigt die Informationen, Während der Vorbereitung wird für den 3. Schritt
dass seine Symptome unter den gegebe- eine Hierarchie des Schweregrads der traumati-
nen Umständen als norma l einzustufen schen Erinnerungen erstellt. Mit dem Patienten
sind, wird eine Rating-Skala für die Stärke der erlebten
er muss motiviert werden, sein Mei- Angst von 1-10 vereinbart.
dungsverhalten aufzugeben und soll beim Nach einer Entspannung wird das Trauma
Üben mit konfrontativen Stimu li begleitet durch sensorische Schlüsselreize in Szene gesetzt
werden, (visuell, auditiv, taktil, olfaktorisch). Hierzu
er muss das Trauma emotional, physiolo- gehört eine genaue Anamnese der traumatischen
gisch und kognitiv bearbeiten. Situation und der individuellen Reaktionsweise
des Patienten. In dem vorgestellten Beispiel wur-
de der Gerettete mit einem Film seiner eigenen
Auf diese Weise kann er zu einer Integration und Rettung konfrontiert - visuelle und auditive
Neubewertung des Ereignisses gelangen. Ziel soll Schlüsselreize sind bei ihm besonders wirksam.
sein, dass er die Opferrolle verlässt und in die Bei einem anderen Geretteten waren olfaktori-
Rolle eines aktiv überlebenden gelangt. sche Schlüsselreize wesentlich wirksamer - er
wurde aufgefordert, sich den Geruch der Rauch-
schwaden nach der Explosion in Erinnerung zu
rufen.
11.4.1 Konfrontationsverfahren Ist der Betroffene einmal durch diese sensori-
bei Katastrophenopfern schen Schlüsselreize gefühlsmäßig stark in die Si-
tuation involviert, wird unter stützender Führung
An Beispielen eines Geretteten und eines Gruben- des Therapeuten der Schwerpunkt der Aufarbei-
wehrmannes sollen 2 Möglichkeiten von verhal- tung auf den am meisten ängstigenden Teilaspekt
tenstherapeutischen Konfrontationsbehandlun- des Traumas gelegt. Von besonderer Wichtigkeit
gen von Katastrophenopfern verdeutlicht werden. ist dabei die Betonung der dazugehörigen aver-
siven Gedanken, Gefühle und Vorstellungen, die
u.U. auch ganz irrealer Natur sein können. Der ei-
Konfrontation in sensu
gentliche therapeutische Effekt der Behandlung
Es handelt sich um eine wiederholte Präsentation besteht darin, dass der Patient während der Kon-
des traumatischen Ereignisses in der Vorstellung, frontation lernt, dass er vor seinen eigenen
bis die Szene keine starken Angstreaktionen Körper- und Gefühlsreaktionen keine Angst zu
mehr auslöst (Keane et al., 1985, s. auch Kap. 4). haben braucht, da er sie ertragen gelernt hat.
216 Kapitel 11 · Betreuung von Katastrophenopfern

f) Beispiel sich mit dem Gedanken: »Haben die uns etwa


Fallbeschreibung eines geretteten Bergmannes vergessen, wo wir hier unten sitzen und es uns so
Ein 29-jähriger Bergmann hatte sich nach der Ex- dreckig geht?« Emotional spürte er Wut und Ver-
plosion zusammen mit 5 Kumpeln in den Berg zweiflung.
zurückgezogen, statt wie alle anderen in Richtung Während des Redens über seine Gefühle, Ge-
zum Ausgang und damit in die tödlichen Gase zu danken und Körperzustände («Wie ging es damals
laufen. und was empfinden/ denken Sie heute?«) stellte er
fest, dass er sich beruhigte und von seinen eige-
Belastungen
nen Reaktionen weniger geängstigt und gestresst
Seine Gruppe hatte sich in einen Blindstollen ge- war. Seine Erregung/Angst war wieder auf 4 bis 5
flüchtet und verbrachte dort 65 Stunden in abso- gesunken.
luter Dunkelheit in der Todesangst, niemals wieder Die Konfrontation über Video wurde fort-
gefunden zu werden. Die Luft wurde im Verlauf geführt bis zu einer Stelle, an der wiederum eine
der zweieinhalb Tage immer schlechter, sie droh- starke Reaktion von ihm zu erkennen war. Es
ten zu ersticken, sie litten unter Hunger und Durst. handelte sich um den Punkt, wo sein Name vom
Nach der Rettung erfuhr er vom Verlust seiner 51 Reporter genannt wurde und er in der Rettungs-
Freunde und Kollegen, bei ihm entstand keine gondel ans Tageslicht befördert wurde. Auch hier
Freude über die Rettung, sondern Schuldgefühle, wurde der Film wiederum angehalten, um auf der
überlebt zu haben. kognitiven, emotionalen und physiologischen
Symptomatik Ebene zu reflektieren, was mit ihm passierte.
Zur Zeit der Behandlung litt er unter Dunkelangst, An diesem Punkt traten seine Schuldgefühle,
Alpträumen, Schreckhaftigkeit, Gereiztheit, Kon- überlebt zu haben, zutage und seine Schwierig-
zentrationsschwierigkeiten, Ängsten und ver- keiten, mit diesen Gefühlen den Witwen der um-
schiedenen psychosomatischen Beschwerden, gekommenen Kollegen gegenüberzutreten. ln
besonders Herzstichen. Er quälte sich mit Schuld- diesem Zusammenhang können auch unrealisti-
gefühlen, die Katastrophe überlebt zu haben, und sche Erwartungen an sich selbst («Ich hätte andere
hatte zeitweise suizidale Gedanken. Er zeigte retten müssen«) geklärt werden.
deutliches Vermeidungsverhalten bei allem, was Auch während dieser Bearbeitung machte er
an das Unglück erinnerte, z. B. die Unglücksstelle, wieder die Erfahrung, dass dauerhaftes Erleben
das Treffen einer Witwe, das Anschauen von von intensiven Angstgefühlen nach vorüberge-
Filmberichten über die Katastrophe. hendem Angstanstieg zu spontanem Rückgang
von deren kognitiv-emotionalen und physiologi-
Behandlung schen Komponenten führen.
Bei der Präsentation des Videofilms seiner eigenen Nach dem 3. Anhalten des Films und dem
Rettung wirkte Herr R. von Anfang an sehr ange- Bearbeiten seiner Reaktionen äußerte Herr R. den
spannt. Unmittelbar vorher hatte er sich auf der Wunsch weiterzumachen, sich den Film später
Angst-Anspannungsskala von 4 bis 5 eingestuft auch mit seiner Frau noch einmal anzuschauen.
(mittelgradige Anspannung). Das heißt, er war bereit, die Auseinandersetzung
Als er im Film seine von unter Tage abge- mit der Katastrophe und mit seinen damit ver-
gebenen Klopfzeichen hörte, die über Tage mit bundenen Gedanken und Gefühlen zu suchen.
einem Mikrophon aufgezeichnet worden waren,
reagierte er mit starker körperlicher Unruhe und Therapieergebnis
Schwitzen. An dieser Stelle wurde das Video an- Sein in dieser Situation erlernter Umgang mit der
gehalten. Befragt nach seinem Zustand gab er an, Angst motivierte und befähigte ihn dazu, die
seine Angst auf »10<< einzuschätzen. Seine Hand- realen äußeren angstauslösenden Reize (d. h. die

innenflächen waren naß geschwitzt. Er hatte Unglücksstelle und das Treffen von Witwen seiner
Herzstiche und fühlte sich elend (physiologische toten Kumpel) selbständig aufzusuchen.
Ebene). Auf der kognitiven Ebene beschäftigte er
T
11 .4 · Therapeutisches Vorgehen 217 11
Konfrontation in vivo Er war nach einer langen Odyssee durch ver-
schiedene Arztpraxen und Kuren, in denen er
Verschiedene Verhaltensübungen und Konfronta- vorwiegend medikamentös gegen seine Ängste
tionsbehandlungen in vivo wurden mit Erfolg in und Depressionen behandelt worden war,
Borken angewendet. Erfolgskriterium war dabei schließlich grubenuntauglich geschrieben wor-
jeweils einerseits die vom Betroffenen selbst ein- den. Nirgendwo hatte er die Diagnose PTB be-
geschätzte Angst und andererseits seine Fähig- kommen; eine bekannte psychosomatische Fach-
keit, sich in Situationen zu begeben, die früher klinik entließ ihn mit der Diagnose >>Hyperventi-
von ihm extrem vermieden wurden. lationssyndrom«, obwohl er selbst immer wieder
auf einen von ihm vermuteten Zusammenhang
f) Beispiel
mit seinem Grubenwehreinsatz in Borken hinge-
Fallbeschreibung eines Grubenwehrmannes
wiesen hatte. Er bekam eine Arbeit über Tage als
Herr H. war zum Zeitpunkt des Grubenunglücks 25
Kauenwärter angeboten (in der Realität bedeutete
Jahre alt und arbeitete als Maurer unter Tage in
das, die Toiletten zu putzen und den Hof zu fegen)
einem Salzbergwerk.
und sollte im Alter von 29 Jahren verrentet wer-
Belastungen den.
Er kam als Grubenwehrmann in den ersten Stun-
den nach der Explosion nach Borken und fuhr in Behandlung
die Grube ein. Es handelte sich um einen sehr Die erste Therapiephase bestand darin, seine
gefährlichen Einsatz, ein Atemzug bei einer ver- Symptome zu »normalisieren«, d. h. sie in Verbin-
rutschten Maske wäre bei der hohen COrKon- dung mit den traumatischen Erlebnissen zu brin-
zentration tödlich gewesen. Er war mit der Absicht gen und sie den gegebenen Umständen entspre-
zu retten gekommen, konnte aber tatsächlich nur chend als angemessen zu interpretieren.
noch viele Tote bergen, die z. B. bis zur Unkennt- Anschließend ging es um sein Männerbild. Mit
lichkeit verstümmelt und zerfetzt waren. Er musste einem gewissen Retter-Ethos und dem Selbstbild
in der Bergungsgondel jeweils mit einem in einen des starken Mannes, dem so etwas nichts aus-
Plastiksack eingepackten Toten in engem Körper- macht, versuchte er nach dem emotional extrem
kontakt ausfahren. Er bekam den Auftrag, einzelne belastenden Einsatz weiterzuleben, als sei nichts
Körperteile zu suchen und zu bergen und war passiert. Er schloss sich keiner der Gruppen an,
dauernd mit dem Leid der Angehörigen konfron- weil er der Meinung war, er habe so etwas nicht
tiert. nötig, versuchte alle mit dem Unglück zusam-
Symptomatik menhängenden Gedanken und Erinnerungen zu
Er litt unter Panikattacken, die erstmals 15 Monate vermeiden - er schaltete z. B. immer sofort den
nach dem Unglück auftraten, als er auf der »Hän- Fernseher aus, wenn ein Bericht über Borken ge-
gebank« saß, um einzufahren. Vorher hatte er sendet wurde - und unterstützte diese Verdrän-
unter Tage bei heftigen Angstanfällen hyperven- gungsversuche durch starken Alkoholkonsum.
tiliert und war deswegen krank geschrieben wor- ln der Therapie lernte er, seine körperlichen
den. Symptome als Ausdruck dessen zu verstehen, dass
Er zeigte deutliches Vermeidungsverhalten im er als verletzlicher Mensch daran arbeitete, das
beruflichen wie privaten Bereich - er traute sich Trauma in seine psychologische Realität zu inte-
z. B. nicht mehr in Gesellschaft, ging nicht mehr grieren bzw. seine internale Struktur so zu verän-
allein einkaufen und hatte Schwierigkeiten bei dern, dass eine Anpassung möglich ist (Janoff-
Feuerwehreinsätzen. Nachts träumte er oft von Bulman, 1985). Die Behandlung der Angstproble-
Borken, besonders von den weinenden Frauen, er me in seinem Privatbereich (z. B. wieder einkaufen
litt unter Schlaflosigkeit, innerer Unruhe, Kribbeln gehen, allein in den Wald gehen können) war re-
und Taubheit in den Extremitäten und weichen lativ schnell erfolgreich.
Knien. Mit hypnotherapeutischen Verfahren wurde
T ihm die Gelegenheit gegeben, den für ihn
T
218 Kapitel 11 · Betreuung von Katastrophenopfern

schlimmsten Teil des Traumas zu bearbeiten, 11.4.2 Lebensperspektiven


nämlich, es nicht geschafft zu haben, auf die be- nach der Traumabewältigung
troffenen Angehörigen zugehen zu können. Mit
der vorher erarbeiteten neuen Fähigkeit, Viele Katastrophenopfer sind ständig auf der Su-
>>menschlich<< und mitfühlend den Angehörigen zu che nach einem Sinn, den die Katastrophe für ihr
begegnen, d. h. auf sie zugehen und sie trösten zu Leben haben könnte. Für die meisten Katastro-
können, konnte er die traumatische Situation mit phenopfer ergibt sich nach der intensiven Thera-
mehr Kompetenz nacherleben und somit von piephase eine neue Perspektive von Alltagsprob-
seinen quälenden Selbstvorwürfen und Schuld- lemen: Sie geben an, viele Dinge, über die sie sich
gefühlen ablassen. früher geärgert oder aufgeregt haben, heute ge-
Wieder in die Grube einzufahren, war für ihn lassener und distanzierter sehen zu können. Die
so angstbesetzt, dass er es zu Beginn der Therapie Natur wird oft als außerordentlich heilsam erlebt.
nicht einmal als Therapieziel formulieren konnte. Für manche Menschen ergeben sich vollkom-
Er musste lange Zeit motiviert werden, um zu men neue Lebensperspektiven. Eine der Witwen
wagen, das Einfahren durch Konfrontations- aus der Witwengruppe gibt z. B. nach 5-jähriger
behandlung wieder zu lernen. Betreuung an, dass sie trotz der eindeutigen Lie-
Es handelte sich dabei - im wahrsten Sinne be zu ihrem umgekommenen Mann heute nicht
des Wortes - um »Therapie vor Ort<<: Der Thera- mehr mit ihrer damaligen Situation tauschen
peut fuhr mit ihm zusammen in die Grube ein und würde. Sie hat erlebt, wie aus der Oberwindung
Herr H. musste sich an bestimmten »kritischen der Katastrophe neue Kräfte wachsen können
Stellen<<, d. h. solchen Orten, von denen eine be- und Ziele angegangen werden können, die früher
sondere »Gefährdung<< ausging, da er dort früher nie denkbar gewesen wären. So hat sie beispiels-
Panikattacken bekommen und hyperventiliert weise eine Berufsausbildung absolviert und führt
hatte, solange aufhalten, bis seine Angst nachließ. heute ein selbständiges und selbstbewusstes Le-
Nach einigen Wiederholungen war diese Therapie ben, aus dem heraus sie sich ihr früheres Leben
schließlich so erfolgreich, dass er heute wieder in als »Nur-Hausfrau« nicht mehr vorstellen kann.
seinem alten Beruf unter Tage arbeitet. Der erwähnte Grubenwehrmann hat eine
Konsequenz aus seinen Erlebnissen und seiner
Bei Konfrontationsbehandlungen mit Katastro- Therapie gezogen: Bei heutigen Feuerwehreinsät-
phenopfern muss unbedingt beachtet werden, zen ist er dafür zuständig, eingeklemmten oder
dass diese nicht rezeptartig angewendet werden verletzten Personen beizustehen und sie zu beru-
dürfen. Sie dürfen nur im Zusammenhang mit ei- higen, bis ein Sanitäter eintrifft. Ein anderer Gru-
ner tragfähigen therapeutischen Beziehung, auf benwehrmann führt nach jedem Einsatz Bespre-
keinen Fall gegen den Willen des Patienten und chungen besonders mit seinen jüngeren Kollegen
nur nach guter Vorbereitung durchgeführt wer- durch und animiert sie, von ihren belastenden
den. Erlebnissen zu berichten und zu den eigenen
Anders als bei vielen Angstpatienten entsteht Gefühlen der Angst und des Verletztseins zu ste-
bei traumatisierten Patienten hinterher meist hen.
auch kein Hochgefühl, es endlich geschafft zu ha-
ben, sondern es bleibt die traurige und schmerz-
liche Erinnerung, allerdings ohne die Angst, von 11.4.3 Symbolisieren der Katastrophe
dieser übermannt zu werden.
Für Katastrophenopfer ist es wichtig, einen ge-
meinsamen Ort des Gedenkens zu haben, der
die Erinnerung an das Unglück auch für Nicht-
betroffene wachhält und der neben persönlichen
Trauerstätten ein Gedenken der Toten ermöglicht.
- Auf dem ehemaligen Gelände der Grube Stol-
zenbach wurde in vorbildlicher Weise eine Ge-
Literatur 219 11
denkstätte geschaffen, die die Erinnerung an alle Literatur
bei der Katastrophe Umgekommenen ermöglicht.
Solche Bezugsstellen lösen bei den Betroffe- Armstrong, K., O'Callahan, W. & Marmar, C.R. (1991 ). Debrief-
ing Red Cross d isaster personnel: The Multip le St ressor
nen immer wieder eine intensive Konfrontation
Debriefing Model. Journal ofTraumatic Stress, 4, 581-593.
mit der Katastrophe aus und ermöglichen so Arbeitsgruppe Stolzenbachhilfe (Hrsg.) (1992). Nach der Katas-
auch das anschließende Loslassen und Beiseite- trophe. Das Grubenunglück von Borken. Ein Erfahrungs-
stellen des Erlebten. bericht über 3 Jahre psychosoziale Hilfe. Vandenhoek &
Ruprecht.
Figley, Ch. (1985). Trauma and it's wake. New York: Brunner.
Gilligan, S.G. & Kennedy, C. E. (1991 ). Solutionsand resolutions:
11.5 Fazit Ericksonian hypnotherapie with incest survivor groups.
Journal of Strategie and Systemic Therapy, 8(4), 9-17.
Katastrophenopfer brauchen viel Zeit für die Auf- Holen, A., Malt, U. & Sund, A. (1985). Ulykker, katastroffer og
arbeitung des Traumas und die sog. Reparatur- Stress. Oslo: Gyldendahl Forly.
Horowitz, M.J. (1986). Stress response syndroms (2nd ed.).
arbeit {Janoff-Bulman, 1985). Die Gruppen in
Northvale, NJ: Aronsen.
Borken dauerten im Schnitt 3,5 Jahre, an die sich Janoff-Bulman, R. (1985). The aftermath of victimisation: Re-
noch eine Nachbetreuung anschloss. building shattered assumptions. ln C. R. Figley (ed.), Trau-
Die therapeutische Arbeit mit Katastrophen- ma and its wake. New York: Brunner/ Mazel.
opfern ist einerseits sehr belastend und fordert Keane, T.M., Zimering, R.T. & Caddel, J.M. (1985). A behavioral
formulation of post traumatic stress disorder in Vietnam
viele Bewältigungsmechanismen auch beim The-
veterans. The Behavior Therapist, 8, 9-12.
rapeuten. Andererseits kann sie sehr gewinnbrin-
Meichenbaum, D. (1994). A clinical handbook/practical man-
gend sein, weil man als Therapeut gemeinsam ual for assessing and treating adults with PTSD. Institute
mit den Patienten lernt, dass aus einer bewältig- Press.
ten Katastrophe und der intensiven Auseinander- Meichenbaum, D. & Cameron, R. (1983). Stress inoculation: To-

setzung mit dem Thema Tod ungeahnte neue ward a general paradigm for training in coping skills. ln D.
Meichenbaum & M. Jaremko (eds.), Stress reduction and
Kräfte und Perspektiven entstehen können. Das prevention. New York: Plenum.
Bewusstsein, dass eine Katastrophe jederzeit je- Mitchell, J. T. & Everly, G. 5. (1996). Critical lncident Stress Oe-
den treffen kann, macht das Erleben eines nor- briefing. An operations manual for the prevention of trau-
malen Alltags wertvoll und lässt früher als wich- matic stress among emergency service and desaster

tig erachtete »Probleme« oft als unwichtig er- workers (2nd ed.). Elliott City, MD: Chevron.

scheinen. Nach einer bewältigten Katastrophe


werden Prioritäten neu gesetzt, die Augen werden
geöffnet für den Wert der kleinen Freuden des
Lebens.
12

N. F. Gurris, M. Wenk-Ansohn

12.1 Allgemeine und epidemiologische Aspekte - 222

12.2 Methoden der Folter - 222


12.2.1 Ziele und Auswirkungen von Folter - 223

12.3 Die Erweiterung des PTB-Konzepts


bei Folteropfern - 223

12.4 Psychebiologische und lerntheoretische Aspekte


der traumatischen Konditionierungen - 224

12.5 Dissoziation und Vermeidung als Rettungsversuch


des Organismus - 225

12.6 Psychotherapie m·t Folteropfern - 226


12.6.1 Therapeut-Patient-Beziehung - 226
12.6.2 Paradigma eines traumatherapeutischen Prozesses - 227
12.6.3 Exemplarische Darstellung eines Therapieverlaufs - 234
12.6.4 Abschließende Bemerkungen
zum therapeutischen Vorgehen - 244

Literatur - 244
222 Kapitel 12 · Folteropfer und Opfer politischer Gewalt

12.1 Allgemeine erlebnisse zu berichten und sind oftmals nicht fä-


und epidemiologische Aspekte hig, bei der Anhörung vor dem Bundesamt oder
vor einem Verwaltungsgericht wesentliche Asyl-
Trotz der internationalen Bemühungen um die gründe zu benennen (vgl. Graessner & Wenk-An-
Einhaltung der Menschenrechte nehmen organi- sohn, 2000).
sierte staatliche Verfolgung und systematische
Folterungen weltweit zu. Terrorregime und ge-
waltsam ausgetragene Konflikte produzieren gro- 12.2 Methoden der Folter
ße Flüchtlingswellen von Verfolgten und Bedroh-
ten, die sich u. a. in die Exilländer Europas und Begriffsbestimmung
Nordamerikas ergießen.
Folter wird von Menschen an Menschen verübt
Nach früheren Schätzungen findet sich unter
und ist unter den »man-made disastern« wohl ei-
den aufgenommenen verfolgten politischen
ne der übelsten Formen absichtsvoller und zu-
Flüchtlingen in Europa ein Anteil von 10-30%
meist planmäßiger Grenzverletzungen. »Das be-
Menschen, die Folter am eigenen Leib erlebt ha-
troffene Individuum gerät durch sie in eine Situa-
ben (Jacobson & Vesti, 1990; Baker, 1992). In kei-
tion von extremer Hilflosigkeit und Ausgeliefert-
nem Land existiert jedoch eine verlässliche quan-
sein, die über kurz oder lang dazu führt, dass
titative Erfassung gefolterter Flüchtlinge. Dies er-
wichtige emotionale, kognitive oder behaviourale
scheint auch schwer möglich, da sich Foltererleb-
Funktionen zusammenbrechen« (Fischer & Gur-
nisse kaum durch öffentliche Interviews ermitteln
ris, 2000, S. 468-473).
lassen. Die betroffenen Menschen sind zumeist
In den meisten Fällen werden Mischformen
nicht in der Lage, ihre extremen Erfahrungen an-
psychologischer und körperlicher Foltermetho-
deren mitzuteilen; selbst im engsten Kreis von
den angewendet. Vielfach ist versucht worden,
Familie und Freunden bleiben Folterungen zu-
Typen der Folter der Häufigkeit nach aufzulisten
meist tabuisiert. Auch in einer therapeutischen
und diese in physische und psychische Formen
Beziehung bedarf es einer Zeit der Bildung von
aufzuteilen (z. B. Corvalan, 1989; Rasmussen,
Vertrauen, Sicherheit und Selbstkontrolle für
1990}.
die Klienten, bis Einzelheiten erinnert werden
können und Zusammenhänge der extrem trau-
matischen Erlebnisse überhaupt mitteilbar wer-
ln der Realität der Folter sind körperliche und
den. Viele Foltersituationen sind sehr scham-
psychische Folterungen immer miteinander
besetzt oder selbst für die Betroffenen im Nach-
verschränkt.
hinein nicht mehr einfühlbar: Es passt nicht in
die vertrauten Landkarten des Denkens und Be-
wertens, wenn ein erwachsener Mensch unter Ideenreichtum und Methoden der Folterer schei-
der Folter völlig hilflos und ausgeliefert ist, wenn nen unerschöpflich (Traue et al., 1997; Behand-
er weint wie ein Kind und um Gnade bettelt, lungszentrum für Folteropfer Berlin, 1992-2001).
wenn er in panischer und unkontrollierbarer Den Opfern werden unerträgliche Schmerzen zu-
Angst Urin und Stuhl lassen muss. gefügt, um an deren Psyche zu gelangen und sie
Wicker {1993) fand in einer Studie, dass die für Suggestionen, existenzielle Drohungen (z. B.
Anzahl der Folterüberlebenden unter den Scheinhinrichtungen), Reizüberflutung oder
Flüchtlingen aus der Türkei, die in der Schweiz ei- -entzug, Verwirrungspraktiken, »doublebind«-
nen Asylantrag gestellt hatten und als asylberech- Techniken und andere »psychologische« Torturen
tigt anerkannt wurden, 73% betrug. Bei Albanern empfänglich zu machen (Wicker, 1993}. Es wer-
aus dem ehemaligen Jugoslawien betrug die Quo- den vor allem solche Formen der Demütigung
te 63%, aus dem Iran 28%, Sri Lanka 66% und und Gewalthandlung eingesetzt, die in der jewei-
Äthiopien 22%. ligen Kultur der Opfer besonders tabuisiert und
Die Dunkelziffer unter Asylbewerbern ist entehrend sind, z. B. sexualisierte Gewalt und Fol-
hoch. Betroffene vermeiden es, über ihre Folter- ter. Frauen werden fast immer sexualisierten Fol-
12.3 · Die Erweiterung des PTB·Konzepts bei Folteropfern 223 12
terungen ausgesetzt, von verbalen Beleidigungen Nachgewiesen wurde dies in zahlreichen Unter-
bis hin zu grausamen Vergewaltigungen. Zum suchungen und Studien über die 2. und 3. Gene-
Beispiel waren im Jahr 2000 in einer Unter- ration der überlebenden des Holocaust (z. B. Da-
suchung an 35 kurdischen Patientinnen 83% nieli et al., 1996; Hal & Tauber, 1996).
von sexualisierter Folter betroffen (Wenk-An-
sohn, 2002).
12.3 Die Erweiterung des PTB-Konzepts
bei Folteropfern
12.2.1 Ziele und Auswirkungen von Folter
Ein extremes Psychotrauma wird von Fischer et
Ziel der »modernen« Folter ist die plan- und ab- al. (2003) definiert als »...vitales Diskrepanzer-
sichtsvolle Beschädigung bzw. die Zerstörung der lebnis zwischen bedrohlichen Situationsfaktoren
Persönlichkeit der Opfer. Während sie biologisch und individuellen Bewältigungsmöglichkeiten,
möglichst am Leben bleiben sollen (mit Vermei- das mit Gefühlen von Hilflosigkeit und schutz-
dung von sichtbaren Folterspuren), sollen sie in loser Preisgabe einhergeht und so eine dauerhafte
ihren psychischen Beschädigungen als Abschre- Erschütterung von Selbst- und Weltverständnis
ckung für Opposition, für Auflehnung und Unge- bewirkt« (S. 633).
horsam Andersdenkender dienen. Wenn die Ge- Die systematische Folter im Kontext staatlich
folterten unter den Torturen sterben, werden sie oder parastaatlich organisierter Verfolgung und
in der Öffentlichkeit und gegenüber Angehörigen Gewalt rechtfertigt folgende Hervorhebungen ge-
zumeist als »verschwunden« bezeichnet, womit genüber anderen Traumatisierungen:
sich Behörden und staatliche Organe und letzt- _ Durch Menschenhand mit Plan und Absicht,
lich die unmittelbaren Täter der Verantwortung _ vitale Bedrohung,
entziehen können. Darüber hinaus wird in kalku- _ oft andauernde und wiederholte Exposition
lierter Absicht für die Hinterbliebenen bzw. die über längere Zeiträume,
Suchenden psychisches Leid ohne Ende geschaf- - Handlungsunfähigkeit, Hilflosigkeit und Ab-
fen, da diese nicht einmal den Verlust betrauern hängigkeit,
und den Angehörigen begraben können (Amnes- - Gefährdung von Familienangehörigen oder
ty International, 1982; Langeis & Schmidt, 1996). politischen Freunden,
Die Traumatisierung breiter Bevölkerungsteile - traumatische Bindung an die Folterer und
mit einer Wirkung in die nachfolgenden Genera- möglicher Verrat von Gefährten (Saporta &
tionen hinein durch »Verschwindenlassen« hat van der Kolk, 1992),
nach den Praktiken in den 60er und 70er Jahren tiefe Schamgefühle,
in Lateinamerika eine traurige Renaissance er- - Suizidgefährung,
fahren, z. B. im ehemaligen Jugoslawien (Langels - Entwurzelung und Entfremdung,
& Schmidt, 1996), in der Türkei (The Turkish - fortdauernder Stress durch Flucht und Exilsi-
Medical Association, 1995) und in Sri Lanka tuation,
(Preitler, 1996). - Somatisierung,
- Tendenz zur Chronifizierung psychischer Fol-
gen und
Die Auswirkungen staatlich organisierter Ge- - überdauernde Erschütterung von Selbst-,
walt und Folter sind auch für nachfolgende Fremd- und Weltvertrauen (Janoff-Bulman,
Generationen traumatisierend (Becker & Diaz, 1992).
1993). Es muss davon ausgegangen werden,
dass Folter immer eine Mehrgenerationen- Für Menschen, die wiederholt bzw. über längere
problematik schafft. Zeit einer totalitären Unterwerfung und Kontrolle
(Konzentrationslager, Verfolgung und Folter,
Kriegsgefangene, Opfer von sexuellem Kindes-
missbrauch und -misshandlung, Opfer kultisch-
224 Kapitel 12 · Folteropfer und Opfer politischer Gewalt

religiöser Sekten) ausgesetzt waren, hat Herman


(1992, 1994) den Begriff Camplex Posttraumatic Genese der traumatischen Reaktionen
Stress Disorder (CPTSD; dt. komplexe PTB) vor- durch Folter (s.a. United Nations High
geschlagen (s. a. Kap. 1, D Tabelle 1.2). Commissioner for Refugees, 2001)
Verfolgungs- und Foltersituationen sind
komplexe und extrem aversive Reizmuster
Multimorbidität
mit den Eigenschaften:
Viele Folteropfer entwickeln eine Reihe von kli- Besonders bedrohlich und schmerzhaft,
nisch bedeutsamen Reaktionen und Erkrankun- oft unvorhersehbar (schock- und über-
gen, die oft weit über die PTB hinausgehen: fallartig),
unkontrollierbar,
unausweichlich,
Klinisch relevante Auswirkungen mit einhergehender Ungewissheit über
der Folter das Ende der Einwirkung sowie
Anhaltende Depressionen Todesangst.
mit ausgeprägter Suizidalität,
Angststörungen
(z. B. soziale Phobien, Panikanfälle),
schwere dissoziative Störungen, 12.4 Psychobiologische und
z. B. auch psychogene Anfälle, lerntheoretische Aspekte der
Zwangsstörungen, traumatischen Konditionierungen
Suchtverhalten,
psychogene Essstörungen, Vermeidungsreaktionen, die sich auf die Ebenen
umfassende Somatisierungen, des Verhaltens, der Kognitionen und der Emotio-
insbesondere Schmerzstörungen nen beziehen, bilden sich in der Lerngeschichte
(Wenk-Ansohn, 1996, 1998), eines Menschen als Resultat von ursprünglich
Verschlimmerung vorbestehender körper- sehr schmerzhaften Erfahrungen, die klassisch
licher oder psychischer Erkrankungen. konditioniert wurden, heraus. Im Laufe der Zeit
kann eine ehemals schmerzhafte Erfahrung nicht
einmal mehr gedanklich aufgesucht und in Worte
Das Sozialverhalten insgesamt kann durchgrei- gefasst werden, da die Vermeidung als Verhal-
fend gestört sein, z. B. mit vollständigem Rückzug tensoption nach dem Modell der operanten Kon-
oder auch aggressiven Affektdurchbrüchen, die ditionierung vorübergehende Erleichterung ver-
häufig gegen Familienmitglieder gerichtet sind. schafft. Auf Dauer jedoch verstärkt sie das Leiden
Da bei Folteropfern die posttraumatische Symp- und die traumatische Erinnerung kann nicht
tomatik häufig chronifiziert, werden auch andau- durch Bearbeitung und Verbalisierung verblas-
ernde Persönlichkeitsänderungen nach Extrem- sen. Es entsteht - wie bei allen Angststörungen
belastung (ICD-10: F 62.0; Dilling et al., 1993) di- - ein Teufelskreis, dessen Manifestation und Auf-
agnostiziert. rechterhaltung vor allem der Vermeidung der
Das klinische Bild bei Folteropfern ist oftmals angstauslösenden Reizbedingungen geschuldet
über PTB hinaus durch Multimorbidität gekenn- ist. Vermeidung ist bipolar zu sehen:
zeichnet (s. Übersicht). Gelegentlich werden bei - Als sinnvoller und überlebensnotwendiger
den Patienten psychotische Episoden erlebt. Bewältigungsversuch kurze Zeit nach der
Traumatisierung sowie
- als Agens der Aufrechterhaltung und Chroni-
fizierung der Leiden über die Zeit, oft ein Le-
ben lang.
12.5 · Dissoziation und Vermeidung als Rettungsversuch des Organismus 225 12
Die biopsychosozialen Erschütterungen und Be-
schädigungen durch die Extremsituation, z. B. Der Organismus versucht, auf vielfältige Weise
die Folterungen, hinterlassen ein psychobiolo- aus der unerträglichen lebensbedrohenden
gisch gespeichertes Traumaskript (Kolk et al., Wirklichkeit auszusteigen: Wahrnehmungs-,
1996), das auf folgende Weise aktiviert wird:
Bewertungs- und Empfindungsmuster zerfal-
- Äußere und innere Reizbedingungen lösen len; versprengte Fragmente scheinen halluzi-
traumatische Reaktionen aus, so als würde natorische, abspaltende neue Muster hervor-
sich die ursprüngliche Folter-/Misshand- zubringen.
lungssituation gerade jetzt wieder ereignen.
- Die seelischen Verletzungen wurden in den
traumatischen Situationen an die herrschen- Oft wird eine surreale Todesranderfahrung be-
den Wahrnehmungsbedingungen und neuro- richtet. Je länger und intensiver die extrem trau-
endokrinologischen Prozesse im Organismus matischen Einwirkungen sind, desto gravieren-
gekoppelt. der etablieren sich immer wieder dissoziative
- Ebenso wurden Kaskaden überdauernder au- Verhaltens- und Empfindungsmuster.
tonomer vegetativer Körperreaktionen nach
dem Muster der klassischen Konditionierung f) Beispiel
etabliert, z. B. Spannungszustand der Mus- Retrospektive Aussagen von Betroffenen
keln, Pulsfrequenz, Schwitzen, Hormo- - »Deine einzige Chance ist, so richtig verrückt
nausschüttungen etc. zu werden. Zum Teil ist das wunderbar, denn Du
spürst die Schmerzen manchmal nicht mehr oder
Dies bedeutet, dass später eine traumatische Re- du bist nicht mehr einer, der das alles allein aus-
aktion durch ähnliche Bedingungen ausgelöst halten muss - ich bin dann mehrere geworden.<<
werden kann, obwohl objektiv keine unmittelbare - »Weil sie dir nicht erlauben, schnell zu sterben,
Gefahr besteht. So ist z. B. ein Klickgeräusch mit fängst du an, mehrere Tode in vielen Variationen
der Entsicherung der Pistole gekoppelt, die die zu sterben, du bist auf deiner eigenen Beerdigung
Scheinhinrichtung einleitet. Der Geruch von Urin dabei, weinst um dich auf jede mögliche Weise,
erinnert an das Untergetauchtwerden im Fäka- führst Gespräche mit Gott und Engeln und bist
lienbad usw. gleichzeitig in der Hölle.<<

Den meisten Betroffenen ist jedoch die geordnete


12.5 Dissoziation und Vermeidung als kognitive Dekodierung der Spaltungsvorgänge
Rettungsversuch des Organismus kaum noch möglich. Der Zwang zur Spaltung un-
ter unerträglichen Schmerzen und schwerer Ver-
Während der Traumatisierung werden Notfall- letzung von Intimität und Identität ist wiederum
reaktionen des Organismus ausgelöst, um seine zunächst ein wichtiger Überlebensreflex im Sinne
nackte Existenz zu retten. Der Körper reagiert von Ericksons »weisem Unbewussten« (Gurris,
mit einem Wechsel von Hypervigilanz und Ab- 1996b). Die Fortdauer der so gelernten Dissozia-
schalten oder Analgesie, manchmal mit Ohn- tionen im Verein mit den oben beschriebenen
machtsanfällen durch unerträglichen Schmerz psychobiologischen Konditionierungen schränkt
und Todesangst. Gespannte Muskeln wollen semantisches und narratives Vermögen im Hin-
schützend Schläge antizipieren. Mental werden blick auf die traumatischen Situationen ein. Zu-
- sofern das noch möglich ist- bekannte kogni- dem müssen die Betroffenen mit dem Mittel der
tive Schemata durchsucht, zumeist aber verwor- Vermeidung die quälenden Erinnerungsauslöser
fen, weil eine Bewältigung der Situation aus Man- (Flashbacks, Intrusionen) unter vorübergehende
gel an Vorerfahrung in der Regel nicht möglich Kontrolle bringen.
ist. So entstehen in höchster Not und Verzweif- Um die immer wieder in das Bewusstsein ein-
lung auf psychobiologischer Ebene die Dissozia- schießenden schmerzhaften Fragmente der Trau-
tionen: masituation zurückzudrängen, wird das Dissozi-
226 Kapitel 12 · Folteropfer und Opfer politischer Gewalt

ieren und Vermeiden zum dauerhaften Bewälti- verknüpft sind, sowie imaginative Methoden auf
gungsversuch. Dieser verhindert nun aber die der Grundlage der Hypnotherapie (nach Erick-
Aufarbeitung und Integration der Ereignisse. son) und/oder des NLP (nach Bandler & Grin-
Der traumatische Stress bleibt so aufrechterhal- der).
ten und wird als Reaktionskreis (Gurris, 1996a) Weitere sinnvolle Komponenten einer kom-
um so stabiler, je länger und intensiver das Ver- plexen Traumatherapie sind der Erfahrung nach
meiden anhält. z. B. körperorientierte Psychotherapien, wie z. B.
konzentrative Bewegungstherapie (z. B. Karcher,
2000), Musiktherapie (Zharinova-Sanderson,
12.6 Psychotherapie mit Folteropfern 2002) oder Kunst- und Gestaltungstherapie (Kar-
eher & Tschiesche-Zimmermann, 2002).
Therapiekonzepte verschiedenster Herkunft beto-
nen die Kompliziertheit der psychotherapeuti-
schen Behandlung von Folteropfern. Von beson- Die enge Kooperation mit medizinischen Kol-
derer Bedeutung sind legen wird empfohlen, denn die Wechselwir-
- die schwierige Therapeut-Patient-Beziehung, kungen von psychischem Leid und körperli-
- die ausgeprägte Chronifizierung und Komple- chen Beschwerden bzw. Beschädigungen er-
xität der Folgen, fordern ein integratives Vorgehen- sowohl im
- die Einflüsse der Belastungen der Exilsituati- Bereich der Diagnostik als auch im Bereich der
on auf den therapeutischen Prozess (Haenel, Therapie.
2002) und
- die zumeist interkulturelle Begegnung unter
Sprachvermittlung (Haenel, 2001).
12.6.1 Therapeut-Patient-Beziehung

Die Mehrzahl der Behandlungen wird in Trauma- Unabhängig von der Therapiemethode ist die Er-
zentren, in psychosozialen Zentren für Flüchtlin- arbeitung einer vertrauensvollen und gleichzeitig
ge bzw. in Behandlungseinrichtungen für Folter- für den Patienten kontrollierbaren therapeuti-
opfer durchgeführt. Aufgrund der anhaltend be- schen Arbeitsbeziehung unter Beachtung der
lastenden psychosozialen Situation von traumati- Übertragungs- und Gegenübertragungssituation
sierten Flüchtlingen muss die klinische Sozial- Voraussetzung für einen erfolgreichen Behand-
arbeit (Mühlum, 2000) einen besonderen Schwer- lungsprozess.
punkt darstellen, denn die Mehrheit der als In der Therapie mit Folteropfern und Kriegs-
Flüchtlinge aufgenommenen Klienten (z. B. 95% traumatisierten kommt es auffallig häufig zu ext-
in 1999, Behandlungszentrum für Folteropfer rem gegensätzlichen Einstellungen und Gegenü-
Berlin, 1999) hat keinen langfristig gesicherten bertragungen. Einerseits kann eine zu große Dis-
Aufenthalt. tanz des Therapeuten mit fehlender Empathie
In der Regel arbeiten die Traumazentren zum Therapieabbruch führen. Andererseits wer-
mehrprofessionell, interdisziplinär und hinsicht- den häufig fehlende Distanz und zu große Empa-
lich der Methoden eklektisch bis integrativ. Eini- thie mit Überidentifizierung bis hin zur persön-
ge Therapieformen scheinen gut aufeinander ab- lichen Verstrickung (vgl. Wilson et al., 1994; Hae-
stimmbar zu sein. In ihrer Kompatibilität und nel, 1998) beobachtet. Der Erfahrung nach ist für
Komplementarität gewährleisten sie ein variables tiefenpsychologisch arbeitende Therapeuten in
und lebendiges Setting und erlauben das Wech- der Therapie mit traumatisierten und von Scham
seln von Ausdrucks- und Darstellungsformen erfüllten Menschen ein Abrücken von der sonst
auf verschiedenen Ebenen. In der praktischen Ar- üblichen therapeutischen Abstinenz zu empfeh-
beit finden sich z. B. oft kognitiv-behaviorale, len.
systemische und psychedynamische Elemente,
die mit Methoden des Psychodrama (nach More-
no) oder der Gestalttherapie (nach Pearls)
12.6 · Psychotherapie mit Folteropfern
227 12
Traumas blockiert. Auf Seiten der Therapeuten
von Folteropfern besteht die Gefahr der »stellver-
Der Patient muss eine grundsätzlich anneh-
tretenden Traumatisierung« mit hohem Burnout-
mende Haltung erkennen können, ohne dass
Risiko (McCann & Pearlman, 1990; Hafkenscheid
der Therapeut konfluiert, mitleidet, >>bemut-
& Lansen, 1993; Lansen, 1996).
tert<< oder durch stellvertretendes Kämpfen
Aus diesem Grund ist eine fundierte thera-
agiert. Es ist unbedingt erforderlich, dass Au-
peutische Selbsterfahrung und eine den Arbeits-
tonomie und Selbstkontrolle der Patienten
prozess begleitende regelmäßige Team- und Pali-
gestärkt werden.
supervision unabdingbare Voraussetzung der Ar-
beit. Folglich sollte auch nach Möglichkeit die The-
Es entsteht eine Begegnung, in der der Patient rapie mit Folterüberlebenden in einer Einzelpraxis
sich als gleichberechtigter Mensch in seiner ohne kollegialen Austausch vermieden werden.
grundsätzlichen menschlichen Würde erkennen
kann, die für ihn selbst nach dem Trauma oft zu-
nächst nicht mehr spürbar ist. Fischer & Riedes- 12.6.2 Paradigma eines trauma-
ser (1999, S. 192) beschreiben die übertragung in therapeutischen Prozesses
der Traumatherapie als einen »Prozess der Wie-
deraufnahme von Beziehungen (»re-bonding«)«. Eingangsphase
Bei Traumen durch Menschenhand ist hier vor al- Die meisten traumatisierten Flüchtlinge haben
lem die überwindung von Misstrauen und das bei Aufnahme in eine Behandlungseinrichtung
Wiederfinden der Fundamente des kommunikati- noch keinen gesicherten Aufenthalt. Traumati-
ven Realitätsprinzips erforderlich. Unseres Er- sierte Flüchtlinge sind aufgrund ihrer Symptoma-
achtens gilt dies insbesondere für die Eingangs- tik häufig nicht fähig, ihr Verfolgungsschicksal
phase der Therapie und die Ressourcenarbeit »lückenlos, widerspruchsfrei, detailliert und plas-
Für die traumazentrierte therapeutische Arbeit tisch«, wie im Asylverfahren seitens der
empfehlen Reddemann & Sachsse (1998, S. 106) Behörden gefordert, darzulegen (s. Übersicht).
jedoch, dass die therapeutische Arbeitsbeziehung Aus diesem Grunde ist die Erarbeitung einer Stel-
»methodisch klar und unzweideutig abgegrenzt lungnahme im Auftrag der Patienten oft Bestand-
ist gegen den intermediären therapeutischen Er- teil der Eingangsphase. Neben der klinischen Di-
lebnis- und Erfahrungsraum«. agnostik ist die Rekonstruktion der historischen
Realität einschließlich der Verfolgungsbiographie
für eine Stellungnahme notwendig. Das bedeutet,
dass der Patient seine traumatischen Erlebnisse
Allein das Setting in Diagnostik und Therapie
zumeist zum ersten Mal fragmentarisch verbali-
kann aus der Erfahrung der klinischen Arbeit
mit Folteropfern heftige Reaktualisierungen
sieren muss und einem anderen Menschen mit-
teilt. Er muss somit vorher bestehende Vermei-
der Traumen, Flashbacks oder dissoziative
Zustände auslösen. Es kann sogar zu einer
dungsreaktionen überwinden. Insofern ist der di-
Retraumatisierung kommen. Leicht entsteht
agnostische Prozess (im Allgemeinen etwa 5 Sit-
eine assoziative Verknüpfung mit erlebten zungen) mit therapeutischem Sachverstand und
Verhörsituationen oder psychischen Torturen. achtsamem Umgang mit Gefühlen der Scham
zu führen (Wenk-Ansohn, 2002). Der Druck, par-
teiliche Stellungnahmen zur Vorlage bei
Menschen, die in der Hand von Folterern waren, Behörden fertigen zu müssen, ist für die Erst-
tendieren dazu, Täteraspekte auf die soziale Um- begegnung und die therapeutische Beziehung
welt zu übertragen, die beim Gegenüber Gegen- insgesamt kontraproduktiv. Damit verbunden
reaktionen auslösen (Comas-Diaz & Padilla, sind fachliche und ethische Probleme (Gurris,
1991; Lansen, 1991; Wilson & Lindy, 1994). Wird 2003). Das Erreichen einer sicheren Lebenssitua-
dies vom Therapeuten nicht wahrgenommen und tion ist jedoch Voraussetzung für eine psychische
bearbeitet, so ist die weitere Bearbeitung des Stabilisierung nach traumatischen Erlebnissen.
228 Kapitel 12 · Folteropfer und Opfer politischer Gewalt

Merkmale der Eingangsphase Zustandsbilder zu Therapiebeginn


des traumatherapeutischen Prozesses Biphasischer Wechsel von Erstarrung und
Kennen lernen und umfassende Informa- Erregung/Hypervigilanz,
tion über die Einrichtung und alle Moda- Vermeidungsverhalten (Verhalten, Kogni-
litäten der möglichen Behandlung tionen und Emotionen),
Auftragsklärung und -abstimmung, emotionale und kognitive Einengung
medizinische und psychologische Diag- (auf traumatische Inhalte),
nostik mit biographischer und, soweit dlssoziative Zustände,
möglich, Traumaanamnese, »Sprachlosigkeit« (Unfähigkeit, über trau-
Sozialanamnese und Zielbestimmung matische Inhalte zu sprechen),
einzuleitender psychosozialer Maßnah- starke Angst vor Verlust von Selbst- und
men, Situationskontrolle,
evtl. Abfassung einer Stellungnahme für erlernte Hilflosigkeit und Reproduktion
das Asylverfahren, von Abhängigkeit,
Einleitung der medizinischen Grundver- somatoforme Schmerzempfindungen,
sorgung, Akkulturationsprobleme und Angst vor
gemeinsame EntscheidungsfindunQ mit Verlust kultureller Identität und Werte,
dem Patienten sowie dem interdisziplinä- starke Angst, der ursprünglichen Trauma-
ren Team über Indikation der folgenden tisierung wieder ausgesetzt zu werden,
Behandlungsschritte. z. B. durch Abschiebung (unsichere Auf-
enthaltssituation) sowie
Mögliche Ergebnisse
Deprivation bzw. eingeschränkter Hand-
a) Überwiegend medizinische, psychosoma-
lungsspielraum hinsichtlich der mensch-
tisch orientierte Grundversorgung,
lichen Grundbedürfnisse wie Nahrung,
b) überwiegend psychosoziale Betreuung
Kleidung, Wohnen, Arbeit, freie Bewe-
durch klinische Sozialarbeit unte r Ein-
gung, soziale Kontakte (entsprechend der
beziehung von Rechtsanwälten und Be-
Asylgesetze und deren Ausführungs-
ratungsstellen,
bestimmungen in Eu ropa).
c) mittelfristige unterstützende psychologi-
sche und sozialtherapeutische Begleitung
oder ggf. psychiatrische Behandlung
(Psychopharmaka), Förderliche Interventionen
d) traumaorientierte Psychotherapie, zumeist
In der Eingangsphase hat es sich bewährt, unter-
in Verbindung mit den unter a) und b)
stützende, beruhigende und desensibilisierende
genannten Maßnahmen.
Interventionen in den Vordergrund zu stellen.
Förderlich sind auch Maßnahmen zur Vermitt-
lung von Sicherheit, Vertrauen und Kontrollmög-
Beginn der Therapie lichkeiten für die Patienten. Geduld und Zeit be-
anspruchen grundlegende Informationen zum
Zu Beginn einer therapeutischen Beziehung mit Setting und zur Planung von Therapieschritten,
Folteropfern sind Therapeuten oft mit verschie- die nur gemeinsam und im Konsens mit dem
denen Zustandsbildern konfrontiert: Klienten vorgenommen werden sollten (Angst
der Patienten vor Kontrollverlust). Für alle Thera-
pieschritte werden psychoedukative Aufklärun-
gen (im Sokratischen Dialog) empfohlen. Ange-
sichts ihrer vielfältigen Symptomatik und Ko-
morbidität bis hin zu Persönlichkeitsveränderun-
gen fühlen sich viele Folteropfer hilflos ausgelie-
12.6 · Psychotherapie mit Folteropfern 229 12
fert, glauben sie seien verrückt bzw. für alle Zeit
zerbrochen. Oft verbirgt sich hinter einer höfli- »rahmen« und kontrollieren versch iedener
chen und angepassten Fassade eine larvierte Sui- lnnenbilder, die miteinander interferieren
zidalität. Es müssen daher die Zusammenhänge (z. B. Aufdrängen von traumatischen
der Symptome mit den erlebten traumatischen Bildern gegenüber prätraumatischen
Erfahrungen in einfühlsamer und sprachlich an- Ressourcen bi ldern),
gemessener Weise psychoedukativ erklärt werden. Würdigung und therapeutisches Nutzen
der von den Klienten eingebrachten
Metaphern, Erkunden von traditionellen
Phase der Stabilisierung
Riten, die der Patient für sich nutzbar
und Ressourcenarbeit
machen kann,
Einige Muster der sich anschließenden therapeu- Wiederbelebung und Ankerung prätrau-
tischen Schritte haben sich in der Praxis der Be- matischer Ressourcen z. B. durch
handlungen bewährt: Rekonstruktion der prätraumatischen
Biographie mit Suche nach guten
Objekten, positiven Erfahrungen und
Bewährte Behandlungsschritte Kompetenzen der Persönlichkeit,
Psycheedukation zur Bedeutung von psychedramatische und/oder gestalt-
Ressourcen, therapeutische Reinszenierungen,
Förderung von häufigen, gegenseitigen kunsttherapeutische Gestaltungen,
Feedbacks, geleitete Phantasiereisen und lnnen-
Alltagsstrukturierung und Aktivitätsförde- bildtechniken.
rung, hypnotherapeutische Trancearbeit
symptomorientierte Verfahren der (nach Erickson),
Schmerzkontrolle und -bewältigung, Sicherung der Verfügbarkeit der
z. B. Führen eines Schmerztagebuchs, Ressourcen (Verstärkung. Transfer,
gemeinsame Arbeit an Gefühlen der Verankern mit positiven Sinneswahr-
Trauer u.a. über den Verlust von Heimat, nehmungen, NLP-Techniken),
Familienstrukturen, kulturellem Umfeld innere Gestaltung und Verstärkung von
und Besitz, »nur guten« inneren Bildern oder erdach-
Identifikation und Attribution von symp- ten Helferfiguren in selbstkontrollierender
tomauslösenden Bedingungen, angelehnt deutlicher Abgrenzung zu traumatischen
an Alltagssituationen, (»schlechten«) Bildern (Reddemann &
einübende und wiederholende Gegen- Sachsse, 1997; Reddemann, 2001),
konditionierungen (z. B. verschiedene For- allmähliche Bahnung eines konstruktiv-
men der Entspannung, Desensitivierung narrativen Dialogs (Meichenbaum, 1994,
und stabilisierende Körperarbeit; Karcher, 1999).
2000),
Einüben von Selbstkontrollverfahren und
des Selbstmanagement, Ressourcenarbeit kann sowohl im Einzel- wie im
Unterstützung selbstbestimmten Han- Gruppensetting stattfinden, während traumazent-
deins im sozialen Umfeld (Empowerment), rierte Arbeit in Einzelsitzungen erfolgen muss.
Stärkung der Ich-Funktionen bei der Be-
arbeitung von aktuellen Alltagskonflikten,
Phase der traumazentrierten Arbeit
Alle Therapieschulen betonen die Notwendigkeit
der Integration der extremen traumatischen Er-
eignisse in das Lebensskript der Betroffenen.
Das bedeutet, dass Vermeidungen und Abspal-
230 Kapitel 12 · Folteropfer und Opfer politischer Gewalt

tungen, soweit wie im jeweiligen Fall möglich, bereiten. Der Aufbau einer Psychodramabühne
aufgelöst werden sollten zugunsten der allmähli- durch den Klienten kann kreative Phantasie in
chen Befähigung, sich den traumatischen Bildern Bewegung setzen. Der Wechsel der Ebene bedeu-
und Erinnerungen bewusst und kontrolliert aus- tet auch Erlösung aus Erstarrung und zumeist
zusetzen sowie dazugehörige Empfindungen in auch Reduktion der Erregung, einhergehend
erträglicher Form zuzulassen und im geschützten mit größerer Kontrolle des Klienten über die Si-
therapeutischen Raum zu verbalisieren. tuation.
Je nach therapeutischem Hintergrund werden Anders als in der Behandlung von anderen
unterschiedliche Formen der traumafokussieren- Angsterkrankungen in der kognitiven Verhaltens-
den Arbeit eingesetzt, die z. B. als Traumasynthe- therapie wird empfohlen, zum Schutze der Klien-
se, Traumaexposition oder Traumakonfrontation ten und zur Verbesserung ihrer Kontrollfähigkeit
bezeichnet werden. »Medien« zur Distanzierung zwischenzuschalten.
Von der einfachen konfrontativen Annäherung (in
sensu) an die traumatischen Ereignisse wird abge-
Traumafokussierende Techniken raten. Diese Art der Annäherung ohne protektiven
Kognitiv-behaviorale Verfahren abgeleitet und ressourcenorientierten Vorlauf wird von trau-
aus Angstbewältigungstherapien, matisierten Patienten als sofortige unkontrollier-
imaginative Verfahren (z. B. Screentechnik, bare Überflutung mit überwältigenden emotiona-
Eye Movement Desensitization and len Schmerzen erlebt und erstickt ein Narrativ
Reprocessing, EMDR 1; Shapiro, 1999), (bedeutungssuchende Erzählung) im Ansatz. Es
gestalttherapeutische oder psychedrama- wird also eine therapeutisch induzierte Retrauma-
tische Bearbeitung traumatischer Szenen, tisierung riskiert (Gurris, 1995). Der notwendige
tiefenpsychologisch fundierte Arbeit mit Abbruch des Vorgehens bedeutet eine Verstär-
Träumen (Durcharbeiten traumatischer kung der Vermeidung und wirkt entmutigend
Inhalte und Unterstützung helfender auf Patienten und Therapeuten.
Anteile der Psyche),
Kunst- und Gestaltungstherapie sowie
Imaginative Verfahren
körperorientierte Verfahren
in der traumazentrierten Arbeit
(z. B. konzentrative Bewegungstherapie).
Verfahren, die Nähe und Distanz zu den schmerz-
haften Ereignissen und Bildern für die Patienten
selbst regulierbar und damit kontrollierbar ma-
Allgemeine Anmerkungen
chen, ermöglichen ihnen eine vorsichtige, vom
Wenn das klassische Setting, in dem zumeist Pa- Therapeuten unterstützte Rekonstruktion der Er-
tient und Therapeut einander »Auge in Auge« ge- innerung. Diese Arbeit wird jedoch erst dann be-
genübersitzen, zu Blockaden der Patienten führt, gonnen, wenn Patient und Therapeut sicher sind,
bietet sich für den Therapeuten ein Wechsel der dass hinreichend starke Ressourcen für den Pa-
Ebene an. Zum Beispiel kann der Therapeut sich tienten »geankert« wurden und damit die Stabili-
neben den Klienten setzen und vorschlagen, ge- sierungsarbeit eine »Insel der Sicherheit« er-
meinsam eine Szene auf einer gedachten Lein- schaffen hat. Dieser implementierte Ort kann z. B.
wand zu imaginieren, oder eine Entspannungs- eine mentale und/oder körperliche Erfahrung
bzw. Trancereise zu angenehmen Orten der Kind- sein, die so stark und stabil ist, dass sie im Ver-
heit und Jugend (»ein sicherer Ort der Ruhe und lauf des schmerzhaften Durcharbeitens der trau-
der Kraft«) zu unternehmen. Der Therapeut kann matischen Ereignisse sofort innerlich aufgesucht
z. B. Psychodramaszenen durch Wandern im werden kann. Sie stellt eine neue Form bewusster
Raum und Schweifenlassen der Gedanken vor- und heilender »Dissoziation« dar, die als Boll-
werk gegen zu schmerzhafte traumatische Erin-
1 EMDR wird unseres Wissens bisher in Traumazentren für nerungen benötigt wird, um vorübergehend Er-
Folterüberlebende wenig eingesetzt. leichterung und Abstand zu gewinnen.
12.6 · Psychotherapie mit Folteropfern
231 12
Imaginative Verfahren, die bereits in der Sta-
bilisierungsphase eingesetzt werden, haben sich Ein oszillierender schneller Wechsel vom
auch in der Exposition als vorteilhaft erwiesen, Naherleben zur Distanzierung kann vom
da die traumatischen Erfahrungen vor allem sen- Patienten gesteuert werden: Verkleinern -
somotorisch und ikonisch (rechtshemisphärisch, vergrößern, schnell - langsam, vor - zurück
bildhaft) engraviert sind (vgl. Kolk & Fisler, der Szenen.
1995). Sie sind dem logisch-rationalen Denken Der Therapeut verlässt während dieser
und Sprechen zumeist nicht oder nur fragmenta- Arbeit das frontale Blickfeld des Betroffenen
risch zugänglich. Damit entfalten bildhafte Vor- und sitzt »assistierend« an dessen Seite.
stellungen und sensornotorischer Ausdruck eine
mediierende Funktion für eine allmähliche se-
mantische Rekonstruktion der traumatischen Er- In diesem Verfahren würde die gegenübersitzen-
fahrungen. de Person des Therapeuten stören; es wird also
Als Beispiel wird hier die Screentechnik be- ein traditionelles Setting verlassen und die beste-
schrieben. Sie ist mit verschiedenen Therapie- hende Übertragungssituation bewusst abge-
methoden kompatibel (z. B. Verhaltenstherapie, schwächt. Der veränderte Standort des Therapeu-
tiefenpsychologisch fundierte Therapie, Psycho- ten ist in seiner Wirkung dem protagonistenzent-
drama und Gestalttherapie). rierten Psychodrama ähnlich. Klienten berichten
oft große Erleichterung darüber, dass sie so ei-
nerseits weniger Angst vor dem Therapeuten-
Die Bildschirmarbeit (Screentechnik) blick empfinden, sich andererseits nicht um ihr
- Die Klienten werden ermutigt, das Erlebte Gegenüber (Therapeut) kümmern oder sorgen
an einer gedachten Leinwand zu visualisieren müssen. Es geht also im Wesentlichen um Auflö-
und gleichzeitig mit Hilfe des Therapeuten als sung von Blockaden und um die sehr flexible suk-
Narrativ zu formulieren. Es entsteht für die zessive Annäherung an die gefürchteten Situatio-
Klienten eine angstreduzierende Kontrollier- nen.
barkeit des »Films« durch den Abstand zur
Leinwand.
- Die horizontale bis leicht nach oben ge-
richtete Kopfhaltung des Klienten fördert die Wenn es während der Annäherung zu über-
Visualisierung. Diese Kopf- und Blickhaltung flutenden assoziierten Emotionen kommt, hilft
ist in der Regel mit Flashbacks unvereinbar der Therapeut dem Patienten, wieder ein er-
(Gurris, 2003). trägliches Maß der Distanz zu seinem »Trau-
- Die hohe Regulationsfähigkeit des Pro- mafilm« zu finden. in der Regel wird der Pa-
zesses kann Annäherung und gleichzeitig tient dazu angehalten, die Vorstellung zu
Distanz dissoziativ herstellen: verkleinern oder sogar zu schließen. Gleich-
Einerseits wird eine Verdichtung des Erle- zeitig wird er angewiesen, den Kopf wieder in
bens erreicht, indem die Klienten ermutigt eine horizontale bis leicht nach oben gerich-
werden, ihren »Film« im Präsens in Worte zu tete Position zu bringen.
fassen. Andererseits werden sie gebeten, dies
zunächst nur in der dritten Person Singular zu
tun, um eine andere, erträgliche Distanzie- An dieser Stelle werden gemeinsam die starken
rungsebene zu schaffen. Emotionen gewürdigt und besprochen. Das Feed-
back über Schwellen der Erträglichkeit durch den
Patienten ist sehr eindeutig und angstreduzie-
rend. Durch Wiederholungen des Verfahrens
kann die Schwelle allmählich angehoben werden,
bis ein vollständiges Narrativ und ein Durchleben
möglich ist. Gleichzeitig sinkt das Niveau der Er-
regung und des Leidempfindens durch stetige
232 Kapitel 12 · Folteropfer und Opfer politischer Gewalt

Habituation. Im Allgemeinen bilden sich zur rung der Patienten überhaupt riskieren. Anderer-
Überraschung der Patienten traumatische Dis- seits sind diese Patienten zumeist aufgrund der
soziationen und psychosomatische Symptome zu hohen Exilbelastungen ohnehin nur in der La-
deutlich zurück. ge, sich auf die Stabilisierung und Ressourcen-
Ein interessantes Phänomen tritt fast immer arbeit einzulassen.
auf: Mit zunehmender Fähigkeit, in dieser Weise
über die traumatische Ereignisse zu sprechen,
wird das Narrativ mit jeder Wiederholung umfas- Traumazentrierte Arbeit ist in vielen Fällen
sender und es werden mit jeder Wiederholung nicht als Durcharbeiten der gesamten trau-
mehr Details wiedererinnert Es formt sich quasi matischen Erinnerungen möglich. Oftmals
ein erkennbares Mosaik aus einer größer werden- lassen sich jedoch Elemente und verschiedene
den Anzahl von Bausteinen. Es scheint, als würde Ebenen der traumatischen Sequenz zu ver-
sich im Sinne von Amati {1977) ein Prozess der schiedenen Zeitpunkten des therapeutischen
»Vergeschichtlichung« der Traumen bahnen. Prozesses fokussieren. Die bisherige Erfahrung
Insgesamt wird durch traumazentriertes Vor- ist, dass bei der Behandlung von Folteropfern
gehen die Stärke und Dominanz der traumati- die Mehrzahl der therapeutischen Prozesse
schen Erinnerung allmählich herabgesetzt. vorwiegend ressourcenorientiert bleibt.

Auch in den Fällen, in denen das Vermeidungs-


Auch wenn bei chronischen Traumafolgen ei- verhalten dominiert, zeigt die bisherige klinische
ne Reaktualisierbarkeit und eine Vulnerabilität Erfahrung, dass durch ressourcenorientierte, ak-
für Retraumatisierungen erhalten bleibt, so tivierende und die soziale Integration fördernde
haben die Betroffenen doch erlebt, dass sie therapeutische Interventionen eine Stabilisierung
darüber sprechen können und in selbst- und Reduktion der PTB-Symptomatik erreicht
bestimmter Weise die Vermeidung aufgeben werden kann. Allerdings fällt in diesen Fällen ei-
können:
ne Tendenz zu persistierenden belastenden Träu-
Sie haben gelernt, ihre Reaktionen zu
men, anhaltender depressiver Position und So-
verstehen und zu würdigen,
matisierung auf (vgl. Wenk-Ansohn, 2002). Auch
sie können ihre Symptome kontrollieren
scheint es, dass es im Rahmen von Reaktualisie-
und aus eigener Kraft alternative positive
rungen erneut zu stärkeren PTB-Symptomen
Zustände herbeiführen.
kommt, die von den Patienten als schwer beein-
Ein Teil der auf die Traumatisierung fixierten
flussbar erlebt werden (vgl. Birck, 2002).
Energie kann so wieder in Erleben der Ge-
genwart und Gestaltung der Zukunft fließen.

Traumaexposition kann nur erfolgen, wenn


Fortschritte dieser Art sind oft nicht stabil über ausreichende Stabilität der äußeren und in-
die Zeit. Der weiteren Psycheedukation im Sinne neren Situation des Patienten besteht und die
Therapeut-Patient-Beziehung tragfähig ist. Sie
einer Rückfallprophylaxe sollte in der Schluss-
darf nicht in psychosenahen Zuständen erfol-
phase angemessene Zeit gewidmet werden. Er-
gen. Aufgrund ihrer spezifischen Wirksamkeit
neute Kurztherapiephasen sollten im Sinne einer
kann sie in ganz spezifischer Form schaden
»Auffrischung« eingeplant werden.
(Reddemann & Sachsse, 1998), indem das ra-
Wird traumafokussierende Therapie mit Pa-
sche Reduzieren von Dissoziationen die Ver-
tienten während laufender Asylverfahren durch-
arbeitungsfäh igkeit der Psyche überlastet.
geführt, wird der erreichte Erfolg oft durch nega-
tive Nachrichten oder Abschiebeandrohungen
zunichte gemacht. Es ist daher auch ein ethisches
Problem, inwieweit Therapeuten das traumazent-
rierte Arbeiten bei fehlender Aufenthaltssiche-
12.6 · Psychotherapie mit Folteropfern 233 12
Phase der Integration

Nach der traumazentrierten Arbeit beginnt das Die Beendigung der Therapie sollte gut vor-
Einbauen des Erlebten in das Selbstkonzept bereitet werden, da mit dem Foltertrauma
durch Sinn- und Bedeutungstindung im Dialog. häufig Beziehungsabbrüche verbunden wa-
Die Gesprächsform kann klientzentriert, kogni- ren . Daher ist auch der Abschiedsprozess von
tiv-behavioral im Sokratischen Dialog oder tie- besonderer Bedeutung.
fenpsychologisch fundiert sein.

Phase der Nachbehandlung

ln der Phase, in der die Folgen des Traumas Bei chronifizierter, komplexer PTB sind erneute
ihre Dominanz verlieren, ist nicht nur Erleich- stützende oder fokale Interventionen, besonders
terung spürbar, sondern bei einigen Patienten in Belastungsphasen, angezeigt. Auch sind »imp-
tritt eine innere Leere und Einsamkeit ein, so fende« Kurzwiederholungen von Expositions-
dass in dieser Therapiephase Trauerarbeit und behandlungen (Exposition in sensu VT/Screen-
Verlustgefühle im Vordergrund stehen. Be- arbeit) zu empfehlen.
sonders achtsam sollte eine mögliche latente Häufig sind in der traumatherapeutischen
Suizidalität erkannt und bearbeitet werden. Arbeit mit Folterüberlebenden aufeinander abge-
stimmte Therapiephasen nicht planbar. Ins-
Anhand der Arbeit an Konflikten der gegenwärti- besondere bei Patienten in Asylverfahren kann
gen Lebens- und Beziehungsrealität geht es dann es immer wieder zu Unterbrechungen bis hin
weiterhin um Auswirkungen des Traumas auf die zum Zusammenbruch des therapeutischen Pro-
Persönlichkeit, die Erarbeitung neuer Perspekti- zesses kommen. Wichtig ist jedoch, dass die The-
ven sowie Handlungs- und Beziehungsfahigkeit. rapeuten methodisch flexibel die Fokussierung
Der therapeutische Raum der Einzel- und Grup- der Foltererlebnisse im Auge behalten und sich
pentherapie dient hier als Ort, neuen Handlungs- nicht dem Vermeidungsverhalten der Patienten
spielraum zu gewinnen und zu erproben. ergeben. Die Therapeuten selbst können ange-
Es ist hilfreich, wenn Therapeuten über Psy- sichts der oft unfassbaren menschlichen Grau-
chodramakompetenzen oder gestalttherapeuti- samkeiten einer Vermeidungstendenz erliegen;
sche Mittel verfügen, um den Betroffenen han- hier ist der Vorteil der Teamarbeit, mit den
delndes Erleben zu ermöglichen. Das aktive Möglichkeiten der kollegialen Supervision (»In-
körperlich-psychische wieder »ln-Bewegung- tervision«) und kurzfristigen Entlastung durch
Kommen« wirkt traumabedingten Erstarrungen Kollegen nach Therapiestunden in Form eines in-
und vor allem den oft begleitenden Depressionen stitutionalisierten Therapeutendebriefings, her-
entgegen. Räumlich-körperliche Perspektivände- vorzuheben (Lansen, 1996). Auf die Notwendig-
rungen bewirken auch differenziertere Kognitio- keit von Fall- und Teamsupervision (durch exter-
nen und beweglichere innere Zustände mit deut- ne Supervisoren) wurde bereits hingewiesen.
licher Reduktion depressiver Stimmungen.
Sehr hilfreich sind auch parallele oder inte-
grierte gestaltungs- und kunsttherapeutische so-
wie tanz-, musik- und bewegungstherapeutische
Angebote (vgl. Kareher & Tschiesche-Zimmer-
mann, 2002). Die Ermutigung zu kreativer und
emotionaler Expressivität (Traue, 1998) ist für
die Klienten hilfreich; die familientherapeutische
Arbeit (analytisch oder systemisch) mit den Be-
zugspersonen ist oft sinnvoll.
234 Kapitel 12 · Folteropfer und Opfer politischer Gewalt

12.6.3 Exemplarische Darstellung Beschwerden


eines Therapieverlaufs Heftige chronische Kopfschmerzen,
körperliche Schmerzzustände, z. T. aufgrund
lokalisierbarer körperlicher Folterfolgen,
f) Beispiel
z. T. mit psychosomatischem Hintergrund,
Darstellung eines Therapieverlaufs
Ein- und Durchschlafstörungen,
Anamnese
Albträume mit Angst vor erneuter Inhaftie-
Herr Z., Angehöriger einer Volksgruppe aus einem
rung und Fragmenten der Foltersituationen,
zentralasiatischen Land, war politisch gegen das
Grübeln und Schuldgefühle,
Regime aktiv und zweimal inhaftiert und gefoltert
tägliche Flashbacks,
worden. Zuletzt war Herr Z. in Abwesenheit zum
Selbsttötungsgedanken,
zweiten Male zum Tode verurteilt worden und
Konzentrations- und Erinnerungsstörungen,
konnte vor der Gefangennahme und Vollstreckung
Depression.
nach Deutschland fliehen.
Herr Z. hatte eingangs 15 Kontakte mit stützenden
Erlebte Folterungen
Gesprächen und ausführlicher Erhebung der Le-
Schläge und Tritte am ganzen Körper, auch ins
bensgeschichte sowie der Folteranamnese durch
Gesicht und auf den Schädel, dabei
die behandelnde Ärztin im Behandlungszentrum.
Zahnbrüche und Platzwunden,
Zur gleichen Zeit war umfassende sozialthera-
Falanga (heftige Schläge mit Kabeln auf die
peutische Unterstützung durch einen Sozialpäda-
Fußsohlen),
gogen der Einrichtung erforderlich, da mit dem
Aufhängen an den Händen mit Überdehnung
schwierigen Asylverfahren besondere psycho-
der Bänder und Muskeln,
soziale Belastungen für Herrn Z. verbunden waren.
Belastung mit Gewichten (gefüllte Gasflasche)
Alle medizinischen Behandlungsmaßnahmen, die
für jeweils ca. 1 Stunde in unphysiologischen
aufgrundkörperlicher Beschädigungen notwendig
Positionen (im Sitzen an die nach hinten ge-
waren, wurden durchgeführt (OP einer chroni-
bundenen Arme bzw. auf einem Tisch liegend
schen Otitis media, orthopädische Einlagen für die
an die Beine gebunden),
durch Falanga geschädigten Füße). Zur ersten
Elektroschocks; die Elektroden waren an den
Linderung der Rückenbeschwerden wurde eine
Genitalien, an der Zunge und an den Ohren
externe Krankengymnastik eingeleitet.
angebracht worden. Einmal wurde ihm dabei
Schmerzzustände im ganzen Körper wurden
mit einem Draht das linke Trommelfell mit der
von ihm je nach emotionaler Befindlichkeit un-
Folge einer eitrigen Entzündung im Ohr
terschiedlich erlebt, womit diese Zustände als
durchstoßen,
psychosomatisch beeinflussbar erschienen.
Zufügen von Verbrennungen durch Zigaret-
Bereits während der ersten Anamnesestunde
tenglut,
entladen sich bei Herrn Z. Gefühle von Schmerz
audio-visuelle Folter durch Blendlicht und Be-
und Trauer. Er schildert die Umstände seiner ersten
schallung mit lauter Musik sowie Geräuschen
Verhaftung. Während die Militärs in sein Haus
(u.a. Übertragung der Stimmen von Gefolter-
eindringen, hat er sich in der Nähe versteckt. Als er
ten, auch von schreienden Kindern),
das Schreien seines jüngsten Sohnes hört, bricht er
Androhung der Hinrichtung und Miterleben
die mögliche Flucht ab und stellt sich.
des Sterbens von Mitgefangenen an den
Die Schilderungen seiner einstigen politischen
Folterfolgen,
Ideale machen deutlich, wie sehr er heute unter
mehrere Scheinhinrichtungen. dabei einmal
den Konflikten und Zerwürfnissen seiner ehema-
mit Schussverletzung,
ligen Mitkämpfer leidet. Gedanken daran verstär-
Hunger, Durst, Hitze, Übergießen mit Eis-
ken seine depressive Grundstimmung. Latente
wasser und Fäkalien,
Suizidgedanken sind durch seine metaphorischen
Deportation seiner Ehefrau und seiner Kinder.
Umschreibungen deutlich identifizierbar. Diese
Sie gelten seither als >>verschwunden<<.
T
12.6 · Psychotherapie mit Folteropfern 235 12
werden insbesondere durch die entwürdigenden und Beispielen ergänzt. Hierdurch gelingt es
Exilbedingungen und die Ungewissheit über das Herrn Z., verschiedene Weisen von Vermeidungs-
Schicksal der Familie aufrechterhalten. Von den verhalten zu identifizieren und zu benennen.
erlebten Folterungen berichtet Herr Z. im Rahmen überlebensschuldgefühle und Selbstvorwürfe,
der Aufnahmediagnostik größtenteils detailliert versagt zu haben, werden in Form »automati-
aber zumeist ohne emotionale Beteiligung. scher« negativer Gedanken ausgemacht und dann
Gleichzeitig berichtet er, dass Fragmente der Fol- zwischen den Behandlungsstunden von ihm pro-
terszenen Inhalte von Intrusionen seien. Im Rah- tokolliert.
men der Eingangsdiagnostik hat der Patient die
Erfahrung machen können, dass das Verbalisieren
Verfahren zur Symptomkontrolle
von belastenden Erfahrungen und begleitenden
Gefühlen ihm Erleichterung verschaffen kann und Übende Verfahren der Symptomkontrolle und
er entschließt sich zu einer weitergehenden trau- -Veränderung befreien gefolterte Klienten aus ih-
maorientierten Psychotherapie. ren Gefühlen von Hilflosigkeit, Ausgeliefertsein
und Erstarrung (»Numbing«). Der sichernden
Psychoedukative Behandlungsvorbereitung Verankerung durch eine Vielfalt kreativ-thera-
peutischer Mittel sind Grenzen durch die auf-
Die psychoedukative Vorbereitung zu Beginn der grund der Foltergeschichte »geladenen« Stimuli
Therapie hat zum Ziel, die Symptomatik für den (z. B. geschlossene Augen) gesetzt, die in der
Klienten zu »normalisieren« (Meichenbaum, Anamnese bzw. Verhaltensanalyse sorgfaltig er-
1994). Die Aufklärung über fakultative Behand- hoben werden müssen. Die Verfahren beinhalten
lungsmöglichkeiten unter aktiver Mitarbeit des auch eine allgemeine Aktivierung und Ermuti-
Klienten wirkt dem Gefühl allgemeiner Hilflosig- gung; besonders nachhaltige Wirkungen werden
keit, des Ausgeliefertseins an die Symptome und erzielt, wenn die vom Klienten selbst hervor-
der Angst vor Kontrollverlust entgegen. Ins- gebrachten Metaphern, Beschreibungen und
besondere der umfassende Verlust der Selbst- Konnotationen vom Therapeuten immer wieder
bestimmung unter der Folter erfordert in der aufgegriffen und genutzt werden.
Therapie dauernde Aufmerksamkeit für den fort-
schreitenden Wiederaufbau von Kontrolle und Si- 8 Beispiel
cherheit für den Betroffenen. Erste Schritte der Symptombewältigung
(3 Sitzungen)
8 Beispiel Herr Z. fühlt sich infolge seiner Ein- und Durch-
Psychoedukative Behandlungsvorbereitung schlafstörungen sowie durch die chronischen
Mit Herrn Z. werden in einfühlend-aufklärender Kopfschmerzen völlig zerschlagen und erschöpft.
Weise die Folgen der erlittenen Folterungen re- Die Ungewissheit über das Schicksal der Familie
flektiert und in Beziehung zu seinen Beschwerden sowie die zermürbende Asylbewerbersituation
gesetzt. Von der einfachen Darstellung der uni- (Warten als folterähnliche Situation) verstärken
versellen PTB- bzw. komplexen PTB-Symptombil- Gefühle von Ausgebranntsein und Ohnmacht.
der vieler anderer gefolterter Menschen werden Gedankeninhalte weisen auf verdeckte
im konstruktiv-narrativen Dialog die individuellen Selbsttötungstendenzen hin. Er sitzt auf dem Stuhl
Belastungen und Beschwerden in den Mittelpunkt
mit vorn übergebeugtem Körper, stützt gele-
gerückt. Herr Z. ist zunächst überrascht, dass ne- gentlich seine Hände in den Kopf. Angestrengt
ben Flashbacks und Albträumen auch die versucht er »Haltung<<zu bewahren. Wie der ganze
Schmerzempfindungen eine psychische Lang- Körper, so sind auch die Gesichtsmuskeln ver-
zeitfolge der Folterungen sind. ln vereinfachter spannt mit einem Ausdruck von Verzweiflung und
Form wird ihm das Modell des traumatischen Schmerz.
Reaktionskreises dargeboten und mit Metaphern
... ...
236 Kapitel 12 · Folteropfer und Opfer politischer Gewalt

Zu Beginn der Sitzungen werden dem Klienten Ortes zu geben, wird die Aufmerksamkeit auf
Informationen über den psychobiologischen Zu- Gegenstände des Raumes gelenkt, auf die Bilder
sammenhang seiner Schmerzempfindungen mit an der Wand, das große helle Fenster und die
Vermeidung, Schmerzerwartung, Anspannung jederzeit bestehende Möglichkeit, den Raum
und kognitiver Bewertung nach der »Gate con- zu verlassen. Angenehme Fixpunkte für Trance-
troi«-Theorie (Melzack & Wall, 1983; Flor, 1991) induktionen können somit im Raum lokalisiert
vermittelt. Es folgen entspannende und desensi- werden; ebenso wird die >>Rückkehr<< aus den
bilisierende Übungen im »Hier und Jetzt<< (Reise Entspannungsreisen an den >>gewohnten und
durch die Körperorgane, progressive Muskelent- sicheren Gegenständen in diesem schon be-
spannung, Tiefenatmung, kurze Tranceübungen kannten sicheren Raum<< orientiert.
und Aspekte des Autogenen Trainings). Da Herrn Nach diesen übenden Verfahren werden
Z. während vieler Foltersituationen die Augen gemeinsam mit dem Klienten immer wieder
verbunden waren, verbot sich die Suggestion ge- Schmerzempfindungen und Unruhezustände
schlossener Augen. Die gegenteilige Suggestion >>gemessen<<, z. B. auf einer subjektiven Skala von
(»Während die Muskeln nun mehr und mehr ent- 0-10 oder, differenzierter, von 0-100 im Sinne der
spannen können, können die Augenlider auf- Subjective Units of Distress (SUD, vgl. Foy, 1992).
geklappt bleiben; die Augen können all das sehen, Herr Z. ist, wie die meisten Klienten, überrascht,
was hier im Raum geschieht, und sie können Sie dass er noch Unterschiede im Schmerz- und Un-
beschützen, so lange es notwendig ist, während ruheempfinden erleben kann; besonders ermuti-
gleichzeitig die Füße und Beine ein bisschen gend ist es für ihn, dass er sich nicht immer hilflos
schlafen gehen können. Dabei kann der Kopf küh l seinen Symptomen ausgeliefert fühlen muss. Die
und wach bleiben, die Ohren können alles hören, kognitiv-behavioralen Dialoge mit restrukturie-
während die Entspannung allmählich fortschreiten renden Kognitionen helfen Herrn Z., erste Ansätze
kann.«) war für Herrn Z. hilfreich, um sein Gefühl von neuem Selbstvertrauen und Selbstwertgefühl
der Kontrolle über die Situation zu stärken. Ähnlich zu entwickeln.
verboten sich Entspannungsinduktionen mit Als Herr Z. in der 4. Sitzung verzweifelt über
Wärmeempfindungen, da Herr Z. infolge der Fa- die Schlaflosigkeit der vorangegangenen Nacht
langa (heftige Schläge auf die Fußsohlen) unter klagt, wird er vom Therapeuten eingeladen, hier in
dem >>burning feet«-Syndrom litt. So wurden spä- der Sitzung ein wenig zu >>dösen<<. Er lernt die
tere geleitete Imaginationen mit Empfindungen automatischen Gedanken zu identifizieren, die die
von Kühle (z. B. >>die Füße können im kühlen verzweifelten Einschlafversuche zunichte machen.
Wasser des Baches hängen ... oder baumeln .. .<<) Sodann wird ihm die Selbstinstruktion vorge-
gekoppelt. schlagen, gar nicht richtig schlafen zu müssen,
Zur kauernden Haltung des Klienten auf dem sondern einfach nur zu >>dösen<<. Die Instruktion
Sessel werden ihm Alternativen angeboten, z. B. wird angereichert mit positiven dissoziativen Ge-
eine Atemübung im Gehen, Fortsetzung der Ent- danken, Techniken der Selbstkonfusion und mit
spannung auf dem Boden des Raumes oder eine Entspannungsreisen. Der unmittelbar herbeige-
geleitete Imagination, stehend am offenen Fenster führte Erfolg, sich erholt und au sgeruht zu fühlen,
des Raumes, dabei Assoziationen mit den Bäumen ermutigt Herrn Z., die Übungen zwischen den
des Klinikgeländes entwickeln (z. B. >> .. der Rhyth- Sitzungen zu Hause zu wiederholen. Er lässt sich
mus des Atems wie das Wiegen der Blätter im auf den Vorschlag ein, ein Schlaftagebuch zu
leichten kühlen Wind, der Stamm des Baumes, fest führen mit Identifizieren und Benennen von quä-
mit der Erde verwurzelt, das Nachspüren der Beine lenden Gedanken und dem Versuch, alternative,
und Füße, die fest mit dem Boden verwurzelt sein beruhigende oder dissoziative Gedanken aus-
können wie der Stamm des Baumes ...<<). zumachen und zu verstärken.
Folter findet zumeist in geschlossenen Räu-
men statt. Um dem Therapieraum allmählich die
Bedeutung eines sicheren und ungefährlichen

"'
12.6 · Psychotherapie mit Folteropfern 237 12
Verfahren zur Stabilisierung uneingeladene<< Fragmente der traumatischen Si-
tuationen evoziert werden können.
In der hypnotherapeutischen Trancearbeit nach Das therapeutische Erleben des Selbst vor den
Erickson werden starke und lebenserhaltende Foltertraumen kann z. B. mit Mitteln der Hypno-
Ressourcen aus der Zeit vor dem Trauma freige- therapie erleichtert und ausgestaltet werden. Sie
legt und mit Sinneswahrnehmungen verankert. ermöglicht kontrollierten Zugang zu Erinnerun-
Es entsteht eine vor- bzw. nichtsprachliche psy- gen, die sonst vom Bewusstsein ferngehalten
chophysiologische Verstärkung positiver Innen- werden. Sie ist ein strukturiertes, sogar strategi-
bilder, die als Bewältigungspotenziale helfen, die sches therapeutisches Werkzeug (Spiegel & Car-
folgende Auseinandersetzung mit dem Trauma dena, 1990), um positive dissoziative Phänomene
zu erleichtern. Die »innere Welt« kann ohne kog- zu erzeugen und den Klienten zu helfen, größere
nitive Zensur erstehen und Grundannahmen bzw. Kontrolle über diese ausüben zu können. Durch
Aspekte des Selbst können als »Teile« interagie- den Zustand der Trance wird ein veränderter Be-
ren. Es können so erste Umdeutungen und Re- wusstseinszustand erreicht. Therapeuten sind da-
strukturierungen erreicht werden. Anschließende bei nur »Agenten << für die Klienten und helfen ih-
kognitiv-behaviorale Restrukturierungen im Dia- nen, deren vorhandene innere Welt zu entdecken,
log mit dem Therapeuten sind mit der voran- zu öffnen und zu erweitern. Therapeuten müssen
gegangenen Trancearbeit sehr gut kompatibel nur den Spuren, den in der Trance entstehenden
und eignen sich gut zur Stabilisierung von Verän- inneren Bildern, der Patienten folgen und helfen,
derungen. die Szenarien des »Weisen Unbewussten<< (eine Art
psychebiologisches Konstrukt der Hypnotherapie)
f) Beispiel
zu arrangieren, Teile des Selbst zu identifizieren
»Wiederbeleben<< der prätraumatischen
und zu ermutigen, die im Menschen miteinander
Persönlichkeit (4 Sitzungen)
arbeiten. Die Ressourcen haben grundsätzlich
Es hat sich bewährt, einige Aufmerksamkeit den
»gute Absichten<<; sie sind lebenserhaltend, un-
Ressourcen des prätraumatischen Lebens der
terstützend und hilfreich.
Klienten zu widmen. Die Veränderung der Kogni-
Zunächst ist es sinnvoll, nach der Trancein-
tionen durch das Foltertrauma lässt auch die vor
duktion auf »Entdeckungsreise<< zu gehen, den
dem Trauma erworbenen und gelebten biopsy-
»inneren Suchscheinwerfer<< auf die Zeit vor dem
chosozialen Erfahrungen zusammenschrumpfen
Trauma zu lenken, das »jüngere Selbst<< zu besu-
als allenfalls Trümmer oder Fragmente eines an-
chen und Szenen vor dem »inneren Auge<<erste-
deren, glücklicheren Lebens. Gedanken an diese
hen zu lassen, die psychebiologisch wichtige
Fragmente führen oft zu sofortigen schmerzhaften
Ressourcen bergen.
Verlustgefühlen und zur Kopplung mit dem Fol-
Herr Z. gelangt zu einem Lieblingsplatz auf
tertrauma, bei Herrn Z. etwa in der Weise: »Durch
dem Hof seiner Eitern: Ein abseits gelegener alter
das Schreckliche ist auch alles Frühere nichts mehr
Brunnen. ln der Vorstellung ist er etwa 9 Jahre alt.
wert<<oder »Es tut nur weh, also denk ich lieber
Er sitzt dort manchmal allein und manchmal mit
nicht daran<<oder »Die Folter ist eher Wahrheit, das
seinem Großvater, der ihm viele Dinge erzählt und
Leben davor eine Illusion<<.
erklärt. Verschiedene Szenen werden nun auf allen
Eine nur kognitive Bearbeitung und Stärkung
Repräsentationsebenen der Wahrnehmung ge-
dieser Vergangenheit vor der Folter (im Sinne von
ankert: Die Imagination der Farben, der ange-
Würdigung und Wiederbelebung) ist selten vor
nehmen Geräusche, der typischen Gerüche, des
einer therapeutischen Erlebensphase sinnvoll, da
Empfindens auf der Haut.
überwältigender Schmerz und Trauer über das
Zum Schluss werden diese Innenbilder ver-
»verlorene Leben<< die Ressourcen dieses Lebens
stärkt: "wann immer es Ihnen gut tut, können Sie,
verdecken und darüber hinaus in der therapeuti-
kann Ihr Unbewusstes, vielleicht schon in den
schen Situation Flashbacks als >>marodierende,
nächsten Stunden oder Tagen oder Wochen,
T
dieses Bild in sich wachrufen und es kann Ihnen
T
238 Kapitel 12 · Folteropfer und Opfer politischer Gewalt

helfen, eine Zeitlang angenehme Empfindungen lassen, um dann auf die positiven Ressourcenbil-
zu genießen ...«. der >>umzuschalten<<. Auch lernen sie, die positiven
Bei gefolterten Menschen erscheinen die Bilder eine Weile zu >>halten<< und sie gegenüber
Ressourcen zumeist als verschüttet; Teile des der ungewollten Invasion traumatischer Bilder
Selbst, des Unbewussten (nach Erickson), sind abzugrenzen, zu >>rahmen<<.
durch Demütigungen, Todesangst, unerträgliche
Schmerzen und grausame Misshandlungen immer
wieder angegriffen und verletzt worden. Starke
Therapeutische Exposition
der Foltererfahrungen
Ressourcen wie das Innenbild der Brunnenszene,
können als »wiederbelebte Teile<< andere verletzte Mit der vorsichtig geleiteten Exposition, die
Teile »umsorgen<<, >>schützen<<, >>Unterstützen<< und Traumaereignisse detailliert zu imaginieren und
>>ein wenig heilen<<. Der selbstheilende Prozess unter therapeutischer Hilfe in eine narrative Per-
entsteht insbesondere durch die >>Zusammen- spektive zu überführen, wird der Teufelskreis der
arbeit<< der Teile. Bei Herrn Z. nimmt z. B. der Teil Vermeidung durchbrochen und die traumati-
der Scham (Verletzung von Stolz und Würde, ver- schen Fragmente können allmählich fortschrei-
letzte Scham durch sexuelle Folterungen) großen tend zu einem ganzheitlichen Abbild des Erlebten
Raum in seiner inneren Welt ein. ln der Trance zusammengesetzt werden. Mit Hilfe von Restruk-
entstehen Fragen, wie z. B.: turierungen und bedeutungsfindenden Reflexio-
Was braucht die Scham der verletzten nen kann dieses dann in das Selbst des Klienten
Sexualität? integriert werden. Der Prozess zielt auf die verän-
Welche anderen Teile können der Scham derte Haltung des Patienten, mit der er sagen
helfen? kann: »Ja, das habe ich wirklich erlebt, ich kann
Ist es möglich, die Scham umzudeuten als in einer geschützten Situation über meine Erleb-
Schutz vor neuen Verletzungen? nisse sprechen - es gibt Möglichkeiten, trotz der
Welche Teile können der Scham Signale verbliebenen Beschädigungen mit den Foltererfah-
geben, ob eine Gefahr besteht oder nicht? rungen zu überleben; ich bin nicht verdammt, für
Welche Ressourcen aus der vortraumatischen alle Zeit ein Opfer zu bleiben. Es kann, darf und
Geschichte können der Scham helfen, sich muss nicht vergessen werden - aber es ist dennoch
sicherer zu fühlen? Geschichte.<<
Mit fortschreitender Integration der Folter-
Mit dieser Arbeit werden erste Restrukturierungen
erfahrungen verringern sich der klinischen Er-
möglich. So war für Herrn Z. auch hilfreich, die
fahrung nach auch die Symptome der PTB, ins-
durch die Folter zerstörten Grundannahmen
besondere die quälende intrusive Symptomatik
(>>Teile<<) rituell zu begraben. Zerstört waren seine
und auch psychosomatische Schmerzzustände.
Unbekümmertheit und die Annahme, unverletz-
lich zu sein. ln der Vorstellung wurde ein würdiges
Begräbnis inszeniert und zelebriert, mit Nachrufen
8 Beispiel
Therapeutische Exposition der Folter-
und einer Trauerzeit. Danach war es für ihn leich-
erfahrungen (8 Sitzungen; Doppelstunden)
ter, anstelle der verlorenen Teile (Annahmen) neue,
Das therapeutische Wiedererleben der Verfol-
weisere und differenziertere erstehen zu lassen.
gungs- und Foltersituationen ist eine gestufte
Die Imagination positiver Ressourceninnen-
Konfrontation auf der Vorstellungsebene, die im-
bilder erleichtert verdecktes Gegenkonditionieren.
mer durch den Klienten geleitet und kontrolliert
Durch das >>Umschalten<< (als spätere Selbst-
wird. Erforderlich ist die uneingeschränkte Com-
instruktion) auf diese angenehmen Innenbilder
pliance des Patienten und seine Überzeugung,
können Vermeidungsreaktionen in Bezug auf die
jeden der vorgenommenen Schritte bestimmen,
traumatischen Bilder gehemmt werden. Klienten
also auch unterbrechen oder abbrechen zu
lernen so, Bilder, Erinnerungen und Gedanken an
können. Die uneingeschränkte Zustimmung sowie
die traumatischen Situationen kontrolliert zuzu-
T
...
12.6 · Psychotherapie mit Folteropfern 239 12
das wiederholte Erbitten von Feedback durch den ist am Anfang nicht ganz einfach, aber ich werde
Therapeuten stabilisieren das SicherheitsgefühL Ihnen dabei helfen.«
Herr Z. wird durch ein auf ihn zugeschnittenes Herr Z. beginnt stockend mit der Beschrei-
Rational vorbereitet. ln den vorangegangenen bung seiner ersten Verhöre in einem Büro des
Sitzungen hat er Vertrauen in die Therapie ent- Geheimdienstes. Der Therapeut wiederholt an
wickelt; Selbstkontrolle und Selbstvertrauen sind seiner Seite prägnante Ereignisse und reflektiert
etwas gewachsen. Vor allem über die kleinen Er- Gefühle der Erwartungsangst, Verunsicherung
folge -weniger Schmerzen zu empfinden bzw. auf oder von Versuchen der Selbstbehauptung des
das Schmerzempfinden mehr Einfluss nehmen zu Herrn Z. in dieser Situation. Analogien wie >>Mut
können, Abnahme der inneren Unruhe - fühlt Herr der Verzweiflung« oder >>Poker um Macht und
Z. sich nicht mehr so hilf- und hoffnungslos. Im Ohnmacht<< helfen ihm, seine Reaktionen in der
Dialog erklärt Herr Z. überzeugend seine Bereit- Bedrängnis zu akzeptieren und zu würdigen. Hin-
schaft für das vorgeschlagene Vorgehen. geworfene Äußerungen von Sarkasmus und Gal-
Der Therapeut verändert nun das Setting, in genhumor werden in ihrer Bedeutung in dieser
dem er sich neben seinen Klienten setzt und er- Situation gewürdigt und als >>normale Über-
klärt: »Wenn wir gleich gemeinsam zurückgehen lebenstechnik<< in einer >>unnormalen Situation<<
zu der Zeit, als Sie als Student in Ihrer Stadt poli- umgedeutet.
tisch tätig waren, dann werde ich Sie bitten, die Die Erzählung von Herrn Z. verdichtet sich, als
Szenen, die vor Ihrem inneren Auge erstehen, in er zu seiner Inhaftierung und den Folterungen
Worte zu fassen. Stellen Sie sich vor, die gegenü- gelangt: Während die vorangegangenen Umstän-
berliegende Wand hier im Raum wäre eine Lein- de von zwischenzeitlicher Flucht und politischer
wand, auf der Sie die Szenen sehen können; dabei Aktivität im Untergrund noch flüssig und detail-
werde auch ich mich bemühen, mir die Szenen reich geschildert werden, fällt es ihm nun sichtbar
vorzustellen. Es ist so, als würden wir gemeinsam schwer, Worte um das Erlebte zu formen. Seine
diesen »Film« ansehen. Diese Vorstellung hat den Stimme vibriert und bricht ab bei nun gesteigerter
Vorteil, dass Sie die Größe der Leinwand einstellen Blutzufuhr im Gesicht und einhergehendem
können, dass Sie den Film schnell, normal oder Schweißausbruch, er beginnt zu hyperventilieren.
langsam laufen lassen können. Sie können ihn vor- Die Annäherung an das imaginierte Szenario
und zurücklaufen lassen. Sie können ihn sogar macht eine Zäsur durch den Therapeuten in Form
ganz abstellen. Wir werden auch gleich ein Zei- einer beruhigenden und distanzierenden Inter-
chen Ihrer Hand vereinbaren, wenn Sie den Film vention erforderlich: »Nehmen Sie jetzt 2 oder 3
abstellen wollen, und Sie es allein nicht schaffen. tiefe Atemzüge und versuchen Sie, den Film an-
Nach jedem Durchgang können Sie ein bisschen zuhalten und die Leinwand zu verkleinern. Wenn
entspannen, vielleicht einen Ausflug zu »Ihrem Sie möchten, können Sie sich einen Moment von
Brunnen« unternehmen. Lassen Sie uns bespre- der Leinwand abwenden und den Baum gegenü-
chen, wie viele Durchgänge Sie heute glauben ber dem Fenster betrachten, diesen Baum hier, der
schaffen zu können. Es sollten aber nicht mehr als Ihnen schon vertraut ist ... oder Sie können für
3 sein. Für die weiteren Durchgänge haben wir in einen Moment die angenehme Szene aus Ihrer
den nächsten Sitzungen Zeit..«. Kindheit einschalten, z. B. wie Sie dort am Brunnen
Später: »Der Tag, an dem Sie beim Offizier des liegen und sich etwas ausruhen und Kraft
Geheimdienstes vorgeladen waren, wo dann alles schöpfen können. Schalten Sie einfach das Bi ld ein
begann, können Sie sich diesen Tag vorstellen? und drücken Sie mit dem Zeigefinger auf die
Welche Jahreszeit war es, welcher Monat? Wo Stuhllehne wie auf den Knopf einer Fernbedie-
waren Sie in den Stunden davor? Waren Sie an der nung für einen Fernseher. Geht das .... ? Entspan-
Uni oder in der Stadt. ..? Wenn jetzt Bilder dieses nen und genießen Sie das Bild so lange, bis es
Tages vor Ihrem inneren Auge erstehen, bitte ich
Sie, diese in der Gegenwartsform zu schildern. Das .,
wieder erträglich ist.«

~
240 Kapitel 12 · Folteropfer und Opfer politischer Gewalt

Als Herr Z. SUD 20 rückmeldet fährt der The- Herr Z. zittert jetzt am ganzen Körper und
rapeut fort: »Kehren Sie nun zurück hierher in bricht dann in Tränen aus. Der Therapeut un-
diesen Raum, in einer Zeit, die für Sie angemessen terstützt das Weinen und konnotiert die span-
ist... Wenn es für Sie geht, können wir uns nun nungs- und angstlösende Kraft der Tränen. Das
wieder der gedachten Leinwand zuwenden, die traumatische Innenbild verbindet sich für Herrn Z.
Sie sich noch immer verkleinert dort drüben vor- mit Gedanken an Stimuli, die im Alltag eine ähn-
stellen können. Geht das? Wenn Sie nun dafür liche Reaktion bzw. Erinnerungen an die Elektro-
bereit sind, dass wir uns gemeinsam wieder dem folter auslösen. Er schildert, wie er metallene Ge-
Bild nähern, dort in der Folterzelle, alleingelassen genstände, elektrische Geräte und ähnliches ver-
von den Folterern, nachdem Sie vorher so auf- meidet. Auch bestimmte schrille Geräusche lösen
gehängt und dabei geschlagen wurden (die letzte Flashbacks der Elektrofolter aus. Diese Hinweise
vorangegangene Schilderung von Herrn Z.), werden in späteren Sitzungen wieder aufgenom-
können Sie die Leinwand etwas größer werden men und es werden dann verhaltenstherapeutisch
lassen. Vielleicht kann Ihr Mund, können Ihre Lip- sukzessive Konfrontationen in vivo mit den ver-
pen jetzt wieder beginnen, Worte zu formen. miedenen Stimuli durchgeführt.
Manchmal werde ich Sie fragen: >Und was ge- Nach der Unterbrechung ist es Herrn Z. wieder
schi eht jetzt?<, damit wir im Fluss bleiben. Wenn möglich, gemeinsam mit dem Therapeuten in die
Sie das Bild nicht mehr aushalten, geben Sie mir traumatischen Bilder einzusteigen und diese er-
einfach wieder ein Signal.« zählend-bedeutungsfindend mit Unterstützung
Herr z.: »Ja, ich liege auf dem Betonboden, ich des Innenbilderlebens allmählich zu verarbeiten.
merke nur, wie ich voll Blut bin und dass alle Szene für Szene wird so im therapeutischen
vorderen Zähne fehlen .« Kontext »Wiedererlebt« und, soweit möglich,
Therapeut: »Wie spüren Sie das?« schon jetzt in einen Bedeutungs- und Sinn-
»Ich bin wie taub, nur das Blut ist zusammenhang gestellt. Diejenigen Ereignisse, die
warm, im Mund hab ich ein Gefühl wie nach dem durch extremen Schmerz und Schrecken als nicht
Zahnarzt, nein, anders noch, als wäre mein ganzer mehr bedeutungsvoll im menschlichen Sinne ak-
Mund ein großes Loch mit spitzen Knochen. Der zeptiert werden können, werden auch ebenso als
ganze Schmerz kommt erst später.« Sinnlosigkeit und Unmenschlichkeit hervorgeho-
Therapeut: »Denken Sie etwas?« ben. Entsprechend verlieren die Reaktionen des
Herr Z.: »Ja, ich denke jetzt: Die werden mich Opfers während dieser Ereignisse ihre anfängliche
umbringen. Ich weiß nicht. ob ich es aushalten Unverständlichkeit und die Annahme des Krank-
kann, aber ich will nicht, dass sie mich klein krie- oder Verrücktseins: Reaktionen der vollkommenen
gen. Das Schlimmste ist. dass niemand da ist, das Hilflosigkeit und Abhängigkeit, das Empfinden,
schlimmste ist die Zeit, und Du weißt nicht, wann wie ein kleines Kind zu erleben und zu reagieren,
Sie wiederkommen.« kann mit Hilfe des therapeutischen Dialogs als
Therapeut: »Und was geschieht jetzt?« »normal« und angemessen angenommen werden.
Herr Z.: »Ich weiß nicht, wann sie mich wieder Der Therapeut und Beispiele anderer Menschen
geholt haben. Sie wollten, dass ich mich nackt werden zum Modell dafür, dass dies kein Mensch
ausziehe, aber ich hab mich geweigert.« aushalten kann und muss.
»Versuchen Sie, in der Gegen- Entlastend und hilfreich für die Bedeutungs-
wartsform zu bleiben. Was geschieht jetzt?« findung sind Diskurse über die Absichten von
Herr Z.: »Sie ziehen mich mit Gewalt aus und Folterern, über deren Ausbildung zu systemati-
schlagen mich wieder überall. Dabei drücken sie schen Menschenquälern. Der Versuch, die Ziele
auch Zigaretten auf meinen Beinen aus. Aber das der Folter nachzuvollziehen, entlastet von
ist noch nicht schlimm. Ich habe große Angst, wie Schuldgefühlen - von den Gefühlen, überlebt,
sie mir elektrische Drähte an meinen Ohren, versagt oder verloren zu haben.
meiner Zunge und dann an meinen Geschlechts- ...
organen befestigen .. .«
...
12.6 · Psychotherapie mit Folteropfern 241 12
Während des Durchwanderns der vielen ext- Therapeut: »Die Angst kann nur geringer
rem schmerzhaften Ereignisse sind 2 Situationen werden, wenn sie gewürdigt und beruhigt wird,
in späteren Sitzungen besonders hervorzuheben: und wenn sie immer wieder überzeugt wird, dass
jetzt keine wirkliche Gefahr droht. Können Sie sich
8 Beispiel vorstellen, dass die Angst dies auch allmählich mit
1. Situation Ihrer Hilfe wieder lernen kann?«
Während des qualvollen Wartens auf die Hinrich- Das von Herrn Z. eingebrachte nachträgliche
tung wurde mit Herrn Z. eine Scheinhinrichtung Empfinden der Surrealität wird vom Therapeuten
durchgeführt. Die Erinnerung an diese Momente aufgegriffen und in eine Art philosophisch-thera-
ist besonders mit Todesangst einerseits und peutischen Dialog überführt, in dem das Empfin-
emotionaler Erstarrung andererseits erfüllt. Herr Z. den, einmal mit dem Leben abgeschlossen zu
wird in einem japanischen »Pick-up« zur Hinrich- haben, in eine Bedeutung für ein bewussteres und
tungsstelle gefahren (solche Autos lösen auch weiseres Leben mündet. Herr Z. kann sich mit Hilfe
heute noch Angstanfälle aus). ln den Sekunden vor des Therapeuten auch erlauben, positive, radikal
der vermeintlichen Hinrichtung kann Herr Z. in lebensverändernde Aspekte des Schreckens der
einem nie zuvor gekannten Zustand der Todes- Scheinhinrichtung zuzulassen und zu würdigen.
angst Kot und Urin nicht halten. Im Nachhinein
2. Situation
beschreibt er den Zustand als >>surreal«. Fas-
Herr Z. erlebt die Befreiung einer Stadt von den
sungslos nimmt er sich als noch lebend wahr,
Besatzungstruppen. Seine Frau lebt mit den Kin-
nachdem er einen Schuss hörte. Erst später beim
dern in der Nachbarstadt. Herr Z. entscheidet sich,
Abtransport bemerkt er, dass er am Bein blutet
die Befreiung mit seinen Freunden ausgiebig zu
und gewärtigt, dass die Kugel ihn im Unter-
feiern und erst am Tag darauf nach Hause
schenkel getroffen hat. Aufgrund der Ausschüt-
zurückzukehren. Als er dann in seinem Haus an-
tung von Endorphinen - eine körperliche Reaktion
kommt, muss er erfahren, dass seine Frau und
auf extremen Stress- verspürt er keine Schmerzen
seine Kinder am Tag zuvor noch von den feindli-
(sog. Stressanalgesie). Die Erinnerung an die
chen Truppen deportiert wurden. Dies war
Scheinhinrichtung löst in ihm Erstickungsgefühle
möglich, da diese Stadt erst einen Tag später be-
aus, nachts schreckt er schweißgebadet aus Alb-
freit wurde. Seine Familie gilt seither (seit 5 Jahren)
träumen auf. Bedeutung und Auswirkungen der
als verschwunden.
Todesangst werden vom Therapeuten gemeinsam
Dieses Ereignis deutet Herr Z. subjektiv so,
mit dem Klienten erarbeitet und umstrukturiert:
dass er heftige Selbstvorwürfe und Schuldgefühle
Therapeut: >>Sie stehen in diesem Moment am
gegen sich erhebt. Diese halten depressive
Abgrund. Jeder Mensch, jedes Lebewesen hat in
Gefühle und Selbsttötungsgedanken aufrecht. Die
diesem Augenblick Todesangst. Können Sie sich
Möglichkeit verändernder therapeutischer Beein-
vorstellen, dass diese Angst auch etwas Gutes will,
flussung ist hier sehr begrenzt; gelegentlich ent-
dass sie Sie am Leben erhalten und schützen will?
stehen auch beim Therapeuten Gefühle der Hilf-
Und wenn j etzt diese Angst immer wieder auftritt,
losigkeit und Ohnmacht. Dem Therapeuten bleibt
ist es nicht so, dass sie in der extremen Situation
überwiegend nur die Anteilnahme an den Ge-
damals natürlich gelernt hat, Sie zu alarmieren?«
danken und Gefühlen des Klienten sowie geringe
Herr Z.: >>Ja, wenn ich es so betrachte, hat diese
kognitive Entlastungen und empathische Unter-
Angst natürlich einen Sinn.«
stützung. Die Interventionen orientieren sich vor
Therapeut: >>Wenn Sie also einen Sinn hat,
allem an der Aufdeckung von Suizidgedanken und
können Sie sich vorstellen, sich auch bei dieser
dem Sokratischen Dialog darüber. Das Oszillieren
Angst zu bedanken und sie zu würdigen?«
der Gedanken des Klienten zwischen Hoffnung,
Herr Z.: >>Ja, das wäre ein ganz neuer Gedanke.
dass die Familie noch irgendwo in einem Lager
Ich wollte die Angst immer von mir weghaben, so
lebt und dem Gedanken, dass alle ermordet wor-
als wäre sie etwas Krankes und Fremdes. Sie
den sind, kann der Therapeut nur jeweils beglei-
glauben also, dass die Angst nie weggeht?«

" "
242 Kapitel 12 · Folteropfer und Opfer politischer Gewalt

ten, da auch ihm die Evidenz für das eine oder Die am Schluss dieser Arbeit erreichte Reduk-
andere vorenthalten bleibt. tion von subjektivem Stress- und Leidempfinden
Nach dem Ende des ersten Durchgangs der um 80% (SUD=20) spiegelt wider, dass Herr Z.
Traumakonfrontation gibt Herr Z. seine SUDs mit begonnen hat, die extrem traumatischen Erleb-
70 an. Er bemerkt dazu, dass diese aber während nisse in sein Selbstkonzept zu integrieren. Das
der ersten Minuten des ersten Durchgangs emotionale, kognitive und behaviorale Vermeiden
»schlimmer als 100<< gewesen seien. Ermutigt ist stark vermindert: Herr Z. kann das Erlebte in
durch diese Erfahrung wünscht er von sich aus Worte fassen, es mitteilen, Gefühle zuordnen und
weitere Durchgänge. ln dieser Sitzung erfolgt Restrukturierungen von zerschlagenen Grund-
noch ein Durchgang, an dessen Ende er SUDs von annahmen vornehmen. Das Ausmaß nicht geleb-
50 angibt. Die Schilderung ist beim 2. Mal jedoch ter Trauer um die verschwundenen Familien-
weitaus detailreicher. Es fallen dem Klienten mit angehörigen bestimmt jedoch die Persistenz von
der Verringerung von Angst- und Stressblockie- Ohnmachts-, Hilflosigkeits- und Schuldgefühlen.
rungen weit mehr Einzelheiten ein. Weitere Mit der »Vergeschichtlichung<< (Amati, 1977)
Durchgänge in den nächsten Sitzungen vervoll- der Foltererlebnisse durch den narrativen Prozess
ständigen allmählich ein ganzheitliches Abbild der verringern sich bei Herrn Z. vor allem die Häufig-
Traumawirklichkeit Die Verlaufskurve der SUDs keit der überfallartigen Flashbacks und die Stärke
kann so auch als Gradient der stetigen Habituation der somataformen Schmerzzustände. Als nach 3
angesehen werden (s. a Abb. 12.1). Monaten erneut 4 Durchgänge der Traumaexpo-
T T

- - SUDmax.
SUD!
100 ··-· SUDmin.
90
80
70 \
60
' ' , __
50
40
30
...
... ...
20 .,
10
...
0 ~~1-.~2~.~3~.--~4-
. ~5~.--~6-
. ~7-
. --8~.--~9-.~,0~.~D~u-~~h-ga_n_g_
p.Sitzungljii.Sitzung lj tii. Sitzung
• • • -
I

ltv.Sitzungj -Sitzung .
&.._ ___._._ Konfrontation"

SUD
100 Wiederholung 3 Monate nach dem 10. Durchgang
90
80
70

60~
:: '--,, __ _
50 ~

10
0 ~~1.~2~.~3~.~-4~.~D~u-~~h-ga_n__
g
II
j1. Sitzung II. Sitzungj

D Abb. 12.1. Verlauf der »Subjective Units of Distress« (SUD} in der Therapie von Herrn Z.
12.6 · Psychotherapie mit Folteropfern 243 12
sition vorgenommen werden, ist der SUD-Wert selbst dort liegend sehen, indem er dort einen
nach dem 1. Durchgang erhöht (60), jedoch schon Gegenstand oder eine Decke hinlegt, die ihn
beim 2. Durchgang wird der Wert von 20 wieder selbst symbolisiert. Herr Z. als Protagonist kann
erreicht und liegt beim 4. Durchgang sogar da- sich selbst die Rolle des überlebenden älteren
runter (10). Es scheint also sinnvoll zu sein, die Selbst zuweisen und dem jüngeren gefolterten
Exposition im Sinne einer >>Impfung« in Abständen Selbst Mut, Trost und Verständnis zusprechen. ln
zu wiederholen. einer Szene stellt er die Folterer mit schwarzen
Tüchern dar (da ihm fast immer die Augen ver-
bunden waren, hat er sie nicht zu Gesicht be-
Handlungs- und körperorientierte Verfahren
kommen). ln dieser Situation dürfen Gefühle von
Das bisherige Vorgehen ist weitgehend mit der Wut und Hass, aber auch von Abhängigkeit und
inneren Welt (Imaginationen) des Klienten ver- Hilflosigkeit aufsteigen, die dann symbolisch -
bunden. Selbst wenn diese Innenbilder, Gefühle soweit möglich - ausgelebt werden können. Der
und Kognitionen mitgeteilt und zwischenzeitlich Therapeut befindet sich in diesen Situationen et-
immer wieder Dialoge geführt werden, so ist wa einen halben Schritt seitlich hinter dem Klien-
doch das Körpererleben reduziert bzw. ohne eine ten und kann von dort dessen innere Dialoge sti-
weitergehende spannungslösende Übersetzung in mulieren und Gefühle doppeln, den Atem modu-
Bewegung und Ausdruck geblieben. Ähnlich wie lieren und Änderungen der Perspektiven, der Be-
Innenbilder im Klienten entstehen und eine inne- wegungen im Raum anregen.
re Erlebniswelt offenbaren, können auch Szenen Viele der Situationen und Ereignisse, die Herr Z.
im Raum mit aktiver körperlicher Beteiligung zuvor nicht einmal denken konnte, kann er nun
des Klienten entstehen. So eröffnen z. B. Metho- gegenständlich aufbauen und, wenn angemessen,
den des Psychodrama Möglichkeiten, Erlebnisse verändern, z. T. neue Sichtweisen und Lösungen
und innere Bilder plastisch auf eine äußere finden sowie Gefühlen und Empfindungen sym-
Bühne (z. B. den Therapieraum) zu überführen. bolische Ausdruckskraft verleihen. Die körperliche
Veränderungen können nachhaltiger und ganz- Aktion und Erfahrung wirkt der psychisch-soma-
heitlicher wirken, wenn auch das (körperliche, tischen Erstarrung entgegen. Nach bzw. zwischen
sich bewegende, darstellende) Handeln des Men- den Szenen ist häufig wieder die kognitiv-beha-
schen einbezogen wird. So wie unter der Folter viorale Bearbeitung sinnvoll und dient der Verän-
der verletzende Angriff gegen den Körper geführt derung bzw. der Neugestaltung von Grund-
wurde, um Psyche und Identität zu beschädigen, annahmen, der Unterscheidung von Bedrohung
so sollte der gefolterte Mensch in der späteren und Sicherheit sowie der Beeinflussung von
Therapie seine körperliche Bewegung und Be- Übererregung und Angst.
weglichkeit handelnd wiedererfahren können. Es wird ausdrücklich an dieser Stelle darauf
Das Umsetzen von Gefühlen und Kognitionen hingewiesen, dass die Methoden der Rollenüber-
in Körpererleben kann so eine heilende Kraft nahme und des Rollentauschs im Psychodrama
werden. nicht eingesetzt werden, um Folterer als Personen
darzustellen (s. Dhawan, 1993). Das Unmensch-
f) Beispiel liche kann in der Therapie keine Rolle durch einen
Weitergehende Traumabearbeitung Menschen erhalten.
(17.-25. Sitzung)
ln den folgenden Sitzungen kann der Klient
schmerzhafte Erfahrungen psychodramatisch
nachempfinden und aus verschiedenen räumli-
chen Perspektiven erleben. Gegenstände können
als Symbolisierung von Erinnerungen dienen. So
baut Herr Z. in einer Sitzung eine Zelle auf, in der
er alleingelassen auf dem Boden liegt. Er kann sich
T
244 Kapitel 12 · Folteropfer und Opfer politischer Gewalt

12.6.4 Abschließende Bemerkungen ihrem Überdauern die Bedeutung von kaum heil-
zum therapeutischen Vorgehen barer Krankheit. Die oben beschriebenen thera-
peutischen Schritte können aber als quasi
Manche therapeutischen Vorgehensweisen kön- »homöopathische« Dosierungen der körperlich-
nen wie eine Miniatur dessen erscheinen, was seelischen chronischen Überreaktionen angese-
psychisch während und nach der Folter ge- hen werden. Entscheidend ist die therapeutische
schieht: Ethik, mit der in offener und aufklärender Weise
- Dissoziationen entstehen unter der Folter als die Zusammenarbeit mit den Klienten kreiert
überlebenstechnik bzw. als adäquate psycho- wird und alle Schritte des Vorgehens nur mit des-
physiologische Reaktionen. Posttraumatisch sen überzeugtem Einverständnis gegangen wer-
wird den überdauernden Dissoziationen oft den.
Krankheitswert zugemessen. Die Hypnothe- Für Kritiker mag es nahe liegen, mit dem ge-
rapie aber arbeitet insbesondere mit thera- schilderten Ansatz einer Traumatherapie mit Fol-
peutisch induzierten Dissoziationen, um an- teropfern eine Art psychologisch induzierter Re-
genehmere und erweiternde Bewusstseins- traumatisierung zu vermuten oder gar die Thera-
zustände zu erreichen, um z. B. gelernte Mus- pie selbst als eine Art Folter anzusehen. In der
ter von Schmerzempfinden zu verändern. Praxis aber führt solche Zurückhaltung und eine
- Wiedererleben von Foltersituationen ist für eher erschrocken zudeckende Haltung nicht nur
die Betroffenen eine wiederholte und zumeist zu einer Stabilisierung der Folterfolgen und da-
unkontrollierbare leidvolle Erfahrung. Frag- mit der Viktimisierung, sondern sie kann auch
mente der Foltersituationen brechen »unein- Gefühle des Verlassenseins, der Bindungslosig-
geladen« in das Bewusstsein ein und rufen keit und des Misstrauens der Betroffenen verstär-
Angst, Schmerz und Flucht hervor. Therapeu- ken. So wirkt auch die Erfahrung, dass sich Men-
tisches Wiedererleben hingegen ist die be- schen überfürsorglich und vermeidend-schonend
wusste und »eingeladene« Begegnung mit verhalten, eben nicht als heilende Zuwendung,
den leid- und stressvollen Ereignissen, mit sondern als Abwendung von der Wirklichkeit
dem Ziel, diese in das Selbstkonzept des des Erlittenen.
Überlebenden zu integrieren und damit leben Bruno Bettelheim (1984), überlebender des
zu können. Holocaust, schreibt:
- Angst, Panik und Schmerzen entstehen, wenn
ein Folteropfer im Exil plötzlich Reizen oder 8 »Das, worüber nicht gesprochen werden kann,
komplexen Ereignissen begegnet, die in ir- kann auch nicht ad acta gelegt werden. Die
gendeiner Weise den Foltersituationen ähn- Wunden eitern damit weiter, von Generation zu
lich sind. Generation«.
(Übersetzung der Verf.).
Im Psychodrama gestaltet der Patient bewusst
und im therapeutischen Schutzraum gegenständ-
liche Symbole, Handlungen und Ereignisse in Literatur
a Abbildung bzw. Näherung der Foltererfahrun-
gen. Die Erinnerungen und Bilder der Folter- Amati, S. (1977). Reflexionen über die Folter. Psyche, 31 , 228-
245.
situationen vagabundieren ohnehin - ohne thera-
Amnesty International (1982). Nicht die Erde hat sie ver-
peutische Arbeit zerstörend - in seinem Inneren. schluckt. Frankfurt: Fischer.
Sie können letztlich nicht vergessen oder unge- Baker, R. (1992) . Psychosocial consequences for tortured refu-
schehen werden, jedoch kontrollierbarer. gees seeking asylum and refugee status in Europe. ln M.
Körper und Seele eines Gefolterten zeigen Re- Basoglu (ed.), Torture and its consequences. Cambridge:
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sie zunächst eine angemessene Äußerungen auf burger Institut für Sozialforschung, 3/93, 68-93.
eine vollkommen unangemessene Situation (Fol- Behandlungszentrum für Folteropfer Berlin (1992-2001). Jah-
ter) sind, gewinnen sie mit ihrer Ausbreitung und resberichte. Berlin: Behandlungszentrum für Folteropfer.
Literat ur 245 12
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246 Kapitel 12 · Folteropfer und Opfer politischer Gewalt

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13

K. Wothe, K. Siepmann

13.1 Militärische Einsätze - 248


13.1. 1 Historische Entwicklung - 248
13.1 .2 Einsatzformen und -Charakteristika - 249
13.1 .3 Belastungsfaktoren in militärischen Einsätzen - 250
13.1.4 Folgen militärischer Belastungssituationen - 251

13.2 Prävention vor der Therapie - 254


13.2. 1 Personalauswahl - 254
13.2.2 Ausbildung, Training, Einsatzvorbereitung - 254
13.2.3 Gruppenkohäsion - 255
13.2.4 Führungsverhalten - 255
13.2.5 Soziale Unterstützung - 256
13.2.6 Einsatzbegleitung und Einsatznachbereitung - 256

13.3 Therapiebausteine - 260

13.4 Fallbeispiel - 260

13.5 Ergebnisse einer Befragung deutscher Sanitätssoldaten


nach ihrem Einsatz in Kambodscha - 261

Bundeswehr im Einsatz - 263

Literatur - 266
248 Kapitel 13 · Soldaten nach militärischen Einsätzen

13.1 Militärische Einsätze die Ost-West-Entspannung, die Erkenntnisse


des Golflcrieges und die aktuelle Entwicklung in
13.1.1 Historische Entwicklung Buropa mit Bürgerkriegen und territorial be-
grenzten Konflikten in unserer unmittelbaren Nä-
Zu allen Zeiten war der Beruf des Soldaten vor he hat im Zusammenhang mit den Struktur-
dem Hintergrund historischer, militärischer, mi- veränderungen der Bundeswehr bei vielen Sol-
litärhistorischer, soziologischer, theologischer daten zu Identitätsproblemen und Verunsiche-
und politischer Entwicklungen besonderer Be- rungen geführt. Neue, ungewohnte Aufgaben
achtung, aber auch besonderer Belastung aus- und Standorte kommen insbesondere auch auf
gesetzt. In der historischen Betrachtung finden ältere Soldaten zu. Motivationsverlust und Zwei-
wir den Soldaten in so unterschiedlichen Positio- fel am Sinn der eigenen Tätigkeit führen im Sinne
nen wie Held, Ritter, Gefolgsmann, Söldner, der vorher besprochenen Mechanismen bei vie-
Staatsbürger in Uniform, aber auch Mörder. Stets len Soldaten zu stressbedingten funktionellen Or-
aber ist der Beruf des Soldaten mit dem Begriff ganstörungen, aber auch zu manifesten psycho-
des Krieges assoziiert. Dies bedeutet für jeden somatischen Erkrankungen. Hiervon sind Sol-
Soldaten, unabhängig von seinem Status als daten aller Dienstgruppen, nach ersten statisti-
Wehrpflichtiger oder Berufssoldat, die Auseinan- schen Angaben aber besonders Soldaten in
dersetzung mit dem Gedanken an die Verletzung Führungsverantwortung betroffen.
seiner körperlichen wie seelischen Integrität, an Aktuell können sich solche Entwicklungen
Entbehrung, Angst und Panik. Diese massiven akzentuieren, wenn es zu länger dauernden Ein-
psychischen Belastungen werden dazu wesentlich sätzen von Bundeswehrsoldaten in Krisengebie-
beeinträchtigt durch die soziale Akzeptanz seines ten kommt.
soldatischen Auftrages sowohl in der unmittel- Im Zusammenhang mit solchen Einsätzen er-
baren privaten Umgebung (wie etwa in Familie gibt sich die überlegung, dass von akuten und
und Freundeskreis), als auch im weiteren gesell- auch chronischen Belastungs- und Stressreaktio-
schaftlichen Umfeld (wie etwa durch Staat und nen sicher nicht nur Soldaten unterer Dienstgra-
Kirche). Zur Erläuterung dieser Problematik de von Kampftruppenteilen in unmittelbarer
mögen einige Zitate dienen: Frontnähe betroffen sind. Auch der militärische
Führer, selbst wenn er von Waffenwirkungen
8 Si vis parcem, para bellum. nicht direkt und persönlich betroffen ist, ist
(Wenn du den Frieden willst, bereite dich auf den schwerwiegend in seelischen Konflikten und der
Krieg vor.) Gefahr der psychischen Dekompensation aus-
gesetzt. Er hat berechtigterweise ebenfalls Angst
8 Vigilant ia pretium libertatis. um sein eigenes Leben, um die körperliche Un-
(Die Wachsamkeit ist der Preis der Freiheit.) versehrtheit, sicher auch Angst um seine An-
gehörigen. Darüber hinaus trägt er in hohem Ma-
8 Al le Länder dieser Weit haben eine Armee, ent- ße die Verantwortung für die ihm anvertrauten
weder eine eigene oder eine Besatzungsarmee Soldaten. Jede seiner Entscheidungen kann
(Winston Churchill). schwerwiegende Folgen für das Leben vieler
Menschen haben. Nach übereinstimmender Er-
8 Der Krieg ist eine zu ernste Sache, als dass man ihn fahrung sind es die Soldaten in Führungspositio-
den Militärs überlassen könnte (Ciemenceau). nen mit hoher Verantwortung, die unter Belas-
tung am wenigsten schlafen. Das zusätzliche
In der augenblicklichen Situation der Bundes- Schlafdefizit führt zusammen mit Angst- und
wehr, die mitbestimmt ist von den rasanten in- Stressbelastung zu Einschränkungen der Wahr-
nen- aber auch außenpolitischen weltweiten Ent- nehmungskapazität, zu Problemen bei der diffe-
wicklungen, spielen chronifizierte Stressbelas- renzierten Informationsverarbeitung und damit
tungen inzwischen eine nicht mehr zu überse- letztlich zur Einschränkung der Handlungsfähig-
hende Rolle. Der gesellschaftspolitische Wandel, keit. Diese Prozesse werden sehr häufig von typi-
13.1 · Militärische Einsätze
249 13
sehen funktionellen Organstörungen wie Ober- und besondere Herausforderung an die beteilig-
bauchbeschwerden, Herz-Angst-Symptomen und ten Soldaten dar. Kapitel VII der Charta der Ver-
Kopfschmerzen begleitet. einten Nationen beschreibt die über Verhandlun-
gen hinausgehenden Optionen der Mitgliedstaa-
ten bei zwischenstaatlichen Konfliktsituationen,
13.1.2 Einsatzformen und -Charakteristika bei Bruch von Friedensabkommen und anderen
aggressiven Aktionen zwischen Staaten oder in-
Wohl am engsten mit dem Bild des Soldaten nerhalb eines Staates. Das Ziel ist die Aufrecht-
verknüpft ist der Gedanke an seinen Einsatz im erhaltung oder Wiederherstellung der internatio-
Rahmen einer kämpferischen Auseinanderset- nalen Sicherheit und des Friedens und schließt
zung zwischen Menschen, dem Krieg. »Krieg« den Einsatz von militärischen Kräften zur Errei-
lässt sich beschreiben als eine intendierte mensch- chung des Ziels ein. Seit 1948 haben sich in etwa
liche Interaktion, die auf Zerstörung und Tod aus- 40 internationalen militärischen Einsätzen der
gerichtet ist. Kriegerische Auseinandersetzungen UN folgende, auf die jeweilige Konfliktsituation
stellen eine besonders intensive Form mensch- zugeschnittenen Interventionsfor}llen entwickelt:
licher Gewaltanwendung mit schwerwiegenden - UN-Präsenz,
Folgen für die mittel- und unmittelbar beteiligten - UN-Beobachtermissionen,
Menschen, sowie für Staaten und die menschliche - friedenerhaltende Missionen,
Gemeinschaft insgesamt dar. Die Wahrscheinlich- - friedenschaffende Missionen.
keit, dass Soldaten im Kriegseinsatz Zeuge, Täter
oder Opfer menschlicher Gewaltanwendung wer- UN-Präsenz beschreibt den Einsatz von einzelnen
den und direkt oder indirekt mit schrecklichen, UN-Repräsentanten in einem Krisengebiet Das
grausamen, furchtauslösenden Bildern und Ereig- Ziel ist durch bloße, international legitimierte
nissen konfrontiert werden, ist hoch. Präsenz das Aufkeimen von Feindseligkeiten zu
Nach den diagnostischen Kriterien der »Ame- verhindern. Beispiele für diese Art des Einsatzes
rican Psychiatrie Association« und der Klassifi- sind die Entsendung von UN-Vertretern zur Be-
kation psychischer Störungen der Weltgesund- obachtung der Wahlen in Nicaragua (1990) und
heitsorganisation ist für die Entstehung einer des Referendums in Eritrea (1993).
akuten oder posttraumatischen Belastungsstö- Wenn zur Erfüllung einer Mission spezielles
rung die Konfrontation mit einem traumatischen militärisches Wissen notwendig ist, z. B. bei der
Ereignis eine notwendige Voraussetzung für die überwachung von Waffenstillstandsabkommen,
Entwicklung dieser Störungen. zur Verhütung von Eskalation bei isolierten mili-
Nicht alle Soldaten besitzen die Strategien zur tärischen Konflikten oder zur Begleitung frieden-
Bewältigung traumatischer Ereignisse, sie stellen erhaltender Missionen, werden unbewaffnete mi-
daher in und nach einem Kriegseinsatz eine be- litärische Beobachtergruppen eingesetzt.
sondere Risikogruppe in Hinblick auf die Ent- Eine friedenerhaltende Mission ist per Defini-
wicklung psychischer Störungen, besonders der tion eine UN-militärische Intervention im An-
akuten und posttraumatischen Belastungsstörun- schluss an eine Übereinkunft zwischen verfeinde-
gen, dar. ten Parteien. Ziel ist es, zwischen den Parteien zu
Neben der den Soldaten originär zugeschrie- vermitteln, Waffenstillstandsabkommen zu über-
benen Einsatzform »Kriegseinsatz« lassen sich wachen oder das Entstehen neuer Feindseligkei-
heute weitere Formen militärischer Einsätze mit ten zu verhindern. Die eingesetzten militärischen
jeweils eigenen Charakteristika unterscheiden. Einheiten sind zur Selbstverteidigung leicht be-
waffnet. In Analogie zu polizeilichen Aufgaben
verhalten sich die im Rahmen von friedenerhal-
Militärische Einsätze im Auftrag tenden Missionen eingesetzten UN-Kräfte absolut
der Vereinten Nationen neutral und objektiv. Durch Prinzipien wie Un-
Der Einsatz von militärischen Einheiten im Auf- parteilichkeit, Legitimität, Glaubwürdigkeit, ge-
trag der Vereinten Nationen (UN) stellt eine neue genseitigen Respekt und Transparenz sowie ei-
250 Kapitel 13 · Soldaten nach militä rischen Einsätzen

nem Vorgehen nach eindeutig festgelegten Regeln ne seltenen Ereignisse für Soldaten im UN-Ein-
(»rules of engagement«) streben die UN-Kräfte satz bedeuten. Der Dienst im UN-Einsatz erfor-
den Status einer zwischen Konfliktparteien ver- dert vom Soldaten Fähigkeiten, die teils gegen-
mittelnden, neutralen dritten Instanz an. Frie- sätzlich, teils zusätzlich zu traditionellen militäri-
denerhaltende Missionen können sich unter be- schen Anforderungen zu leisten sind.
stimmten Umständen zu friedenschaffenden Mis-
sionen entwickeln.
Hilfseinsätze bei Katastrophen
Zur Beendigung einer aggressiven Aktion
kann der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen Im Rahmen nationaler gesetzlicher Regelungen
als friedenschaffende Mission den militärischen können Soldaten zu Hilfseinsätzen in Katastro-
Einsatz von Soldaten beschließen (z. B. Operation phenfällen herangezogen werden. Sie unter-
»Desert Storm«, 1991). Ein derartiger Einsatz un- stützen in diesen Einsatzfällen die staatlichen
terscheidet sich nicht von einem Einsatz in einem Hilfsorganisationen personell und materiell.
»herkömmlichen« Krieg. Ähnlich wie das Personal aller beteiligten Hilfs-
organisationen sind Soldaten im Katastrophenfall
starken psychischen und physischen Belastungen
Spezifische Stressoren von Soldaten ausgesetzt und unterliegen der gleichen Gefähr-
im UN-Einsatz dung in Bezug auf die Entwicklung einer Belas-
tungsstörung wie dieses Personal.
Auf den ersten Blick scheinen die durch die Ab-
wesenheit heftiger Kampfhandlungen charakteri-
sierten UN-Missionen auf den Soldaten weniger
13.1.3 Belastungsfaktoren
traumatisierend zu wirken als das traditionelle
in militärischen Einsätzen
Kriegsgeschehen, doch sind UN-Soldaten in allen
Einsatzformen spezifischen Stressoren ausge-
Für alle oben dargestellten militärischen Einsatz-
setzt. Zusätzlich zu der für alle Soldaten belasten-
formen sind übergreifend eine Reihe von »uni-
den Antizipation von Verwundung oder Tod
versalen« Belastungsfaktoren empirisch nach-
können aus der besonderen Rolle des UN-Sol-
gewiesen. Belastungsfaktoren lösen in Abhängig-
daten weitere Stressoren entstehen:
keit von Stärke, Anzahl, Dauer und in Abhängig-
- Einsatzgrundsätze, die keine angemessene
keit von Charakteristika der Person, auf die sie
Lösung der aktuellen Situation zulassen,
wirken, unterschiedliche Reaktionen aus. So
- Zeitdruck, können biologische, situative, inter- und intra-
- mangelhafte Informationen,
personale Faktoren die militärische Leistungs-
- Unsicherheit,
fähigkeit eines Soldaten positiv oder negativ be-
- schnell wechselnde Lagen,
einflussen. Der empirische Nachweis derartiger
- hohes Fehlerrisiko,
Belastungsfaktoren - ein spezielles Aufgaben-
- sich widersprechende Aufträge,
gebiet der Wehrpsychologie und -psychiatrie -
- Ungeschütztheit,
stellt einen erheblichen Fortschritt für die Prä-
- Unerwünschtheit,
vention, Diagnose und Behandlung posttrauma-
- erforderte Passivität,
tischer Belastungsstörungen nicht nur für das
- unklare Rollenzuweisung oder
militärische Umfeld dar.
- Handeln in einem unbekannten kulturellen
Die in der folgenden Übersicht aufgelisteten
Umfeld
Belastungsfaktoren sind in Abhängigkeit von Per-
sind Belastungsfaktoren, die einzeln oder additiv son und Situation mehr oder weniger bedeutsam,
traumatisierend wirken können. Beispiele aus der sie können sich z. T. überlappen, sie können zu-
jüngeren Vergangenheit zeigen, dass Geiselnah- sammenwirken oder sich gegenseitig verstärken.
me von UN-Soldaten, Gefährdung durch unmar-
kierte Minen oder der Zwang, passiv Greueltaten
an der Zivilbevölkerung ansehen zu müssen, kei-
13.1 · Militärische Einsätze
251 13

Belastungsfaktoren militärischer Interpersonale Faktoren


Einsätze (mod. nach Jones et al., 1985) Niedrige Gruppenkohäsion,
fehlerhaftes Führungsverhalten,
Biologische Faktoren
unzureichende soziale Unterstützung.
Ermüdung,
Hunger und Durst,
Schlafmangel, sensorische Deprivation,
unterbrochener zirkadianer Rhythmus,
13.1.4 Folgen militärischer
Infektionen, Entzündungen, metabolische
Belastungssituationen
Störungen.

Situative Faktoren Wie bereits erwähnt ist die Wahrscheinlichkeit,


Militärische Situation dass Soldaten während ihres militärischen Ein-
(z. B. Angriff, Verteidigung), satzes traumatisierenden Ereignissen ausgesetzt
indirektes Feuer (Artillerie, Bomben), sind, sehr hoch. Als Folge dieser physisch und
Einsatz unerwarteter Waffen, psychisch außergewöhnlichen Belastungen kann
überraschende Angriffe. sich sowohl ein an die militärische Situation an-
Intrapersonale Faktoren
gepasstes adaptives Verhalten entwickeln, als
Angst vor Verwundung oder Tod,
auch ein Verhalten entwickeln, das nicht zur Be-
Angst, Feigheit zu zeigen,
wältigung der militärischen Aufgaben beiträgt.
kein Glaube an die Legitimation des
Sowohl die potenziellen akuten Wirkungen
Einsatzes,
von militärischen Belastungen auf das Verhalten
Zweifel am Sieg, Angst vor Niederlage, von Soldaten, als auch mögliche mittel- und lang-
Verlust des Gefühls eigener Unverwund- fristige psychopathologische Folgen sind in
barkeit, a Abb. 13.1 dargestellt.
Verlust des Gefühls sozialer Sicherheit, Während für die militärischen Reaktionsfor-
kein Glaube an eine höhere Ordnung. men »positive Belastungsreaktion« und »abwei-
chendes Verhalten« keine verbindlichen Diagno-
sekriterien vorliegen, können die »akute Belas-

Milltaerische
Belastungssituation

adaptives, funktionales I I
I
nicht adaptives, dysfunktionales
Verhalten Verhallen

Positive Abweichendes Akute


I Belastungsreaktion
I Verhalten
I Belastungsreaktion
I
I
Posttraumatische
-·--··- Belastungsstoerung

I
Andauernde
[__·-·-··-· Perseen lieh keitsaend eru ng
nach Extrembelastung

D Abb. 13.1. Potenzielle kurz-, mittel- und langfristige Verhaltensreaktionen in und nach militärischen Belastungssituationen
(Nach Leaders' Manual for Combat Stress Control. 1994)
252 Kapitel 13 · Soldaten nach militä rischen Einsätzen

tungsreaktion<< und die >>posttraumatische Belas- Abweichendes Verhalten


tungsstörung« in Anlehnung an die in Europa ge- (Verfehlungen, kriminelle Handlungen)
bräuchliche >>Internationale Klassifikation psy-
Abweichendes Verhalten bis hin zu kriminellen
chischer Störungen« (ICD-10; Dilling et al., 1993)
Handlungen stellt als Reaktion auf militärische
oder das im amerikanischen Sprachraum genutz-
Belastungssituationen wegen ihrer schwerwie-
te »Diagnostic and Statistical Manual of Mental
genden Folgen eine besondere Herausforderung
Disorders<< (DSM-IV; American Psychiatrie Asso-
an die verantwortlichen Führer dar. Ein Beispiel
ciation, 1994) diagnostiziert und kodiert werden.
aus dem Vietnamkrieg für ein Vergehen dieser
Die »andauernde Persönlichkeitsänderung nach
Art ist das Massaker von My Lai. Die folgenden
Extrembelastung« ist lediglich in der ICD-10 de-
Verhaltensweisen zählen zu dieser Reaktions-
finiert.
form.

Positive Belastungsreaktion
Beispiele für abweichendes Verhalten
Die meisten Soldaten entwickeln in militärischen im militärischen Bereich
Belastungssituationen ein an die äußeren Bedin- Brutalität, Folterungen,
gungen angepasstes, funktionales Bewältigungs- Vergewaltigungen,
verhalten. Obwohl die positive Belastungsreak- Töten von Nichtkombatanten,
tion (positiv im Sinne militärischer Aufgabenbe- Gefangenen,
wältigung) das am häufigsten gezeigte Reaktions- Verstümmelungen toter Feinde,
muster in militärischen Belastungssituationen Plünderungen, Diebstahl, Raub,
darstellt, ist sie in der wissenschaftlichen Litera- Alkohol- und Drogenmissbrauch,
tur eher unterrepräsentiert beschrieben. So wie Rücksichtslosigkeit, Undiszipliniertheit,
es wichtig ist zu untersuchen, welche Soldaten häufiges Krankmelden, Simulation von
unter welchen Bedingungen den Belastungen Erkrankungen, Selbstverstümmelung,
nicht standhalten können, wäre es ebenso be- Angriff auf Vorgesetzte,
deutsam herauszuarbeiten, welche Faktoren zur Gehorsamsverweigerung, eigenmächtige
Entwicklung einer erfolgreichen Copingstrategie Abwesenheit, Fahnenflucht.
beitragen.

Beispiele für positive Belastungs- Akute Belastungsreaktion


reaktionen im militärischen Bereich
Gebräuchliche militärische Synonyma für die
Zusammenha lt in der Einheit, akute Belastungsreaktion sind neben anderen
Kameradschaft, Kampfneurose, Kampfermüdung, Kampfstress-
Loyalität gegenüber Führern, reaktion, psychische Kampfreaktion, Gefechts-
Traditions-, Elitebewusstsein, reaktion, Gefechtsschock. Alle diese Begriffe be-
Konzentration auf die Auftragserfüllung, schreiben ein dysfunktionales Verhalten im Ver-
erhöhte Aufmerksamkeit, Vigilanz, lauf oder als Folge von militärischen Belastungs-
Entwicklung von Stärke und Durchhalte-
situationen.
vermögen,
zunehmende Toleranz gegenüber
Belastungen, Schmerzen, Verletzungen,
Vertrauen in die eigene Stärke,
Mut, heldenhaftes Verhalten, Selbst-
opferung.
13.1 · Militärische Einsätze
253 13
der medizinischen und psychologischen Erstver-
Symptome als Folge militärischer sorgung nach folgenden Grundsätzen behandelt
Belastungen (s. a Tabelle13.1).
Furcht, Angst,
lrritierbarkeit, Zorn, Wut, Posttraumatische Belastungsstörung
Trauer, Selbstzweifel, Schuldgefühle,
Depressionen, Schlaflosigkeit, Als Folge psychischer überlastungen im Einsatz
Unaufmerksamkeit, Sorglosigkeit, kann sich unmittelbar oder mit verzögertem Be-
Verlust von Vertrauen, Hoffnung, Glaube, ginn eine posttraumatische Belastungsstörung
unberechenbares Verhalten, entwickeln, unabhängig davon, ob der Soldat in
Gefühlsausbrüche, der Belastungssituation selbst adaptive oder
Unbeweglichkeit, »Einfrieren«, nichtadaptive Verhaltensweisen entwickelt hat.
Panik, kopfloses Verhalten,
völlige Erschöpfung, Apathie,
Andauernde Persönlichkeitsänderung
Verlust von Fertigkeiten, Gedächtnis,
nach Extrembelastung
Beeinträchtigung von Sprache, Stimm-
verlust, Langanhaltende, extreme militärische Belas-
visuelle, taktile, auditive Beeinträchtigun- tungssituationen können bei den betroffenen Sol-
gen, daten eine andauernde Persönlichkeitsänderung
Schwäche, Lähmungen, zur Folge haben. Eine posttraumatische Belas-
Halluzinationen, Wahnvorstellungen. tungsstörung kann, muss aber nicht dieser Form
der Persönlichkeitsänderung vorangehen.

Das Auftreten von Fällen mit akuter Belastungs-


reaktion ist in erster Linie an die Variable Allgemeine diagnostische Kennzeichen
»Kampfintensität« gekoppelt: Je heftiger, intensi- Dauer länger als 2 Jahre,
ver und todbringender das Kampfgeschehen, unflexibles, unangepasstes Verhalten,
desto höher die Zahl der Ausfälle mit der Diagno- häufige Konflikte in den zwischen-
se Akute Belastungsreaktion. Faktoren wie physi- menschlichen, sozialen, beruflichen
scher Zustand, Moral, Trainingszustand, Zusam- Beziehungen,
menhalt in der Gruppe, gute Führung und Ver- sozialer Rückzug, Entfremdung,
trauen in die eigenen Waffen beeinflussen eben- feindliche oder misstrauische Haltung
falls die Zahl der Ausfälle. gegenüber anderen Menschen,
Die akute Belastungsreaktion wird im militä- chronisches Gefühl ständiger Bedrohung,
rischen Bereich als normale Reaktion auf eine Gefühle von Leere oder Hoffnungslosig-
anormale Situation beurteilt und im Rahmen keit.

D Tabelle 13.1. Behandlungsgrundsätze in der Erstversorgung der akuten Belastungsreaktion

Behandlungsprinzip Maßnahmen

Nähe Behandlung möglichst nah am Einsatzort

Unmittelbarkeit Behandlung sofort nach Auftreten der ersten Symptome

Erwartung Erklärtes Behandlungsziel ist die Rückkehr des Soldaten in seine Einheit

Einfachheit ln der Erstversorgung einfache Behandlungsmaßnahmen


(positive Zuwendung, Essen, Trinken. Schlaf, Ruhe, Erholung)
254 Kapitel 13 · Soldaten nach militärischen Einsätzen

13.2 Prävention vor der Therapie Untersuchungen zeigen, dass die Bedeutung
prädisponierender Faktoren mit der Stärke des
Mit dieser Überschrift soll die Bedeutung präven- traumatischen Ereignisses gekoppelt ist: Je weni-
tiver Maßnahmen für die Verhinderung posttrau- ger stark das traumatische Ereignis, desto mehr
matischer Störungen im militärischen Kontext spielen personale Faktoren bei der Bewältigung
unterstrichen werden. der Erlebnisse eine Rolle.
Soldaten sind häufig physisch und psychisch
stark belastenden Anforderungssituationen aus-
gesetzt. Diese Situationen sind vorhersehbar, sie Belastende Lebensereignisse vor der Trauma-
sind für den Soldaten unvermeidbar. Der Einsatz exposition, Neurotizismus, psychische Vor-
präventiver Maßnahmen ist häufig die einzige erkrankungen und ein kognitiver Stil, der
Möglichkeit, die psychischen Folgen der Belas- durch Problemvermeidung gekennzeichnet
tungen zu reduzieren und somit die Zahl der the- ist, sind empirisch nachgewiesene Prädiktaren
rapeutischen Interventionen zu senken. Begrenz- für posttraumatische Störungen. Personen mit
te personelle und materielle Ressourcen kommen hoher internaler Kontrollüberzeugung, mit
so den Soldaten zu Gute, die trotz vorangegange- Glauben an ihr Können sowie Personen, die
ner Präventionsmaßnahmen eine Störung ent- sich gerne Herausforderungen stellen, schei-
wickeln. Die Prävention posttraumatischer nen mit den Folgen traumatischer Ereignisse
Störungen dient in erster Linie der Vermeidung besser fertig zu werden, als Personen, die
menschlichen Leidens, sie hilft in zweiter Linie, diese Eigenschaften nicht besitzen.
institutionelle Ressourcen zu schonen.
Da die Anwendung primärer Prävention (Ver-
Insgesamt gesehen muss die wissenschaftliche
meidung der traumatischen Situation) im militä-
Grundlage für den Einsatz von Personalauswahl-
rischen Bereich in vielen Fällen nicht möglich ist,
verfahren als Präventionsstrategie zur Vermei-
kommen vor allem sekundäre Präventionsmaß-
dung posttraumatischer Störungen nach militäri-
nahmen zum Einsatz. Es sind dies
schen Einsätzen noch detaillierter und intensiver
die Auswahl geeigneten Personals,
untersucht werden.
- hinreichende Ausbildung und Training,
- Förderung der Gruppenkohäsion,
- adäquates Führungsverhalten,
13.2.2 Ausbildung, Training,
- Hilfe durch soziale Unterstützung und
Einsatzvorbereitung
- Debriefingverfahren (s. Kap. 10).
Ausbildung, Training und spezielle, auf den Ein-
satz bezogene Vorbereitung sind Faktoren, die
13.2.1 Personalauswahl das Verhalten in und nach einer Belastungssitua-
tion in mehreren Dimensionen bedeutsam beein-
Personalausleseverfahren haben im militärischen flussen. Mit zunehmendem technischen Können,
Bereich eine lange Tradition. Nahezu alle Armeen verbesserter Stärke und Ausdauer wachsen
der Welt wählen ihre Offiziere, Unteroffiziere und Selbstvertrauen und Zuversicht in die eigene
Soldaten für Spezialverwendungen nach medizi- Leistungsfähigkeit. Dies wiederum hat positive
nisch und psychologisch begründeten Entschei- Wirkungen auf die Gruppenkohäsion und auf
dungsregeln aus. Für unser Thema ist die Frage die Bereitschaft, Belastungen zu ertragen.
bedeutsam, ob sich durch geeignete Auswahlver- In einer realistischen Ausbildung können Be-
fahren die Zahl der Personalausfälle mit posttrau- wältigungsstrategien für militärische Belastungs-
matischen Störungen reduzieren lässt. situationen ohne die bedrohlichen Folgen der
Welche biologischen, psychologischen oder Realität geübt und habituiert werden.
sozialen Faktoren lassen sich als Prädiktoren
für die Prognose posttraumatischer Störungen
isolieren?
13.2 · Prävention vor der Therapie
255 13
- Fördern der Gruppenkohäsion,
- Personalrotation bei längeren Missionen,
Training reduziert die Wahrscheinlichkeit
- Management von Schlaf und Erholung für die
nichtadaptiven Verhaltens in einer Belas-
Soldaten und sich selbst,
tungssituation und verringert die negativen
- weitgehende Informationsweitergabe,
psychischen Auswirkungen traumatischer Er-
- gerechte Verteilung des Kampfrisikos,
lebnisse.
- Förderung von Moral und Zuversicht,
- Angebot bestmöglicher medizinischer Hilfe
13.2.3 Gruppenkohäsion und, nicht zuletzt,
- eigenes vorbildhaftes Verhalten.
Zahlreiche Studien belegen die Bedeutung des
Gruppenzusammenhalts für die Prävention psy-
chisch bedingter Kampfausfälle. Einheiten mit Vertrauen in die Führung ist ein bedeutender
hoher Gruppenkohäsion haben unter gleichen Faktor zur Minimierung posttraumatischer
Kampfbedingungen geringere belastungsbeding- Störungen. Führer, deren fachliche Kom-
te Ausfälle als Einheiten mit niedriger Gruppen- petenz, Glaubwürdigkeit und Fürsorgeverhal-
kohäsion. Soldaten in Einheiten mit engem Zu- ten hoch eingeschätzt wird, verbessern die
sammenhalt (z. B. Spezialeinheiten) sind militä- Bereitschaft ihrer Soldaten, Belastungen zu
risch leistungsfähiger, sie sind eher bereit, Belas- ertragen.
tungen zu ertragen und weniger anfällig für die
Entwicklung nichtadaptiven Kampfverhaltens.
Ein Beispiel effektiver Führung ist die Bewälti-
gung der Folgen des Flugzeugabsturzes von Gan-
Die Identifikation mit der Gruppe scheint den der (Neufundland) im Dezember 1985. 248 An-
Soldaten mit einem »Puffer« gegen die nega- gehörige einer US-Eliteeinheit, die von einer UN-
tiven Wirkungen militärischer Belastungs- Mission im Mittleren Osten zurückkehrten, star-
situationen auszustatten. Die Gruppe bietet ben beim Absturz ihres Flugzeuges. Angefangen
Struktur und Schutz in Situationen, die sich für beim Präsidenten der Vereinigten Staaten über
den Einzelnen bedrohlich, überwältigend, Divisions-, Brigade- und Bataillonskommandeur
chaotisch oder anderweitig überfordernd zeigten alle Beteiligten beispielhaftes Führungs-
darstellen. Als anerkanntes Mitglied einer verhalten:
starken Gruppe kämpfen Soldaten nicht für - Intensive, nach außen gezeigte gemeinsame
militärische Systeme, Gott oder Vaterland, Anteilnahme und Trauer betonte die »Norma-
sondern für ihr eigenes Ansehen bei Kamera- lität« von Trauerreaktionen,
den und Führern. - ein multidisziplinär zusammengesetztes
»Mental Health Team« organisierte die indivi-
Maßnahmen, die den Zusammenhalt in militäri- duelle Hilfe für die Hinterbliebenen, für die
schen Einheiten fördern, kommt eine hohe Be- überlebenden Angehörigen der Einheit, für
deutung für die Prävention posttraumatischer das Personal, das die schwierige Aufgabe
Störungen zu. der Bergung und Identifikation der Toten zu
bewältigen hatte und »überwachte« den Ein-
satz des Personals und der Führer hinsichtlich
13.2.4 Führungsverhalten der Dauer der Belastungsexposition, Schlaf
und Erholung,
Militärische Führer beeinflussen durch ihr - eine offene Kommunikation untereinander
Führungsverhalten die Auftretenswahrscheinlich- neutralisierte die Unsicherheit von Gerüchten,
keit posttraumatischer Belastungsstörungen. An- - der Einsatz eines umfangreichen Familien-
gemessenes, traumaverhinderndes Verhalten in unterstützungsprogramms erhöhte die soziale
diesem Zusammenhang beinhaltet u. a.: Sicherheit,
256 Kapitel 13 · Soldaten nach militä rischen Einsätzen

- eine enge Zusammenarbeit mit lokalen Unter-


suchungsstellen unter eindeutiger Hierarchie-
Präventiv bedeutsam sind alle Maßnahmen,
regelung verhinderte unnötige Mehrfachbe-
die dem Aufbau und Erhalt eines engen so-
lastungen. zialen Netzwerks dienen.

13.2.5 Soziale Unterstützung


13.2.6 Einsatzbegleitung
Mit dem Begriff »soziale Unterstützung« wird die und Einsatznachbereitung
instrumentelle und emotionale Hilfe von formel-
len und informellen Stellen, Familienmitgliedern, Neben den in der Heimat eingerichteten Famili-
Freunden, Nachbarn und helfenden Berufen be- enbetreuungszentren setzt die Bundeswehr zur
schrieben. Belastungsreduktion ihrer im Einsatz befindli-
Allgemein gilt die einfache Aussage: Je um- chen Soldaten eine Reihe von unterschiedlichen
fangreicher die soziale Unterstützung nach einem Maßnahmen und Programmen ein.
traumatischen Erlebnis, desto geringer die Wahr-
scheinlichkeit der Entwicklung einer posttrauma-
tischen Störung. Eingeschränkt wird diese all- Psychologische Truppenbetreuung
gemeine Aussage durch Untersuchungen, die be- Ab einer Truppenstärke von ca. 500 Soldaten be-
legen, dass gleitet ein speziell ausgebildeter Psychologe im
- Frauen weniger von intensiver sozialer Hilfe Rahmen einer Wehrübung die Soldaten. Die fol-
profitieren als Männer, gende übersieht benennt einige seiner Aufgaben.
- nicht die tatsächlich geleistete Hilfe, sondern
die vom Opfer wahrgenommene Hilfeleistung
das Ausmaß der psychischen Störung be- Aufgaben des Truppenpsychologen
stimmt, Führungsberatung in den Bereichen
- bei Opfern traumatischer Erlebnisse eine Ten- Personalführung, Innere Führung, Motiva-
denz besteht, zunächst auf Hilfeleistungen aus tionsfragen, Unfallverhütung und Zusam-
dem eigenen begrenzten sozialen Netzwerk menarbeit mit der Bevölkerung,
zurückzugreifen. Hilfsangebote von außen Vorbereitung der Soldaten auf schwierige
werden häufig erst spät oder gar nicht in An- Einsatzbedingungen,
spruch genommen, Kontrolle der Auswirkungen von Extrem-
- die präventive Wirkung sozialer Hilfe dann belastung,
besonders groß ist, wenn sie von Personen Vermittlung von Stressmanagementtech-
aus dem gleichen sozialen Umfeld angeboten niken,
wird und wenn sie eingebettet ist in ein Set- Ansprechpartner der Soldaten für alle
ting, das den offenen Ausdruck von Gefühlen entstehenden psychosozialen Probleme
zulässt. zu sein,
Durchführung von Debriefings nach
besonderen Einsatzerlebnissen.
Soziale Unterstützung innerhalb der militäri-
schen Gemeinschaft beschränkt sich nicht auf
die unmittelbar betroffenen Soldaten, sondern
erstreckt sich auch auf die Familienmitglieder Debriefing
in der Heimat. So vermittelt die Bundeswehr
während ihrer Einsätze durch den Betrieb von Die Entwicklung und Anwendung von Debrief-
Familienbetreuungszentren den Familienangehö- inggruppen hat im militärischen Bereich eine
rigen direkte Hilfe und reduziert damit einen po- lange Tradition. Obwohl in den letzten Jahren
tenziellen Belastungsfaktor für die eingesetzten die Kritik hinsichtlich der präventiven Effektivi-
Soldaten. tät von Debriefinggruppen lauter geworden ist,
13.2 · Prävention vor der Therapie
257 13
hat das Debriefing beim Militär neben den ande- tung alle posttlven und negativen Aspekte des
ren Präventionsmaßnahmen seinen festen Platz. Einsatzes in ungezwungener, ziviler Atmosphäre.
Die Bundeswehr unterscheidet sofortige ereig- Ziel dieser Seminare ist es, den Einsatz in all sei-
nisbezogene Interventionsmaßnahmen unmittel- nen Facetten abzuschließen.
bar nach besonders belastenden Einzelereignissen Ergänzend zu diesen präventiven Fürsorge-
- in Anlehnung an das aus dem zivilen Bereich maßnahmen werden Soldaten, die in Zusammen-
bekannte »Critical Incident Stress Debriefing« hang mit den internationalen Einsätzen psychi-
(CISD; Mitchell & Everly, 1996; s.Kap.10) -von schen Extrembelastungen ausgesetzt waren, Ku-
psychotraumabezogenen Einsatznachbereitungen, ren als Maßnahmen der vorbeugenden Gesund-
die ca. 4-6 Wochen nach Rückkehr aus dem Ein- heitsfürsorge gewährt. Diese Präventivkuren ha-
satz durchgeführt werden. ben ausschließlich vorbeugenden Charakter, sie
Das CISD als Präventionsmaßnahme zur Ver- erfolgen nicht aufgrund einer bestehenden Ge-
meidung posttraumatischer Störungen ist ein for- sundheitsstörung. Sie dienen der Abwehr mögli-
mal geregelt ablaufendes lnterventionsverfahren. cher Spätfolgen des Einsatzes und sind somit in
Kenngrößen zeigt folgende Übersicht: erster Linie als Maßnahmen der Stabilisierung
und Steigerung der Leistungsfähigkeit nach
schwerer Belastung anzusehen.
»Critical lncident Stress Debriefing« Um Soldaten vor, während und nach einem
(CISD) Einsatz wirksam zu helfen, ist ein durchgängiges
Organisiertes Gruppentreffen für alle an Hilfekonzept erforderlich, das sich schematisch
einem besonders belastenden Einzel- in 3 Phasen unterteilen lässt:
ereignis betei ligten Personen, - Phase 1: Einsatzvorbereitung
Beginn 24-72 Stunden nach dem belas- Auseinandersetzung mit zu erwartenden
tenden Ereignis, Belastungen,
Dauer 1- 3 Stunden, Maßnahmen zur Stärkung des inneren
Gruppengröße 6- 30 Personen, Gleichgewichtes,
Leitung durch ausgebildetes Personal - Phase II: Einsatzdurchführung
(Psychologen, Ärzte, Soldaten), Erkennen von akuten psychischen Belas-
geleiteter Verlauf in 7 Phasen tungen und von Stressreaktionen,
(s. Kap. 10.5.1, dort auch zur Wirksam- - Sofortmaßnahmen (z. B. CISM) zur Ver-
keitsüberprüfung). meidung von Folgeschäden (z. B. PTB).
Phase III: Einsatznachbereitung (s. D Abb.
13.2)
Im Einsatz besonders belastete Soldaten können Reintegration,
auf eigenen Wunsch oder auf Weisung ihrer Vor- Erkennen und Behandeln von Folgeschä-
gesetzten an einer mehrtägigen Erholungsmaß- den (z.B. PTB).
nahme teilnehmen. Dazu hat die Bundeswehr
Plätze in zivilen Hotels nahe dem Einsatzland ge- Werden im Verlauf des Einsatzes Stressreaktio-
bucht. Unter Leitung eines Psychologen und eines nen erkannt, so erfolgt die notwendige Hilfe in
Sozialarbeiters werden in Gruppen von ca. 15 Sol- abgestufter Weise. Je nach Schweregrad liegen
daten Belastungserlebnisse nachbereitet sowie die erforderlichen Behandlungsschritte auf den
Entspannungstechniken erlernt. Die Soldaten in der Übersicht vorgestellten 3 Ebenen.
nehmen während ihres Einsatzes eine Art »Aus-
zeit« von wenigen Tagen, erholen sich und kehren
psychisch gestärkt in den Einsatz zurück.
Etwa 4-6 Wochen nach der Rückkehr in die
Heimat ist für alle Soldaten die Teilnahme an ei-
nem Reintegrationsseminar obligatorisch. Die
Teilnehmer besprechen unter ausgebildeter Lei-
258 Kapitel 13 · Soldaten nach militärischen Einsätzen

Einsatzbegleitung

--
I
+
Im Einsatz
+
Nach dem Einsatz
ZlnFü1 ) Prävention: örtliche ENG 2l
- -Vorbereitung - PEERS - Reintegrationsseminare BwKrHs 3l
- Ausbildung Psychol. Selbst- Recreation Center
- ggf. Psychotherapie
u. -- CISM
Kameradenhilfe ~ Präventivkuren

t
Truppenarzt
Psychologe +
Militärpfarrer

t
Psychiater
Psychologische
Psychotherapeuten

Familien- und Angehörigenbetreuung


Sozialpädagogen/ -arbeiter, Militärpfarrer, Psychologen, militärisches Personal

3 Kriseninterventionsteams KIT
des psychologischen Dienstes der BW
ln Planung :

Zwei Kriseninterventionsteams
- Unfälle im ln-
und Ausland ggf. I (für Psychetraumata befähigte Debriefer)
- 1 Psychiater/Psychotherapeut
Katastrophen im
ln- und Ausland - 1 Psychologe
- 2 kompetente Helfer (Uffz)

1) Zentrum Innere Führung der Bundeswehr


2) Einsatznachbereitungsgruppe
3) Bundeswehrkrankenhaus

D Abb.13.2. Richtlinie filr die Nachbereitung von Auslandseinsätzen bei Bundeswehrsoldaten


13.2 · Prävention vor der Therapie
259 13

Rahmenkonzept zur Bewältigung Generelles Ziel solcher Einsatznachbereitun-


psychischer Belastungen bei Soldaten gen ist es, die Verarbeitung traumatisierender
(Bundesministerium der Verteidigung, Erlebnisse und Ereignisse zu ermöglichen, um
2000) damit langfristigen stresskorrelierten Störun-
Ebene 1 gen sowie späteren krankheitswertigen Fol-
Selbst- und Kameradenhilfe durch gen im Sinne einer posttraumatischen Belas-
- Vorgesetzte, tungsstörung vorzubeugen.
- ausgebildete Kameraden (Peers).
Ebene 2 Alle Einsatznachbereitungsaktivitäten dienen
Professionelle Hilfe durch Militärangehörige: weiterhin dazu, Soldaten zu identifizieren, die ei-
Truppenpsychologen, ne gezielte Beratung bzw. spezifische Therapie
Truppenarzt, brauchen. Dazu dienen als Screeningmethoden
Sozialarbeiter, die medizinische Rückkehreruntersuchung durch
Militärseelsorger (im Rahmen ihres den Truppenarzt, bei der zudem alle Soldaten den
seelsorgerischen Auftrags), Fragebogen »Posttraumatic Syndrome Scale«
ausgebildete Kameraden (Peers). (PTSS-10; s. Kap.3) ausfüllen müssen, der mögli-
Ebene 3 che stresskorrelierte Störungen erfasst.
Professionelle Hilfe durch klinische Die Einsatznachbereitungsgruppen sind an
Spezialisten: allen Bundeswehrkrankenhäusern eingerichtet;
Fachärzte für Psychiatrie, entsprechend der Richtlinie bestehen sie aus Mi-
Psychotherapie, litärpsychiatern, klinischen Psychologen, Trup-
Klinische Psychologen, penpsychologen oder psychologischen Psycho-
Psychologische Psychotherapeuten. therapeuten, Militärseelsorgern, Sozialarbeitern,
ggf. zusätzlich hierfür geeigneten Kameraden
(Peers). Die Einsatznachbereitungsgruppen sind
Mit Datum vom 21. 3. 1996 hat der Inspekteur des im vortherapeutischen Bereich tätig, können aber
Sanitätsdienstes der Bundeswehr die Richtlinie aufgrund ihrer Kompetenz Soldaten mit Psycho-
für die Einsatznachbereitung im Hinblick auf traumen einer geziehen weiterführenden Be-
Psychotraumen bei Soldaten der Bundeswehr handlung zuführen.
nach Auslandseinsätzen erlassen (s. D Abb. 13.2). Für die Akutintervention sind inzwischen
Diese Richtlinie beschreibt unter anderem die über den psychologischen Dienst der Bundes-
Gliederung und die Aufgaben der Einsatznach- wehr 3 Kriseninterventionsteams (KIT) einge-
bereitungsgruppen (ENG). Bezogen auf das be- richtet, sie werden nach dem 3 Stufenplan der
reits dargestellte 3 Ebenenkonzept arbeiten die Krisenintervention im Rahmen der ersten Stufe
Einsatznachbereitungsgruppen auf der 3. Ebene zur Direkthilfe am Unfallort eingesetzt. Die
in psychotraumabezogenen Einsatznachberei tun- Teams sind beim »Zentrum Innere Führung« in
gen, die ca. 4-6 Wochen nach Rückkehr von dem Koblenz, beim »Flugmedizinischen Institut der
Einsatz in Form einer Zusammenziehung durch- Luftwaffe« in Fürstenfeldbruck sowie beim
geführt werden. In diesem Zusammenhang sind »Schiffahrtsmedizinischen Institut« in Kiel einge-
die Einsatznachbereitungsgruppen auch unter- richtet und erreichbar. Ein solches Kriseninter-
stützend an der Durchführung von Reintegrati- ventionsteam war unter anderem nach dem Ter-
onsseminaren beteiligt. roranschlag am 11. 9. 2001 im Einsatz.
260 Kapitel 13 · Soldaten nach militärischen Einsätzen

13.3 Therapiebausteine Die Therapie mit klassischen trizyklischen Anti-


depressiva bietet zwar die Möglichkeit funktio-
Neben den bereits ausführlich erläuterten thera- nelle - auch psychovegetative - Störungen,
peutischen Konzepten versuchen wir, in jedem Angstsyndrome und Schlafstörungen gezielt an-
Fall ein sowohl auf die Situation als auch auf zugehen. Hier treten jedoch zum einen initial Ne-
die Person zugeschnittenes therapeutisches Vor- benwirkungen auf, zum anderen setzt die volle
gehen zu praktizieren. Wirkung dieser Substanzen erst mit einer Verzö-
gerung von mehreren Tagen ein. Aktuelle Studien
Gesamtbehandlungsplan. Die medikamentöse mit selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehem-
Therapie kann in keinem Falle psychotherapeuti- mern zeigen einen raschen nebenwirkungsarmen
sche bzw. verhaltensmodifizierende Behandlungs- Effekt auf nahezu alle PTSD-Symptome.
konzepte ersetzen. Psychotherapeutische Gesprä- Zur Behandlung akuter Störungen, wie etwa
che, zunächst in Einzelsitzungen, möglichst bald Panikattacken oder Erregungszustände, die mit
jedoch auch im Gruppenrahmen, werden mit Ent- starken vegetativen Störungen einhergehen, kom-
spannungstechniken, insbesondere dem auto- men noch immer - trotz der bereits erwähnten
genen Training sowie der progressiven Muskelent- Einschränkungen - Benzodiazepine zum Einsatz.
spannung nach Jacobsen, kombiniert. Dadurch Auch mit Alprazolam (Tafil) liegen positive Er-
werden sowohl stressereignisorientiertes Nach- fahrungen vor, wobei hier die Wirkung in der Re-
erleben als auch die Reduktion von inneren Span- gel auch erst innerhalb der ersten Wochen ein-
nungen erreicht. Insbesondere bei intensivem tritt. Sofern im Zentrum protrahierter posttrau-
Angsterleben wird neben der gestuften Aktivhyp- matischer Stresserkrankungen depressive
nose zunehmend das EMDR angewendet. Zur Störungen stehen, haben wir in Einzelfällen posi-
Längsschnittbeurteilung und Verlaufskontrolle tive Erfahrungen mit Lithiumbehandlungen.
werden die Betroffenen nach Abschluss der aku-
ten Therapiephase über längere Zeit ambulant
weiter beobachtet und betreut. Auf diese Weise 13.4 Fallbeispiel
lassen sich u. a. die bei der posttraumatischen
Stresserkrankung charakteristischen Symptom- Im folgenden Fallbeispiel möchten wir die sehr
verschiebungen frühzeitig erkennen und thera- unterschiedlichen Ausformungen der Krank-
peutisch erfassen. heitssymptome aufzeigen, wobei vor allem darauf
hinzuweisen ist, dass wegen des langen, chro-
Medikamentöse Therapie. Zunächst kann zur nischen Verlaufes mit Verschiebung der Sympto-
Entaktualisierung, aber auch zur Entspannung, me häufig der Zusammenhang zwischen dem
eine medikamentöse Behandlung erforderlich auslösenden traumatisierenden Ereignis und spä-
werden. Je nach Ausprägung der Symptomatik ter auftretenden psychischen Störungen überse-
werden ggf. kurzzeitig Benzodiazepine eingesetzt hen oder nicht genügend in der Therapie berück-
(s. Kap. 7), wobei bei der Besprechung des Ge- sichtigt wird.
samtbehandlungsplanes intensiv darauf hinzu-
weisen ist, dass diese Medikamente wegen der f) Beispiel
Gefahr der Abhängigkeit nur in einer kurzen Der zum Untersuchungszeitpunkt 49-jährige
Phase zur Anwendung kommen. Hauptmann hatte am 08. 12.68 als Co-Pilot mit
dem Hubschrauber einen Erkundungsflug unter-
nommen. Der Hubschrauber flog in etwa 5 m
Die Möglichkeiten einer medikamentösen In-
Höhe über einen Fluss. Während eines Instru-
tervention, gerade auch bei Soldaten in ver-
mentenchecks fing die Maschine an zu vibrieren
antwortlichen Positionen, werden automa-
und stürzte ab. Der Patient hing für mehrere Mi-
tisch dadurch eingeengt, dass Medikamente,
nuten kopfüber, fest angeschnallt bis zur Brust, im
die in irgendeiner Weise die mentale Funktion
Wasser. Er war bewusstseinsklar und hatte das
beeinträchtigen könnten, ausscheiden.
...
13.5 · Ergebnisse Befragung deutscher Sanitätssoldaten nach Kambodscha-Einsatz 261 13
panikartige Gefühl des Erstickens und Ertrinkens, Therapie kann jedoch in einem solchen Fall nur
bis er endlich von der Flugrettung befreit werden dann greifen, wenn man als gemeinsame Ursache
konnte. Im weiteren Verlauf litt er mehrere Monate der verschiedenen Syndrome das traumatisieren-
unter fast regelmäßigen Angstträumen, in denen de Ereignis in den Mittelpunkt stellt.
er die Unfallsituation immer wieder miterlebte,
begleitet von starken vegetativen Symptomen wie
Zittern, Schwitzen, Übelkeit und GlobusgefühL 13.5 Ergebnisse einer Befragung
Diese Symptome klangen zunächst ab. Er konnte deutscher Sanitätssoldaten
auch ohne Probleme wieder fliegen. 1982 nahm er nach ihrem Einsatz in Kambodscha
routinemäßig an einem Sea-Survivai-Training teil.
Dabei kam es zu einer massiven Panikattacke mit Auf Veranlassung des verantwortlichen Referats-
Hyperventilation, Herzrasen, Schwindel, Vernich- leiters im Bundesministerium der Verteidigung,
tungsgefühl und visionsähnlichen Zuständen, in Oberstarzt Dr. Bick, wurden im Mai 1993 perPost
denen sich der Flugunfall ständig wiederholte. Es Fragebogen an die Mitglieder des ersten Kontin-
wurde daraufhin eine Verhaltenstherapie einge- gentes des Sanitätseinsatzes der Bundeswehr im
leitet, die zunächst erneut zu einer gewissen Dis- Feldlazarett in Kambodscha verschickt. Die Un-
tanzierung führte. 1988 entwickelte sich dann sehr tersuchung wurde durchgeführt durch Herrn
langsam eine ausgeprägte depressive Verstim- Prof. Dr. W. Schüffel, Leiter der Abteilung für Psy-
mung mit vitaler Traurigkeit und jetzt mehr dif- chosomatische Medizin im Zentrum für Innere
fusem Angst- und UnsicherheitsgefühL Der Patient Medizin der Philips-Universität Marburg/Lahn.
zog sich aus Kontakten und Interessen zurück und Auszugsweise sollen einige Ergebnisbeispiele
verließ seine Wohnung kaum noch. Für ihn sehr vorgestellt werden.
quälend kamen somatische Symptome mit einem Der Altersdurchschnitt der Stichprobe betrug
sehr hartnäckigen Zungen- und Gaumenbrennen 30,9 Jahre, 21 o/o der Stichprobe waren Mann-
hinzu, seine affektive Schwingungsfähigkeit ging schaftsdienstgrade, 54,8% Unteroffiziere und
zunehmend verloren, es traten massive Durch- 22,6% Soldaten im Offiziersrang, etwa 25% davon
schlafstörungen und relativ selten auch Angst- Ärzte. Die meisten Teilnehmer verbrachten 6 Mo-
träume mit Wiedererinnern des Unfalls auf. Dieser nate im Feldlazarett in Kambodscha.
ausgeprägte Verstimmungszustand dauerte trotz Auf die Frage, ob der Dienst den Erwartungen
medikamentöser antidepressiver Therapie fast 1 der Teilnehmer entsprochen habe, äußerten sich
Jahr. Der Patient musste in diesem Zusammen- 42,4% zustimmend, 54,2% teilweise zustimmend.
hang auch als aktiver Flieger abgelöst werden. Für die überwiegende Mehrzahl gestaltete sich
1989 begann er eine Behandlung mit tiefen Ent- der Auslandsdienst interessanter als erwartet,
spannungsübungen in Hypnose in Verbindung 45,9% beurteilten den Dienst weniger gefährlich
mit klientzentrierter Gesprächspsychotherapie, als erwartet, 8,2% hingegen gefährlicher als er-
zunächst in Einzelbehandlung, später auch mit wartet.
gutem Erfolg in der Gruppe. Im Verlauf dieser Bezüglich der Vorbereitung auf den Einsatz
Therapie konnte er zunehmend das traumatisie- wurde am besten die körperliche Vorbereitung
rende Ereignis wiedererinnern und verarbeiten. eingeschätzt, mehr als die Hälfte beurteilten diese
Der Patient war in der Folge weitgehend symp- als positiv. Die theoretische Vorbereitung wurde
tomfrei. bezogen auf die Information von 70% und bezo-
gen auf die Vorbereitung auf die kulturellen Ge-
Es erscheint uns in diesem Falle wichtig darauf gebenheiten von 55,9% als kaum ausreichend ein-
hinzuweisen, dass bei einem solchen extremen gestuft.
Langzeitverlauf fast immer ein Symptomshift auf- Das soziale Umfeld stand dem Entschluss der
tritt, der dann naturgemäß dazu führen kann, Soldaten, sich zum Auslandseinsatz zu melden,
dass einzelne abgrenzbare Abschnitte der post- überwiegend positiv gegenüber. Eltern und Vor-
traumatischen Stresserkrankung als eigenständi- gesetzte waren hier die Gruppen, die am ehesten
ge Krankheitsbilder interpretiert werden. Die negative Meinungen äußerten. 70,7% der Freunde
262 Kapitel 13 · Soldaten nach militärischen Einsätzen

gaben den Teilnehmern positives Feedback. Rela- Erste Analysen zur Motivation der Soldaten,
tiv gering war die Unterstützung durch Vor- sich zum Dienst in Kambodscha zu melden, ha-
gesetzte: Etwa 1/4 der Untersuchungsteilnehmer ben ergeben, dass den Motivkomplexen Abenteu-
erfuhr überhaupt keine Unterstützung durch Vor- erlust und Selbstbestätigung eine statistisch rele-
gesetzte. vante Bedeutung zukommt. Es wurde weiter der
1/4 der Befragten gaben an, sich während des Umgang mit Stressbelastungen im Einsatz erfragt.
Einsatzes häufiger oder sogar sehr häufig mit der Mehr als die Hälfte der Untersuchungsteilnehmer
Möglichkeit einer Verletzung oder gar des Todes wandten sich erfolgreich an andere, um über
zu beschäftigen. 1/4 der Befragten nahmen vor Probleme zu reden oder um Gefühle zu äußern,
Ort die Unterstützung durch Militärgeistliche in was als ein wichtiger stressreduzierender Aspekt
Anspruch. Etwa 50% der Teilnehmer beurteilten angesehen wurde. Diejenigen, die sich nicht er-
die Möglichkeit zum privaten Rückzug vor Ort folgreich an andere wandten, zeigen deutlich
oder zum Abschalten als zu gering. Die Hälfte mehr Stresssymptome, wobei es sich aber nur
der Teilnehmer äußerte sich zufrieden mit Unter- um einen sehr geringen Anteil der Stichprobe
bringung, Verpflegung, den sanitären Verhältnis- handelt.
sen, der Ausrüstung und dem Informationsfluss, Die Einstellung der Soldaten der Stichprobe
etwas mehr als 1/3 waren eher unzufrieden. zum Einsatz war überwiegend positiv: Mehr als
Es wurde als eine weitere Belastung erfragt, 3/4 der Untersuchungsteilnehmer äußerten sich
inwieweit der Tod von Menschen miterlebt wur- jeweils eindeutig positiv auf die Frage nach dem
de. Lediglich ein Soldat war nicht mit Tod und Sinn des Einsatzes, knapp 60% würden jederzeit
Sterben konfrontiert. Etwa 3/4 gaben an, Tod wieder in einen solchen Einsatz gehen. 45% der
und Sterben von Menschen miterlebt zu haben, Untersuchungsteilnehmer stimmten der Aussage
die ihnen gefühlsmäßig nicht nahe standen. »Wir konnten unserem Auftrag gerecht werden«
Knapp 1/4 gaben an, dass die Toten ihnen eindeutig zu. Etwas mehr als 1/4 konnten nicht
gefühlsmäßig nahe standen bzw. viel bedeuteten; ganz zustimmen.
hier handelte es sich in aller Regel um Kinder.
Bundeswehr im Einsatz
263 13

Diese Broschüre soll helfen, einsatzbedingten Stress zu er-

Im ken nen, ihn anzu nehmen und mit ihm umzugehen.

Sie ist für Soldaten, die sich im Einsatz befinden, ihre Fa-
milienangehörigen und andere naheste hende Person en
geschrieben worden.

ln die vorliegende Neufassung wurden Erken ntnisse von


Angehörigen der Bundeswehr eingearbeitet.

Umgang mit dem


Einsatzstress

~
T
Bundeswehr

ln einem Einsatz t reten besonders belastende Selbsttötung,


Ereignisse auf Tod eines Kameraden/Mitarbeiters im Dienst

Was sind besonders belastende Ereignisse? Verwundungen, Todesfälle im Einsatz.


Ein besonders belastendes Ereign is kann immer und Ober-
Die internationale Fachsprache der Psyc hologen, so auch
all auftreten. Aber es gibt bestimmte Berufsgruppen, die
der deutschen Truppenpsychologe n, ist Eng lisch. Die gan-
einem höheren Risiko solcher Ereignisse ausgesetzt sind,
ze Problematik der Übersetzung engl ischer Fachausdrücke
wie z. B.:
zeigt sich beim .Critical lncident", der mit . kritisches Vor-
kommn is" zwar wörtlich, jedoch in seiner deutschen Be- Feuerwehrleute
deutung nur unzulänglich übersetzt ist. Wir übersetzen Personal im Sanitätsdienst
"Critical lncident" mit . besonders belastendes Ereig nis". Polizeibeamte

Zu verstehen ist unter .Critical lncident" ein Ereignis, das Such- und Rettungspersona l
außerhalb des Bereic hs gewöhnlic her Erfahrungen liegt Mitarbeiter von Katastrophenschutz
plötzlich und unerwartet ei ntritt, die Handlungsmöglich- und humanitären Hilfsorganisationen
keiten bee inträchtigt, die Wa hrne hmung einer Lebens- Beobachter und Kontrolleure internationaler
bedrohung umfasst und mög licherweise körperliche, ins- Organisationen (z. B. VN, OSZE)
besondere seelische Schäden mit sic h bringen kann. Soldaten
Beispiele für besonders belastende Ereignisse sind: Welcher Stress kann während und nach einem
Naturkatastrophen, belastenden Ereignis auftreten?
Unfälle mit Verletzten und/ oder Toten, Grundsätzlich: Stress ist eine normale Reaktion auf ein au-
sexuelle Belästigung, sexueller Missbrauch, ßergewöhnliches Ereignis.
Er äußert sich in starken körperl ichen, geistig -seelischen
Tod eines Kindes, Todesfall in der Familie,
Reaktionen. Diese können die Fähigkeit beeinträchtigen,
Geiselnahme, während oder nach dem Ereignis die Aufgaben (wie ge-
wohnt) zu erfüllen.
2 3
264 Kapitel 13 · Anhang

Eine heftige Reaktion ist normal; nur wenige scheinen Alpträume


nach einem besonders belastenden Ereignis unberührt Unruhe
zu bleiben. Einige Rea kt ionen können sofort auftreten, an- Schweres Aufwachen
dere erfolgen und/oder wiederhol en sich Tage, Wochen, ja
Frühes Aufwachen
selbst Monate später. Diese Reaktionen können sehr un-
Schlafstörungen/Einschlafstörungen
terschiedlich sein.
Nächtliche Schweißausb rü che
Folgende Reaktionen können auftreten:
Normale geistige Sofort-Reaktionen:
körperliche
Verwirrung, verzerrte Wirklic hkeitswahrn ehmung
geistige
Schwieri gkeiten bei der Entscheid ungstindung
seelische
Beeinträchtig tes Denkvermögen
Normale körperliche Sofort-Reaktionen:
Gedächtnisbeeinträchtigungen
Übelkeit
Rechenschwierigkeiten
Muskelzittern
übertriebenes Hochgefühl
Schwitzen
Normale geistige verzögerte Reaktionen:
Schwindelanfall
Schüttelfrost verminderte Aufmerksamkeit

Erhöhter Puls schlechte Konzentrationsfähigkeit

Erhöhter Blutdruck Gedächtnisstörungen

Hyperventilation (zu schnelles, zu starkes Atmen) • Flashbacks• (Rückblende n); das Ereig nis w ird
noch einmal erlebt
Normale körperliche verzögerte Reaktionen:
Normale seelische Sofort-Reaktionen :
Ermüdung
Übertriebene Schreck-Reaktion Angst

Erhöhter Alkoholgenuss Ärger

4 5

Furcht mit der Person zusammenhängen


Gereiztheit Frühere Erfahrungen, persönlicher Verlust, Wa hrneh-
mung von Bedrohung, persönliche Fähigkeit, mit be-
Schuldgefü hle
sonderen Belastungen fertig zu werde n.
Erschütterung
Besonders belastende Ereignisse können nicht immer vor-
Kummer hergesehen werden. Außerdem kann der d urch diese Er-
Hoffnungs losigkeit eig nisse ausgelöste Stress nicht verhindert werden.
Tagträume Jeder kann jedoch seine Widerstandsfähigkeit durch
körperliche und geistige Fitness verbessern.
Normale seelische verzögerte Reaktionen: Vorschläge zur Erhaltung
Gefühl der Verlassenheit der Widerstandsfähigkeit
Unmut II peisen und trinken Sie vernünftig!
Gefüh l der Entfremdu ng
ßrainieren Sie, bilden Sie sich aus und weiter!
Sich von anderen zurückziehen
Gefühl der Erstarru ng liJ uhen Sie sich aus und gönnen Sie sich
(und anderen) Pausen!
Depression

IJntspannen Sie! Nehmen Sie sich Zeit,


Die Schwere der Reaktion en ist von mehreren Faktoren lassen Sie sich Zeit!
abhängig, von sol chen, die
ßoziale Unterstützung (Familie, Freunde)
mit dem Ereignis zusammenhängen
wird Ihnen helfen!
Plötzlichkeit, Intensität, Da uer, vorhandene
oder fehlende soziale Unterstützung ßeelisch-geistige Ausgeglichenheit gibt Halt!

6 7
Bundeswehr im Einsatz
265 13
Was können Sie tun, wenn Stress auftritt? Üben Sie Verfahren zur Stressbewältigung, wie z. B.:

Aufgrund von Untersuchungen und Erfahrungen mit Men- Atemübungen


schen, die belastenden Ereignissen ausgesetzt waren, wur- progressive Entspannung
de eine Reihe von Möglichkeiten erarbeitet, mit denen Ih- Meditation und/oder Gebet
nen während und nach dem Ereignis geholfen werden körperliche Aktivität
kann. Musik. Singen, Lesen
Während eines Ereignisses: Nutzen Sie Ihren Humor zur Bewältigung
Erkennen Sie die Anzeichen von Stress. der Reaktionen; Lachen entspannt.
Erhalten Sie sich eine positive Einstellung. Nehmen Sie an Gesprächen zur Bewältigung der
Versuchen Sie, das Atmen zu kontrollieren, Belastungen so bald wie möglich nach dem Ereignis
d.h. langsam und regelmäßig zu atmen. teil und beteiligen Sie sich später an angebotenen
Konzentrieren Sie sich auf die unmittelbare Aufgabe. Critical lncident Stress Debriefings (CISD).

Wenn Sie länger einer besonderen Belastung aus-


gesetzt sind, versuchen Sie d ie Belastungen zu ver- Einsatznachbesprechung
ringern - wenn Auftrag und Rahmenbedingungen Sie Ist ein Gruppentreffen von beteiligten Personen
es zulassen. unmittelbar nach dem belastenden Ereignis. Die be-
Bleiben Sie mit anderen in Verbindung, sprechen troffenen Personen sollen die Gelegenheit erhalten,
Sie mit Personen ihres Vertrauens. über das Geschehen zu berichten und über ihre Reak-
Achten Sie bei sich selbst auf Ernährung, Trinken, tionen zu sprechen. Die Leitung soll der Führer einer
Kleidung und Ruhe. betroffenen Gruppe übernehmen.

Nach einem Ereignis: ln einem solchen Gespräch werden Informationen


über normale Stressreaktionen, über verfügbare Hilfs-
Sprechen Sie über das Ereignis: Was Sie gesehen, gehört,
dienste und über das CISD gegeben.
gesprochen, getan haben usw. sowie über Ihre Reaktio-
nen, insbesondere über Ihre Gefühle.
8 9

Critical lncident Stress Debriefing (CISD) Bei den meisten Menschen nehmen die Belastungsreaktio-
Diese Maßnahme dient der Linderung von Auswir- nen an Stärke und Häufigkeit innerhalb weniger Tage oder
kungen eines besonders belastenden Ereignisses. Es Wochen ab. Dieser Vorgang wird durch ein CISD und durch
handelt sich um Vorbeugung (• Prävention«), nicht das Erörtern von Sorgen mit vertrauten Personen, Freun-
um eine psychotherapeutische Behandlung! den, Kameraden, Vorgesetzten und - wenn es gewünscht
wird - mit einem ausgebildeten Berater wesentlich un-
Sie ist eine besonders vorbereitete Maßnahme durch
speziell ausgebildete Mitglieder eines CISD-Teams. terstützt.

Es handelt sich um ein organisiertes Gruppentreffen, Allgemeine Folgen


das die von einem Ereignis betroffenen Personen in
nach einem belastenden Ereignis
die Lage versetzt und ermutigt, offen über ihre Ge-
danken. Gefühle und Reaktionen in einer sicheren Schlafstörungen
und bedrohungsfreien Umgebung zu sprechen. Furcht vor einer Wiederholung des Vorfalls
Das CISD findet idealerweise statt, sobald die äußeren
Gefühle von Schuld, Ängstlichkeit, Besorgnis, Furcht
Umstände sowie die Befindlichkeit der Betroffenen es
zulassen. Auf keinen Fall sollte es vor Ablauf von 48 Wechselnde Stimmungen
Stunden nach dem Ereignis durchgeführt werden. Starke Beschäftigung mit dem Vorfall
Ein CISD soll helfen, mit den Reaktionen auf ein be- Gefühl von Isolation
sonders belastendes Ereignis fertig zu werden. Eine Schreck-Reaktionen
Beratung bzw. Behandlung ist es nicht.
Das CISD sollte nicht mit Briefings, Übungsbespre- Das Sprechen über diese Probleme hilft.
chungen, • Manöverkritik• o.ä. herkömmlicher Art ver-
wechselt werden. Vorschläge für die eigene Erholung
Beachten Sie:
Folgendes sollten Sie beherzigen:
Die Reaktionen auf ein besonders belastendes Ereignis Lernen Sie so viel wie möglich über Stress.
sind normal. Die Ereignisse sind unnormal. nicht die
Denken Sie daran, dass ihre Reaktionen normal sind.
Menschen, die sie erleben!

10 11
266 Kapitel 13 · A n hang

Rechnen Sie damit, dass das Ereignis Ihnen Sorgen Denken, dass Sie die einzige von dem Vorfall betrof-
bereitet. fene Person sind.
Verbringen Sie möglichst viel Ihrer Freizeit mit Ihren Übermäßig Alkohol trinken.
Kameraden.
Unrealistische Erwartungen an die Erholung haben -
Sprechen Sie mit Vertrauten. alles braucht seine Zeit!
Nehmen Sie sich Zeit für Freizeitaktivitäten.
Machen Sie tägliche, aber nicht übertriebene Fitness- Anregungen für Freunde, Kameraden,
Übungen. Vorgesetzte, Mitarbeiter
Achten Sie auf die Ernährung; wenig Koffein
Hören Sie sorgfältig zu.
und Zucker.
Verbringen Sie Zeit mit der betroffenen Person.
Schränken Sie den Gebrauch von Alkohol und Nikotin

l
Bieten Sie Unterstützung durch Hilfe und Zuhören an.
ein, meiden Sie illegale Drogen.
Versichern Sie den betroffenen Personen, dass sie in
Gehen Sie besonders gut mit sich selbst um - Sicherheit und normal sind.
Sie haben es verdient.
Helfen Sie durch die Vergabe von Routineaufgaben.

Folgendes sollten Sie nicht tun: Geben Sie der betroffenen Person Zeit für sich selbst.

Davon ausgehen, dass Sie • verrückt« sind (Sie sind es Nehmen Sie deren Ärger (oder andere Gefühle) nicht
nicht!). persönlich.

Wiederkehrenden Gedanken, Träumen oder Rück- Drücken Sie ihr Mitgefühl über den Vorfall aus und
blenden aus dem Weg gehen (also nicht • verdrän- bieten Sie Verständnis und Hilfe an.
gen•). Holen Sie Hilfe oder Unterstützung, sobald Sie diese
Sich von Freunden, Kameraden, Vorgesetzten, Mit- benötigen.
arbeitern zurückziehen.

12 13

Literatur
Informationen und Unterstützung
erhalten Sie durch: American Psychiatrie Association (1994). Diagnostic and Statis-
tkai Manual of Mental Disorders (4th ed.). Washington:
Vorgesetzte des Betroffenen
American Psychiatrie Association.
Militärpfarrer
Bundesministerium der Verteidigung, FÜSI 3 (2000). Rahmen-
Truppenpsychologe konzept zur Bewältigung psychischer Belastungen bei
Truppenam Soldaten. Bonn.

Sozialarbeiter Dilling, H., Mombour, W. & Schmidt, M. H. (Hrsg.) (1993). Inter-


nationale Klassifikation psychischer Störungen. ICD-1 0
Familienbetreuungsorganisation
Kapitel V (F). Klinisch-diagnostische Leitlinien. Bern: Hu-
Zentrum Innere Führung ber.
Jones, F. D., Crocq, L., Adelaja, 0., Rahe, R., Rock, N., Mansour, F.,
Collazo, C. & Belenky, G. (1985). Psychiatrie casualities in
modern warfare: Evolution of treatment. ln P. Pichot, P.
Berner, R. Wolf & K. Thau (eds.), Psychiatry. The State of
the art. New York: Plenum.
Leaders' Manual for Combat Stress Control. US Department of
the Army (1994). Washington: DA. Field Manual 22-51: 2-
12.
Mitehe II, J. T. & Everly, J. S. (1996). Critical incident stress de-
briefing: An Operations manual for the prevention of trau-
matic stress among emergency services and desaster per-
sonne!. Elliott City: Chevron Publishing Corporation.

14
14

E. Nyberg, U. Frommberger, M. Berger

14.1 Epidemiologie psychischer Beeinträchtigungen


nach Verkehrsunfällen - 268

14.2 Posttraumatische Belastungsstörung


nach einem Verkehrsunfall - 268
14.2.1 Symptomatik - 268
14.2.2 lnzidenz und Verlauf - 270
14.2.3 Verhaltenstherapeutische Behandlung - 271
14.3 Phobisches Vermeidungsverhalten
nach einem Verkehrsunfall - 273
14.3.1 Symptomatik - 273
14.3.2 lnzidenz und Verlauf - 273
14.3.3 Verhaltenstherapeutische Behandlung - 274

14.4 Komorbide Störungen nach einem


Verkehrsunfall - 274

14.5 Exemplarische Darstellung einer


Verhaltenstherapie - 275

14.6 Psychopharmakatherapie - 277

14.7 Probleme in der Behandlung


von Verkehrsunfallverletzten - 278

Literatur - 278
268 Kapitel 14 · Therapie posttraumatischer Stressreaktionen bei Verkehrsunfall verletzten

14.1 Epidemiologie psychischer auf. Insgesamt sind psychische Störungen nach


Beeinträchtigungen Verkehrsunfällen häufig und können zu erhebli-
nach Verkehrsunfällen chen Einschränkungen im Alltag führen.
Bei einem bedeutenden Teil der Verkehrs-
In Deutschland ereigneten sich im Jahr 2001 über unfallverletzten, die ein Halswirbelsäulen-Be-
2,3 Mio. Verkehrsunfälle mit fast einer halben schleunigungstrauma erleiden, treten vielfältige
Million Unfallverletzten (Statistisches Bundesamt psychische Symptome (z. B. Depressivität, Angst
Deutschland, 2002). Die Folgen von schweren und somataforme Beschwerden) auf. Die Frühre-
Verkehrsunfällen gehen über ökonomische oder aktionen treten meist innerhalb weniger Stunden
physische Schädigung weit hinaus. Im Vergleich oder Tage nach dem Unfall auf und sind häufig
zur hochentwickelten chirurgischen Versorgung unabhängig von der Schwere des somatischen
ist die Psychetraumatologie nach Unfällen wenig Traumas (Mayou & Radanov, 1996). Eine PTB
entwickelt, obwohl bereits Mitte des 19. Jahrhun- entwickelt sich bei etwa 6% der Betroffenen.
derts psychische Folgen von Unfällen beschrie- Im Folgenden wird auf die verhaltensthera-
ben wurden. peutische und psychepharmakologische Behand-
Nach den bisherigen Studien zu psychischen lung der posttraumatischen Belastungsstörung
Folgen von Verkehrsunfällen ist mit Beeinträchti- und des phobischen Vermeidungsverhaltens im
gungen wie Straßenverkehr eingegangen. Wir beschränken
- posttraumatischen Belastungsstörungen uns auf die Darstellung der Verhaltenstherapie
(PTB), als Psychotherapiemethode, da sie in der Be-
- phobischen Vermeidungsverhalten handlung der PTB am besten empirisch abge-
(v. a. phobische Reiseängste), sichert ist. Zur systematischen Behandlung der
- affektiven Erkrankungen, PTB bei Verkehrsunfallverletzten fehlen jedoch
- Angststörungen, kontrollierte Studien. In der Literatur finden sich
- somataformen Schmerzsyndromen und lediglich einzelne Fallberichte.
- Substanzmittelabusus bis hin zu Abhängig-
keitserkrankungen
14.2 Posttraumatische Belastungsstörung
in einer Häufigkeit von 20-30% der Verletzten zu nach einem Verkehrsunfall
rechnen (Nyberg, 2001) .
Das Ausmaß dieser Schäden ist bisher unter- 14.2.1 Symptomatik
schätzt worden (Mayou et al., 1993). In einer pro-
spektiven Studie zur Erfassung von psychischen Eine posttraumatische Belastungsstörung ist de-
Störungen nach einem Verkehrsunfall fand sich finiert über Eigenschaften des Ereignisses sowie
ein halbes Jahr nach dem Unfall eine Inzidenz die Entwicklung charakteristischer Symptome
der PTB von 8,2% (Nyberg, 2001). Weitere 6,1% nach einem Trauma. Ein Verkehrsunfall ist nach
hatten zu irgendeinem Zeitpunkt nach dem Unfall dem DSM-IV (American Psychiatrie Association,
das Vollbild einer PTB erfüllt, das bei der Nach- 1994) als ein traumatisches Ereignis anzusehen:
untersuchung 6 Monate nach dem Unfall jedoch Ein Unfall tritt plötzlich auf, ist nicht vorherseh-
nicht mehr vorhanden war. 10,2% erfüllten zum bar, kann lebensbedrohlich sein und mit schwe-
Zeitpunkt der Nachuntersuchung die Kriterien ei- rer Verletzung der eigenen Person oder anderer
ner subsyndromalen PTB (nur die DSM-Kriterien einhergehen. Zusätzlich zeichnet sich die Reakti-
B und C oder die Kriterien B und D waren erfüllt; on durch Angst, Hilflosigkeit und Schrecken aus.
Blanchard et al., 1996). Viele Patienten berichte- Daher kann auch ein Unfall, der keiner stationä-
ten auch über ein partielles Vermeidungsverhal- ren Behandlung bedurfte, als traumatisch einge-
ten im Straßenverkehr. Bei 15,4% der Unfallver- stuft werden, wenn das Unfallopfer eine starke
letzten traten andere psychische Störungen wie Angst und Hilflosigkeit in der Unfallsituation
ein schweres depressives Syndrom, ein somatofor- verspürte und das Auftreten schwerer Verletzun-
mes Schmerzsyndrom oder eine Suchterkrankung gen befürchten musste.
14.2 · Posttraumatische Belastungsstörung nach einem Verkehrsunfall 269 14
Nach dem Klassifikationssystem des DSM
lässt sich die Symptomatik einer PTB in 3 Berei- der Abst and zu anderen Fahrzeugen
che einteilen: näher sei, als er tatsächlich ist),
- Wiederkehrende, eindringliche und belasten- Gefühl von Beinahe-Unfällen mit an-
de Erinnerungen an das Ereignis, deren Verkehrsteilnehmern.
- ständiges Vermeiden von Stimuli, die in ir- Straßenverkehr wird insgesamt als be-
gendeiner Weise mit dem Trauma zusammen drohlicher eingeschätzt als vor dem Unfall,
hängen oder Einengung der emotionalen Rea- z.B.
gibilität, Patienten sind ängstlich und ange-
Anzeichen einer gesteigerten psychophysiolo- spannt beim Autofahren,
gischen Aktivität (s. auch Kap. 3). Patienten vermeiden vollständig das
Autofahren oder überlassen das Fah-
ren anderen Personen.
Es besteht eine partielle Überschneidung Schuldgefühle, zum Unfallzeitpunkt nicht
hinsichtlich des Vermeidungsverhaltens mit aufgepasst zu haben,
einer Phobie. Im Unterschied zur Phobie erlebt erhöhte Wachsamkeit gegenüber anderen
der Patient wiederkehrende Erinnerungen an Verkehrsteilnehmern,
das traumatische Ereignis und eine anhalten- weniger Zutrauen zu den eigenen fahre-
de, gesteigerte psychephysiologische Aktivität rischen Fähigkeiten,
bei Konfrontation mit Reizen, die an das stärkere lrritierbarkeit und verminderte
Trauma erinnern. Frustrat ionstoleranz im Verkehr,
ausgeprägte Schreckhaftigkeit bei uner-
warteten Vorkommnissen im Straßenver-
Im Folgenden werden typische Symptome bei
kehr.
Verkehrsunfallverletzten, die an einer PTB leiden,
aufgeführt (s. Übersicht).

Diese Patienten berichten über immer wieder-


Typische PTB-Symptome von Verkehrs- kehrende Erinnerungen an den Unfall, v. a. wenn
unfallverleUten sie mit Dingen konfrontiert werden, die sie an ih-
Wiederkehrende Erinnerungen an den ren eigenen Unfall erinnern (vgl. Übersicht).
Unfall (bei Konfrontation mit an den Unfall Die Patienten leiden unter Albträumen, die
erinnernden Reize), z. B. Unfälle und andere Bedrohungssituationen zum
Fahren derselben oder einer ähnlichen Inhalt haben. Im Straßenverkehr kann die Wahr-
Fahrstrecke wie die Unfallstrecke, nehmung dieser Patienten gestört sein. So werden
Fahren bei ähnlichen Witterungsbedin- Entfernungen und Größen falsch eingeschätzt,
gungen wie zum Unfallzeitpunkt, u. a. befürchten die Patienten, dass der Abstand
Autofahren zur selben Jahreszeit, als zu anderen Fahrzeugen viel näher sei, als er tat-
der Unfall passierte, sächlich ist. Daher haben Patienten das Gefühl
Sehen eines ähnlichen Autos wie das von Beinahe-Unfällen mit anderen Verkehrsteil-
des Unfallgegners, nehmern. Diese Ängste verstärken die Befürch-
Medienberichte über Unfälle, tungen, die seit dem Trauma bestehen und führen
Jahrestag des Unfalls. zu einer weiteren Steigerung der schon durch die
Albträume (über Verkehrsunfälle), PTB erhöhten psychophysiologischen Aktivie-
gestörte Wahrnehmung im Straßenver- rung.
kehr, z.B. Insgesamt wird der Straßenverkehr als viel
fa lsche Einschätzung von Entfernun-
bedrohlicher als vor dem Unfall eingeschätzt;
gen und Größen (Befürchtung, dass das Vertrauen in die fahrerischen Fähigkeiten an-
derer Verkehrsteilnehmer ist beeinträchtigt. Die
Patienten sind ängstlich und angespannt beim
270 Kapitel 14 ·Therapie posttraumatischer Stressreaktionen bei Verkehrsunfallverletzten

Autofahren (v.a. auf Wegstrecken, die an den Un- 14.2.2 lnzidenz und Verlauf
fall erinnern) und vermeiden wenn möglich das
Autofahren, indem sie das Fahren anderen Per- lnzidenz. In den meisten Studien werden bedeut-
sonen überlassen. Sie berichten über Schuld- same Raten von voll ausgebildeter und subsyn-
gefühle, beklagen, zum Unfallzeitpunkt nicht dromaler PTB nach Verkehrsurrfallen gefunden.
genügend aufgepasst zu haben und fragen immer Kessler et al. (1995) erfassten mittels strukturier-
wieder, warum sie gerade zu diesem Zeitpunkt ten Interviews bei fast 6000 Erwachsenen die
Auto gefahren seien. Eine häufig gestellte Frage Häufigkeit und Auswirkung von potenziellen
ist >>Warum musste gerade mir dieses Unglück Traumen in ihrer Biographie. Das zweithäufigste
zustoßen«. An psychephysiologischer Sympto- Trauma der befragten Personen waren Unfalle,
matik ist eine größere Wachsamkeit im Verkehr die 19,4% der Befragten erlebt hatten. Bei 7,6%
vorhanden, weniger Zutrauen zu den eigenen der befragten Unfallopfer war zu irgendeinem
fahrerischen Fähigkeiten, stärkere Irritierbarkeit Zeitpunkt eine PTB vorhanden gewesen.
und verminderte Frustrationstoleranz, wenn der Mayou et al. (1993, 1997) untersuchten 188
Verkehr nicht komplikationslos läuft sowie eine Patienten prospektiv nach einem Verkehrsunfall.
ausgeprägte Schreckhaftigkeit bei unerwarteten Die Inzidenzrate einer PTB betrug 3 Monate, 1
Vorkommnissen im Straßenverkehr. Jahr und 5 Jahre nach dem Unfall 8%. Die PTB
unterlag einem fluktuierenden Verlauf, sodass
nur wenige Patienten zu allen 3 Katamnesezeit-
Die Subsyndromale posttraumatische punkten das Vollbild einer PTB aufwiesen. Als
Belastungsstörung Gründe für diesen fluktuierenden Verlauf gaben
Häufig erfüllen Unfallopfer nicht alle DSM-Krite- die Unfallopfer v. a. persistierende medizinische
rien, die für die Diagnose einer PTB erforderlich Probleme und chronische Schmerzen an.
sind. Diese Patienten leiden unter einer subsynd- Frommherger et al. (1997) fanden bei schwer-
romalen Form der PTB. Dazu liegen unterschied- verletzten Verkehrsunfallopfern innerhalb eines
liche Definitionen vor: Von einigen Autoren wird halben Jahres nach dem Unfall in 18,4% der Fälle
das Vorhandensein von 2 der 3 DSM-Diagnose- eine PTB. Prädiktaren für die Entstehung einer
kriterien gefordert, andere sehen eines der 3 Kri- PTB waren v. a. das Erleben von Angst und Hilf-
terien als ausreichend an. Meist erfüllen die Pa- losigkeit während des Unfalls sowie bereits in den
tienten das Mindestkriterium einer PTB im Be- ersten Tagen nach dem Unfall vorhandene de-
reich der wiederkehrenden Erinnerungen und pressive Symptome, Angstsymptome und Symp-
erfüllen die Kriterien entweder im Bereich der tome der PTB.
Vermeidung/emotionalen Abstumpfung oder
der erhöhten psychephysiologischen Erregung Verlauf. Der Verlauf einer PTB variiert stark.
(Blanchard et al., 1996). Beispielsweise sind Pa-
tienten in der Lage, Auto zu fahren und auch
an der Unfallstelle vorbeizufahren, haben aber Die Symptomatik bildet sich bei vielen Pa-
trotzdem wiederkehrende Erinnerungen an den tienten in den ersten 6 Monaten nach dem
Unfall und leiden unter einer gesteigerten psy- Unfall auch ohne Behandlung zurück. ln ca.
chephysiologischen Erregung mit gesteigerter Ir- 10-30% der Fälle nimmt die Symptomatik
ritierbarkeit, Wachsamkeit und Schreckhaftig- einen chronischen Verlauf oder eine subsyn-
keit. Der Symptombereich Vermeidung/emotio- dromale PTB geht in ein Vollbild über
nale Abstumpfung scheint in den ersten 6 Mona- (Taylor & Koch, 1995).
ten nach dem Unfall rascher zu remittieren als
die psychephysiologischen Symptome (Blanchard
et al., 1995). Tritt keine Remission des Vermei-
dungsverhaltens ein, so können einschneidende
Folgen im beruflichen und psychosozialen Be-
reich auftreten.
14.2 · Posttraumatische Belastungsstörung nach einem Verkehrsunfall 271 14
14.2.3 Verhaltenstherapeutische Die Grundzüge der Behandlung und der Ab-
Behandlung lauf werden mit dem Patienten ausführlich be-
sprochen. Der Therapeut macht deutlich, dass
Es liegen bisher nur wenige kontrollierte Studien der Fokus der Therapie die Symptomatik der
zur Psychotherapie der PTB nach Verkehrsunfäl- posttraumatischen Belastungsstörung ist, dass
len vor. In der Literatur wird von mehreren Fällen die Dauer der Therapie auf 12 Sitzungen a 1,5 h
berichtet, die erfolgreich mit verhaltenstherapeu- begrenzt ist und dass die aktive Mitarbeit des Pa-
tischen Techniken wie Entspannungsverfahren, tienten in Form von Hausaufgaben erforderlich
systematischer Desensibilisierung, kognitiver ist. Es wird auch besprochen, dass die Therapie
Umstrukturierung und Exposition in sensu oder mitunter sehr anstrengend sein kann und vorü-
in vivo behandelt wurden (McCaffrey & Fairbank, bergehend am Anfang zu einer Zunahme der Be-
1985; Kuch et al., 1985; Muse, 1986; McMillan, schwerden führen kann. Wenn der Patient sein
1991; Horne, 1993; Horton, 1993). Einverständnis gibt, wird mit der Verhaltensthe-
Nach diesen Fallberichten kommt es sowohl rapie begonnen.
bei posttraumatischen Belastungsstörungen auf-
grund kürzlich zurückliegender Verkehrsunfälle
Ablaufschema für eine Verhaltenstherapie
als auch bei chronifizierten Formen in wenigen
nach einem Verkehrsunfall
Monaten zu einer deutlichen Symptomreduktion.
Auch bei einer komorbiden depressiven Störung, Zu Beginn jeder Sitzung werden die Hausauf-
einem chronifizierten Schmerzsyndrom oder gaben der letzten Woche besprochen und am En-
neuropsychologischen Beeinträchtigungen sei de jeder Sitzung die Hausaufgaben für die kom-
diese Behandlung erfolgversprechend. mende Woche geplant.
Therapeutische Interventionen waren auch
bei Patienten erfolgreich, deren Schadenersatz- Erste Therapiesitzung. In der 1. Sitzung liegt der
prozess noch nicht abgeschlossen war. Schwerpunkt auf psychoedukativen Techniken,
Im Folgenden wird ein verhaltenstherapeuti- d. h. auf der Vermittlung eines Krankheitsmodells
sches Programm vorgestellt, das im Wesentlichen der PTB. Ausgehend von der Symptomatik des
aus Entspannungstechniken, Exposition in sensu Patienten wird anhand der »2-Faktoren-Theorie
oder in vivo und aus kognitiven Techniken be- der Angst« von Mowrer (1947) und dem »Modell
steht. Das Therapieschema ist aus den Behand- der chronischen PTB« von Ehlers & Clark (1999)
lungsprogrammen von Foa & Rothbaum (1998) ein individuelles Krankheitsmodell der PTB erar-
sowie Blanchard & Hickling (1998) abgeleitet. beitet. Ziele der Psychoedukation sind die Ent-
Das Programm von Foa & Rothbaum (1998) ist wicklung eines individuellen Bedingungsmodells
für die Behandlung von vergewaltigten Frauen der PTB und die Normalisierung der Reaktionen
entwickelt worden (s. Kap. 4), das Konzept von auf den Unfall (»eine normale Reaktion auf eine
Blanchard & Hickling (1998) für Verkehrsunfall- unnormale Situation«). Am Ende der ersten Sit-
opfer. Beide wurden in kontrollierten Studien zung erhält der Patient eine Einführung in die
überprüft. Zwerchfellatmung als Entspannungsübung und
Vor dem Beginn der Verhaltenstherapie fin- wird aufgefordert, diese übung bis zur nächsten
den 2-5 diagnostische Sitzungen statt. In diesen Sitzung mehrmals täglich zu üben. Als weitere
Sitzungen werden neben Selbstbeurteilungsska- Hausaufgabe soll der Patient in Form eines thera-
len die klinischen Interviews »Clinician-Admin- peutischen Tagebuchs in der kommenden Woche
istered PTSD Scale« (CAPS; Blake et al., 1990; wiederkehrende Erinnerungen und Gedanken an
dt. Nyberg & Frommberger, 2001) zu Art und den Unfall sowie auslösende Reize und Konse-
Ausmaß der Symptomatik der posttraumatischen quenzen seines Verhaltens im Umgang mit den
Belastungsstörung und »Strukturiertes Klini- belastenden Erinnerungen notieren. Zur Vor-
sches Interview für DSM-IV« (SKID; Wittchen bereitung auf die Exposition wird der Patient ge-
et al., 1997) zur Abklärung einer komorbiden beten, den Unfallhergang in Form eines schriftli-
Störung durchgeführt. chen Berichts festzuhalten. Es soll ein »emotiona-
272 Kapitel 14 · Therapie posttraumatischer Stressreaktionen bei Verkehrsunfallverletzten

ler« Bericht des Unfallgeschehens erstellt werden, zu beginnen. Je nach Länge der Unfallszene sind
bei dem es wichtig ist, möglichst viele Gedanken, 2-5 Durchgänge in der vorgegebenen Zeit
Gefühle und Sinneseindrücke festzuhalten. möglich.

Zweite Therapiesitzung. Zu Beginn der 2. Sitzung Leidet der Patient unter starken Schuldgefühlen
liest der Patient seinen schriftlichen Bericht vom (z. B. Tod von anderen Verkehrsteilnehmern) ,
Unfall vor und es werden, wenn notwendig, die Schamgefühlen (z. B. bei bleibenden Behinderun-
festgehaltenen Kognitionen und Gefühle differen- gen) oder Wut (z. B. auf den Unfallverursacher)
ziert. Anband der Aufzeichnungen des Patienten und sind dysfunktionale kognitive Schemata er-
zu den wiederkehrenden Erinnerungen an den kennbar, werden diese Problembereiche vor der
Unfall wird das individuelle Krankheitsmodell Exposition in sensu und in vivo anband der kog-
der PTB weiter ausgearbeitet. Der Patient soll nitiven Therapie nach Becket al. (1994) bearbeitet.
die Entstehung und Aufrechterhaltung seiner
Symptome nachvollziehen können. Anschließend Vierte Therapiesitzung. In der 4. Sitzung wird die
bekommt der Patient eine ausführliche Einfüh- Exposition in sensu wiederholt. Anschließend
rung in die Technik der progressiven Muskelrela- wird die Hierarchie für die Exposition in vivo er-
xation nach Jacobson. Es wird besprochen, wie stellt.
die Technik zur Reduktion der psychophysiologi- Die Exposition in vivo findet je nach Ausprä-
schen Anspannung eingesetzt werden kann. gung des Vermeidungsverhalten s parallel als
Hausaufgabe oder nach Abschluss der Exposition
Dritte Therapiesitzung. In der 3. Sitzung beginnt in sensu statt. Unserer Erfahrung nach ist der Pa-
die Exposition in sensu, die das Kernstück der tient meist in der Lage, eigenständig oder in Be-
Therapie darstellt. Das Rational für die Expositi- gleitung eines Familienmitglieds, die Übungen
onsübungen wird dem Patienten ausführlich er- durchzuführen, da es meist durch die Exposition
läutert. in sensu zu einer deutlichen Reduktion der Belas-
tung bei der Konfrontation mit den Auslösereizen
8 Beispiel gekommen ist. Häufiger Inhalt der Exposition in
Ablauf der Exposition in sensu vivo ist das Aufsuchen der Unfallstelle und Auto-
Bei dieser Form der Exposition wird der Patient fahrübungen, ggf. bei einer Fahrschule.
aufgefordert, sich den Unfall nochmals ins Ge-
dächtnis zu rufen. Bei geschlossenen Augen soll Weitere Therapiesitzungen. In der s. bis 10. Sit-
der Ablauf des Unfalls so umfassend und detailliert zung wird die Exposition in sensu und in vivo,
(auch Gefühle, Körperempfindungen, Geräusche wie in der 3. und 4. Sitzung beschrieben, wieder-
und Gerüche) wie möglich berichtet werden. Die holt. Die kognitive Therapie wird fortgesetzt.
Schilderung soll so lebhaft sein, dass ein SUD In den Sitzungen 11 und 12 werden die ge-
(»Subjective Units of Distress«; Angstskala von lernten Copingstrategien zusammengefasst, evtl.
0-1 00) von mindestens 50-70 erreicht wird. Alle in der Zukunft auftretende schwierige Situatio-
5-10 min bittet der Therapeut den Patienten, sei- nen werden besprochen und die Therapie wird
nen Angstpegel (SUD) auf der Skala von 0-100 beendet. Bei Bedarf werden »Boostersessions«
einzustufen. Wichtig ist, dass der Patient nicht die angeboten.
dritte Person beim Erzählen benutzt, sondern in
Ich-Form im Hier und Jetzt spricht, als ob der
Unfall gerade noch mal passieren würde. Die
Zusammenfassend kann aufgrund der Ergeb-
Übung wird nach 45-60 min beendet. Wenn ein
nisse einzelner Fallstudien zur verhaltensthe-
Durchgang der Unfallszene weniger als 45 min
rapeutischen Behandlung der PTB nach Ver-
beansprucht, wird der Patient sofort nach Been- kehrsunfällen oder eigener Erfahrung fest-
digung des ersten Durchgangs aufgefordert, gehalten werden, dass eine kurze Behandlung
nochmals von vorne mit dem Erzählen der Szene
...
14.3 · Phobisches Vermeidungsverhalten nach einem Verkehrsunfall 273 14
- Die Kriterien für eine einfache bzw. spezifi-
über ca. 3-6 Monate mit systematischer De-
sche Phobie sind erfüllt,
sensibilisierung, Exposition in vivo und in
- Beginn und Inhalt der phobischen Ängste
sensu sowie kognitiver Umstrukturierung ef-
sind auf einen Unfall bezogen,
fektiv die PTB-Symptomatik reduzieren kann.
- die Angstsymptome und das Vermeidungsver-
Sogar bei einer Komorbidität mit chronischen
halten beziehen sich im Wesentlichen auf die
Schmerzsyndromen und neuropsychologi-
Befürchtung, erneut einen Unfall zu erleiden.
schen Beeinträchtigungen ist sie erfolgver-
sprechend. Selbst wenn chronische Schmerz-
Beim phobischen Vermeidungsverhalten im Stra-
syndrome bei Beginn der Behandlung im
ßenverkehr wird, wie bei der PTB, die 2-Fak-
Vordergrund stehen, kann bei entsprechender
toren-Theorie der Angst nach Mowrer (1947)
Motivation des Patienten zunächst die PTB
zur vereinfachten Erklärung der Entstehung
behandelt werden. Dadurch reduziert sich das
und Aufrechterhaltung des Vermeidungsverhal-
Ausmaß der Beeinträchtigung des Patienten
im Alltag und dadurch kann es ebenfalls zu tens herangezogen.
einer Reduktion der Schmerzen bzw. zu einer Das phobische Vermeidungsverhalten kann
Veränderung der schmerzbezogenen Kogni- bei der Teilnahme am Straßenverkehr auftreten,
tionen kommen. wobei es unwichtig ist, ob als Fußgänger oder
als Autofahrer. Intensive körperliche Reaktionen
können bereits bei dem Gedanken auftreten, sich
z. B. in ein Auto zu setzen. Für manche Patienten
14.3 Phobisches Vermeidungsverhalten reduziert sich die Angst, wenn sie selbst das Steu-
nach einem Verkehrsunfall er übernehmen können und damit die Kontrolle
über das Fahrzeug gewinnen.
14.3.1 Symptomatik Das Vermeidungsverhalten kann sich in einer
Reihe von Verhaltensweisen zeigen:
In der Literatur werden verschiedene Begriffe ver- - Sehr vorsichtige Fahrweise (Patienten fahren
wendet, um Phobien, die nach einem Verkehrs- sehr langsam, halten z. T. vor grünen Ampeln
unfall entstehen, zu beschreiben. Im englischspra- oder auf der Kreuzung, auch wenn sie Vor-
chigen Raum werden häufig die Begriffe »driving fahrt haben),
phobia« und »travel phobia« benutzt, die aller- - Fahrten werden nur unternommen, wenn es
dings auch bei der Beschreibung einer sekun- unbedingt notwendig ist, und die Patienten
dären Phobie im Rahmen einer Panikstörung Ver- vermeiden Freizeitaktivitäten, die mit der
wendung finden (Ehlers et al., 1994}. Kuch et al. Teilnahme am Straßenverkehr verbunden
(1991, 1994} sowie Taylor & Koch (1995) haben sind,
den Terminus »accident phobia« eingeführt, um - Vermeiden von Fahrten unter bestimmten Be-
auch Störungen bei nichtmotorisierten Verkehrs- dingungen (z. B. bei Nässe, Nacht, Schnee),
teilnehmern (Fahrradfahrern und Fußgängern), - Versuch, sich während der Fahrt abzulenken
die in einen Verkehrsunfall verwickelt waren, zu (Patienten schließen z. B. die Augen oder
erfassen. Um auch die im deutschen Sprachraum hören laut Musik},
gebrauchten Begriffe »Autofahrphobie« und - in abgeschwächter Form führt das beständige
»phobische Reiseängste« zu erweitern, benutzen Ermahnen und Warnen des Fahrers ebenfalls
wir den umfassenderen Terminus »phobisches zu einer Angstreduktion.
Vermeidungsverhalten im Straßenverkehr«. Den
Begriff» Unfallphobie« vermeiden wir inzwischen,
da die angstauslösende Komponente, d. h. der 14.3.2 lnzidenz und Verlauf
Straßenverkehr, nicht zum Ausdruck kommt.
Nach Kuch et al. (1994) ist phobisches Ver- Die Forschungsergebnisse zu Inzidenz und Ver-
meidungsverhalten im Straßenverkehr durch 3 lauf sind widersprüchlich. In der bereits erwähn-
Merkmale gekennzeichnet: ten Studie von Mayou et al. (1993, 1997} konnte
274 Kapitel 14 . Therapie posttraumatischer Stressreaktionen bei Verkehrsunfall verletzten

bei 15% der Patienten 1 Jahr nach dem Unfall ein


phobisches Vermeidungsverhalten im Straßen-
ln der verhaltenstherapeutischen Behandlung
verkehr festgestellt werden. Bei der Katamnese
des phobischen Vermeidungsverhaltens im
5 Jahre nach dem Unfall berichteten sogar 28%
Straßenverkehr liegt der Schwerpunkt auf der
von Ängsten im Straßenverkehr. Malt (1988) be-
Exposition in sensu und in vivo. Die Exposition
fragte 107 stationäre Unfallopfer ( 46% hatten ei-
in sensu wird herangezogen, wenn der Inhalt
nen Auto- oder Motorradunfall erlitten) 16-51
des Vermeidungsverhaltens im Straßenverkehr
Monate nach dem Unfall. Bei keinem der Patien-
aus einer nicht in vivo herstellbaren Situation
ten konnte im klinischen Interview eine vollstän- besteht (z. B. einer Unfallszene). Steht die
dige Phobie diagnostiziert werden, obwohl 29% Angst vor dem Verkehr oder besonders vor
der Patienten unter Angst vor Stimuli, die im Zu- dem Autofahren im Mittelpunkt, werden in-
sammenhang mit dem Unfall standen, litten. vivo-Übungen bevorzugt angewandt.

Je nach Grad der Ausprägung führt der Patient


Die Inkonsistenz der Studienergebnisse die Exposition in Eigenregie oder in Begleitung
scheint mit der Breite der Definition des pho- des Therapeuten durch. Ist der Patient über einen
bischen Vermeidungsverhaltens im Straßen- längeren Zeitraum nicht mehr Auto gefahren,
verkehr zusammenzuhängen. Wenn eine voll- kann es zunächst notwendig sein, einige Stunden
ständige Vermeidung (z.B. Patient fährt gar mit einem Fahrlehrer das Autofahren zu üben,
nicht mehr Auto) verlangt wird, erfüllen nur bevor mit den Expositionsübungen begonnen
wenige Patienten die Kriterien eines Vermei- werden kann.
dungsverhaltens im Straßenverkehr. Dabei ist
zu beachten, dass Unbehagen und eine
erhöhte Anspannung im Straßenverkehr 14.4 Komorbide Störungen
ebenfa lls eine erhebliche Belastung für den nach einem Verkehrsunfall
Patienten darstellen können.
Patienten, die aufgrundder Folgen eines Verkehrs-
unfalls psychiatrisch-psychotherapeutisch behan-
delt werden, können gleichzeitig mehrere psychi-
14.3.3 Verhaltenstherapeutische
atrische Störungen aufweisen (s. Übersicht).
Behandlung

Auch bei der Behandlung des phobischen Ver-


Komorbide Störungen in der Folge von
meidungsverhaltens im Straßenverkehr haben
Verkehrsunfällen
sich die Exposition in sensu und in vivo in Ein-
Voll ausgebildete oder subsyndromale PTB
zelfallberichten als erfolgreich gezeigt. Wie bei
oder phobisches Vermeidungsverhalten
der PTB nach Verkehrsunfällen fehlen auch hier-
im Straßenverkehr,
zu kontrollierte Studien.
Depression (oft in Zusammenhang mit
In mehreren Fallstudien ist über den erfolg-
gesundheitlichen, sozialen, finanziellen
reichen Einsatz der systematischen Desensibili-
Problemen oder im Verlauf langdauernder
sierung (Entspannungstraining und graduierte
gerichtlicher Auseinandersetzungen we-
Exposition in sensu) berichtet worden (u.a. Wald gen des Unfalls),
& Taylor, 2000). chronische Schmerzsyndrome (Kopf-
Wenn zusätzlich eine Depression besteht, schmerzen nach Halswirbelsäulen-Be-
können ergänzend kognitive Techniken (nach schleunigungstrauma: lnzidenzschätzun-
Beck et al., 1994) eingesetzt werden. gen liegen zwischen 28 und 100%;
Kreuzschmerzen).
14.5 · Exemplarische Darstellung einer Verhaltenstherapie 275 14
14.5 Exemplarische Darstellung
neuropsychologische Beeinträchtigungen einer Verhaltenstherapie
(in der Folge von Kopfverletzungen durch
den Unfall).
f) Beispiel
Exemplarische Darstellung
Die Patienten können an einer voll ausgebildeten einer Verhaltenstherapie
oder subsyndromalen PTB oder an einem phobi-
Unfallhergang
schen Vermeidungsverhalten im Straßenverkehr
Die Patientin Frau A. ist 40 Jahre alt, verheiratet
leiden. Darüber hinaus können eine Depression,
und hat 2 erwachsene Kinder.
ein chronisches Schmerzsyndrom oder neuropsy-
Sie verunglückte mit ihrem PKW während ei-
chologische Beeinträchtigungen vorhanden sein.
ner beruflichen Fahrt als Außendienstmitarbeite-
Bei Patienten, die einen Verkehrsunfall erlitten
rin, als sie von einem den Hang herabrutschenden
hatten und psychologische Hilfe aufgrund eines
Baumstamm gegen die Leitplanke gedrückt wur-
chronischen Schmerzsyndroms suchten, fanden
de. Die Leitplanke schützte die Patientin davor,
Hickling & Blanchard (1992) bei 65% eine voll
einen etwa 30 m tiefen Hang hinunterzustürzen.
ausgebildete oder subsyndromale PTB. Von die-
Sie hatte keine Kopfverletzung erlitten, war bei
sen Patienten erfüllten nahezu alle die Kriterien
dem Unfall nicht bewusstlos und konnte sich an
für ein phobisches Vermeidungsverhalten im
den gesamten Unfallhergang erinnern. Am Tag
Straßenverkehr.
nach dem Unfall entwickelten sich Schmerzen im
Depression ist eine häufige Konsequenz eines
Bereich des Thorax, der Schultern und der Hals-
Verkehrsunfalls. Blanchard et al. (1998) fanden
wirbelsäule.
bei 23% der Verkehrsunfallopfer eine Major De-
pression. Ein Jahr nach dem Unfall stellten Symptomatik 9 Monate nach dem Unfall
Mayou et al. (1993) bei 11% ein depressives Syn- Frau A. wurde etwa 9 Monate später in unsere
drom fest. Insgesamt hingen psychische Be- Spezialambulanz für posttraumatische Belas-
schwerden bei der Katamnese eng mit gesund- tungsstörungen überwiesen. Im Erstgespräch
heitlichen und sozialen (beruflichen, finanziellen klagte die Patientin v.a. über Schmerzen im Na-
und privaten) Problemen zusammen. Auch die cken- und Schulterbereich. Von ihrer Hausärztin
Auswirkung der bei vielen Patienten nach Ver- war ihr ein Benzodiazepin verschrieben worden.
kehrsunfällen vorhandenen und sich häufig über Dadurch hätten sich die Schmerzen etwas gebes-
Jahre hinziehenden gerichtlichen Auseinander- sert. Die Patientin gab auf Nachfrage wiederkeh-
setzungen auf die psychische Gesundheit sind rende eindringliche Erinnerungen (Intrusionen) an
nicht zu unterschätzen, da sie häufig den Charak- den Unfall an. Sie müsse immer wieder daran
ter einer sekundären Traumatisierung annehmen. denken, wie sie voller Panik in ihrem Auto einge-
Im Rahmen eines Verkehrsunfalls kann es sperrt gewesen sei und nicht gewusst habe, wie
nach einer Kopfverletzung zu neuropsychologi- sie herauskommen solle. Sie habe sich völlig hilflos
schen Beeinträchtigungen kommen. Kopfschmer- und ohne Kontrolle erlebt. Dieses Gefühl spüre sie
zen werden häufig von Patienten nach einem immer wieder, v. a. wenn sie mit etwas konfrontiert
Halswirbelsäulen-Beschleunigungstrauma be- werde, was sie an den Unfall erinnere (z. B. Un-
richtet. Die Angaben zur Inzidenz des posttrau- fallstrecke, Holzarbeiten im Wald, Schmerzen im
matischen Kopfschmerzes nach einem Verkehrs- Nacken- und Schulterbereich, Fragen von Be-
unfall variieren zwischen 28 und 100%. Hickling kannten und Kollegen zu ihrer Gesundheit, Me-
et al. (1992) fanden bei 75% der Patienten mit dienberichte über Unfälle). Wenn sie aus zwin-
posttraumatischen Kopfschmerzen eine PTB. Je genden Gründen an der Unfallstelle vorbeifahren
nach Art und Schweregrad der Verletzungen müsse, sei sie innerlich sehr unruhig und ange-
kann es ebenfalls zu anderen Schmerzsyndromen spannt. Beim Autofahren sei sie sehr nervös und
im Bereich der Verletzungen kommen. überlasse dies, wenn immer es ginge, ihrem Mann.
T
276 Kapitel 14 ·Therapie posttraumatischer Stressreaktionen bei Verkehrsunfallverletzten

Im Straßenverkehr habe sie ständig die Befürch- des Hyperarousals begonnen. Die Patientin wurde
tung, es könne nochmals zu einem Unfall kom- angeleitet, jeden Abend zu Hause die progressive
men. Des Weiteren sei sie seit dem Unfall sehr Muskelentspannung zur Reduktion der Über-
schreckhaft und leicht irritierbar. Sie habe das In- erregbarkeit einzusetzen.
teresse an früher für sie bedeutsamen Aktivitäten Anhand eines Tagebuchs sollte sie täglich ihre
(z. B. Kegeln, Sport, Freunde besuchen) fast voll- wiederkehrenden Erinnerungen und deren Auslö-
ständig verloren. sesituationen protokollieren. Die Erinnerungen
Familie und Freunde können nicht begreifen, und die auslösenden Reize wurden in der nächs-
dass sie den Unfall nicht verarbeiten könne. Sie ten Therapiesitzung besprochen.
hätte doch so viel Glück gehabt.
Expositionsbehandlung
Zu ihrer Biographie berichtet sie, dass sie vor
Bei der Exposition des Unfalls in sensu wurde die
dem Unfall sehr aktiv gewesen sei, in ihrem Leben
Patientin gebeten, sich ihre Erinnerungen an den
nie größere Schwierigkeiten gehabt habe und sie
Unfall wieder ins Gedächtnis zu rufen, ihre Augen
immer sehr belastbar gewesen sei.
zu schließen und den Unfallhergang sehr detail-
Diagnostik liert zu erzählen, als ob er gerade hier und jetzt
Die psychiatrische Diagnostik in strukturierten stattfinden würde. Alle S min gab die Patientin
Interviews ergab eine PTB und ein schweres Rückmeldung über ihren Angstpegel auf einer
depressives Syndrom. Selbstbeurteilungsskalen Skala von 0-100. Die Exposition wurde nach
zeigten eine erhebliche Ausprägung der Be- 4S min und 3 Durchgängen beendet. ln den fol-
schwerden. genden Wochen wurde diese Exposition in sensu
mehrmals wiederholt, bis sie einen stabilen
Verhaltenstherapie
Angstpegel von 20-30 bei der Erinnerung an den
Die verhaltenstherapeutische Behandlung be-
Unfall erreicht hatte.
stand aus dem oben ausgeführten Therapieansatz.
Da die Patientin ebenfalls unter einem pho-
Zu Beginn waren zusätzlich Tagesstrukturierung
bischen Vermeidungsverhalten im Straßenverkehr
und Aktivitätsaufbau wichtig. Obwohl die Patien-
litt, wurde sie zur Expositionsbehandlung in vivo
tin am stärksten unter den Schmerzen im Nacken-
angeleitet, nachdem eine Hierarchie angstauslö-
und Schulterbereich litt, behandelten wir mit ih-
sender Situationen erstellt worden war. Für die
rem Einverständnis als erstes die PTB.
Übung zum Abbau des Vermeidungsverhaltens
Therapieablauf wurde die schrittweise Annäherung an die Un-
ln den ersten 4 diagnostischen Sitzungen wurden fallstelle ausgewählt, da dies die am stärksten
das CAPS, das DIPS und Selbstbeurteilungsver- belastende Vermeidungssituation darstellte. Die
fahren angewandt. Anschließend fanden 13 the- Therapeutin begleitete sie bei dieser Übung. Die
rapeutische Sitzungen a 90 min statt. Hierarchie wurde in 3 Stunden durchgearbeitet.
Die Patientin wurde gründlich über die Be- Die Erregung konnte nach Konfrontation mit der
handlung und deren Ablauf aufgeklärt. Sie erhielt am stärksten angstauslösenden Situation deutlich
ein Informationsblatt zur Symptomatik der post- gesenkt werden. Die Patientin wurde angeleitet, in
traumatischen Belastungsstörung. ln der ersten nächster Zeit beim Fahren der Unfallstrecke an der
Sitzung stand die Psychoedukation mit der Ver- Unfallstelle anzuhalten und stehenzubleiben, bis
mittlung eines Krankheitsmodells der PTB im Anspannung und Erregung deutlich nachließen.
Vordergrund. Die Reaktion der Patientin auf den Zu einer Verstärkung der Symptomatik der PTB
Unfall wurde als eine normale Reaktion auf eine und einer vermehrten Erwartung eines Unfalls kam
anormale Situation eingestuft. Die Patientin war es in der Zeit um den ersten Jahrestag. Am Jah-
sehr erleichtert, als sie erfuhr, dass ihre Be- restag sei sie gar nicht aus dem Haus gegangen, da
schwerden normal sind und sie nicht »verrückt« ist. sie überzeugt gewesen sei, ihr werde erneut etwas
ln der ersten Sitzung wurde mit dem Einüben der zustoßen. Es fanden noch 2 Sitzungen statt, die
progressiven Muskelentspannung zur Reduktion zum Inhalt hatten, die selbständig durchge-
T
"
14.6 · Pharmakotherapie 277 14
führte Exposition in vivo zu besprechen und Co- flussten nach seinen Erfahrungen den Verlauf
pingstrategien für die Zukunft zu entwickeln. der PTB nicht.
Eigene Erfahrungen in unserer Spezialambu-
Therapieevaluation
lanz für posttraumatische Belastungsstörungen
Die Testdiagnostik am Ende der Therapie zeigte
der Universitätsklinik in Freiburg beruhen v. a.
eine deutliche Reduktion der Intrusionen, des
auf dem systematischen Einsatz von Paroxetin
Vermeidungsverhaltens und der psychophysiolo-
(Frommberger et al., 1997). Dieses einzige für
gischen Beschwerden. Die Patientin litt lediglich
die Indikation PTB in Deutschland zugelassene
noch an einer gesteigerten Wachsamkeit im Stra-
Medikament reduzierte bei einer Dosis von 40 mg
ßenverkehr und leichten lrritierbarkeit. Das
die depressive Symptomatik. Wenn Unruhe auf-
schwere depressive Syndrom bestand nicht mehr.
trat, konnte zu Beginn der Behandlung eine ge-
Die Schmerzen im Nacken- und Schulterbereich,
ringe Dosis, z. B. 10-20 mg Promethazin die Erre-
die zu Beginn der Behandlung im Vordergrund
gung dämpfen und den Schlaf fördern. Eine be-
standen, besserten sich auch ohne gezielte Be-
gleitende Psychoedukation und ein Stressbewälti-
handlung deutlich.
gungstraining stützte die Patienten.
Vor Beginn der Verhaltenstherapie war auf ein
Absetzen der Benzodiazepinmedikation verzichtet
worden, um nicht zusätzliche Absetzsymptome
und eine weitere Labilisierung der Patientin her- Die Psychopharmakotherapie der PTB nimmt
vorzurufen. Nach Abschluss der Verhaltensthera- nach den bisherigen Erfahrungen einen Zeit-
pie wurde in Rücksprache mit der Hausärztin die raum von mindestens 3 Monaten bis zur er-
Benzodiazepinmedikation innerhalb von 10 Wo- folgreichen Reduktion der Symptomatik in
chen schrittweise abgesetzt. Auch nach dem Ab- Anspruch. Die Medikation sollte weitere 6-24
senken der Medikation war der Therapieerfolg voll Monate beibehalten werden, um einen
erhalten. Rückfall zu vermeiden (Ballenger et al., 2000).
Das Absetzen sollte langsam und schritt-
weise erfolgen mit engmaschiger Betreuung
14.6 Pharmakotherapie
des Patienten bei wiederkehrender Sympto-
matik.
Kontrollierte Studien zur Wirksamkeit von Psy-
ln der akuten Krisenintervention, wenn der
chopharmaka bei PTB nach Verkehrsunfällen
Patient nach dem Erlebnis verwirrt, äußerst
fehlen.
beunruhigt und psychomotorisch sehr ange-
In psychotherapeutischen Fallbeschreibungen
spannt ist, kann die auf wenige Tage be-
wurde ein Teil der Patienten mit Anxiolytika oder
grenzte Gabe von Benzodiazepinen (z. B. Lo-
Antidepressiva behandelt. Eine langsame, schritt-
razepam oder Alprazolam) zu einer schnellen
weise Reduktion der Psychopharmaka habe die
Entlastung führen.
Compliance während der Expositionsbehandlung
Ausgeprägte Schlafstörungen bessern sich
gefördert (Kuch et al., 1985). Burstein (1989) be-
unter der Einnahme von Trimipramin
richtete über seine Erfahrungen mit 70 Verkehrs- (25- 100 mg zur Nacht).
unfallpatienten, denen er bis zu 260 mg Imipra- Das gleichzeitige Vorliegen einer Persön-
min verschrieb und eine Reduktion von Intrusio- lichkeitsstörung kann die Wirksamkeit ein-
nen und Schlafstörungen beobachtete, nicht je- schränken und verzögern.
doch des Vermeidungsverhaltens. Zusätzlich zur Auch zur Verhinderung einer Retraumati-
Verschreibung von trizyklischen Antidepressiva sierung durch einen Unfal l sollten die Patien-
empfahl er die Expositionstherapie für die Be- ten zu Beginn einer Psychopharmakotherapie
handlung des Vermeidungsverhaltens. Im Lang- über die Gefahr der Einschränkung ihrer Leis-
zeitverlauf hielt er eine Kombination aus Psycho- tungsfähigkeit Im Straßenverkehr und auf In-
pharmaka und kognitiver Therapie für erfolg- teraktionen, z. B. mit Alkohol, aufgeklärt wer-
reich. Gleichzeitig ablaufende Auseinanderset- den.
zungen um Schadenersatzforderungen beein-
278 Kapitel 14 ·Therapie posttraumatischer Stressreaktionen bei Verkehrsunfallverletzten

Allgemeine Hinweise zur psychopharmakathera- Literatur


peutischen Behandlung der PTB finden sich in
Kap. 7. American Psychiatrie Association (1994). Diagnostic and Statis-
tical Manual of Mental Disorders (4th ed.). Washington:
American Psychiatrie Association.
Ballenger, J. C., Davidson, J. R., Lecrubier, Y., Nutt, D.J., Foa, E. B.,
14.7 Probleme in der Behandlung
Kessler, R. C., McFarlane, A. C. & Shalev, A. Y. (2000). Con-
von Verkehrsunfallverletzten sensus statement on posttraumatic stress disorder from
the International Consensus Group on Depression and
Liegen bei einem Patienten starke Schamgefühle, Anxiety. Journal of Clinical Psychiatry, 61 (Suppl. 5), 60-66.
Schuldgefühle oder Wut vor, ist aufgrund von Er- Beck, A.T., Rush, A.J., Shaw, B.F. & Emery, G. (1994). Kognitive
Therapie der Depression. München: Psychologie Verlags
gebnissen bei der Behandlung vergewaltigter
Union, Urban & Schwarzenberg.
Frauen (Foa et al., 1995) und Kriegsveteranen Blake, D. D., Weathers, F.W., Nagy, L.M., Kaloupek, D.G., Klau-
(Pitman et al., 1991) davon auszugehen, dass minzer, G., Charney, D.S. & Keane, T.M. (1990). A clinician
die Expositionsbehandlung allein nicht ausrei- rating scale for assessing current and lifetime PTSD: The
chend ist. In diesem Falle empfehlen wir ver- CAPS-1. The BehaviorTherapist, 13, 187-188.
Blanchard, E.B. & Hickling, E.J. (1998). After the crash: Assess-
mehrt kognitive Strategien zu verwenden.
ment and treatment of motor vehicle accident survivors.
Washington: American Psychological Association.
Blanchard, E. B., Hickling, E.J., Mitnick, N,, Taylor, A. E., Loos, W.
& Buckley, T. C. (1995). The impact of severity of physical
Wie bei anderen Traumagruppen kann ein
injury and perception of life threat in the development of
Gebrauch oder gar Missbrauch von Anxiolytika
post-traumatic stress disorder in motor vehicle accident
bestehen. Da Verkehrsunfallverletzte und v.a. victims. Behavior Research and Therapy, 33, 529-534.
solche, die eine Behandlung suchen, häufig Blanchard, E. B., Hickling, E.J., Taylor, A. E., Loos, W. R., Forneris,
unter chronischen Schmerzen leiden, muss die C.A. & Jaccard, J. (1996). Who develops PTSD from motor

Möglichkeit eines Missbrauchs von Analgetika vehicle accidents? Behavior Research and Therapy, 34, 1-
10.
beachtet werden. Es ist auch zu beachten und
Blanchard, E. B., Buckley, T. C., Hickling, E. H. & Taylor, A. E.
der Patient ist darauf hinzuweisen, dass der (1998). Posttraumatic stress disorder and comorbid major
Missbrauch von diesen Medikamenten die depression: \s the correlation an Illusion? Journal of Anxi-
Fahrtauglichkeit beeinträchtigt und dadurch ety Disorders, 12, 21-37.
das Risiko eines erneuten Unfalls und damit Burstein, A. (1989). Posttraumatic stress disorder in victims of
motor vehicle accidents. Hospital Community Psychiatry,
einer Retraumatisierung erhöht ist.
40, 295-297.
Ehlers, A. & Clark, D. M. (2000). A cognitive model of posttrau-
Weitere erschwerende Faktoren können prämor- matic stress disorder. Behavior Research and Therapy, 38,
319-345.
bide psychische Störungen und persistierende
Ehlers, A., Hofmann, S.G., Herda, C.A. & Rot, W.T. (1994). Clin-
körperliche Beeinträchtigungen sein. ical characteristics of driving phobia. Journal of Anxiety
Disorders, 8, 323-339.
Foa, E. B. & Rothbaum, B. 0. (1998). Treating the trauma of rape:
Cognitive-behavioral therapy for PTSD. New York: Guil-
Nach einem schweren Unfall kann es zu blei-
ford.
benden körperlichen Behinderungen kom- Foa, E. B., Riggs, D. S. & Gershuny, B. S. (1995). Arousal, numb-
men. ln diesem Fall muss über die Behandlung ing, and intrusion: Symptom Structure of PTSD following
der PTB und anderer psychischer Beschwerden assault. American Journal of Psychiatry, 152, 116-120.
hinaus der Krankheitsbewältigung und Adap- Frommberger, U., Nyberg, E., Stieglitz, R.-D. & Berger, M. (1997).

tation genügend Zeit eingeräumt werden. Psychotherapie und Psychopharmakatherapie in der Be-
handlung posttraumatischer Belastungsstörungen. ln C.
Mundt, M. Linden, W. Barnett (Hrsg.), Psychotherapie in
Letztlich können auch sich über Jahre hinziehen- der Psychiatrie. Wien, New York: Springer.
Hickling, E.J. & Blanchard, E.B. (1992). Post-traumatic stress
de juristische Auseinandersetzungen psychische
disorder and motor vehicle accidents. Journal of Anxiety
Störungen aufrechterhalten und somit die Be- Disorders, 6, 285-291 .
handlung von Unfallopfern erschweren. Hickling, E.J., Blanchard, E.B., Silverman, D.J . & Schwarz, S.P.
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Lit eratur 279 14
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disorder: two case studies. Behavior Therapy, 16, 406-416. Achse-l (SKID-1). Göttingen: Hogrefe.
15

R. Steil

15.1 Besonderheiten der Symptomatik der PTB


bei Kindern und Jugendlichen - 282
15.1. 1 Angemessenheit diagnostischer Kriterien - 283
15.1 .2 Differenzialdiagnose - 284
15.1.3 Prävalenz - 284
15.1 .4 Bedeutung von Geschlecht, Alter und Art
der Traumatisierung - 284
15.1.5 Komorbide Störungen - 285

15.2 Psychologische Modelle und Hypothesen


zu den Besonderheiten einer Traumatisierung
im frühen Lebensalter - 286
15.2.1 Psychebiologische und neuroendokrinalogische
Modelle -287
15.2.2 Die Rolle der Eitern - 288
15.2.3 Risikofaktoren - 289

15.3 Diagnostik der PTB im Kindes- und Jugendalter - 289

15.4 Interventionen - 291


15.4.1 Wirksamkeit - 291
15.4.2 Indikation, Ziele und Struktur der KBT - 297
15.4.3 Interventionen mit dem Kind - 298
15.4.4 Interventionen im Rahmen des Elterntrainings - 301

Literatur - 303
282 Kapitel 15 · Posttraumatische Belastungsstörungen bei Kindern und Jugendlichen

Obwohl die Forschung zeigt, dass die Folgen von Giaconia et al., 1995; Nader et al., 1993; Saigh,
Traumata um so stärker sind, je jünger der 1991). Vermutet wird, dass Kinder ab 3-4 Jahren
Mensch ist, der sie erlebt, gibt es wesentlich mehr von PTB betroffen sein können (Drell et al., 1993;
Studien zur posttraumatischen Belastungs- Scheeringa et al., 1995). Zu den grundlegenden
störung (PTB) bei Erwachsenen als solche bei Dimensionen der Symptomatik und den einzel-
Kindern. Posttraumatische Symptomatik äußert nen Symptomen wird an dieser Stelle auf Kap. 1
sich bei Kindern in anderer Weise als bei Erwach- dieses Buches verwiesen.
senen. Bei der Diagnostik und bei der Interventi-
on müssen die entwicklungsmäßigen Besonder-
heiten des Kindes- und Jugendalters bedacht wer- Besonderheiten der PTB-Symptomatik
den. Als beeindruckend wirksam hat sich bei bei Kindern und Jugendlichen
Kindern ein kognitiv-behaviorales Behandlungs-
Intrusionen äußern sich bei Kindern in einem
konzept erwiesen. Auch die in der Regel sehr
wenig lustvollen und wiederholten Nachspie-
schweren Folgen interpersoneller Gewalt können
len der traumatischen Situationen,
bei Kindern mit diesen Interventionen dauerhaft
somataforme Symptome wie Bauch- oder
gelindert bzw. geheilt werden.
Kopfschmerzen scheinen häufig aufzutre-
Das vorliegende Kapitel fasst den Wissens-
ten,
stand zu Diagnostik, Epidemiologie, Komorbidi-
das Kind entwickelt möglicherweise er-
tätsmustern und Risikofaktoren in Bezug auf eine
neut Angst vor der Dunkelheit, Monstern
PTB im Kindes- und Jugendalter auf der Basis
oder dem Alleinsein,
neuester empirischer Ergebnisse zusammen und neu auftretendes aggressives bzw. re-
thematisiert die zugrundeliegende Entwicklungs- gressives Verhalten (Verlust prätrauma-
psychopathologie. Im zweiten Teil wird ein kog- tisch schon erworbener Fähigkeiten in den
nitiv-behaviorales Konzept der Behandlung der Bereichen Sprache oder Kontinenz) wird
PTB im Kindes- und Jugendalter im Überblick beobachtet,
dargestellt, welches auf seine Wirksamkeit hin selbstschädigendes Verhalten wie z. B.
überprüft wurde und als empirisch wohlfundiert Drogenmissbrauch oder auch Automuti-
gelten kann. Die empirischen Ergebnisse der lation kann im Sinne einer Selbstmedika-
Wirksamkeitsforschung zur kognitiv-behaviora- tion bzw. im Sinne eines Spannungs-
len Therapie (KBT) der PTB werden kurz zusam- abbaus ähnlich wie bei der Borderline-
mengefasst und diskutiert. Persönlichkeitsstörung auftreten,
möglicherweise zeigt das Kind eine ver-
kürzte Zukunftsperspektive (»Ich werde
15.1 Besonderheiten der Symptomatik sowieso nie die Schu le beenden, nie eine
der PTB bei Kindern Partnerschaft haben, nie heiraten, nie
und Jugendlichen Kinder bekommen ... « etc.).

Die posttraumatische Belastungsstörung (PTB)


ist eine gravierende psychische Störung, die bei
Kindern und Jugendlichen nach besonders belas- Die posttraumatische Symptomatik führt zu er-
tenden Erlebnissen wie z. B. Naturkatastrophen, heblicher Beeinträchtigung in Sozialkontakten,
Unfällen sowie dem Erleben sexueller oder nicht- Familie oder Schule. Häufig folgen auch sekundä-
sexueller Gewalt auftreten kann (Heemann et al., re und andauernde Stressoren (wie der Verlust
1998; Pfefferbaum, 1997; Pynoos et al., 1996; von Angehörigen, schmerzhafte medizinische Be-
Schepker, 1997; Steil & Straube, 2002). Auch die handlungen, körperliche Entstellung, Umzug und
verbale Vermittlung eines solchen Ereignisses Verlust der vertrauten Umgebung). Auch eine
scheint bei Jugendlichen und Kindern eine PTB erhöhte Inzidenz körperlicher Krankheiten kann
auslösen zu können (z. B. Nachricht/Fotografien sich infolge einer Traumatisierung bzw. komor-
vom gewaltsamen Tod eines Familienmitglieds; bid zu einer PTB einstellen.
15.1 · Besonderheiten der Symptomatik der PTB bei Kindern und Jugendlichen 283 15
15.1.1 Angemessenheit durch Verhaltensbeobachtung gewährleisten,
diagnostischer Kriterien z.B.:
- Posttraumatisches, kompulsives und wieder-
Die PTB-Kriterien wurden auf der Basis der kehrendes Spiel, welches nicht zu einer Min-
Symptomatik Erwachsener entwickelt - spiegeln derung von Angst beiträgt und weniger ela-
sie in angemessener Weise die komplexen Reak- boriert und imaginativ ist als andere Spiele
tionen im Kindes- und Jugendalter wieder? Das (statt wiederkehrende Erinnerungen an das
DSM-IV spezifiziert, im Gegensatz zur ICD-10 Ereignis, Bl),
(Dilling et al., 1993), einige Besonderheiten der - Episoden mit objektiven Kennzeichen von
PTB-Symptomatik (nicht der akuten Belastungs- Flashbacks oder Dissoziation (statt handeln
störung) im Kindesalter - jedoch nur beim sub- oder fühlen, als ob das Trauma wiedergekehrt
jektiven Erleben des Traumas, den Intrusions- sei, B3),
symptomen und der emotionalen Taubheit (vgl. - Einschränkung des Spielverhaltens (statt ver-
Saß et al., 1994). Bei Kleinkindern manifestiert mindertem Interesse an Aktivitäten, die vor
sich die Belastung wahrscheinlich vorwiegend der Traumatisierung wichtig waren, C4),
in Störungen des Affekts, in einer Dysregulation - sozialer Rückzug (statt des Gefühls der Ent-
des Essens, des Schlafens oder des Sozialverhal- fremdung von anderen, C5),
tens (Bingham & Harmon, 1996). - nächtliche Furcht, Probleme mit dem Ein-
Scheeringa et al. (1995) bezweifeln die Sensi- schlafen und nächtliches Erwachen (statt Ein-
tivität der DSM-IV-Kriterien bei Kindern unter 4 und Durchschlafschwierigkeiten, Dl).
Jahren und schlagen veränderte, an deren Ent-
wicklungsstand angepasste Kriterien vor, die sie Auch fügen Scheeringa et al. (1995) einige Symp-
aus Falldarstellungen ableiteten. Aufgrund der li- tome wie Verlust von Fähigkeiten in den Berei-
mitierten kognitiven und sprachlichen Fähigkei- chen Sprache und Kontinenz sowie eine Symp-
ten in früher Kindheit und der mangelnden Zu- tomgruppe von nach der Traumatisierung neu
gänglichkeit für eine Verhaltensbeobachtung stel- auftretenden Ängsten oder Aggression hinzu
len die Autoren die Brauchbarkeit von 6 DSM-IV- (z. B. Trennungsangst, Angst vor der Dunkelheit
Kriterien in Frage: oder anderen, nicht traumarelevanten Dingen
- Al: oder Situationen). Aus den neu entstandenen
Das subjektive Erleben des Traumas mit Symptomgruppen muss, so die Autoren, nur je-
Furcht, Hilflosigkeit und Entsetzen weils ein Symptomkriterium erfüllt sein. Die
- Cl, C2: überprüfung des neuen Kriteriensets und der
Bemühungen, mit dem Trauma verknüpfte Vergleich mit denen des DSM-IV durch 4 unab-
Gedanken, Gefühle, Aktivitäten, Orte oder hängige Rater anband von 12 Fallvignetten trau-
Menschen zu vermeiden matisierter Kleinkinder (in 7 Fällen erlitten die
- C3: Kinder Zeugenschaft bei Homizid, des Weiteren
Unfähigkeit, sich an wichtige Aspekte der sexueller Missbrauch und Unfälle) ergab für die
Traumatisierung zu erinnern neuen Kriterien eine größere Interraterüberein-
- C7: stimmung sowie eine größere Häufigkeit der Di-
Gefühl einer verkürzten Zukunft agnose PTB (im Schnitt 69% vs. 13%). Detaillier-
F: tere empirische Daten zu Unterschieden in der
klinisch bedeutsame Beeinträchtigung in Symptomatik im Altersverlauf existieren jedoch
wichtigen Lebensbereichen. leider noch nicht. Zusammenfassend erscheint
es notwendig, die Symptomatik der kindlichen
Unverändert übernehmen sie das objektive Trau- PTB genauer zu erforschen und die Kriteriensets
makriterium (Al), Hypervigilanz (D4) und über- des DSM und natürlich auch der ICD entspre-
steigerte Schreckhaftigkeit (D5). Für die verblei- chend anzupassen.
benden DSM-IV-Kriterien schlagen sie Verän-
derungen vor, welche eine Diagnostizierbarkeit
284 Kapitel 15 · Posttraumatische Belastungsstörungen bei Kindern und Jugendlichen

15.1.2 Differenzialdiagnose 93% zumindest ein traumatisches Ereignis be-


richteten; 32% erfüllten die Kriterien einer PTB
Differenzialdiagnostisch muss die PTB unter- nach DSM-III-R.
schieden werden von affektiven Störungen, von Etwa 7,3% (Essau et al., 1999; Diagnostik
anderen Angststörungen, von psychotischen nach DSM-IV) bzw. 14,5% (Giaconia et al., 1995;
Störungen wie die Borderline-Persönlichkeits- Diagnostik nach DSM-III-R) aller Jugendlichen
störung, die ebenfalls in der Folge eines Traumas erkrankten nach einer Traumatisierung an PTB.
auftreten können, sowie von der Anpassungs- Ältere Jugendliche mit niedrigem sozioökono-
störung und den Folgen von Kopfverletzungen. mischen Hintergrund haben insgesamt ein höhe-
Lang anhaltende Symptome wie Irritabilität, res Risiko der Traumatisierung als ältere Jugend-
Angst etc. im Kontext von Kopfverletzungen soll- liche mit einem höheren sozioökonomischen
ten jedoch auf eine psychische Verursachung hin Hintergrund (Giaconia et al., 1995). Für Trauma-
überprüft werden. tisierung durch interpersonelle oder sexuelle Ge-
walt trifft dies aber nicht zu.
Kinder mit einer bestimmten prätraumati-
15.1.3 Prävalenz schen Psychopathologie haben möglicherweise
auch ein erhöhtes Traumatisierungsrisiko. So
Zunächst ist anzumerken, dass verlässliche epi- könnten z. B. Kinder mit Aufmerksamkeitsdefi-
demiologische Daten für Kinder unter 12 Jahren zit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS), mit Störun-
fehlen. Bei Jugendlichen wurden dagegen ver- gen des Sozialverhaltens oder mit Substanzabu-
schiedene epidemiologische Studien durchge- sus häufiger Traumatisierung erleben als gesunde
führt: Kinder. Damit stimmt die mit 30% sehr hohe Le-
- Essau et al. {1999) fanden in einer großen epi- benszeitprävalenz von PTB bei einer Gruppe von
demiologischen Studie bei Jugendlichen im 15- bis 19-jährigen mit Substanzabhängigkeit
Alter zwischen 12 und 17 Jahren (N=1035) überein (Deykin & Bulka, 1997).
im deutschsprachigen Raum (Bremen) eine
Lebenszeitprävalenz der PTB von 1,6% (Diag-
nostik nach DSM-IV). 15.1.4 Bedeutung von Geschlecht, Alter
- Cuffe et al. (1998) fanden nach DSM-IV eine und Art der Traumatisierung
Lebenszeitprävalenz von 3,5% bei 16-22-jäh-
rigen amerikanischen Jugendlichen (N = 490 ). Geschlecht. Generell berichteten in der Bremer
- Höhere Lebenszeitprävalenzen wurden bei Jugendstudie bedeutsam mehr Jungen als Mäd-
21- bis 30-jährigen bzw. 18-jährigen Amerika- chen von traumatischen Erlebnissen (28,5% vs.
nern bei Diagnostik nach DSM-III-R fest- 18,4%), Mädchen hingegen berichteten bedeut-
gestellt (9,2%, Breslau et al., 1991; 6,3%, Gia- sam häufiger das Erleben sexueller Gewalt als
conia et al., 1995). Jungen (Essau et al., 1999). Vergleichbare Ge-
schlechterunterschiede bezüglich des Erlebens
Die Lebenszeitprävalenz einer Traumatisierung sexueller Gewalt fanden auch Giaconia et al.
lag in der deutschen Studie bei 22%. Cuffe et al. {1995) bei älteren Jugendlichen. Ein Geschlech-
(1998) fanden bei ihrer amerikanischen Stichpro- terunterschied in der Prävalenz der Traumatisie-
be sehr geringe Lebenszeitprävalenzen für eine rung allgemein zeigte sich in epidemiologischen
Traumatisierung von nur 15% - sie räumen je- Studien an älteren Jugendlichen und jungen Er-
doch ein, dass ihre Art der Diagnostizierung hier wachsenen in Amerika jedoch nicht (Giaconia
zu einer Unterschätzung geführt haben könnte. et al., 1995; Kessler et al., 1995).
Unter psychiatrischen stationären adoleszenten Sowohl bei der Lebenszeitprävalenz als auch
Patienten scheint die Prävalenz einer Traumati- der Inzidenz der PTB finden sich deutliche Ge-
sierung besonders hoch zu sein: So fanden Lip- schlechterunterschiede: In den amerikanischen
schitz et al. (1999), dass von 74 in einer psychi- Stichproben wiesen deutlich mehr Mädchen als
atrischen Klinik hospitalisierten Jugendlichen Jungen bzw. Frauen als Männer die Lebenszeit-
15.1 · Besonderheiten der Symptomatik der PTB bei Kindern und Jugendlichen 285 15
diagnose PTB auf (10,5% vs. 2,1 o/o, Giaconia et al., sehen 11 und 17 Jahren konnten Boney-McCoy &
1995; 10,4% vs. So/o, Kessler et al., 1995; 3o/o vs. 1o/o Finkelhor (1996) die besonders schwerwiegenden
bei Cuffe et al., 1998). Essau et al. (1999) zeigten, Folgen sexueller Gewalt replizieren. Besonders
dass die Lebenszeitprävalenz der PTB für 12- bis maligne Auswirkungen hat dabei sexuelle Gewalt
17-jährige Mädchen etwas -statistisch allerdings durch eine vertraute Person (vgl. King et al.,
nicht bedeutsam - höher lag als für gleichaltrige 1999; McLeer et al., 1992).
Jungen (1,8% vs. 1,4%). Amerikanische Studien Ein physischer Angriff oder Zeuge werden,
berichten dagegen, dass nach einer Traumatisie- wie jemand getötet oder verletzt wird bargen
rung Mädchen bzw. junge Frauen sehr viel häufi- ebenfalls ein hohes Erkrankungsrisiko: 23o/o bzw.
ger eine PTB ausbildeten als Jungen bzw. junge 24o/o der Betroffenen entwickelten hierbei eine
Männer (18-Jährige: 10,5% vs. 2,1 o/o, Giaconia et PTB (Giaconia et al., 1995; vgl. Cuffe et al., 1998).
al., 1995; 15- bis 24-Jährige: 10,3% vs. 2,8%, Kess- Boney-McCoy und Finkelhor (1995) fanden in ei-
ler et al., 1995; vgl. auch Deykin & Buka, 1997). ner großen, repräsentativen nationalen Studie an
Konsistent mit diesen Befunden sind die der Ar- 2000 amerikanischen Jugendlichen zwischen 10
beitsgruppe um Cuffe et al. (1998): Auch hier war und 16 Jahren, dass schwerwiegende Angriffe
weibliches Geschlecht in einer Regressionsana- durch Fremde oder durch die Eltern und versuch-
lyse ein wichtiger Prädiktor für die Ausbildung te Entführung ähnlich schwerwiegende Folgen
einer PTB nach Traumatisierung. hatten wie sexuelle Gewalterfahrungen. Nicht ver-
gessen werden darf, dass auch physischer Miss-
brauch von Kindern mit hoher Wahrscheinlich-
Dieser Unterschied ist nur zum Teil zu erklären keit zur Ausbildung einer PTB führt. Duhner &
durch die bei Mädchen und jungen Frauen Motta (1999) berichten aus einer Untersuchung
größere Häufigkeit der Traumatisierung durch von sexuell missbrauchten, physisch missbrauch-
interpersonelle oder sexuelle Gewalt: Bei ver- ten und nicht traumatisierten Pflegekindern (je-
gleichbarer Traumatisierung berichten Jungen weils n =50), dass 42o/o der physisch missbrauch-
generell weniger posttraumatische Sympto- ten Kinder unter einer PTB litten, im Vergleich zu
matik nach einer Traumatisierung als Mäd- 64o/o der sexuell missbrauchten Kinder.
chen.

Alter. Das Erkrankungsrisiko nahm sowohl bei Multiple Traumatisierung erhöht bei Kindern
Studien an Erwachsenen als auch bei Studien das Risiko der Ausbildung einer PTB (Deykin &
an Jugendlichen und Kindern mit steigendem Le- Buka, 1997); auch mit der Intensität der Trau-
bensalter zum Zeitpunkt der Traumatisierung ab matisierung steigt das Risiko, an PTB zu er-
(Ellis et al., 1998; Essau et al., 1999; Kessler et al., kranken (vgl. Nader et al., 1990). Die »Dosis«
1995; Shannon et al., 1994; Duhner & Motta, des traumatischen Stressors, z. B. bei Pynoos et
1999). Systematische Studien bei Kindern unter al. (1987) die Nähe des Kindes in einem
6 Jahren stehen jedoch noch aus. Schulgebäude zu dem Raum, in dem ein
schweres Attentat geschah, zeigt üblicher-
weise bedeutsame, aber meist moderate
Art der Traumatisierung. Das Erleben sexueller Assoziationen mit der PTB.
Gewalt birgt generell ein gegenüber anderen For-
men der Traumatisierung 6-7fach höheres PTB-
Risiko: 80o/o bzw. 50o/o aller betroffenen älteren 15.1.5 Komorbide Störungen
Jugendlichen oder jungen Erwachsenen erkrank-
ten nach dem Erleben sexueller Gewalt an PTB Komorbid tritt eine PTB bei Kindern mit interna-
(Breslau et al., 1991; Giaconia et al., 1995; vgl. lisierenden und externalisierenden Verhaltens-
auch Cuffe et al., 1998). Auch in einer prospekti- problemen, schlechterer schulischer Leistung,
ven Studie an einer repräsentativen amerikani- Suizidgedanken und Suizidversuchen, interper-
schen Stichprobe von 1433 Kindern im Alter zwi- sonellen Schwierigkeiten und körperlichen Be-
286 Kapitel 15 · Posttraumatische Belastungsstörungen bei Kindern und Jugendlichen

schwerden auf (Giaconia et al., 1995; Goenjian et Vertrauen etc.) eine Traumatisierung möglicher-
al., 1995). Depression, Drogenmissbrauch und weise besonders maligne Folgen (vgl. Pynoos et
somataforme Störungen bestehen bei ca. 20% al., 1995, 1996). Dies könnte die hohe Vulnerabi-
der betroffenen Kinder und Jugendlichen komor- lität im Kindes- und Jugendalter für die Entwick-
bid zur PTB und verursachen ihrerseits eine er- lung einer PTB erklären. Die mit den Intrusionen
hebliche Belastung (Essau et al., 1999). Die PTB- auftretende Belastung beantworten die Patienten
Symptome können als Symptome anderer üblicherweise mit dem Einsatz von Strategien
Störungen imponieren, z. B. chronische über- zur Beendigung oder Kontrolle der Erinnerungen
erregtheit als motorische Hyperaktivität oder ge- wie z. B. Gedankenunterdrückung oder Grübeln,
ringe Impulskontrolle und Aggression als opposi- welche ihrerseits wiederum in einer Art Teufels-
tionelles Trotzverhalten (vgl. Perrin et al., 2000). kreis zur Aufrechterhaltung der Symptomatik
Giaconia et al. (1995) fanden retrospektiv, beitragen (s. Kap. 5). Diese kognitiven Faktoren
dass 30% der Jugendlichen mit der Lebenszeit- prädizieren auch bei Kindern die Schwere der
diagnose PTB im letzten Jahr vor der Befragung PTB-Symptomatik (vgl. Pynoos et al., 1987;
an einer Major Depression, 38% an einer Alko- Schwarz & Kowalski, 1991; Wolfe et al., 1994; Yule
holabhängigkeit litten. Die Befunde implizieren, & Williams, 1990). Steilet al. (2001) fanden z.B.
dass Drogenmissbrauch sowohl eine Risikovari- in einer prospektiven Untersuchung an 24 Kin-
able für Traumatisierung und Entwicklung einer dern, die einen Verkehrsunfall erlitten hatten,
PTB darstellt als auch infolge einer Traumatisie- dass 2 Monate post Trauma die Ratings der Kin-
rung als Selbstmedikation auftritt. Eine Major der zu ihrem Einsatz von Strategien kognitiver
Depression entwickelte sich in einer Längs- Kontrolle der Intrusionen (z. B. Gedankenunter-
schnittstudie an kindlichen Erdbebenopfern in drückung, Grübeln) und zum Ausmaß dysfunk-
der Mehrheit der Fälle (70%) zeitgleich mit der tionaler Kognitionen zum Unfall und seinen Fol-
bzw. folgend auf die PTB (Giaconia et al., 1995). gen 50% der Varianz der PTB-Schwere erklärten
Die PTB wurde als Risikofaktor für das Einsetzen und somit hohen Vorhersagewert hatten.
einer sekundären Depression identifiziert (Goen- Ehlers & Clark (2000) vermuten, dass eine
jian et al., 1995). persistierende PTB entsteht, wenn die traumati-
sche Erinnerung nur ungenügend elaboriert
und ungenügend in einen autobiographischen
15.2 Psychologische Modelle und Kontext eingeordnet wird. Eine unangemessene
Hypothesen zu den Besonderheiten Verarbeitung ist um so wahrscheinlicher, je weni-
einer Traumatisierung im ger der Betroffene in der Lage ist, zu konzeptua-
frühen Lebensalter lisieren und zu verstehen, was passiert (vgl. Usher
& Neisser, 1993; Brewin et al., 1993).
Generelle Modelle der Psychopathologie der PTB
wurden bereits in Kap. 1 dieses Buches ausführ-
lich beschrieben. In behavioralen Modellen wird
Auf diese Weise lässt sich möglicherweise die
die PTB als klassisch konditionierte emotionale
negative Assoziation zwischen Alter und Risiko
Reaktion betrachtet, welche durch negative Ver-
der Entwicklung einer PTB nach Traumatisie-
stärkung (Vermeidung) aufrechterhalten bleibt.
rung erklären: Die Fähigkeit, vollständige und
In kognitiven Modellen wird die Bedeutung und akkurate Narrationen über positive oder ne-
Interpretation der traumatischen Geschehnisse gative Ereignisse zu geben, deren Grundlage
in den Mittelpunkt gestellt. Dysfunktionale Sche- eine angemessene, konzeptgesteuerte Daten-
mata bilden sich durch das Trauma aus bzw. prä- verarbeitung ist, wächst ja erst mit der Ent-
traumatisch existierende unangemessene Sche- wicklung von Sprache, kausalem und zeitli-
mata werden konsolidiert. chem Verständnis, Wahrnehmung und
Bei Kindern und Jugendlichen hat in der Pha- Selbstwahrnehmung (vgl. Pillemer, 1998).
se der Bildung wichtiger kognitiver Schemata
(über persönliche Sicherheit, interpersonelles
15.2 · Psychologische Modelle und Hypothesen 287 15
15.2.1 Psychobiologische und Modellen der PTB nicht genügend Beachtung fin-
neuroendokrinalogische Modelle det. Sie bedenken in einem entwicklungspsycho-
logischen Modell (Pynoos et al., 1995} eine Fülle
Psychobiologische und neuroendokrinologische von Vulnerabilitäts- und Schutzfaktoren bezüg-
Modelle (vgl. Southwick et al., 1997} beruhen lich posttraumatischer Symptomatik bei Heran-
auf Befunden zu Dysregulationen in glutamater- wachsenden (s. Übersicht).
gen, noradrenergen, Serotonergen und neuroen-
dokrinen Systemen. Diese biologischen Verän-
derungen führen zu strukturellen und funktiona- Mögliche Vulnerabilitäts- und Schutz-
len Abnormalitäten, welche sich in den Sympto- faktoren posttraumatischer Symptome
men der PTB manifestieren. Zusammenfassend (nach Pynoos et al., 1995)
lässt sich zu den biologischen Befunden sagen, Die Interaktion zwischen intrinsischen
dass die PTB gekennzeichnet ist durch eine Inter- (Alter, Geschlecht, Persönlichkeit) und
aktion aus erniedrigtem Kortisolspiegel, erhöh- extrinsischen Faktoren (z. B. elterliche Psy-
tem Noradrenalinspiegel und erhöhten Spiegeln chopathologie, elterliche Traumatisierung
der Schilddrüsenhormone. Mit Hilfe dieses Mus- und posttraumatische Symptomatik, Er-
ters konnte man empirisch zu 100% zwischen Pa- ziehungsstil, Familienklima, Peers, sozio-
tienten mit und ohne PTB diskriminieren (Yehu- ökonomischer Status), die zu verschiede-
da, 1998}. nen Zeiten der Entwicklung ein hohes
In welcher Weise die besondere neuroendo- oder niedriges Traumatisierungsrisiko des
krinologische Situation während und infolge Kindes bedingt wie auch die Anpassung
von Traumatisierung sich auf die kindliche biolo- des Heranwachsenden nach singulärer
gische Entwicklung auswirken kann, wurde bis- Traumatisierung beeinflussen kann. So
lang nur in wenigen Studien untersucht (vgl. De- kommen Rind et al. (1998) in einer viel
Bellis et al., 1994; Lipschitz et al., 1998). Das sich diskutierten Metaanalyse zu den Folgen
entwickelnde Gehirn ist vulnerabel bezüglich sexuellen Kindesmissbrauches bei
Umwelteinflüssen. Zwar erreicht das Hirn mit 3 Collegestudierenden zu der Schlussfolge-
Jahren 90% seiner endgültigen Größe, der größte rung, dass das jeweilige Familienklima ei-
Teil seiner Differenzierung (Formation, Stabilisa- nen großen Teil der Varianz psychischer
tion oder auch Eliminierung von Synapsen) fin- Symptomatik in der Folge des Missbrau-
det jedoch in Kindheit und Jugend statt. ches erklärt.
In einer Humanstudie fanden sich Hinweise Die Interaktion zwischen verschiedenen
darauf, dass lebensgeschichtlich frühe Traumati- Stadien der kognitiven und emotionalen
sierung (wie z. B. durch sexuellen Missbrauch) Entwicklung, der Entwicklung der Moral
durch persistierende Sensibilisierung zentraler sowie der interpersonellen Beziehungen
CRH-ausschüttender Neuronen zu einer in der des Heranwachsenden und der Wahrneh-
Folge erhöhten Vulnerabilität für stressabhängige mung und Interpretation traumatischer
Erkrankungen führt (vgl. Heimet al., 1997). Glu- Geschehnisse.
kokortikoide sind wichtig für die Interaktion Sekundäre Stressoren gesellschaftlicher,
zwischen Genen und Umwelt. Wiederholte oder familiärer oder individueller Art, welche
sich aus der Traumatisierung ergeben.
anhaltende Traumatisierung könnte die Gen-
expression beeinflussen, die die Verbindungen
zwischen Neuronen und deren Wachstum steuert.
Auf diese Weise könnte sich eine lebensgeschicht- Detailliert wird die Bedeutung dieser Faktoren in
lich frühe Traumatisierung ganz besonders malig- verschiedenen Entwicklungsstadien ausgeführt.
ne auf die Entwicklung eines Kindes auswirken. Wiederum integrieren die Autoren aber nicht
Pynoos et al. (1995, 1996) kritisieren zu die allgemeinen Hypothesen und Befunde zur
Recht, dass die Interaktion zwischen Entwicklung PTB - umfassende entwicklungspsychopatholo-
und Traumatisierung bislang in den allgemeinen gische Modelle stehen noch aus.
288 Kapitel 15 · Posttraumatische Belastungsstörungen bei Kindern und Jugendlichen

15.2.2 Die Rolle der Eltern & Ehlers, 2000) die Symptome der PTB direkt
verschlimmern kann bzw. die Auseinanderset-
Eltern und Pflegepersonen spielen als wichtige zung mit dem Trauma unterbindet: So erhöht Ge-
Interaktionspartner und Modelle für adaptives dankenunterdrückung z. B. die Auftretenswahr-
oder dysfunktionales Coping bei der posttrauma- scheinlichkeit der unerwünschten Gedanken. Zu
tischen Anpassung Heranwachsender eine ent- erwarten ist, dass dysfunktionale Kognitionen
scheidende Rolle. der Eltern zum Trauma, zu seinen Folgen und
zu seiner Bewältigung für die Entwicklung post-
traumatischer Symptomatik beim Heranwach-
senden von Bedeutung sind. Ellis et al. (1998)
So leiten Kinder z.B. die Interpretation des
fanden bei 40% der von ihnen untersuchten 45
traumatischen Geschehens und seiner Folgen
Kinder nach einem Verkehrsunfall, dass die El-
auch aus den Reaktionen der nahen Bezugs-
tern eine erhöhte Protektivität gegenüber dem
personen ab. Die Eitern vermitteln dem Kind
Kind zeigten. Wollen die Eltern z. B. das Kind
emotiona le Sicherheit und strukturelle Stabi-
vor den belastenden Erinnerungen oder auf über-
lität. Sind z. B. die Eitern eines Kindes, welches
steigerte Weise vor erneuter Gefahrdung
sexuellen Missbrauch erlebt hat, nicht in der
schützen, tragen sie u. U. zur Aufrechterhaltung
Lage, mit dem Kind darüber zu kommunizie-
der dysfunktionalen Vermeidung traumarelevan-
ren, fühlt sich das Kind mög licherweise ab-
ter Reize bei (vgl. Deblinger et al., 1990). Bei 7-
gelehnt und herabgewürdigt. Kompensieren
bis 15-jährigen Opfern eines Verkehrsunfalls trug
die Eitern dagegen nach einem Verkehrsunfall
ihr eigenes Schuldgefühl dadurch, dass sie das
das Ausmaß des durch das Kind bzw. den Jugend-
Kind verwöhnen, so fühlt das Kind sich
lichen wahrgenommenen angstfördernden elter-
möglicherweise inkompetent und »krank«,
lichen Verhaltens wie das Ausmaß dysfunktiona-
obwohl es eine gute Anpassung an das Trau-
ler Kognitionen beim befragten Elternteil wesent-
ma zeigt. lich zur Aufklärung der Varianz der Schwere der
posttraumatischen Symptomatik bei (Steil, 2001).
Ähnliche Befunde berichten Deblinger et al.
Eltern können hilfreiche und schädliche Strate- {1999b) bei Kindern nach sexuellem Missbrauch.
gien des Kindes im Umgang mit der traumati- Auch in anderen Studien war elterliches Vermei-
schen Erinnerung zudem systematisch verstär- dungsverhalten in Bezug auf das Trauma mit ei-
ken. Über ungünstiges Modelllernen bzw. andere ner erhöhten PTB-Symptomatik beim Kind asso-
von den Eltern ausgehende ungünstige Lernstra- ziiert (vgl. Bat-Zion & Levy-Shiff, 1993; Laor et
tegien können z. T. (neben genetischen Hypothe- al., 1997; Stuber et al., 1991).
sen) Befunde zur Assoziation elterlicher und Haben Eltern und Kinder gemeinsam eine
kindlicher Psychopathologie nach einem Trauma Traumatisierung erlebt, scheinen die Eltern, die
erklärt werden. Deblinger et al. (1997 a, 1999 b) selbst eine PTB entwickeln, weniger erfolgreich
fanden z. B. bei Kindern, die sexuellen Miss- ihre Kinder bei der Bewältigung der Folgen un-
brauch erlebt hatten, dass mütterliche Ratings terstützen zu können (vgl. McFarlane, 1987; Laor
zu externalisierenden Symptomen des Kindes et al., 1997; Rossman et al., 1997; Sack et al.,
und die kindliche PTB-Symptomatik um so 1994). Das Alter des Kindes könnte dabei den Zu-
höher waren, je stärker die Mütter eigene all- sammenhang zwischen mütterlicher und kindli-
gemeine psychopathalogische Symptome (beson- cher Psychopathologie in der Folge einer Trau-
ders Depressivität) erlebten. Vom Kind erlebte matisierung moderieren. Wolmer et al. (2000)
mütterliche Zurückweisung war mit der Schwere fanden bei einer prospektiven Studie zu den Fol-
depressiver Symptome beim Kind verknüpft. gen von Angriffen mit SCUD-Raketen auf die is-
Hinreichend empirisch gesichert ist, dass der raelische Bevölkerung während des Golfkriegs ei-
Einsatz von Strategien zur Kontrolle der Intrusio- ne Assoziation zwischen der kindlichen PTB-
nen wie z. B. Grübeln oder Gedankenunter- Symptomatik und der mütterlichen Psychopatho-
drückung (Ehlers & Steil, 1995; Steil, 1997; Steil logie, welche besonders hoch bei 6-jährigen, ge-
15.3 · Diagnostik der PTB im Kindes- und Jugendalter 289 15
ringer bei ?-jährigen und nicht mehr statistisch sich für die Risikofaktoren einer PTB im Kindes-
bedeutsam bei 8-jährigen Kindern war. und Jugendalter. Als bedeutsam erwiesen sich z. B
Möglicherweise nimmt der Kommunikations- - die vom Kind subjektiv empfundene Lebens-
stil der Eltern mit dem Kind Einfluss auf das bedrohlichkeit (Steilet al., 2001; Aaron et al.,
kindliche autobiographische Gedächtnis (vgl. 1999; Schwarz & Kowalski, 1991 b),
Tessler & Nelson, 1994): So könnten - sobald - das Ausmaß akuter Belastungsstörung (vgl.
das Kind die dafür notwendigen sprachlichen Fä- Daviss et al., 2000) sowie
higkeiten erworben hat - ein elterlicher elabora- - kognitive Faktoren wie die peritraumatisch
tiver Kommunikationsstil und aktive Anstren- subjektiv wahrgenommene Lebensbedrohung
gungen, das traumatische Geschehen für das oder die Attribution eigener Schuld (Aaron et
Kind verstehbar zu machen, die Einbettung al., 1999; Steil, 2001; Schwarz & Kowalski,
stressvoller Ereignisse in das autobiographische 1991 b; Wolfe et al., 1994).
Gedächtnis bzw. eine konzeptgesteuerte Daten-
verarbeitung fördern.
15.3 Diagnostik der PTB
im Kindes- und Jugendalter

15.2.3 Risikofaktoren Bei der Diagnostik der Folgen einer Traumatisie-


rung beim Kind gilt es 3 Bereiche zu berücksich-
Brewin et al. (2000) analysierten in einer äußert tigen:
umfassenden Metaanalyse Risikofaktoren für die - Das prätraumatische Funktionsniveau des
Entwicklung posttraumatischer Symptomatik Kindes,
bei Erwachsenen. Das Risiko der Ausbildung ei- - das traumatische Ereignis selbst und
ner PTB nach einer Traumatisierung war hier - dessen Folgen für das Kind und seine Umwelt.
deutlich assoziiert mit
- weiblichem Geschlecht, Alle verfügbaren Informationsquellen sollen hier-
- niedrigem sozioökonomischem Niveau, bei genutzt werden: Kind und Eltern, Lehrer, Ver-
- geringerer Bildung und geringerer Intelligenz haltensbeobachtung in der Schule oder im häus-
sowie lichen Umfeld, medizinische Akten und Informa-
- einer Geschichte prätraumatischer Psycho- tionen sowie Berichte von Zeugen (Thornton,
pathologie. 2000). Zur Klärung der Diagnose PTB wird bei
Kindern generell der Einsatz von strukturierten
Letzteres sowie das Vorliegen psychischer Interviews empfohlen (Nader, 1997). Symptome
Störungen in der Familie erwies sich als konsis- wie Intrusionen können nur aus der subjektiven
tent bedeutsam über alle Studien und Formen Sicht des Kindes erfasst werden; besser objekti-
der Traumatisierung hinweg. Generell bedeutsam vierbare Symptome wie erhöhte Irritabilität oder
sind aktuelle und vorausgehende psychische Er- Aggressivität, Ängstlichkeit oder regressives Ver-
krankungen der Eltern. Steil et al. (2001) fanden halten sind auch einer Fremdbeurteilung durch
z. B. in einer prospektiven Studie an 7- bis 16-jäh- Eltern, Lehrer oder den Diagnostiker zugänglich.
rigen Opfern von Verkehrsunfällen, dass eine Eltern und Lehrer neigten in empirischen Studien
dem Trauma vorausgehende psychische Störung dazu, die Belastung der Kinder im Vergleich zu
des Elternteils, der am meisten Zeit mit dem Kind deren eigenen Angaben grob zu unterschätzen
verbrachte, den diagnostischen Status des Kindes (Korol et al., 1999; Martini et al., 1990; Sacket al.,
2 Monate post Trauma prädizierte. 1994). Kinder scheinen mehr internalisierende
Die stärksten Assoziationen zeigten ins- Probleme zu berichten als ihre Eltern, die Eltern
gesamt Faktoren, die während oder nach der mehr externalisierende Probleme als das Kind.
Traumatisierung lokalisierbar waren, wie die Bei sexueller Gewalt spielt offensichtlich auch
Schwere der Traumatisierung und das Ausmaß die von den Eltern eingeschätzte Glaubwürdigkeit
sozialer Unterstützung. Ein ähnliches Bild ergibt des Kindes eine Rolle: Mütter gaben die PTB-
290 Kapitel 15 · Posttraumatische Belastungsstörungen bei Kindern und Jugendlichen

Symptomatik des Kindes um so höher an, je


glaubwürdiger sie die Äußerungen des Kindes gegenwärtige allgemeine psyche-
fanden (Deblinger et al., 1997 a). Dies zeigt, wie pathologische Symptomatologie,
wichtig eine umfassende Anamnese bei Kind Bestimmung des Schweregrades
und Eltern sowie die Befragung des Kindes selbst durch Einschätzung der Eitern,
ist. Problematisch ist auch, dass Kinder es sehr psychische Erkrankungen in der bio-
schwierig finden können, über das Erlebte und logischen Herkunftsfamilie des Kindes,
ihre psychischen Symptome zu sprechen - sie demographische Informationen,
wollen die Eltern oder die Familie nicht belasten medizinische Anamnese,
(Perrin et al., 2000; Deblinger et al., 1997b). Verhalten und Entwicklung des Kindes
Einen umfassenden Überblick über interna- auf motorischem, kognitivem, sozia-
tional gebräuchliche Diagnoseinstrumente liefert lem und emotionalem Gebiet.
Nader (1997; vgl. auch McNally, 1991). In der Periphere Aspekte:
nachfolgenden Übersicht ist ein Diagnoseleitfa- elterliche Sicht der Traumatisierung.

den zusammengestellt. Es empfiehlt sich, Eltern Erhebungen ausschließlich aus anderen


und Kinder getrennt zu befragen und die Infor- Quellen
mationen von beiden zu integrieren. Zentrale Aspekte:
medizinische Anamnese,
Verhalten und Entwicklung des Kindes
Diagnoseleitfaden (in Anlehnung an auf motorischem, kognitivem, sozia-
March et al., 1997; Perrin et al., 2000; lem und emotionalem Gebiet.
Thornton 2000) Periphere Aspekte:

Erhebungen ausschließlich beim Kind soziale Unterstützung, die das Kind

Zentrale Aspekte: erhält,

gegenwärtige und frühere Diagno- soziale Fertigkeiten des Kindes.

se(n) des Kindes nach DSM oder ICD Erhebungen bei Kind und Eltern/Pflege-
(einschließlich PTB), personen
gegenwärtige allgemeine psycho- Zentrale Aspekte:
pathalogische Symptomatologie, Veränderungen in motorischen, kog-
Bestimmung des Schweregrades nitiven oder sonstigen Leistungen seit
durch Selbsteinschätzung des Kindes. der Traumatisierung,
objektive/subjektive Merkmale des Funktionsniveau des Kindes (Schule,
Traumas, Familie, Sozialkontakte),
- Trauer über Familienmitglieder/Freun- frühere Traumatisierung bei Kind und
de, Eltern/Pflegepersonen,
kognitives Leistungsniveau. Stimuli, die Erinnerungen an das
Periphere Aspekte: Trauma auslösen können,
Selbstbild, mit dem Trauma und seinen Folgen
Interessen, assoziierte sekundäre Emotionen und
soziale Fertigkeiten. dysfunktionale Kognitionen,
Erhebungen ausschließlich bei Eltern/Pflege- Strategien kognitiver Vermeidung der
personen traumatischen Erinnerungen,
Zentrale Aspekte: selbstschädigendes Verhalten beim
gegenwärtige und frühere Diagno- Kind, Drogenkonsum, Suizidalität,
se(n) des Kindes und der Eitern nach elterliche Reaktionen auf die Sympto-
DSM oder ICD, matik des Kindes.
15.4 · Interventionen 291 15
15.4 Interventionen
Periphere Aspekte:
- wichtige Lebensereignisse vor und 15.4.1 Wirksamkeit
nach der Traumatisierung,
Erziehungsstil der Eitern und soziale Aus den ätiologischen Modellen der PTB wurden
Unterstützung, die das Kind erhält. Empfehlungen zur Behandlung abgeleitet. Diese
beinhalten als 2 wichtige Säulen die Konfrontati-
Erhebungen bei Eltern/Pflegepersonen und
on in sensu mit den traumatischen Erinnerungen,
anderen Quellen
die als Ziele die Habituation an die bedrohlichen
Zentrale Aspekte:
Erinnerungen, die bessere Elaboration der trau-
- objektive Merkmale des Traumas (Ab-
matischen Geschehnisse und die Integration neu-
lauf der Geschehnisse, Verletzungen
etc.). er, korrigierender Erfahrungen hat, sowie kogni-
tive Interventionstechniken, die dem Ziel der
Identifikation und gezielten Veränderung negati-
a Tabelle 15.1 zeigt Interviews und Selbstbeurtei- ver Kognitionen zum Trauma und seinen Folgen
lungsinstrumente zur Diagnosestellung bzw. Er- dienen (vgl. Steil, 2000). Diese kognitiv-behavio-
fassung des Schweregrades der PTB bei Kindern rale Therapie (KBT) gilt bei Erwachsenen als Be-
und Jugendlichen im überblick. Die Diagnostik handlung der Wahl, ihre Wirksamkeit ist empi-
möglicher komorbider Störungen kann mit ein- risch nachgewiesen (vgl. Kap. 4). Auch bei Kin-
schlägigen Instrumenten erfolgen. dern und Jugendlichen erzielte sie in kontrollier-
Bei der Darstellung der traumatischen Ereig- ten und randomisierten Studien sehr erfolgver-
nisse sollte das Kind zunächst Gelegenheit haben, sprechende Ergebnisse und kann nach heutigem
selbst zu erzählen, bevor die Therapeutin detail- Erkenntnisstand als Methode der Wahl gelten.
lierte Fragen zu den Geschehnissen stellt. Bei King et al. (1999) geben eine detaillierte über-
jüngeren Kindern können die traumatischen Er- sieht über die Literatur bis 1999.
fahrungen erfasst werden, indem man das Kind Insgesamt liegen bislang zahlreiche Falldar-
bittet, ein Bild zu malen, zu dem es eine Ge- stellungen, 2 Multiple-Baseline-Studien (Farrell
schichte erzählen kann, oder die Geschehnisse et al., 1998; March et al., 1998) sowie 6 kontrol-
mit Puppen nachzuspielen (Perrin et al., 2000; lierte und randomisierte Studien zur KBT bei
Thornton, 2000). Diagramme, Pläne oder Zeich- den Folgen von Traumatisierung im Kindesalter
nungen können hilfreich sein (z. B. bei Traumati- vor. Besonders aussagekräftig sind natürlich die
sierung im Klassenzimmer ein Plan, wer wo saß Studien der dritten Kategorie, über die a Tabelle
etc.). Während das Kind erzählt, sollte die Thera- 15.2 einen Überblick gibt.
peutirr verbale »Prompts« benutzen, z. B. »Was ist In allen Studien wurden Opfer der - wie epi-
als nächstes passiert?«, »Wie fühltest Du Dich da- demiologische Studien zeigen - schwersten Form
bei?«, »Was kam dann?«. Therapierelevant ist ne- von Traumatisierung, nämlich des sexuellen
ben der Erfassung der Psychopathologie auch die Missbrauchs, behandelt. Nicht alle behandelten
Erhebung möglicher dysfunktionaler Kognitio- Kinder litten auch an einer PTB. In nur einer
nen und kognitiver Vermeidung. Instrumente der 6 Studien war das Vorliegen der Störung Ein-
und Vorgehensweisen hierzu werden in Abschn. gangskriterium (s. D Tabelle 15.2), in den anderen
15.4 dargestellt. Studien war das Vorliegen sexuellen Missbrauchs
allein Indikationskriterium, z. T. wurden hier all-
gemeine Maße der Psychopathologie und keine
gezielten Maße der PTB-Symptomatik als Er-
folgsmaße gewählt.
Die Untersuchung der an der Behandlung be-
teiligten Eltern zeigt, dass auch hier eine Reduk-
tion von Belastung, von depressiver und ängst-
licher Symptomatik zu beobachten ist. Die lang-
292 Kapitel 15 · Posttraumatische Belastungsstörungen bei Kindern und Jugendlichen

D Tabelle 15.1 . Diagnoseinstrumente der PTB im Kindes- und Jugendalter

Autoren Name des Einsetzbar Psychometrische Bemerkungen


Instrumentes ab Kennwerte

Strukturierte Interviews mit dem Kind/Jugendlichen


Landalt et al. (2003, Child Posttrau- 6 Jahren Reliabilität der eng I. Nicht an ICD oder OSM
im Druck; Original matic Stress Dis- Version: Cronbach's angelehnt, einige der
von Frederick et al., order Reaction a =0,83, Überein- dort beschriebenen
1992) Index (CPTS-RI) stimmung mit der Symptome werden nicht
Diagnose PTB: r = 0,91 erfasst

ursprünglich ein
Selbstbeurteilungs-
instrument, kann
aber auch als Inter-
view gegeben wer-
den; dt. Version als
Interview untersucht

Steil et al. (1998, Clinician 8 Jahren Reliabilität der dt. An DSM-IV orientiert,
unveröffentlichtes Administered Version: Cronbach's Diagnosestellung und
Manuskript; Original PTSD Scale for a= 0,88 für Häufigkeit Schweregraderfassung
von Nader et al., Children and und Intensität der von Häufigkeit und In-
1994) Adolescents Symptomatik tensität der Symptome,
(CA PS-CA) Erfassung des Einflusses
der Symptomatik auf
verschiedene Entwick-
lungsbereiche

Strukturierte Interviews mit dem Kind/Jugendlichen und Eitern


Unnewehr et al. Diagnostisches 6 Jahren keine Gütekriterien zur An DSM-IV und ICD-10
(1995) Interview für Diagnostik der PTB orientiert, 2 parallele
psychische Versionen für Kind und
Störungen im Elternteil
Kindes· und
Jugendalter
(Kinder-DIPS)

Costello et al. (1998) Child and Ado· 9- 17 Jahren Gut bis sehr gut An DSM-IV angelehnt,
lescent Psychia- Vorliegen einer Trauma-
trie Assessment tisierung wird nicht vor-
(CAPA) ausgesetzt sondern
detailliert erfasst

keine deutsche
Übersetzung

Fragebögen für das Kind/den Jugendlichen


Dyregrov et al. Modifikation 6-15 Jahren Keine Angaben Weder an ICD noch an
(1996) der Impact of DSM orientiert, Erfas-
Event Scale sung des Schweregrades
(I ES) von Intrusion, Vermei·
dung und Übererregung

keine deutsche
Übersetzung
15.4 • Interventionen 293 15
fristige Wirksamkeit der Interventionen scheint Erhebungszeitpunkt der Studien fanden sich für
gesichert zu sein bei Katamnesen bis zu 24 Mona- das Manual von Deblinger & Helfin (1996), hier
ten (Deblinger et al., 1999 a). Die in a Tabelle 15.2 lagen mit je 24 Monaten die längsten Katamnesen
zusammengefassten Studien folgen im Wesentli- vor, und für das Vorgehen von Cohen & Manna-
chen 2 Manualen: rino (1998), hier wurde jedoch keine Katamnese-
- Das bislang einflussreichste Therapiemanual untersuchung durchgeführt.
der Arbeitsgruppe um Deblinger (z. B. Deb- Auch die klinische Signifikanz der KBT bei
linger & Helfin, 1996) zeigt exzellente Wirk- PTB ist mit den bislang vorliegenden Studien
samkeit bei der überpüfung durch 2 verschie- zu belegen. In einer Untersuchung der KBT mit
dene Arbeitsgruppen (King et al., 2000; Deb- dem Kind alleine bzw. mit Kind und Familie
linger et al., 1996, 1999 a). bei kindlichen PTB-Patienten nach sexuellem
An unabhängiger Replikation mangelt es bei Missbrauch erfüllten im Follow up nach 12 Wo-
dem von Cohen & Mannarino (1996a) unter- chen 67% der Kinder in den beiden behandelten
suchten Manual noch. Gruppen nicht mehr die Diagnose einer PTB; in
einer Wartelistenkontrollgruppe waren es nur
20% der Kinder (King et al., 2000). Empirische
Studien zeigen, dass sexuelle Gewalt schwerwie-
Die Einbindung der Eitern bzw. eines Eitern-
teils in die Behandlung ist aus den oben schon gendere und umfangreichere Folgen hat als ande-
ausgeführten Gründen vorteilhaft. Die Be- re Formen der Traumatisierung, daher ist davon
deutung der Teilnahme eines Elternteils an der auszugehen, dass KBT auch bei anderen Auslö-
Behandlung untersuchten auf eindrucksvolle sern einer PTB wirkungsvoll ist.
Weise in einer großen Studie Deblinger et al. Cohen & Mannarino (1998, 2000) fanden,
(1 996, 1999 a). Ihren Ergebnissen zufolge er- dass der Behandlungserfolg bei 7- bis 14-jährigen
scheint die Einbindung der Eitern bzw. eines Kindern, welche sexuellen Missbrauch erlebt hat-
Elterntrainings in die Behandlung als absolut ten, negativ mit ungünstigen Attributionen zum
empfehlenswert. Konsistent hiermit sind die Missbrauch, aber positiv mit dem Ausmaß elter-
oben dargestellten Befunde zur Prädiktion des licher Unterstützung assoziiert war. In einer an-
Therapieerfolgs durch elterliche Faktoren. Be- deren Studie derselben Autoren an Kindern im
merkenswert war, dass ein Elterntraining al- Vorschulalter nach sexuellem Missbrauch prädi-
leine ohne Behandlung des Kindes in der Ka- zierte das Ausmaß elterlicher Psychopathologie
tamnese 24 Monate nach Therapieende einen den Behandlungserfolg - er war um so geringer,
vergleichbaren Effekt hatte wie die Behand- je depressiver und emotional belasteter die Eltern
lung von Kind und Elternteil (vgl. a Tabel- sich fühlten (Cohen & Mannarino, 1996b).
le 15.2, beide Effekte waren statistisch be- Neben der KBT wurde auch eine Behand-
deutsam). lungsform angewandt, die verwandte Elemente
besitzt: »Eye Movement Desensitization and Re-
processing« (EMDR; vgl. Greenwald, 1998; Muris
Zum Vergleich der Wirksamkeit der Interventio- & Merckelbach, 1999). Diese Intervention wurde
nen wurden jeweils die Effektstärken als Hedge's g in der Anwendung bei Kindern und Jugendlichen
(Mittelwert der Kontrollgruppe minus Mittelwert allerdings noch nicht in kontrollierten und ran-
der Experimentalgruppe dividiert durch die ge- domisierten Designs untersucht.
poolte Standardabweichung) berechnet und auf Es ist nicht bekannt, ob eine zusätzliche psy-
ihre statistische Bedeutsamkeit hin überprüft. chopharmakologische Behandlung gegenüber der
Die Effekte der unterschiedlichen Interventionen rein psychotherapeutischen Behandlung einen
sind demnach als gut bis sehr gut zu bezeichnen Gewinn erbringt. Bestimmte Psychopharmaka
(z.B. g=0,98 bei King et al., 2000) und durchaus scheinen bei Kindern und Jugendlichen die zu-
mit den in der Behandlung von erwachsenen Pa- nächst mangelnde Wirksamkeit einer Psychothe-
tienten erzielten vergleichbar (vgl. Etten & Taylor, rapie im stationären Setting positiv beeinflussen
1998). Signifikante Effekte für den jeweils letzten zu können (Harmon & Riggs, 1996), kontrollierte
D Tabelle 15.2. Übersicht über Effektivitätsstudien zur KBT bei posttraumatischer Symptomatik im Kindes· und Jugendalter 10
_j .1:>
""
Autoren, lnklusions· Geschlecht, N Behandlungsbedingungen (n), Instrument zur Diagnostik der Effektstärken und Ergebnisse
Publika· kriterium, Durchschnitts· Anzahl der Sitzungen, posttraumatischen Symptomatik, bezüglich der PTB·Symptomatlk "0
"'...
tionsjahr Zeit seit Trauma alter, Range Drop-outs Messzeitpunkte [
1.11
-
"C
Berliner & Sex. Missbrauch 11% Jungen, A: Gruppentherapie mit Stress- Fear Survey Schedule for Children Verbesserung von A und 8 über 0
Saunders impfungstraining und graduierter - Revised (FSSC -R); prä. post, f.u. die Messzeitpunkte; ~
Ql
(1996) Exposition (n=48), mind. 8, nach 12, 24 Mo. c
3
höchstens 10 Sitzungen über ~
;;;·
10 Wochen; I ('\
:r
tD

z.Z. seit Trauma N=BO, 8: Standard-Gruppentherapie A: f.u. 24 Mo.: g = 0,33 11>


""
keine Angabe (n = 32), mind. 8, höchstens
10 Sitzungen über 10 Wochen;
"'
;:
"'
I :::l
\0

4-13J., insgesamt 40 Dropouts - "'"'Ö:


Aufgliederung nach Gruppen 2
:::l
\0
nicht eruie.rbar I 11>
:::l
CT
M=B,OJ. ~.

Deblinger Sex. Missbrauch, 17% Jungen, A: KBT Elternteil alleine (n =22), Schedule for Affective Disorders A: f.u. 24 Mo.: g=0,77*
"'5 '
Q.
11>
et al. (1996, mind. 3 PTB- 12 Sitzungen, 2 Dropouts; and Schizophrenia for Schooi-Age 3
c
1999) Symptome, Children - PTSD-Score (K-SAD5-E) :::l
Q.
71% litten an '-
c
PTB nach \0
11>
DSM·III· R; :::l
9:
r;·
:r
z. Z. seit Trauma N = 90, B: KBT Elternteil und Kind (n = 22), prä, post, f. u. nach 3, 6, 12, 8: f. u. 24 Mo.: g = 0,65* 11>
:::l
keine Angabe 12 Sitzungen, 2 Dropouts; 24 Mo.

7-13J .• C: KBT Kind alleine (n=24), C: f. u. 24 Mo.: g = 0.46


12 Sitzungen. 3 Dropouts;

M = 9,84J D: Standardberatung (n = 22), Signifikante Unterschiede


8 Dropouts zwischen den Gruppen:
post: A=B=C>D
Celano et al. Sex. Missbrauch; 0% Jungen, A: Strukturierte, manualgebundene CITES-R (Children's Impact of für A und 8 Verbesserung prä/post ~
-"'
(1996) letzte Miss- Behandlung mit kognitiven Traumatic Events Scales - Revised);
brauchserfahrung Schwerpunkten (n 15), 8 ein-
= ~
lt>
innerhalb der stündige Sitzungen, 10 Dropouts; <
lt>
letzten 3 Jahre a
ö.
::J
lt>
N = 32, 8: Unstrukturierte Standardbe- prä und post A: post: g=0,31 ::J
handlung (n=17), 8 einstündige
Sitzungen, 5 Dropouts;

8-13J., bei A und 8: etwa Hälfte der


Sitzung mit Kind und andere
Hälfte mit weiblicher Erziehungs-
berechtigter sowie etwa 2- 3
gemeinsame Sitzungen

M=l O,SJ.

Cohen & Sexueller Miss- 42% Jungen, A: KBT Kind und Elternteil (n 39),
= Child 8ehavior Checklist (C8CL)- Externalisierende Störungen:
Mannarino brauch; nicht 12 Sitzungen (n = 28 bei f.u. Eltern-Version;
(1996a, länger als nach 12 Mo.)
1997) 6 Monate seit
Traumaende

N = 67 8: Nondirektive unterstützende prä, post, f.u. nach 6 und 12 Mo. A: f. u. 12 Mo.: g=0,53
Behandlung (n=28), 12 Sitzungen
(n = 15 bei f.u. nach 12 Mo.)

(f. u.-Studie: Internalisierende Störungen:


N = 43),

2- 7 J., A: f. u. 12 Mo.: g=0,53

M = 4,7J. "-J
\0
111

(f. u.-Studie:
4-8 J .•
M = 5.9J.)

.....
U'l
IV
\0
D Tabelle 15.2 (Fortsetzung) 0\
. -
Autoren, lnklusions- Geschlecht, N Behandlungsbedingungen (n), Instrument zur Diagnostik der Effektstärken und Ergebnisse
Publikations- kriterium, Durchschnitts· Anzahl der Sitzungen, posttraumatischen Symptomatik, bezüglich der PTB-Symptomatik "0
"'...
jahr Zeit seit Trauma alter, Range Drop-outs Messzeitpunkte [
1.11
-
-c
Cohen & Sexueller Miss- 31% Jungen, A: KBT speziell für sexuellen Children's Depression lnventory CD I: 0
Mannarino brauch; Innerhalb Missbrauch mit Kind und Eitern (CDI), State-Trait Anxiety lnventory ~
Ql
(1998) von 6 Monaten (n = 30), 12 Sitzungen über for Chlldren (STAIC); c
3
nach letzter Miss- 12 Wochen ~
;;;·
brauchserfahrung ("\
:r
tD

N = 49; 8: Nondirektive unterstützende prä, post A: post: g = 0,60 * 11>


""
Behandlung mit Kind und Eitern
(n = 19), 12 Sitzungen über
;:
"'....
:::l
\0
12 Wochen; ....
....
Ö:
7- 14J., Insgesamt 20 Dropouts - Auf- STAIC: 2
:::l
\0
gliederung nach Gruppen nicht 11>
:::l
eruierbar CT
~-
M=l l,lJ. A: post: g=0,18
"'5 "
Q.
11>
King et al. Sexueller Miss- 31 % Jungen, A: KBT Kind alleine (n = 12), Kind-Version des Anxiety A: f. u.: g = 0,81 3
I c
(2000) brauch; entweder 20 Sitzungen, 3 Dropouts Disorders Interview Schedule :::l
Q.
PTB-Diagnose nach for DSM-IV (ADIS); '-
c
DSM-IV (n = 25) oder \0
11>
sehr belastende :::l
9:
PTB-Symptome, die r;·
:r
Diagnose knapp 11>
:::l
verfehlend

(n = ll); N=36; B: KBT mit Kind und Mutter prä, post, f.u. nach 12 Wochen B: f. u.: g = 0,98 •
(n = 12), 20 Sitzungen, 3 Dropout5

M=54 Mo. seit 5- 17J., C: Warteliste (n = 12), 24 Wochen,


Traumaende 2 Dropouts

M= ll ,SJ.

g=Hedge's g (M der Kontrollgruppe-Mder Experimentalgruppe/ gepoolte Standardabweichung). M=Mittelwert, J.=Jahre, Mo.=Monate, f.u.=Follow up.
15.4 · Interventionen 297 15
und randomisierte Studien stehen jedoch noch grund der Intervention. Besteht selbstschädigen-
aus. In den »Practice Parameters« der American des Verhalten, so sollte die therapeutische Auf-
Academy of Child and Adolescent Psychiatry merksamkeit zunächst dieser Symptomatik gel-
(1998) wird der Einsatz von Psychopharmaka ten und auf geeignete Weise interveniert werden,
eher adjunktiv und zur Behandlung komorbider bevor die Behandlung der PTB-Symptomatik be-
depressiver Symptomatik oder einer komorbiden ginnt.
Panikstörung empfohlen. Auch andere Experten-
richtlinien empfehlen, Kinder und Jugendliche,
die an einer PTB leiden, zunächst psychothera- Ziele der kognitiv-behavioralen Thera-
peutisch zu behandeln (vgl. Foa et al., 1999). pie für Kinder und Jugendliche mit PTB
Vermittlung von Wissen über die üblichen
Folgen einer Traumatisierung und die
Verbesserung der innerfamiliären Kom·
15.4.2 Indikation, Ziele und Struktur munikation über das Trauma und seine
der KBT Folgen,
Ausbildung der Eitern zu Kotherapeuten
Eine KBT ist indiziert, der Behandlung im Rahmen eines Eltern-
- wenn die Diagnose der PTB bzw. einer subkli- trainings,
nischen PTB gesichert ist, angemessene Einordnung und Interpre-
- bei akuter und chronischer posttraumatischer tation des Geschehenen für das Kind
Symptomatik, ermöglichen,
- im Gruppen- wie auch im individuellen Set- Veränderung dysfunktionaler Einstellun-
ting und gen und Interpretationen zum Trauma
- im ambulanten wie im stationären Setting. und seinen Folgen bei Eitern und Kind,
Erarbeiten einer hilfreichen bzw. realisti-
Steht für das Kind selbst eine andere Symptoma- schen Einstellung und der Abbau kogniti-
tik (z. B. Schmerz) im Vordergrund oder befürch- ver und behavioraler Vermeidung trau-
tet das Kind zu Beginn z. B. katastrophale Kon- marelevanter Stimuli zusammen mit Eitern
sequenzen einer Beschäftigung mit der Traumati- und Kind,
sierung, so kann mit einer erfolgreichen psycho- Stärkung der Fähigkeit des Kindes, Intru-
therapeutischen Intervention zur Verbesserung sionen mit geringer subjektiver Belastung
der Lebensqualität die Motivation für eine Be- zu erleben, nicht die »Beseitigung« intru-
handlung der PTB-Symptomatik geschaffen wer- siven Wiedererlebens (welche von vielen
den. Kindern zunächst gewünscht wird im Sin-
ne von »Ich möchte alles vergessen!«).
sondern die Fähigkeit des Kindes, Intru-
Eine Kontraindikation besteht bei akuter sionen mit geringer subjektiver Belastung
psychotischer Symptomatik und akuter zu erleben,
Suizidalität. mögliche negative Effekte des Traumas
und seiner Folgen auf die weitere Ent-
wicklung des Kindes in allen Lebens-
Während der Behandlung sollte der Patient nicht
bereichen minimieren.
mehr in akuter Gefahr sein. Dies ist z. B. bei Asyl-
suchenden oder Flüchtlingen (s. Kap.l2), aber
auch bei Kindern, bei denen der Kontakt zu einer
das Kind missbrauchenden Person noch nicht Die Behandlung besteht aus 3 Teilbereichen: Der
unterbunden ist, nicht gegeben. Hier stehen zu- Intervention mit dem Kind, der Intervention mit
nächst die Veränderung der äußeren Umgebung dem Elternteil und gemeinsamen Sitzungsteilen.
des Kindes und die zur Herstellung von Sicher- Zu Beginn der Intervention werden Eltern und
heit notwendigen praktischen Schritte im Vorder- Kind separat behandelt, die Inhalte der Sitzungen
298 Kapitel 15 · Posttraumatische Belastungsstörungen bei Kindern und Jugendlichen

ähneln sich jedoch. Die Interventionen können


von einer Therapeutin, aber auch von einem Zentrales Element der Gesprächsführung mit
eng kooperierenden Therapeutenpaar durchge- dem Kind ist das Widerspiegeln und Verbali-
führt werden. Nach einigen Wochen wird ein Teil sieren seiner Emotionen. Das Kind wird darin
jeder Sitzung gemeinsam verbracht. bestärkt, detailliert Gedanken, Gefüh le und
Die Einbindung eines Elternteils in die Be- Körperempfindungen zu äußern, die es wäh-
handlung vermittelt dem Kind, wie sehr die El- rend oder infolge der Traumatisierung hatte.
tern es unterstützen möchten. Kind und Eltern
lernen, möglichst offen miteinander über die
traumatischen Geschehnisse zu kommunizieren, Die Therapeutin sollte deutlich machen, dass sie
die Eltern erhalten Unterstützung bei ihren eige- erfahren darin ist, mit Kindern zu sprechen, die
nen Problemen im Umgang mit der Traumatisie- belastende Erlebnisse hatten. Ziel ist, dem Kind
rung des Kindes (z.B. eigene Schuldgefühle) und zu helfen, das Geschehen einzuordnen und ange-
werden in der Rolle der Kotherapeuten trainiert. messen zu interpretieren. Die Therapeutin er-
Sind die Eltern ebenfalls traumatisiert und leiden klärt Kind und Elternteil zu Beginn, dass sich
unter posttraumatischer Symptomatik, so ist eine beider psychische Befindlichkeit in den ersten
gezielte Behandlung auch der Eltern angezeigt. Wochen der Behandlung durch die intensive Be-
Sitzungen von 60 Minuten Dauer mit dem schäftigung mit den traumatischen Erinnerun-
Kind und mit dem Elternteil haben sich bewährt. gen zunächst kurzfristig verschlechtern kann.
Als gemeinsame Zeit sollte eine Reserve von ca. Die Eltern sollten gelobt und bestätigt werden
15 Minuten nach den Sitzungen eingeplant wer- für jeden bisherigen Versuch, das Kind zu unter-
den. stützen - auch wenn ihr Verhalten bislang viel-
leicht langfristig noch wenig hilfreich war.

Hilfreich ist der Einsatz einer Tafel oder einer


15.4.3 Interventionen mit dem Kind
großen Papierrolle, um z.B. gemeinsam diag-
nostische Informationen zusammenzutragen,
Folgende Komponenten beinhalten die Interven-
zu zeichnen oder zu malen und sich - mit
tionen mit dem Kind (Deblinger & Heflin, 1996):
älteren Kindern - ein »Bild« (=individuelles
- Ein Training zu hilfreichen Bewältigungsstra-
Modell) der Symptomatik zu machen. Haus-
tegien, z. B. Techniken zur Emotionsregulati-
aufgaben sind obligatorisch und bieten Gele-
on, Einüben von emotionalem Ausdruck, Ent-
genheit, fehlende Informationen einzuholen
spannungstraining etc.,
und die Exposition in vivo durchzuführen.
- kognitive Interventionen,
- graduierte Exposition und ein Nachholen der
Jede Sitzung wird aufgezeichnet, das Kind oder kognitiven und affektiven Verarbeitung des
auch gelegentlich das Elternteil hören bisweilen Traumas,
den Mitschnitt von Teilen des Bandes (z. B. der Verhinderung erneuter Viktimisierung.
Expositionselemente) als Hausaufgabe an.

Das Erstgespräch
Gesprächsführung mit Kind und Elternteil
Neben dem Beziehungsautbau beinhaltet das
Die Konfrontation mit den traumatischen Erin- Erstgespräch eine Exploration zur Traumatisie-
nerungen ist bei Kind und Eltern gefürchtet, aber rung. Zunächst sollte man das Kind - ohne schon
für die Diagnostik und die Behandlung unerläss- konkrete Fragen zu stellen - sein Erleben der
lich. Der Aufbau einer vertrauensvollen therapeu- traumatischen Ereignisse berichten lassen. Dabei
tischen Beziehung ist besonders wichtig. kann es hilfreich sein, dem Kind seine äußere Si-
tuation damals (das Wetter, der Ort etc.) in das
Gedächtnis zu rufen. Die Therapeutin bittet das
15.4 · Interventionen 299 15
Kind zu erzählen, was es erlebt hat, ein Bild da- Zunächst werden Emotionsausdruck und -regu-
von zu malen, eine Geschichte davon zu erzählen lation anband wenig belastender Situationen dis-
oder das Geschehene mit Puppen nachzuspielen. kutiert und geübt. Im Zentrum der therapeuti-
Es folgt die Psychoedukation über die übli- schen Aufmerksamkeit stehen danach dann die
chen Folgen einer Traumatisierung zur Entlas- Emotionen, die mit dem Trauma in Verbindung
tung des Kindes und zur Entpathologisierung stehen (Furcht, Angst, Hilflosigkeit, Ekel, Wut).
der Symptomatik, z. B. »Die Symptome bedeuten Das Kind soll lernen, dass es hilfreich ist, negati-
nicht, dass Du verrückt wirst oder etwas mit Dir ve Emotionen zu zeigen und über sie mit anderen
nicht stimmt, das geht den meisten Kindern so, Menschen zu sprechen. Je nach Bedarf sind z. B.
die etwas ähnliches erlebt haben. Die meisten ha- auch Interventionen, welche die sozialen Fertig-
ben mir erzählt, dass sie auch .. . hatten«. keiten des Kindes verbessern, indiziert.
Es folgt eine ausführliche therapiebezogene
Eingangsdiagnostik und die Entwicklung eines
persönlichen Modells der Störung. Den Ab-
Kognitive Interventionen
schluss des Erstgesprächs bildet ein Element zu
den Ressourcen des Kindes (unterstützende Per- Zunächst lernt das Kind, wie Emotionen, Gedan-
sonen, Hobbys, Dinge, die das Kind genießen ken und Verhalten sich jeweils gegenseitig beein-
kann). flussen. Auch hier beginnt die Therapeutin, zu-
nächst neutrale und dann wenig belastende Si-
tuationen zu bearbeiten und wendet das Erlernte
dann auf Überzeugungen und Einstellungen zum
Die Therapeutin drückt ihren Respekt für die
Trauma und seinen Folgen an. Das Kind lernt,
Gefühle des Kindes aus und macht deutlich,
dass seine Gedanken zu den traumatisierenden
dass sie es als Privileg erachtet, die Erfahrun-
Ereignissen einen Einfluss darauf haben, wie es
gen des Kindes mit ihm zu teilen, und lobt es
sich fühlt (z. B. »Ich bin schuld an allem, was pas-
für seinen Mut, vom Geschehen zu berichten.
siert ist«:=::> »>ch fühle mich schlecht und schäme
mich«).
Im nächsten Schritt werden dysfunktionale
Training hilfreicher Bewältigungsstrategien
Einstellungen und Überzeugungen zum Trauma
mit Hilfe des sokratischen Dialogs disputiert.
Hierzu zählen Interventionen, welche den ange- Das Kind soll lernen, dass negative Gedanken
messenen Ausdruck von Emotionen beim Kind veränderbar sind und wie man sie einer Überprü-
bzw. das Erkennen von Emotionen fördern und fung unterziehen kann. Geduldig lässt die Thera-
die Regulation der Emotionen verbessern. Man peutin das Kind prüfen, ob seine Einstellungen,
kann z. B. eine Liste von Empfindungen zusam- Überzeugungen und Interpretationen zum Trau-
menstellen, welche das Kind Bildern von Kindern ma und seinen Folgen angemessen und hilfreich
und Erwachsenen zuordnen soll. Rollenspiele oder wenig angemessen und dysfunktional sind.
können durchgeführt werden (Wie schaut je- Häufig schreiben sich PTB-Patienten in sehr
mand aus, der fröhlich, traurig, ängstlich, ärger- unangemessener Weise selbst die Verantwortung
lich etc. ist?). Am Beispiel des Ärgers erlernt das für weite Teile des traumatischen Geschehens
Kind, Emotionen anderen Menschen gegenüber zu. So sind z. B. Opfer sexuellen Missbrauchs
angemessen zum Ausdruck zu bringen. häufig der Ansicht, durch ihr Verhalten/ihre
Persönlichkeit die sexuelle Gewalt verursacht zu
haben. Zunächst muss das Ausmaß der eigenen
Verantwortungszuschreibung erfasst werden.
Zentrales Ziel ist hierbei, dass das Kind nega-
Hierzu sammeln Kind und Therapeutin, wer bzw.
tive Emotionen nicht bekämpft oder versteckt,
welche Umstände Anteil an der Verantwortung
sondern angemessene Wege findet, sie zu
zeigen. für die Traumatisierung bzw. für bedeutende Ele-
mente daraus haben könnte. Zunächst analysie-
300 Kapitel 15 · Posttraumatische Belast ungsstörungen bei Kindern und Jugendlichen

ren Therapeutin und Patient gemeinsam die Vor- Graduierte Exposition und ein Nachholen
gänge und Handlungen während des traumati- der kognitiven und affektiven Verarbeitung
schen Geschehens wie auch die wahrscheinlichen des Traumas
Konsequenzen alternativer Verhaltensweisen.
Zentral für die Durchführung von konfrontativen
Eingesetzt werden bei einem unangemessenen
Elementen in der Intervention ist die Erarbeitung
Gefühl der Verantwortung für das Geschehene
des Rationals hierfür. Mehrere Möglichkeiten ste-
beim Kind z. B. die »Advocatus diaboli«-Technik,
hen der Therapeutin zur Verfügung:
bei der das Kind angeleitet wird, alle Gründe zu
- Ein direktives, psychoedukatives Vorgehen,
suchen, warum es sich in der traumatischen Si-
- das Zurückgreifen auf Erfahrungen, die das
tuation so und nicht anders verhalten hat.
Kind bereits in anderen Lebensbereichen
mit der Habituation an negative Emotionen
f) Beispiel
oder der Veränderung von Einstellungen ge-
Fragebeispiele der »Advocatus diaboli«-Technik
macht hat (»Hast Du schon einmal erlebt
Du sagst, Du hättest Dich mehr wehren
dass etwas, was am Anfang sehr schwieri~
müssen gegen Deinen Vater. Warum hast Du
war, mit der Zeit immer leichter für Dich ge-
Dich nicht gewehrt? Was dachtest Du, würde
worden ist?«),
passieren, wenn Du Dich wehren würdest?
- das Benutzen von Analogien und Bildern
Du denkst darüber nach, warum Du Dich da-
(»Deine Erinnerungen sind vergleichbar mit
mals so und nicht anders verhalten hast. Lass
einem Puzzle, das in seine Teile zerfallen ist.
uns die Zeit zurückdrehen bis kurz vor dem
Wir wollen alles wieder zu einem Ganzen zu-
Ereignis und lass uns genau überlegen, was Du
sammensetzen, dazu müssen wir uns jedoch
damals empfunden und gedacht hast. Hast Du
jedes Teil genau anschauen«) oder
erwartet, dass so etwas passieren würde? Was
- der Einsatz kognitiver Methoden, um die bis-
hättest Du getan, wenn Du gewusst hättest,
herigen Strategien zur Bewältigung der
was passieren würde?
Symptomatik (behaviorale und kognitive Ver-
meidung) gemeinsam auf ihre Wirksamkeit
Wo dem Kind Informationen zur Beurteilung
zu prüfen und alternative Bewältigungsmög-
fehlen, gibt oder vermittelt die Therapeutin sie.
lichkeiten zu sammeln (»Wie bist Du bislang
In einem zweiten Schritt werden im Sinne der
mit den Erinnerungen umgegangen? Wie hilf-
Spaltentechnik hilfreiche Kognitionen gesucht,
reich war diese Strategie? Wie lange hat es ge-
mit denen das Kind die maladaptiven Kognitio-
holfen? Welche anderen Möglichkeiten haben
nen in kritischen Situationen ersetzen kann
wir noch?«).
(»Wie würde ich mich fühlen, wenn ich so
darüber denken würde?«). In der Imagination
Exposition in sensu. Zu Beginn jeder Sitzung wird
kann die Implementierung der neuen hilfreichen
das Kind gebeten, die jeweils am stärksten belas-
Kognition geübt werden.
tenden Teile der Erinnerung an die Traumatisie-
Die aufrechterhaltende Bedeutung der Gedan-
rung nachzuerleben, so erfolgt die Exposition
kenunterdrückung, des Grübeins oder anderer
immer mit den Teilen der Erinnerung, die für
Strategien kognitiver Vermeidung wird mit dem
das Kind aktuell von größter Bedeutung sind.
Kind unter anderem auch mit Hilfe von Verhal-
Das Kind imaginiert - möglichst mit geschlosse-
tensexperimenten (z. B. »Versuche, 2 Minuten
nen Augen - Teile des traumatischen Geschehens,
nicht an rosa Elefanten zu denken ... «) erarbeitet.
als ob sie wieder stattfinden würden und berich-
Im Rahmen von Hausaufgaben wird die Redukti-
tet dabei über sein Erleben in der Ich- und der
on dieses Verhaltens geübt.
Gegenwartsform. Auch alle anderen Formen der
Konfrontation sind hier denkbar (Malen, Zeich-
nen, Schreiben, Spielen).
15.4 · Interventionen 301 15
Kindern und Jugendlichen muss im Rahmen
der Behandlung der PTB Gelegenheit gegeben
Wichtig ist, dem Kind die Kontrolle über den
werden, angemessene Schemata von persönlicher
Ausstieg aus dem Nacherleben zu lassen,
Sicherheit, von Kontrolle und unter Umständen
vorher vielleicht ein Zeichen zu erarbeiten, bei
von moralischem Verhalten zu lernen und zu ent-
dem die Therapeutin die Exposition abbricht.
wickeln. Nach der Traumatisierung durch inter-
Beendet das Kind das Nacherleben vorzeitig,
personelle Gewalt erscheint es z. B. sinnvoll,
so kann dies als beispielhafte Situation zur
dem Kind klare Strukturen zur Beurteilung von
weiteren Diagnostik besonders kritischer
angemessenem (z. B. Wut empfinden und zeigen)
Emotionen und Kognitionen genutzt werden
bzw. unangemessenem sozialen Verhalten (z. B.
(»Was hat es Dir eben so schwer gemacht, Dich
weiter zu erinnern?«).
Gewaltanwendung) zu bieten. Diese beinhaltet
das gerraue Erarbeiten, was wann aus welchem
Grund passiert ist, wer Verantwortung für das
Exposition in vivo. Im Verlauf der Behandlung ge- Geschehene trägt, welches Verhalten moralisch
winnt die Exposition in vivo an Bedeutung. Typi- richtig oder falsch ist etc. So wird z. B. ein Mäd-
sche Inhalte sind das Aufsuchen des Ortes der chen, das sexuellen Missbrauch erlitten hat,
Traumatisierung bzw. einer ähnlichen, natürlich darüber informiert, dass dies ein Verbrechen ist,
immer objektiv ungefährlichen, Situation, das dass kein Mensch das Recht hat, über seinen
Anschauen von Bildern etc. Je nach Ausmaß der Körper und seine Sexualität zu verfügen.
Belastung kann ein hierarchisches Vorgehen ge-
wählt oder mit stark angstauslösenden Situatio-
Verhinderung erneuter Viktimisierung
nen begonnen werden. Die Therapeutin und
dann auch die Eltern begleiten das Kind dabei. Ist das Kind Opfer von interpersoneller Gewalt
Vor Beginn der Exposition werden die oder eines Unfalls geworden, so sind Interventio-
Befürchtungen des Kindes, was geschehen nen angezeigt, die das Risiko erneuter Viktimi-
könnte, genauestens erhoben und mit Hilfe typi- sierung senken können. Im Bereich sexueller Ge-
scher kognitiver Methoden einer Überprüfung walt sind dies z. B. ein Training zur Identifikation
unterzogen. Die Konfrontationsphase beginnt von angenehmen und unangenehmen Berührun-
erst dann, wenn das Kind es möchte. gen, ein Training zur Durchsetzung eigener
Wünsche und im Nein-Sagen etc. Hier sind Rol-
lenspiele bzw. das Spiel mit Puppen sehr hilfreich.
Während der Exposition in sensu wie in vivo Gemeinsam mit dem Kind wird eine angemesse-
sollte die Therapeutin ein zugewandtes Ver- ne Risikoeinschätzung verschiedener Situationen
halten zeigen, nonverbale und paraverbale und Verhaltensweisen erarbeitet.
Zeichen aktiven Zuhörens geben und viel Lob
spenden. Zeigt das Kind dissoziative Symp-
tome, so fokussiert die Therapeutin auf sein
gegenwärtiges körperliches Befinden (z. B. »Du 15.4.4 Interventionen im Rahmen
fühlst, wie Du im Sessel sitzt, wie Deine Füße des Elterntrainings
den Boden berühren«).
Das Elterntraining folgt in seinen Inhalten den
Interventionen mit dem Kind. Die zentralen Ele-
Nach Beendigung der Exposition erfolgt eine mente wie Erlernen von Bewältigungsstrategien,
Analyse der befürchteten im Vergleich zu den Training im Ausdruck und Erkennen von Emo-
eingetretenen emotionalen, kognitiven und phy- tionen, Erarbeitung des Störungsmodells und
sischen (bzw. bei der Exposition in vivo mögli- des Konfrontationsrationals, Informationen über
cherweise auch sozialen) Konsequenzen. Die vor- das Trauma und seine Folgen, Veränderung dys-
her geäußerten Befürchtungen werden so einer funktionaler Kognitionen, Psychoedukation etc.
Realitätstestung unterzogen. sind alle auch im Elterntraining enthalten. Gene-
302 Kapitel 15 · Posttraumatische Belastungsstörungen bei Kindern und Jugendlichen

rell sollen die Erziehungskompetenzen der Eltern Im Besonderen werden die Kommunikationsfer-
gestärkt werden. tigkeiten der Eltern gefördert und trainiert. Die
Therapeutin fungiert sowohl im Rollenspiel als
auch in den gemeinsamen Sitzungen mit dem
Kind als Modell für die Eltern. Um offene und
Die Eltern werden in besonderer Weise darin
hilfreiche Kommunikation zwischen Kind und
trainiert, dem Kind bei der Elaboration des
Elternteil zu fördern, werden spezielle Tageszei-
Geschehenen Partner zu sein, mit ihm offen
ten vereinbart, die beiden »gehören« - d.h., zu
und frei über das Trauma kommunizieren zu
denen der Elternteil verlässlich da ist und Zeit
können.
für das Kind hat. Die Eltern lernen, Gelegenhei-
ten zu erkennen und zu nutzen, mit dem Kind
Diese offene Kommunikation wird in den ge- über das Trauma und seine Folgen zu sprechen
meinsamen Sitzungen bzw. Teilen der Sitzungen (z. B. ein Fernsehbericht über ein ähnliches Ereig-
mit Hilfe der Therapeutin geübt. Die Eltern ler- nis etc.). Man ermutigt die Eltern, dem Kind ak-
nen, welchen bedeutenden Einfluss ihre eigenen tiv zuzuhören, mit ihm über das Erlebte zu spre-
Einstellungen und Überzeugungen auf das Kind chen und zu spielen, die Fragen des Kindes offen
und seine posttraumatische Adaptation haben und ehrlich zu beantworten.
können und wie sie diesen Einfluss so positiv Über die oben anhand der Interventionen
wie möglich nutzen können. beim Kind dargestellten Elemente hinaus werden
Die Traumatisierung eines Kindes erschüttert die Eltern besonders in prinzipiellen Techniken
auch Konzepte der Eltern über Sicherheit, Kon- der Verhaltenssteuerung (Kontingenzmanage-
trolle, interpersonelles Vertrauen und eigene Er- ment) geschult. Diese Techniken lernen die Eltern
ziehungskompetenz. Die Belastung der Eltern einzusetzen, um unerwünschtes, d. h. die PTB
bei Konfrontation mit den Erinnerungen an das aufrechterhaltendes Verhalten des Kindes zu
Trauma erschwert oft den Behandlungsbeginn - löschen und erwünschtes, mit den Zielen der Be-
die Eltern selbst vermeiden. Dies gilt natürlich handlung übereinstimmendes und funktionales
in besonderer Weise, wenn die Eltern direkt von Verhalten gezielt zu verstärken sowie selbst Mo-
der Traumatisierung betroffen waren oder gar dell für funktionales Verhalten zu sein. Die kom-
selbst eine PTB entwickelt haben, aber auch, munikativen Fertigkeiten der Eltern werden z. B.
wenn die Eltern nicht direkt zugegen waren. gestärkt, indem sie darin trainiert werden, ihr
Mögliche ungünstige Interpretationen und Ein- Kind für Fragen zu schwierigen Situationen bzw.
stellungen werden im Elterntraining bearbeitet zum Trauma und seinen Folgen oder für das
und verändert. Wird bei den Eltern eine psy- Sprechen über negative Emotionen allgemein
chische Störung - in Folge des Traumas oder und das Trauma im Spezifischen gezielt zu ver-
auch unabhängig davon - diagnostiziert, so sollte stärken. Dies wird anhand konkreter Situationen
eine angemessene Behandlung eingeleitet wer- aus dem Alltag der Eltern geübt. Oft muss in die-
den. sem Rahmen auch das Selbstbewusstsein der El-
tern bezüglich ihrer eigenen Erziehungskom-
petenzen gestärkt werden. Inhalte des Trainings
in Erziehungsverhalten sind die Prinzipien sozia-
Wurde das Kind Opfer von interpersoneller
len Lernens (Beobachtung, Konsequenzen, die
Gewalt, so werden mit den Eltern deren eigene
das Verhalten des Kindes steuern etc.). Die Eltern
Beziehung zum Täter, die Verhinderung er-
lernen, Lob und Aufmerksamkeit für erwünsch-
neuter Viktimisierung des Kindes bzw. eine
tes Verhalten und Löschung bzw. die Technik
Änderung des Lebensumfeldes von Kind und
des »time out« bei negativem Verhalten einzuset-
Eltern zur Risikominimierung erörtert. Leidet
zen. Sie lernen ferner, angemessene und eindeu-
das Kind unter den Folgen sexueller Gewalt, ist
es hilfreich, die Eitern in einer altersangemes-
tige Instruktionen zu geben. Hilfreich kann die
senen Sexualerziehung zu unterweisen.
Empfehlung von allgemeinen Materialien zu po-
sitivem Erziehungsverhalten sein.
Literatur 15
Exemplarisch wird das Zusammenwirken der Zeitspanne wird in kleinen Schritten immer länger,
verschiedenen Interventionen mit den Eltern und bis das Kind einschläft. Diese Prozedur wird über 2
dem Kind von Deblinger & Heflin {1996) am Bei- Wochen durchgehalten, bis es für das Kind keine
spiel von Schlafstörungen beim Kind dargestellt Schwierigkeit mehr darstellt, alleine im Zimmer zu
(s. Beispiel). bleiben.

Abschluss der Behandlung


f) Beispiel
Zusammenspiel der verschiedenen Interventio- In den letzten Sitzungen steht die Generalisierung
nen am Beispiel von Schlafstörungen (nach und das erneute Üben der erlernten Bewälti-
Deblin & Heflin, 1996, S. 94 ff.) gungsstrategien im Vordergrund. So kann sich
Ein 5-jähriger Junge wurde durch einen Nachbarn die Therapeutirr z. B. im Rollentausch von dem
sexuell missbraucht. ln der Folge erlaubten die Kind über den angemessenen Umgang mit belas-
Eltern dem Jungen, in ihrem Bett zu schlafen, weil tenden Erinnerungen bzw. kritischen Interpreta-
er alleine nicht einschlafen konnte. Sie haben das tionen und Bewertungen »beraten« lassen. Kind
Gefühl. dass sie dem Kind so helfen können, die und Therapeutin bzw. Elternteil und Therapeutirr
schlimmen Erinnerungen zu bewältigen. Auch ein tragen zusammen, welche Verbesserungen und
Jahr nach dem Ereignis kann das Kind nur im Bett Veränderungen sie wahrnehmen und welche Ver-
der Eltern einschlafen, die Eltern fühlen sich mitt- haltensweisen oder Strategien dabei am hilf-
lerweile dadurch unter anderem in ihrer Sexualität reichsten waren. Zukünftige, möglicherweise be-
sehr gestört und fragen sich, ob ihr Verhalten so lastende Situationen (Gerichtsverhandlungen,
noch angemessen ist. Jahrestage etc.) werden mit dem Kind und dem
Zunächst finden Therapeutin und Kind ge- Elternteil besprochen und Bewältigungsstrate-
meinsam heraus, dass der Junge befürchtet, wie- gien werden vorbereitet. Auffrischungssitzungen
der Opfer des Nachbarn zu werden, wenn er al- können je nach Bedarf verabredet werden.
feine in seinem Zimmer ist. Zusammen mit seinen
Eltern sucht der Junge nach positiven, hilfreiche-
ren Einstellungen zu dieser Situation (z. B. >>Er ist Zusammenfassung
jetzt im Gefängnis und kann mir nicht mehr weh Kinder und Jugendliche scheinen nach einer
tun<<). Traumatisierung besonders vulnerabel für die
Die Eltern lernen im Elterntraining, dass es Ausbildung posttraumatischer Symptomatik zu
dem Jungen helfen wird, Erfahrungen zu machen, sein. Mittlerweile liegt eine Fülle von Befunden
die mit seiner dysfunktionalen Überzeugung in- sowohl zu ätiologischen als auch zu aufrecht-
kompatibel sind (>>Ich kann in meinem eigenen erhaltenden Faktoren der Störung vor. Als Inter-
Bett einschlafen, ohne dass etwas Schlimmes vention der Wahl gilt ein kognitiv-behaviorales
passiert, ohne dass meine Befürchtung eintritt«). Vorgehen, wobei die Einbeziehung von Eltern
Zusammen mit der Therapeutin wird ein operanter oder Pflegepersonen für den langfristigen Thera-
Plan entwickelt, um dieses Ziel zu erreichen. Dem pieerfolg fast unabdingbar ist.
Jungen wird eine Belohnung in Aussicht gestellt,
wenn er es schafft, die ganze Nacht in seinem Bett
zu schlafen und die Eltern äußern sich überzeugt Literatur
davon, dass der Junge es schaffen wird. Die Eitern
verlassen sein Zimmer, versprechen aber, in we- Aaron, J., Zaglul, H. & Emery, R. E. (1999). Posttraumatic stress
nigen Minuten wiederzukommen und nach ihm zu in children following acute physical injury. Journal of pe-
sehen. Die Eltern tun dies und loben das Kind diatric psychology, 24, 335-343.

dafür, dass es in seinem Bett geblieben ist. Nun American Academy of Child and Adolescent Psychiatry (1998).
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children and adolescents with posttraumatic stress disor-
10 Minuten wieder nach ihm sehen werden. Diese
... der. Journal of American Academy of Child and Adoles-
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304 Kapitel 15 · Posttraumatische Belastungsstörungen bei Kindern und Jugendlichen

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16

C.S. Hankin

16.1 Allgemeine Aspekte posttraumatischer


Belastungsstörungen im Alter - 310
16.1.1 Der chronische Verlauf von posttraumatischen
Belastungsstörungen - 310
16.1.2 Verfestigung der traumabedingten Schemata - 31 0
16.1.3 Eingeschränkte Bewältigung von posttraumatischen
Belastungssymptomen - 311
16.1.4 Die instabile Natur chronischer posttraumatischer
Belastungsstörungen - 312

16.2 Diagnostische Beurteilung - 313


16.2.1 Allgemeine Bemerkungen - 313
16.2.2 Besonderheiten im höheren Lebensalter - 313
16.2.3 Abschätzung des Suizidrisikos - 315
16.2.4 Erfassung der Stärken des Patienten - 315

16.3 Behandlung - 316


16.3.1 Allgemeine Bemerkungen - 316
16.3.2 Therapieziele der Sitzungen 1- 3 - 317
16.3.3 Therapieziele der Sitzungen 4- 15 - 318
16.3.4 Abschluss: Sitzungen 16-20 - 321

16.4 Spezifische Bemerkungen - 322

Literatur - 323

Arbeitsblätter - 324
310 Kapitel 16 ·Chronische posttraumatische Belastungsstörungen im Alter

16.1 Allgemeine Aspekte - Belastungen und später aufgetretene trauma-


posttraumatischer tische Ereignisse auftreten (Christensan et al.,
Belastungsstörungen im Alter 1981; Eider & Clipp, 1989; Richmond & Beck,
1986; Scaturo & Hayman, 1992).
Der Verlauf der posttraumatischen Belastungs-
störung kann chronisch oder wechselnd sein. Weiterhin gibt es mit fortgeschrittenem Alter ein
Häufig versagen Praktiker, die Störung bei Älte- erhöhtes Risiko für
ren zu diagnostizieren und zu behandeln (Lyons - Krankheiten,
& McClendon, 1990; Niehals & Czirr, 1986). In - körperliche Funktionsverluste,
diesem Kapitel konzentriere ich mich auf die - Verluste von Menschen,
Identifikation und Behandlung älterer Patienten - Veränderungen in Arbeits-, sozialen und
mit chronischer PTB, die von traumatischen Er- familiären Rollen.
eignissen in der Kindheit, Jugend oder dem Er-
wachsenenalter herrührt. Die Ausdrücke Ältere, Diese erschwerenden Bedingungen können die
ältere Menschen und höheres Lebensalter bezie- chronischen PTB-Symptome auf folgende Weise
hen sich auf Personen, die älter als 60 Jahre sind. verschlimmern: Die Annahmen (kognitiven
Eine zentrale Aussage dieses Kapitels ist, dass Schemata) vom Selbst und von Anderen verfesti-
chronische PTB unter Älteren spezielle therapeu- gen sich weiter in der Form, wie sie durch das
tische Beachtung verdient. Bevor ich meine Dar- Trauma herausgebildet wurden und die früher
stellung beginne, möchte ich jedoch eine freund- nützlichen Bewältigungsstrategien werden einge-
liche Mahnung geben. Wenn Kollegen von mei- schränkt.
nem Interesse am Gebiet der gerontologischen
Psychetraumatologie erfahren, sagen viele: »Was
für eine deprimierende Arbeit das sein muss! 16.1.2 Verfestigung
Ich könnte das niemals machen!« Wenn Sie als der traumabedingten Schemata
Leser ähnliche Reaktionen zeigen, möchte ich Ih-
nen Folgendes sagen: An PTB leidende ältere Es ist verständlich, dass von PTB betroffene Per-
Menschen sind in der Lage und sind gern bereit, sonen versuchen, Kontrolle über Belastungen da-
beeinträchtigende Denk- und Verhaltensmuster durch zu gewinnen, dass sie den traumatischen
zu verändern. Selbst kleine Veränderungen, die Ereignissen bestimmte Bedeutungen zuschreiben.
die Therapie auslöst, können zu großen Verbes- Ein misshandeltes Kind wird vielleicht anneh-
serungen der Lebensqualität führen. Ja mehr men, dass es die Bestrafungen verdient, weil es in-
noch, die Würde und der Einfallsreichtum, die nerlich schlecht ist, und ein Kriminalitätsopfer
Ältere zeigen, ist oft ein beachtliches Zeugnis mag annehmen, dass die ganze Welt voll von
für die Widerstandskraft des menschlichen Geis- Bösem ist (s. Kap. 8). Diese veränderten Kognitio-
tes. Was könnte also ermutigender sein? nen dienen dazu, späteren Belastungen gegen-
zusteuern. Die durch Traumen veränderten Sicht-
weisen auf das Selbst und die Anderen werden die
16.1.1 Der chronische Verlauf »Baupläne« oder Schemata, nach denen die späte-
von posttraumatischen ren Lebensereignisse organisiert werden. Treten
Belastungsstörungen nun Schwierigkeiten und Belastungen z. B. im Zu-
sammenhang mit dem Älterwerden auf, wird der
Die Chronizität von posttraumatischen Belas- Umgang mit diesen Belastungen mit Hilfe der
tungsstörungen ist gut dokumentiert, dabei wird früheren traumabezogenen Schemata organisiert.
von Symptomen berichtet, die mehr als 50 Jahre In dem Maße, wie Gefühle, Gedanken und Verhal-
bestehen (Op den Velde et al., 1990). Die Ver- ten, die mit den früheren Traumaschemata zu-
schlimmerung von Symptomen kann als sammenhängen, später noch einmal hervorgeru-
- Reaktion auf Jahrestage des Traumas, fen werden, verschlimmern sich die PTB-Sympto-
- Wechsel der Lebensbedingungen, me. Das folgende Fallbeispiel soll dies illustrieren.
16.1 ·Allgemeine Aspekte posttraumatischer Belastungsstörungen im Alter 311 16
f) Beispiel Unabhängig davon, ob diese Bewältigungsstrate-
Marlene ist eine 64-jährige Frau, die eine lang- gien funktional oder nichtfunktional sind, wenn
wierige lebensbedrohliche Krankheit in der Kind- sie die Intrusions- und übererregungssymptome
heit überlebte. Vor 6 Monaten erlitt ihr Mann einen erfolgreich abschwächen, erzeugt das ein Ende
Herzanfall. Obwohl sich ihr Mann erholte, berichtet der Belastungen durch chronische PTB. Wenn
Marlene derzeit von folgenden Symptomen: Bewältigungsstrategien hingegen nicht mehr er-
Schlaflosigkeit, Konzentrationsschwierigkeiten folgreich sind, wird die chronische PTB wieder
und intrusiven Erinnerungen an ihre Krankheit in aktiviert.
der Kindheit. Marlene schreibt den Herzanfall ihres Erfolgreiche Bewältigung kann durch die mit
Mannes ihrer eigenen Unwürdigkeit zu. Marlene dem Altern zusammenhängenden Belastungen
sagt: »Mir passieren schlimme Dinge, weil ich es eingeschränkt werden. Beispielsweise wird der
nicht anders verdiene. Ich bin oft neidisch und Ältere, der sich bis jetzt mit einem übermäßigen
engstirnig, und ich bin niemals dankbar für das, Arbeitspensum beschäftigte, um intrusive Erin-
was ich habe. Menschen wie ich verdienen es zu nerungen zu vermeiden, auf einmal herausfin-
leiden. Man sollte meinen, dass mich meine den, dass die traumabezogenen Alpträume seit
Krankheit in der Kindheit zu einem besseren der Pensionierung häufiger werden. Ein älterer
Menschen gemacht hat. Aber ich war so dumm, Mensch, bei dem ein geistiger Abbau stattfindet,
dass ich das vergessen habe, bis der Herzanfall da das Kurzzeitgedächtnis versagt, mag feststel-
von meinem Mann mich wieder an meine len, dass die (Langzeit-)Erinnerungen an trauma-
selbstsüchtige Natur erinnert hat. Ich verdiene tische Erlebnisse in der Kindheit jetzt in den Vor-
einfach die guten Dinge des Lebens nicht.« dergrund rücken.
Marlene's Ursachenzuschreibung, dass der
Herzanfall ihres Mannes durch ihre Unwürdigkeit f) Beispiel
hervorgerufen wurde, wird von einem Schema Willi ist ein 72-jähriger Mann, der an einer Netz-
abgeleitet, das ursprünglich während ihrer Krank- hautdegeneration leidet. Der Patient wurde von
heit in der Kindheit aufgebaut wurde. Ihr Schema, seinem Hausarzt zu einer Einschätzung durch ei-
das die jetzige Krankheit ihres Mannes mit ihrem nen Psychotherapeuten überwiesen. Willi berich-
Kindheitstrauma verbindet, ruft Gefühle, Gedan- tet über die folgenden Symptome: Schlaflosigkeit,
ken und Verhaltensweisen des Kindheitstraumas Hoffnungslosigkeit und Interesselosigkeit. Zusätz-
hervor. Ihre PTB-Symptome werden dabei ver- lieh berichtet er, die Gesichter von Kameraden des
schlimmert. 2. Weltkrieges zu sehen, die im Gefecht starben,
und die Geräusche von Schreien und Gechütz-
feuer zu hören. Er beschreibt, dass er früher ein
16.1.3 Eingeschränkte Bewältigung >>unerschütterlicher Leser<< war. Jetzt ist er sehr
von posttraumatischen besorgt über sein zurückgehendes Sehvermögen.
Belastungssymptomen »Gewöhnlich las ich 2 oder 3 Romane in jeder
Woche. Ich habe nichts, um meinen Geist zu
Von PTB betroffene ältere Menschen berichten, beschäftigen, seit ich solche Schwierigkeiten
dass sie Intrusions- und Übererregungssympto- beim Lesen habe, und so fange ich an, über
me lange Zeit durch eine Reihe von Bewälti- meine Kameraden nachzudenken, die im Krieg
gungsstrategien unterdrücken konnten. Beispiele starben. Ich sehe ihre Gesichter, ihre Schreie, ihr
solcher Bewältigungsstrategien sind: Blut. Ich wünschte, ich hätte etwas, um meinen
- Intensive Ablenkung durch geistige oder Geist zu beschäftigen, aber ich kann nicht ein-
körperliche Aktivitäten, z. B. Arbeit oder fach ein Buch nehmen und anfangen zu lesen,
Sport, wie ich es früher tat«.
- der übermäßige Gebrauch von psychoaktiven
Substanzen, z. B. Alkohol oder Medikamente,
- das Vermeiden von Situationen oder Men-
schen, die an das Trauma erinnern.
312 Kapitel16 · Chronische posttraumatische Belastungsstörungen im Alter

16.1.4 Die instabile Natur ßerst instabile Gleichgewicht ausdrücken, in dem


chronischer posttraumatischer Schemata und Bewältigungsverhalten zwischen
Belastungsstörungen dem Trauma und den PTB-Symptomen vermit-
teln.
Die Beziehungen zwischen Trauma, Bewältigung, Wie D Abbildung 16.2 zeigt, kann das Gleichge-
Schemata und PTB-Symptomen sind in D Abbil- wicht durch solche Belastungen wie den Beginn
dung 16.1 dargestellt. Die D Abbildung soll das äu- einer Krankheit, körperlichen und geistigen
Funktionsabbau, Verluste, Berentung oder Verän-
derungen des Wohnsitzes gestört werden. Das
Auftreten solcher Belastungen kann dazu führen,
dass langjährige Schemata und Bewältigungsstra-
tegien nicht mehr in der Lage sind, sich zwischen
Trauma die traumatischen Erlebnisse und das aktuelle
Bewusstsein zu stellen, wodurch eine Verschlim-
merung der PTB-Symptome auftritt. Die Ver-
schlimmerung der chronischen PTB resultiert
aus dem instabilen Charakter der Störung.
Früher genutzte Bewältigungsformen können
sehr erfolgreich gewesen sein, wie auch gewisse
Sinnzuschreibungen den Älteren in der Vergan-
genheit sehr gut gedient haben können. Dennoch
sind chronische posttraumatische Belastungs-
Kognitive
Schemata störungen aufgrund ihrer instabilen Natur sehr
anfällig für Belastungen. Dass der Ältere bis ins
fortgeschrittene Alter sein Leben so gut bewältigt
hat, ist Zeugnis für seine Fähigkeit, sich anzupas-
sen.
Diese Aussage ist für die Behandlung sehr
D Abb. 16.1. Beziehungen zwischen Trauma, Bewältigung, wichtig, denn die früheren Anpassungsanstren-
kognitiven Schemata und posttraumatischen Belastungs- gungen der Älteren an ihr Trauma sind sehr ent-
störungen: angeordnet in einer gefährdeten Balance

DAbb. 16.2. Die instabile Natur von PTB:


Belastungen zerstören das gefährdete Gleichgewicht zwischen Trauma, Bewältigung, Schemata und PTB-Symptomen
16.2 ·Diagnostische Beurteilung 313 16
scheidend dafür, wie sie über den Behandlungs- f) Beispiel
verlauf informiert werden können. Älterer Patient: »Jetzt, da Sie das sagen, ich
schlafe nachts nicht sehr gut. Aber es ist nicht so
schlimm wie bei meinem Freund, der nu r eine
16.2 Diagnostische Beurteilung oder zwei Stunden schlafen kann, bevor seine
Beinkrämpfe sehr schlimm werden. Ehrlich, ich
16.2.1 Allgemeine Bemerkungen weiß nicht, wie er überhaupt klar denken kann,
wenn man das Schlafdefizit bedenkt.. .«.
Da die posttraumatische Belastungsstörung sel- Therapeut: »Entschuldigen Sie, Herr ... Ich
ten als die alleinige psychiatrische Diagnose auf- weiß, dass ich Sie jetzt gerade unterbreche, aber
tritt (s. Kap. 1 und Kap. 3), ist es wichtig, ein ich habe einige spezifische Fragen, die ich Ihnen
Spektrum weiterer möglicher Störungen zu un- stellen möchte. Ich muss Sie vielleicht wieder
tersuchen. Von großem Nutzen bei der Beurtei- unterbrechen während unserer Sitzung, deshalb
lung der Psychopathologie i. Allg. und der PTB entschuldige ich mich jetzt schon vorher.
im Besonderen sind bei älteren Menschen struk- Würden Sie mir erlauben, Sie wieder zu unter-
turierte klinische Interviews (z. B. DIPS, M-CIDI, brechen, wenn es notwendig ist?«
CAPS; s. Kap. 3). Zusätzlich sollte das Diagnose- Älterer Patient: »Sicher. Jederzeit. Ich bin hier,
protokoll eine um von Ihnen Hilfe zu bekommen, also stoppen
- Einschätzung des geistigen Status, Sie mich, wenn ich abschweife. Manchmal ver-
- des Suizidrisikos und eine gesse ich die Frage, und ich schweife plötzlich
- Untersuchung der Stärken des Patienten bein- vom Thema ab.«
halten. Therapeut: »Gut, das ist gut zu wissen. Falls i
eh Sie unterbrechen muss, dann werde ich Sie an
Wenn weitreichende traumatische Erlebnisse vor- das Thema erinnern, sodass wir beim Thema
liegen, kann eine gründlichere Untersuchung mit bleiben. Jetzt sprachen wir gerade über Ihren
einem PTB-spezifischen strukturierten Interview Schlaf...«.
(CAPS; Nyberg & Frommberger, 1996) vorge-
nommen werden. Neben der Eigenschaft dieser
Interviews, über die Intensität und Häufigkeit
der PTB-Symptome Auskunft zu geben, können 16.2.2 Besonderheiten
die strukturierten klinischen Interviews auch im höheren Lebensalter
sehr hilfreich sein, den Therapeuten darin zu un-
terstützen, den »roten Faden« während des Ge- Auch wenn man ein strukturiertes klinisches In-
sprächs zu behalten. Diesen »roten Faden« zu be- terview verwendet, bleibt chronische PTB im Al-
halten kann eine Schwierigkeit sein, wenn man ter eine schwierig zu beurteilende Störung (Han-
Ältere interviewt, die eine Tendenz zum Ab- kin, 1995; Hankin et al., 1996). Dafür gibt es meh-
schweifen haben. Im therapeutischen Gespräch rere Gründe:
kann es erforderlich werden, den Älteren zu un- - Ältere Menschen, die viel Not erlebt haben
terbrechen. (z. B. in Kriegen und Wirtschaftskrisen) be-
Eine Unterbrechung kann durchaus respekt- trachten das Leiden vielleicht als etwas Nor-
voll und wirksam gestaltet werden. Die Freund- males. Deshalb zeigen diese Menschen ihre
lichkeit und die professionelle Verantwortlichkeit Belastungssymptome vielleicht nicht nach au-
verlangen solche Unterbrechungen sogar, wenn ßen.
das Gespräch weit vom Thema wegführt. Weiter- - Ältere Menschen sind möglicherweise weni-
hin ist es auch für die Behandlung wesentlich, ger mit dem derzeitigen psychologischen
wenn der Ältere sich auf ein Thema konzentrie- Wortschatz vertraut und haben deshalb keine
ren bzw. sein Denken immer wieder auf den Ausdrucksmöglichkeiten, mit denen sie ihr
Punkt zurücklenken kann. Die folgende Szene Leiden beschreiben können. Anstelle von Be-
dient dafür als ein Beispiel. griffen, die man auf die posttraumatische Be-
314 Kapitel 16 ·Chronische posttraumatische Belastungsstörungen im Alter

lastungsstörung beziehen kann wie »Erinne- f) Beispiel


rungsattacken« (engl. »flashbacks«), »Panik« Georg ist ein 75-jähriger ehemaliger Soldat, dessen
oder »erhöhte Wachsamkeit«, verwenden die Bein traumatisch nach einem Gefecht amputiert
Älteren Begriffe wie »Nervenzusammen- wurde. Kürzlich wurde bei ihm eine chronisch
bruch« oder »die Erschütterungen«. Deshalb obstruktive Lungenkrankheit diagnostiziert. Aus
ist es für den Therapeuten wichtig, für die diesem Grund sind seine körperlichen Aktivitäten,
spezifische Art von Ausdrücken aufmerksam an denen er sich noch vor kurzem erfreute, weiter
zu sein, mit welchen ältere Patienten ihre eingeschränkt worden. lnfolge von Georgs neu
traumabezogenen Symptome benennen. aufgetretenen anorektischen Beschwerden, Pa-
- Viele Ältere sind besonders sensibel für das niksymptomen und intrusiven Erinnerungen an
Stigma psychologischer Diagnosen. Deshalb die traumatische Kriegsverletzung wurde er von
sind sie besonders widerwillig, psychologi- seinem Hausarzt zur psychologischen Unter-
sches Leiden zuzugeben. suchung überwiesen.
- Es können körperliche Beschwerden im Vor- Therapeut: »Ich würde Ihnen gern einige
dergrund stehen, da es ein erhöhtes allgemei- Fragen darüber stellen, welche Auswirkung diese
nes Krankheitsrisiko mit fortschreitendem Kriegsverletzung auf Sie gehabt hat. Können Sie
Alter gibt und chronische PTB selbst verhee- mir sagen, ob Ihnen jemals ungewollte Erinne-
rende Langzeiteffekte auf die Gesundheit hat rungen an die Verletzung in den Sinn kamen,
(Friedman & Schnurr, 1995). Dies kann dazu selbst wenn Sie nicht daran denken wollten?«
führen, dass eine PTB-Diagnose übersehen Georg: »Ich denke ständig an die Verletzung.
wird. Es ist das Erste, mit dem ich aufwache: Ich habe
kein Bein, und es gibt keinen Weg, das zu igno-
Als ein Ergebnis dieser Vielschichtigkeit der kli- rieren.«
nischen Beurteilung sollte eine gründliche Therapeut: »Ja, kommen Ihnen Bilder der
Anamneseerhebung und Diagnostik den eigenen Verletzung in den Sinn, wenn Sie vielleicht mit
Wortschatz des Patienten benutzen und häufiges etwas anderem beschäftigt sind?«
Rückfragen dazu dienen, dass der Patient die Georg: »Sie meinen, ob ich Dinge sehe? Wie
vom Therapeuten verwendeten Begriffe versteht. Halluzinationen? Ich bin nicht verrückt, wissen Sie...«
Weiterhin sollte es für einen Therapeuten uner- Therapeut: »Haben Sie jemals versucht be-
lässlich sein, mit dem Hausarzt des Patienten zu- stimmte Tätigkeiten, Orte oder Leute zu meiden,
sammenzuarbeiten, da ja das Alter in erhöhtem die Sie an die Zeit, in der Sie Ihr Bein verloren,
Maße von Multimorbiditäten geprägt ist. Die erinnerten?«
PTB-Untersuchung ist besonders kompliziert in Georg: »Naja, mir geht es nicht mehr gut und
den Fällen, wo das traumatische Erlebnis sehr ich kann nicht rausgehen, um viel von irgendwas
früh im Leben auftrat, da hier der psychische zu machen. Ich habe keinen Führerschein mehr
prämorbide Status unklar bleiben muss. Des Wei- und ich kann nicht länger als ein paar Schritte
teren kann es schwierig sein, festzustellen, ob die laufen, bevor ich außer Atem bin. So ... ich ver-
Symptome von traumatischen Ereignissen her- stehe die Frage nicht.«
rühren oder dem Alterungsprozess zuzuschrei- Therapeut: »Haben Sie Schwierigkeiten, sich
ben sind. Beispiele für solche Symptome sind: an einige wichtige Details aus der Zeit, in der Sie
- Befürchtung eines nahen Lebensendes, Ihr Bein verloren, zu erinnern?«
- Erinnerungsverluste für wichtige Aspekte des Georg: »Ich habe einiges vergessen, aber ich
Traumas, kann mich sowieso an nicht mehr viel von ir-
- Schlaflosigkeit, gendwas erinnern. Es scheint, als sei mein Geist
- Konzentrationsstörungen. zur Zeit im Nebel.«
Therapeut: »Sind Sie weniger interessiert an
Das folgende Szenario illustriert diese Schwierig- Aktivitäten, an denen Sie sich gewöhnlich er-
keiten bei der Untersuchung. freuten?«

"
16.2 · Diagnostische Beurteilung 315 16
Georg: »Ja, natürlich. Ich kann kaum durchs 16.2.3 Abschätzung des Suizidrisikos
Zimmer laufen. Und niemand möchte einen alten
Mann besuchen, der an Sauerstoff angeschlos- Da ältere Menschen ein sehr hohes Risiko haben,
sen ist.« Selbstmord zu verüben, ist es unbedingt erfor-
Therapeut: »Wann begannen Sie sich so zu derlich, jeden Patienten daraufhin zu unter-
fühlen?« suchen und diesen Aspekt während des gesamten
Georg: »Na, ich weiß nicht genau.« Behandlungsverlaufs im Auge zu behalten (vgl.
Therapeut: »Fühlten Sie sich von anderen Mclntosh, 1992). Manchmal sind Therapeuten
Menschen entfernt oder entfremdet als ein Er- zu zögerlich, um offen Selbstmordabsichten zu
gebnis der Kriegsverletzung?« erfragen, da sie annehmen, damit den Patienten
Georg: »Ich weiß nicht genau. Ich mochte erst auf diese Idee zu bringen. Sicher ist, dass je-
immer Leute, aber jetzt, keiner besucht mich. Ich der denkende Mensch, der ein hohes Alter er-
bin ganz allein ... « reicht und insbesondere jemand, der ein Trauma
Thera peut: »Gab es Zeiten, in denen Sie überlebt hat, mindestens einmal im Leben an
fühlten, dass es keine Notwendigkeit gab, für die Selbstmord gedacht hat.
Zukunft zu planen oder dass Ihre Zukunft bald zu Wenn ein Nachfragen aktive Selbstmord-
Ende sein wird?« absichten aufzeigt, sollte der Therapeut ermit-
Georg: »Naja, ich bin 75 Jahre alt. Und ich bin teln, ob der Patient bereits einen spezifischen
ein kranker Mann. Ich wäre ein Dummkopf, wenn Selbstmordplan hat und ob der Patient die Mittel
ich glaubte, ich hätte noch viel mehr Zeit übrig dazu hat, um einen solchen Plan zu verwirk-
... «. lichen (z. B. Zugang zu Waffen, Tabletten, Giften) .
Es muss abgeschätzt werden, ob eine Krankeu-
Wie dieses Beispiel demonstriert, beinhaltet die hausbehandlung eingeleitet werden muss. Eine
Beurteilung von PTB bei Älteren viele Schwierig- Konsultation mit einem kompetenten Kollegen
keiten. Dazu gehören die Unwilligkeit, psychi- sollte durchgeführt werden, selbst wenn nur ein
sches Leid zuzugeben, die Vermengung von mittleres Risiko besteht (Bongar, 1994). Der The-
körperlichen und psychischen Symptomen und rapeut wird behutsam mit dem Patienten arbei-
die Schwierigkeit, den PTB-Symptombeginn ei- ten müssen, um Unterstützungsmaßnahmen für
nem spezifischen traumatischen Ereignis zuzu- den Notfall zur Verfügung zu haben, bevor die
schreiben. Selbstmordimpulse des Patienten zu einer akuten
Krise führen.

Als Richtwert für die diagnostische Beurtei-


lung könnte gelten: Der Therapeut sollte im- 16.2.4 Erfassung der Stärken
mer dann PTB bei älteren Patienten vermuten, des Patienten
wenn diese:
ein vergangenes traumatisches Erlebnis Ohne eine Einschätzung der Stärken und Bewäl-
schildern, tigungsressourcen würde eine Untersuchung des
psychische Leiden zeigen, zu denen ins- Patienten nicht vollständig sein. Nützliche Fragen
besondere Depressions- und Angstsymp- sind: »Wie haben Sie es geschafft, mit allem, was
tome gehören, Sie durchgemacht haben, umzugehen?« Die Älte-
von gegenwärtigen Belastungen berich- ren könnten antworten: »Mein Glauben hat mir
ten, die ein bisher erfolgreiches Bewälti- Kraft gegeben« oder »Ich bin dafür bekannt, an-
gungsverhalten beeinträchtigen. zupacken und nicht zu kneifen, wenn es schwierig
wird« oder »Ich arbeite 20 Stunden jeden Tag, bis
ich vor Erschöpfung umfalle«. Manchmal sind die
Stärken des Patienten offensichtlich, wie im Fall
des religiösen Glaubens. Es können jedoch im-
mer Anzeichen der Bewältigungsstärken des Pa-
316 Kapitel 16 ·Chronische posttraumatische Belastungsstörungen im Alter

tienten gefunden werden: Beispielsweise sind die indiziert sein, da sie tiefgreifende physiologische
Unsteten (z. B. mehrfach Umgezogenen, mehr- Effekte, wie z. B. erhöhte Herz- und Atmungsfre-
fach Berufswechselden) oft sehr einfallsreich quenzraten erzeugen kann und weil die Gesund-
und einem früher Arbeitssüchtigen gelingen oft heit älterer Patienten mit PTB oft eingeschränkt
viele Dinge. Das Wissen um die Stärken des Pa- ist.
tienten verschafft dem Therapeut wichtige Infor-
mationen, die dabei helfen können, den Behand-
lungsablauf auszugestalten. f) Beispiel
Anna ist eine 72-jährige verheiratete Frau mit
Diabetes mellitus, degenerativer Gelenkerkran-
16.3 Behandlung kung und Bluthochdruck. Da die Patientin in
letzter Zeit mehrmals hingefallen war, wurde ihr
Das Behandlungsziel von chronischen posttrau- geraten, ein Gehgestell zu benutzen. Sie lehnte
matischen Belastungsstörungen im Alter ist es, diesen medizinischen Ratschlag jedoch wiederholt
die belastenden Symptome zu mildern. Dieses ab. Sie schien auch die Einnahme von Medika-
Ziel kann mit einer Form der kognitiven Verhal- menten für Diabetes und Bluthochdruck nicht zu
tenstherapie erreicht werden, die bereits seit län- befolgen. Die Ärzte überlegten, ob ihre Verwei-
gerem erfolgreich mit depressiven älteren Patien- gerung ein Symptom basaler kognitiver (AI-
ten genutzt wird (vgl. Beck et al., 1979; Thomp- ters-)Defizite war. Die Patientin wurde zu einer
son et al., 1991). neurologischen Untersuchung überwiesen, aber
die Befunde waren nicht signifikant pathologisch.
Während ihrer ersten Psychotherapiesitzung
16.3.1 Allgemeine Bemerkungen sagte Anna: »Mein Geist arbeitet normal. Ich weiß
nicht, warum ich zu Ihnen geschickt wurde.
Der kognitive Fokus der Behandlung zielt auf die Wenn Sie meine Rückenschmerzen wegmachen
basalen, durch das Trauma erzeugten Schemata könnten und diese Alpträume stoppen, dann
ab und hilft bei der Formulierung von neuen, hätten wir vielleicht einen Grund, miteinander zu
funktionalen Schemata. Die kognitiven Metho- reden.«Trotz ihrer Widerstände machte Anna die
den schließen Härten einer psychologischen Untersuchung mit.
- die Technik des Herausfilterns, Die psychosoziale Anamnese und das strukturierte
- die Diskussion fehlerhafter Denkmuster und klinische Interview erbrachten die folgenden In-
- das »Re-storying« (s. unten) ein. formationen. Anna war von einem Familienmit-
glied sexuell und körperlich während der Kindheit
Die verhaltenstherpeutischen Aspekte der Be- missbraucht worden. Im Alter von 32 Jahren litt sie
handlung sind darauf ausgerichtet, das Bewälti- unter einer 2-jährigen Phase eines schweren de-
gungsverhalten zu verbessern. Verhaltensthera- pressiven Syndroms. Sie erhielt keinerlei Behand-
peutische Techniken, die hier genutzt werden, lung für ihre Depression und schrieb ihre Gene-
sind tägliches Tagebuch führen und der tägliche sung der Liebe ihres Ehemannes und ihrer Kinder
Einsatz von Selbstbeurteilungsskalen sowie posi- zu. Die Patientin berichtete, dass sie sich über eine
tive Aktivitätspläne für ältere Menschen (Galla- sehr erfolgreiche Berufskarriere, eine glückliche
gher & Thompson, 1981). Diese kognitiven und Ehe und hingebungsvolle Kinder und Enkel er-
verhaltenstherapeutischen Techniken werden un- freuen könne. ln den ungefähr 60 Jahren seit ihren
ten detaillierter beschrieben. traumatischen Kindheitserlebnissen hatte sie nie-
Die kognitiv-verhaltenstherapeutisch e Be- mals Kontakt zu Psychotherapeuten gesucht und
handlung von PTB bei älteren Menschen kann nötig gehabt. Anna ist einfallsreich, intelligent,
manchmal eine zusätzliche Technik beinhalten, willensstark, mit guten zwischenmenschlichen
die als Konfrontationstherapie bekannt ist (s. Fähigkeiten sowie einem festen Netz an sozialer
auch Kap. 4). Die Konfrontationstechnik kann al- Unterstützung.
lerdings bei betroffenen älteren Patienten kontra- ...
16.3 · Behandlung 317 16
Anna erfüllte die Kriterien für eine aktuelle Behandlung für spezifische Probleme in Erwä-
PTB-Diagnose teilweise. (Sie wies nicht das Krite- gung gezogen werden.
rium C »Vermeidung und emotionale Taubheit<<
auf.) Ihre spezifischen PTB-Symptome waren u.a.:
Zielfestlegung
Häufige intrusive Erinnerungen, Alpträume und
Flashbacks sowie ausgeprägte Schlaflosigkeit, Ge- Für Anna standen ihre Schlaflosigkeit, die mit
reiztheit und übermäßige Wachsamkeit. den traumabezogenen Alpträumen zusammen-
hing, und ihre Rückenschmerzen im Mittelpunkt
Nach einer kurzen theoretischen Diskussion des der ersten therapeutischen Sitzungen. In der 1.
anfänglichen Therapieverlaufes wird weiter auf Sitzung schilderte Anna ihre Rückenschmerzen
den geschilderten Fall Bezug genommen werden. im Detail. Während sie das machte, schrieb die
Therapeutin einige von Annas anschaulichsten
Ausdrücken an eine Tafel, die im Therapiezim-
16.3.2 Therapieziele der Sitzungen 1-3 mer stand.
Die Therapeutin erklärte: »Ich möchte ein
Die ersten Ziele der Therapie sind: vollständiges Bild davon bekommen, was die
- Eine therapeutische Beziehung aufbauen, Schmerzen für Sie sind. Deshalb schreibe ich die
- Ziele für die Behandlung festlegen. Schlüsselwörter auf, die Ihre Erfahrung beschrei-
ben.«
Die Therapeutin erarbeitete mit Anna eine
Therapeutische Beziehung
»Schmerzskala«, die in a Abbildung 16.3 gezeigt
Die therapeutische Beziehung wird durch eine wird.
große positive Achtung und Wärme auf der Seite Anna legte fest, dass ein Wert von »0« auf der
des Therapeuten gestärkt (s. Kap. 2). Sie wird Skala »kein Schmerz<< und ein Wert von »10<< auf
weiterhin gestärkt, wenn der Therapeut die auf- der Skala »unerträglicher Schmerz« bedeuten
tretenden Beschwerden des Patienten erkennt sollte. Ein Wert von »5<< bedeutete »merklicher,
und beachtet. Wie oben erwähnt, erscheinen älte- aber auszuhaltender Schmerz<<.
re Patienten mit PTB häufiger mit somatischen Anna stimmte zu, eine Art Wochentagebuch
als mit psychologischen Symptomen. Solch ein zwischen der 1. und der 2. Sitzung zu führen. Je-
somatischer Fokus darf vom Therapeuten nicht de Zeile des Tagebuchs steht dabei für einen Tag
als »fehlende Motivation« oder »Widerstand« be- der Woche (s. Arbeitsblatt 1 im Anhang).
wertet werden. Vielmehr sollten, wenn somati- Anna wurde nun gebeten, eine zusammenfas-
sche Beschwerden vorherrschen, der Patient sende Schmerzeinschätzung für jeden Tag in der
und der Therapeut sich zunächst auf diese Be- Spalte »Schmerzniveau<< einzutragen, wobei sie
schwerden konzentrieren. Das vermittelt dem Pa- die Schmerzskala als Maß verwenden sollte. Anna
tienten, dass der Therapeut ernsthaft das Leiden erschien zur 2. Therapiesitzung mit ihrer vervoll-
des Patienten achtet. Weiterhin kann, wenn der ständigten Hausaufgabe. Sie stellte zu ihrer eige-
Therapeut mehr über diese somatischen Be- nen überraschung fest, dass ihr Schmerzniveau
schwerden erfährt, eine parallele medizinische große Schwankungen von Tag zu Tag zeigte. Die

Schmerz- Skala
lo 5 10 I
kein merklicher
Schmerz aber unerträglicher
auszuhaltender Schmerz
Schmerz

DAbb. 16.3. Schmerzskala von Anna in der 1. Sitzung konstruiert


318 Kapitel 16 · Chronische posttraumatische Belastungsstörungen im Alter

Therapeutin schlug vor, die Schmerzskala durch Therapeutin: »Sie sagten in der letzten Sit-
zusätzliche Informationen zu ergänzen, um ein zung, dass Ihre Schmerzen und Alpträume sich
vollständiges Bild über ihre Rückenschmerzen dann zu verringern scheinen und sich Ihr Schlaf
zu bekommen. verbessert, wenn Ihr Tagesablauf angenehme Tä-
Im Arbeitsblatt 2 (s. Anhang) wird darge- tigkeiten beinhaltet?«
stellt, welche Eintragungen Anna als Hausaufgabe Anna: »]a, aber ich bin dabei von anderen ab-
zwischen der 3. und der 4. Sitzung machte. Sie hängig, mir angenehme Aktivitäten zu organisie-
sollte in dieses Arbeitsblatt ihre täglichen Aktivi- ren, weil ich den ganzen Tag im Haus festsitze.«
täten eintragen und zuletzt die gesamte Stunden- Therapeutin: »Welche Art von Aktivitäten ma-
zahl an Schlaf in der vorherigen Nacht. Zusätzlich chen Ihnen Spaß?«
wurde sie gebeten, ihre täglichen Schmerzniveaus Anna: »Ich habe immer daran Spaß gehabt,
zu notieren, genau so, wie sie es in der vorheri- spazieren zu gehen und die Nachbarn zu besu-
gen Woche getan hatte. Anna füllte dieses Formu- chen. Aber ich kann nicht mehr so leicht rumlau-
lar jeden Abend vor dem Zubettgehen aus, und fen wie früher. Und ich werde nicht diesen ver-
gab das vollständige Formular bei ihrer 3. Sitzung dammten hässlichen Apparat benutzen, den sie
ab. mir laufend empfehlen. Das nächste Mal, wenn
In der 3. Sitzung besprachen Anna und die ich zum Arzt gehe, werde ich diese Gehhilfe
Therapeutin gründlich die Angaben. Wieder zurückbringen und sie können das einem anderen
drückte Anna ihre überraschung aus, dass ihre Oldtimer geben, der nicht den Mut hat, das Ding
Schmerzniveaus von Tag zu Tag variierten: »Ich abzulehnen.«
dachte immer, dass die Schmerzen immer bei un- Therapeutin: >>Ich kann verstehen, dass Sie
gefähr 9 bis 10 blieben. Aber es sieht so aus, als diese Gehhilfe nicht leiden können und wir wer-
seien die Schmerzen davon beeinflusst, was ich den dieses Thema jetzt nicht weiter verfolgen.
während des Tages mache.« Anna fuhr fort: »Ich Lassen Sie uns zum Thema der angenehmen Tä-
schätze, wenn ich erfreuliche Ablenkungen wäh- tigkeiten zurückkehren. Es scheint so, dass Sie
rend meines Tages habe, machen mir die Schmer- bei vielen angenehmen Aktivitäten auch weniger
zen nicht mehr so zu schaffen. Und es sieht so aus, Alpträume haben, auch eine gute Nachtruhe und
als seien mein Schlaf und die Alpträume von mei- dass Ihre Schmerzen geringer sind.«
nen Aktivitäten während des Tages beeinflusst.« Anna: >>]a, das ist richtig. Aber ich weiß nicht,
Als ein Ergebnis dieser Hausaufgabe stimmten was ich sonst noch gern mache. Ich bin immer
Anna und ihre Therapeutin überein, dass das ers- körperlich sehr aktiv gewesen und nun kann ich
te Therapieziel wäre, die Häufigkeit der Aktivitä- nichts dergleichen machen.«
ten zu erhöhen, an denen Anna sich erfreut. Therapeutin: >>]a, lassen sie uns das genauer
ergründen .... «
Anna wurde eine Übersicht angenehmer Er-
eignisse für ältere Menschen (Gallagher et al.,
16.3.3 Therapieziele der Sitzungen 4-1 S
1981) gegeben. Diese Übersicht fragt nach ver-
schiedenen Aktivitätsarten, an denen sich Ältere
Die Ziele des mittleren Teils der Behandlung sind:
am meisten erfreuen. Die Übersicht erfasst gleich-
- Bewältigungskompetenz verbessern,
zeitig die Häufigkeit, mit der ein Patient tatsäch-
- Veränderung der durch das Trauma erzeugten
lich eine solche Aktivität ausführt. Die Ergebnisse
Schemata.
zeigten, dass Anna zwar am liebsten Aktivitäten
ausführt, die soziale Interaktion und Naturbegeg-
nungen beinhalteten, dass sie aber sehr selten so
Verbesserung der Bewältigungskompetenz
etwas machte. In der 5. Sitzung wurde gemeinsam
In der 4. Sitzung besprach die Therapeutin noch eine Liste angenehmer Aktivitäten aufgestellt, die
einmal die Verbindungen zwischen Annas leicht für Anna zu erreichende soziale Interaktio-
Schmerzniveau, dem Schlaf und den angenehmen nen und Naturerlebnisse umfasste. Diese Liste ist
Aktivitäten. im Anhang als Arbeitsblatt 3 aufgeführt.
16.3 · Behandlung 319 16
Die Häufigkeit, mit der Anna diese Aktivitä-
ten ausführte, wurde in ihrem Tagebuch fest-
Jeder wird mich bemitleiden
gehalten. Während der nächsten Wochen verbes-
serte sich ihr Schlaf und ihre Alpträume wurden
spürbar seltener. Anna fühlte, dass ihre Schmer-
zen erträglicher geworden waren. Ich stelle meine Gebrechlichkeit
zu sehr heraus

Veränderung traumabedingter Schemata Jeder wird merken, daß Ich


schwach bin
Das erste Ziel - Erhöhung von angenehmen Tä-
tigkeiten - war erreicht worden. In der 6. Sitzung
Jeder wird merken, daß Ich ein
ergab sich eine Diskussion über neue Therapie-
Opfer bin
ziele. Anna sagte, dass sie sich weiterhin hilflos
fühle und dass sie über ihre körperliche Gebrech-
lichkeit bekümmert sei. Ich bin ein gebrochener Mensch
Sie sagte: »Ich bin immer noch zum großen
Teil von anderen abhängig. Ich habe diese Nei-
gung hinzufallen und ich mache mir Sorgen, dass
Ich bin wertlos
ich mir einen Knochen breche und in einem Pfle-
geheim ende. Diese Angst hinzufallen bedrückt
mich oft und hält mich zu Hause fest.« D Abb. 16.4. Technik des Herausfilterns:
Daraufhin wurde Annas Unwilligkeit bespro- Anwendung in der 6. Sitzung, um die Schemata von Anna
chen, eine Gehhilfe zu benutzen. Ihre Gründe für herauszufinden, die sie hindern, eine Gehhilfe zu benutzen
die Ablehnung wurden das Hauptthema der
nächsten Sitzung.
Anna war davon überzeugt, dass »ich jedem
leid tun werde . .. und meine Gebrechlichkeit he- Als nächstes wurde Anna gefragt: »Und wie
rausstelle«, wenn sie Gehhilfen benutzte. ist diese Oberzeugung für Sie hinderlich gewe-
sen?«
Anna antwortete sofort: »Ich kann niemals
meinen Schutzwall vernachlässigen. Ich muss im-
Hier wurde eine Technik eingesetzt, die »He-
mer stark sein, niemals krank. Ich bin zu hart zu
rausfiltern« (engl. »down-arrowing«) genannt
mir und jetzt, in meinen goldenen fahren , kann
w ird und bei der der Therapeut den Patienten
ich mich nicht entspannen.«
bittet, die Bedeutung der vorausgegangenen
Die einzelnen von Anna vorgebrachten Vor-
Aussage zu erläutern. Damit werden die kog-
und Nachteile dieser Überzeugungen (d. h. Sche-
nitiven Schemata herausgearbeitet, die Annas
mata) sind in Arbeitsblatt 4 (s. Anhang) darge-
Weigerung, eine Gehhilfe zu benutzen, zu-
grundelagen (s. D Abb. 16.4).
stellt.
Therapeutin: >>Ich kann verstehen, dass diese
Oberzeugung sehr hilfreich für Sie war. Aber ich
Die Therapeutin fragte: »Was meinen Sie, inwie- verstehe auch, dass diese Oberzeugung genauso
fern ist diese Oberzeugung nützlich für Sie?« An- sehr hinderlich gewesen ist. Sie beschreiben eine
na antwortete: »Ich war mein ganzes Leben fähig, Art Buffet vor Ihnen, an dem man nur eine Speise
voranzukommen, wurde im Geschäft erfolgreich, wählen kann. Vielleicht wünschen Sie sich, dass Sie
habe eine gute Ehe, hingebungsvolle Kinder und mehrere Auswahlmöglichkeiten hätten.«
Enkel. Das kam alles nur, weil ich mir geschworen Anna: >>Das ist richtig. Ich weiß nur einen Weg,
habe, dass ich stark bleiben werde und niemanden wie ich leben sollte. Ich bin sehr hart zu mir, selbst
an meine fürchterliche Kindheit heranlasse.« wenn das nicht immer gut für mich ist.«
320 Kapitel 16 · Chronische posttraumatische Belastungsstörungen im Alter

Therapeutin: »Lassen Sie uns genau und vor- de. Und das möchte ich nicht tun! Ich muss ihre
urteilsfrei diese Oberzeugungen ansehen. Ist es Erinnerungen nahe bei mir festhalten, weil ich das
z. B. wahr, dass Sie jedem leid tun würden, wenn Ganze überlebte und sie niemals vergessen darf.«
Sie eine Gehhilfe benutzten?« Hier ermöglicht die Metapher des »Buffets« mit
(Hier beginnt die Therapeutin einen sokrati- einer Anzahl von Wahlmöglichkeiten die Bestäti-
schen (oder rationalen) Dialog (s. Kap. 8) über gung, dass die alten Verhaltensweisen vermehrt
ein traumabedingtes Schema.) werden, anstelle sie aufgeben zu müssen.
Anna: »Gut, vielleicht nicht jedem. Aber eini- Über den Verlauf von 6 Sitzungen wurden die
gen.« Überzeugungen und die ihnen zugrundeliegen-
Therapeutin: »Das ist richtig. Ich würde das den, durch das Trauma erzeugten Schemata ratio-
gern an die Tafel schreiben. Und es ist wahr, dass nal diskutiert (s. Arbeitsblatt 5 im Anhang). Es
Sie Ihre Gebrechlichkeit herausstellen würden? Die wurden die vielen Formen besprochen, durch
Gehhilfe wäre dann so etwas wie eine große An- die dieses Schema Annas Freude am Leben über-
zeigetafel, die sagt: >Anna ist gebrechlich, schaut lagerte und verdeckte.
her?< Und jedermann wird an der Anzeigetafel In der 12. Sitzung stimmte Anna zu, die Geh-
vorbeigehen und seinen Freunden erzählen, die hilfe zu benutzen.
erzählen es dann ihren Freunden, die es wiederum Anna: »Aber nur einmal. Ich habe nicht die
ihren Freunden erzählen? Ziemlich bald werde ich Absicht, daraus eine Gewohnheit zu machen, sie
in Zeitschriften und im Fernsehen sehen >Anna ist zu benutzen.«
gebrechlich<? Vielleicht sogar in den Abendnach- Therapeutin: »Natürlich nicht. Die Gehhilfe
richten? Das alles, weil Sie eine Gehhilfe benutz- könnte nicht richtig funktionieren. Wenn dies
ten?« (Therapeutin und Anna lachen). der Fall ist, vergessen wir es. Aber es freut mich
Anna: »Gut, wenn Sie es so sagen, klingt es sehr, dass Sie die Gehhilfe wenigstens einmal pro-
verrückt. Ich denke sogar nicht wirklich, dass es bieren wollen.«
irgend jemanden interessiert. Die Wahrheit bei An diesem Punkt muss eine Unterscheidung
der Sache ist, dass ich an die frische Luft kommen zwischen dem Zweck der Therapie, den Thera-
würde, und ich werde bestimmt nicht stärker da- piezielen und therapeutischen Interventionen ge-
von werden, mich im Haus zu verstecken.« macht werden. Der Zweck der Therapie älterer
Anna muss dabei nahegebracht werden, dass Menschen mit PTB ist es, die belastenden Symp-
sie nicht aufgefordert wird, das durch das Trau- tome zu verringern.
ma erzeugte Schema aufzugeben, denn dieses Therapieziele können die Verbesserung des
hat ihr in der Vergangenheit gut gedient. Sie wird Bewältigungsverhaltens (z. B. das Beschäftigen
lediglich dazu ermuntert werden, ihren Möglich- mit angenehmen Tätigkeiten) oder den Aufbau
keiten etwas hinzuzufügen. Patienten sind oft ge- funktionalerer Schemata beinhalten.
willt, neue Gedanken und Verhaltensweisen auf- Therapeutische Interventionen sind die Mit-
zunehmen, wenn sie merken, dass sie die alten tel, durch die die Therapieziele erreicht werden
nicht verwerfen müssen. können. Wenn eine besondere Intervention nicht
Es passiert manchmal, dass -bevor das nicht- erfolgreich ist, dann gibt es unzählige andere, die
funktionale Verhalten aufgegeben wird - der Pa- versucht werden können. Der Therapeut ist nur
tient Angst davor bekommt, seine traumatischen durch die eigene Kreativität eingeschränkt. Dem-
Erlebnisse »ungültig« zu machen. Diese Angst zufolge kann der Therapeut wirklich flexibel in
kann durch Bestätigtwerden, Zuversicht und Res- den Fällen sein, wenn der Patient Teilziele nicht
pekt vor dem Erlebten gemildert werden. erreicht. Er kann den Patienten trotzdem weiter
Beispielsweise behauptete ein älterer ehemali- positiv achten und den Geist der gemeinsamen
ger Soldat: »Wenn ich mich an all diesen unange- Anstrengungen weiter pflegen.
nehmen Aktivitäten beteilige, werde ich mich si- In der nächsten Sitzung berichtete die Patien-
cher meines Lebens mehr erfreuen, und das ist gut tin Folgendes:
so. Aber ich befürchte, dass ich, wenn es mir zu Anna: »Gut, ich wusste, dass ich heute zu Ih-
gut geht, meine Kriegskameraden vergessen wer- nen kommen würde, also ging ich gestern raus
16.3 · Behandlung 321 16
für einen kurzen Spaziergang mit meinem Mann. Entwicklung neuer Schemata. Die Entwicklung
Ich benutzte die Gehhilfe, aber ich ging nur einmal neuer Schemata benötigt Aufmerksamkeit und
um den Block.« Arbeit. Dies führt zu einer Art »kognitiver Dis-
sonanz«, in der die älteren, durch das Trauma er-
zeugten Schemata, und die neuen miteinander
konkurrieren.
»Re-storying« Die Therapeutirr besprach sehr detailliert An-
(»erzählendes Wiederherstellen«): nas Gedanken und Verhaltensweisen, die zur Be-
Ausweitung und Integration nutzung der Gehhilfe führten. Diese Ausführlich-
Oft ist es für den Therapeuten schwierig, die The- keit diente dazu, Annas Überzeugung, dass sie
rapieerfolge festzustellen. Es ist deshalb wichtig »bereit ist, neue Dinge auszuprobieren« noch ein-
für den Therapeuten, aufmerksam für »verdeck- mal zu bekräftigen. Die Therapeutin verstärkte
te« therapeutische Erfolge zu sein. Diese Erfolge Annas neue Einsicht durch weitere Erklärungen:
verdienen Anerkennung. Die Anerkennung dient »Das ist die Definition von Courage haben.«
verschiedenen Funktionen. Erstens bedeutet sie,
dass therapeutische Erfolge überhaupt so etwas Integrieren durch »Re-storying<< (»erzählendes
Wiederherstellen«). Der letzte Schritt bei der He-
wie eine Würdigung verdienen. Zweitens ist die
Anerkennung, wenn die therapeutische Bezie- rausbildung eines neuen Schemas nutzt die
hung zum Therapeuten stark ist, eine Quelle für natürliche Neigung der Älteren aus, die Erinne-
Zufriedenheit und Stolz für den Patienten. Aber rungen zu erzählen und mitzuteilen (Jansari &
v. a. bereitet die Anerkennung von therapeuti- Parkin, 1996).
schen Erfolgen eine Möglichkeit zur In Annas Fall fragte die Therapeutin: »Welche
- Festigung therapeutischer Gewinne, Worte der Ermutigung würden Sie jemandem an-
- zur Entwicklung neuer Schemata und bieten, der ähnliche Sorgen hat? Was würden Sie
- für die Integration dieser neuen Schemata ihm erzählen?«
mit den ursprünglich durch das Trauma Anna antwortete: »Ich würde ihnen sagen, es
erzeugten Schemata. einfach auszuprobieren. Das Ergebnis wird ihnen
vielleicht nützen. Und am Ende können sie sich
selbst froh darüber fühlen, dass sie den Mut hat-
Festigung therapeutischer Gewinne. Die eben ten, etwas Neues auszuprobieren.«
vorgestellte Schemaarbeit kann als ein Prozess
aufgefasst werden, bei dem neue Verhaltenswei-
sen und Kognitionen »wiederhergestellt« und in Zusammenfassend: Die Sitzungen 4-1 5 be-
einem neu gestalteten Lebenslauf eingebettet wer- stehen daraus, einzelne Therapieziele zu set-
den. Hier sind die Theorie und die Techniken von zen, Interventionen durchzuführen, die auf das
der Erzähltherapie (»narrative therapy«, White & Denken und Verhalten ausgerichtet sind sowie
Epston, 1990) geliehen, bei der das Hauptaugen- das Wiedererzählen der einzigartigen eigenen
merk auf den Sinnzuschreibungen liegt, die die Erfahrungen zu praktizieren.
Patienten ihren Erlebnissen zuordnen. Die Tech-
nik des »Re-storying« wird durch strategisch ge-
stellte Fragen des Therapeuten erleichtert.
Annas Therapeutirr fragte: »Was sagt Ihre Be- 16.3.4 Abschluss: Sitzungen 16-20
reitschaft, die Gehhilfe zu benutzen, über Sie als
Mensch aus?« (Diese Frage erlaubt es den Älteren, In unkomplizierten Fällen ist das Ziel der Sitzun-
über sich selbst in globalen Begriffen nachzuden- gen 16-20 der Therapieabschluss. Während die-
ken. Dadurch wird die Grundlage für eine neue ser letzten Sitzungen der Behandlung betrachten
Schemabildung gelegt). Patient und Therapeut den Behandlungsverlauf
Anna antwortete: »Gut, ich denke, es besagt, noch einmal und versuchen, sich potentielle
dass ich bereit bin, neue Sachen auszuprobieren.« Schwierigkeiten vorzustellen, denen der Patient
322 Kapitel 16 ·Chronische posttraumatische Belastungsstörungen im Alter

in Zukunft begegnen könnte. Ich habe festgestellt, Zusammengefasst lässt sich festhalten, dass The-
dass es hilfreich für Patienten ist, ein vorausbli- rapeuten flexibel in Bezug auf ihre Interaktionen
ckendes Szenario in einem Heftehen mit dem Ti- mit behinderten alten Menschen sein sollten.
tel »Überlebensführer« niederzuschreiben. Der
Überlebensführer kann andere nützliche Infor- f) Beispiel
mationen enthalten, wie z. B. Telefonnummern Karl ist ein 82-jähriger, Kriegsversehrter (Amputa-
und bereits fertige Hausaufgaben. tion im 2. Weltkrieg) mit Demenz, bei dem sich
Die letzten Sitzungen können mit längeren eine PTB in einer sehr eigenen und unvergleichli-
Unterbrechungen zwischen den Treffen geplant chen Art zeigt. Der Patient hat bereits seit 3 Jahren
sein. »Auffrischungssitzungen« können 1, 3 und in einem Langzeitpflegeheim ohne Zwischenfälle
6 Monate nach dem Abschluss der Behandlung gelebt. Kürzlich jedoch wurde das Personal
geplant werden, um Behandlungserfolge zu festi- beunruhigt, als Karl versuchte, andere Patienten
gen. Der Therapeut kann den älteren Patienten anzugreifen, indem er sich auf andere Patienten
auch bitten, ungezwungen anzurufen, wenn sich warf. Dies war eine beachtliche körperliche Leis-
Fragen oder Gesprächsbedarf ergeben. tung für Karl, wenn man seine körperlichen Ein-
schränkungen bedenkt. Das Personal machte sich
Sorgen über die Selbst- und Fremdgefährdung des
Patienten. Eine psychologische Untersuchung
16.4 Spezifische Bemerkungen wurde eingeleitet.
Während seines Interviews mit dem Psycho-
Wenn ältere PTB-Patienten kognitiv und körper- logen zeigte Karl kein psychiatrisches Leiden. Er
lich sehr schwer eingeschränkt sind, fordert das erschien ruhig, sozial angemessen und aktiv, ob-
den Therapeuten dazu heraus, sehr kreativ zu wohl sein Kurzzeitgedächtnis stark eingeschränkt
sein. Trotz dieser Schwierigkeiten bleibt die Be- war. Der Psychologe erfuhr, dass der Patient im
handlung oft sehr effektiv und lohnend. 2. Weltkrieg Sanitäter gewesen war. Während einer
- Beispielsweise sollte ein Therapeut, der mit besonders schrecklichen Serie von Bomben-
geistig eingeschränkten Älteren arbeitet, die- angriffen auf dem Gefechtsfeld, als er sich um
se ermutigen, sich auf die Benutzung des Verwundete kümmerte, entschied er sich dafür, die
»Merkbuches« zu verlassen, das wichtige In- verwundeten Soldaten mit seinem eigenen Körper
formationen (wie z.B. Telefonnummern, The- abzudecken. Dies war ein verzweifelter Versuch,
rapieaufgaben und einen Plan täglicher Akti- die Verwundeten möglichst frei von Splittern zu
vitäten) enthält. Das Merkbuch wird dann ein halten.
wichtiger Zusatz in der Therapie. Das Langzeitpflegeheim wurde z. Z. renoviert,
- Im Fall, dass der ältere Mensch gehörgeschä- wobei die Bauarbeiten ziemlich laut waren. Es gab
digt ist, kann die Benutzung einer tragbaren gelegentliche explosive Geräusche, die an Bom-
elektronischen Hörhilfe nützlich sein. beneinschläge erinnerten. Was dem Pflegeper-
- Wenn das Sehvermögen eingeschränkt ist, sonal als Angriffsverhalten erschien, war tatsäch-
können Aufgaben in großer Druckschrift lich das erneute Nachspielen seines heldenhaften
oder Tonbandaufnahmen der Sitzungen Altruismus. Der Psychologe arbeitete daraufhin
nützlich für die Patienten sein. mit dem Pflegepersonal, um Karls durch Erinne-
- Falls die Mobilität des älteren Menschen ein- rungen ausgelöste Ängste zu verringern, die durch
geschränkt ist, kann der Therapeut auch be- das Rekonstruktionsprojekt wieder aufgetreten
reit sein, Hausbesuche oder Telefonberatun- waren.
gen zu machen.
- Wenn der ältere Patient von der Pflege durch Anmerkung der Autorin:
Familienmitglieder oder Andere abhängig ist, Dieses Kapitel beruht auf der klinischen Erfah-
ist es nützlich, diese Pflegepersonen in die Be- rung, die Cheryl Hankin als Assistenz-Psycho-
handlung einzubeziehen - vorausgesetzt al- login und Doktorandin an der Geriatrisch-Medi-
lerdings, der Patient stimmt zu. zinischen Klinik, Abteilung für ältere Erwachsene
Literatur 323 16
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324 Kapitel 16 · Chronische posttraumatische Belastungsstörungen im Alter

Arbeitsblatt 1

Tägliche Bewertungsskala für den Schmerz:


Annas Hausaufgabe für die 2. Sitzung

Schmerztagebuch

Wochentag Schmerzniveau laut Skala

Montag

Dienstag

Mittwoch

Donnerstag

Freitag

Samstag

Sonntag

Arbeitsblatt 2

Tagebuch und Schmerzskala: Annas Hausaufgabe für die 3. Sitzung

Wochentag Tägliche Aktivitäten Schmerz- Schlaf in der Nacht davor


niveau

Montag Kopfschmerzen, ferngesehen, ausgeruht 8 von Mittemacht bis 5 Uhr geschlafen,


insgesamt 5 h

Dienstag Enkel zu Besuch gekommen, 5 eingeschlafen um 23 Uhr, um 3 Uhr auf-


mit ihm gespielt gewacht, nochmal eingeschlafen von f>-7,
zusammen 5 h

Mittwoch Ruhiger Tag. Freunde kamen zum 3 eingeschlafen um 23 Uhr, auf um 8 Uhr,
Besuch rüber insgesamt 8 h

Donnerstag Beunruhigendes Telefonat mit der 9 von Mitternacht bis 7 Uhr, insgesamt 7 h
Tochter, ausgeruht

Freitag versuchte ein Buch zu lesen, ausgeruht 9 eingeschlafen um 1 Uhr, aufgewacht


um 3, nochmal eingeschlafen von 5 bis 7,
zusammen 4 h

Samstag ganze Familie beim Essen im Restaurant 7 eingeschlafen um 23 Uhr, aufgewacht


zusammen gewesen um 5 Uhr, insgesamt 6 h

Sonntag Regentag, ausgeruht 5 eingeschlafen um 22 Uhr, aufgewacht


um 6 Uhr, insgesamt 8 h
Arbeitsblätter
325 16
Arbeitsblatt 3 Arbeitsblatt 4

Liste angenehmer Aktivitäten, die von Anna in Vorteile und Nachteile von Annas innerer Über-
der 5. Stunde angefertigt wurde zeugung: »Ich muss mein Leben meistern, ohne
Schwächen zu zeigen, sonst bin ich wertlos«
Dinge aus der Natur, Geselligkeiten,
die mir gefallen die mir gefallen Vorteile Nachteile

- Vögel singen hören - Telefonieren mit den Ich war in der Lage mein Ich kann mich nicht
Kindern oder Freunden Leben durchzustehen schutzlos zeigen
- Dem Zug der Wolken
zuschauen Kaffeetrinken mit Ich wurde in meinem Ich muss immer stark sein
Freunden Beruf erfolgreich
- Blumen arrangieren Ich kann es mir nicht
Stilles Zusammensein Ich habe eine gute Ehe erlauben, krank zu sein
- Den Sternenhimmel mit meinem Mann
und den Mond Ich habe Kinder, die Ich zwinge mich manch-
beobachten mich schätzen mal zu etwas

Ich habe Freude an mei· Ich kann mich nicht richtig


nen Enkeln erholen und an meinen
Rentnerjahren erfreuen

Arbeitsblatt S

Rationale Diskussion von Annas traumabedingten Schemata (7.-12. Stunde). Vgl. a Abb.l6.4
Traumabedingte Überzeugungen Rationale Diskussion
(Schemata)

Jeder wird mich bemitleiden Es kann sein, dass einige so denken und andere auch nicht.
Ich weiß es nicht

Ich stelle meine Gebrechlichkeit zu sehr heraus Wen stört das? Ich gehe halt an die frische Luft. Es wird sicher
nicht besser, wenn ich den ganzen Tag zu Hause bleibe

Jeder wird merken, dass ich schwach bin Noch einmal: ich weiß nicht, was die anderen denken. Deswegen
bringt es nichts, zu überlegen, was die anderen denken könnten

Jeder wird merken, dass ich ein Opfer bin Ja, Ich war ein Opfer. Ich wurde um meine Kindheit betrogen.
Aber die Leute werden wegen meiner Gehhilfe nicht an meine
Kindheit denken

Ich bin ein gebrochener Mensch Mich schmerzt das, was damals passiert ist. Immer noch sehr.
Aber ich bin sicherlich kein gebrochener Mensch

Ich bin wertlos Ich denke, das ist auch nicht zutreffend. Ich bin mit Kindem
und Enkeln gesegnet, die mich lieben. Mein Mann liebt mich.
Das macht mein Leben lebenswert
Sachverzeichnis 327 A-C
Sachverzeichnis
Augenbewegungstherapie (s. Eye Movement Desensitization
A and Reprocessing, EMDR)
Auslösesituation 276
autobiographisches Gedächtnis 22, 289
Autofahrphobie 273
Abhängigkeitsentwicklung 131, 134, 135
autogenes Training 260
ABS (s. auch akute Belastungsstörung)
automatische Gedanken (s. Gedanken)
Abwehr 42
Automutilation 170, 181
Accident phobia (s. Phobia)
Azapirone 132
Affektdurchbruch 224
Affektregulation 181
aggressives Verhalten 282
Akkommodation 142
Aktivierung, psychephysiologische 269
Aktivität 318
B
- Aufbau 276
- psychologische 269 Bedrohung, anhaltende Wahrnehmung der 22
- Plan 316 Befürchtungen und Erwartungen, Betrachtung von 102
akute Belastungsreaktion (auch akute Belastungsstörung, Belastungsfaktor 250, 251
ABS) 58 Belastungsreaktion
- Diagnostik 188 - akute 32, 38, 108, 252, 253
- dissoziative Symptome 187 - positive 252
- Risikofaktoren 189 Belastungsstörung, akute (s. akute Belastungsstörung)
Albtraum 40, 131, 143, 169, 179, 234, 269, 317 Benzodiazepin 131, 132, 134, 135, 260, 277 .
Alkohol 130, 277 Betäubung 6, 120
- Konsum 217 Betrachtung von Befürchtungen und Erwartungen 102
- Missbrauch 16 Betroffener 209, 210
Alprazolam 260 Bewältigungsstrategie 272, 276, 311
Alterungsprozess 314 - Bewältigungskompetenz 318
Amitriptylin 133 - Bewältigungsressource 315
Amnesie 7, 143, 170 - Bewältigungsverhalten 312
Amygdala 23 - Eitern als Modelle 288
Analgesie 225 Beziehung, therapeutische (s. therapeutische Beziehung)
Analgetika, Missbrauch 278 Bild malen als Diagnostik 291
Anamnese 172, 173 Bildschirmtechnik 175
Angstbewältigungstraining 78, 81, 175 biochemische Veränderungen 23
Angstskala 272 Boostersession (s. Auffrischungssitzung)
Angststörung 68, 92, 133, 175, 224, 268 Borderline-Persönlichkeitsstörung 67, 68, 181
Angstsymptom 38 Brofaromin 134
Angstzustände 131 Burning feet-Syndrom 236
Anpassung 312 Burnout-Prophylaxe 37, 44
Anpassungsstörung 68, 188 Buspiron 135
Antidepressiva 131, 132
- serotonerge 133
- trizyklische 132, 133, 260, 277
Antikonvulsivum 135, 136
Anxiolytika 132, 135 c
- Missbrauch 278
Ärger 12, 29, 299
Ärgermanagement-Strategie 174 CAPS (Ciinician-Administered PTSD Scale) 59, 60
Assimilation 142 Carbamazepin 13S
Atemkontrolltechnik 175 CISD (Critical lncident Stress Debriefing, s. auch ereignis-
Aufarbeitung (s. auch Integration) 226 bezogene lnterventionsmaßnahmen) 257
Auffrischungssitzung 72, 322 CISD (Critical lncident Stress Debriefing, s. Debriefing)
aufrechterhaltende Faktoren, Erfassung von 70 Clinician-Administered PTSD Scale (CAPS) 59, 60
Auftragsklärung 228 Cognitive Processing Therapy 143
328 Sachverzeichnis

Complex Posttraumatic Stress Disorder (CPTSD, komplexe Drogenmissbrauch 16


PTB) 12, 13, 224 Drogensucht 16
Compliance 277 DSM (Diagnostic and Statistkai Manual of Mental
Conspiracy of silence (s. auch Defensivität) 43 Disorders) 269
Contact abuse 168 DSM-IV 8, 13, 55, 58, 252, 268
Coping Skills Training 175 Durcharbeiten 49, 108, 114
Copingstrategie (s. Bewältigungsstrategie) dysfunktionale Kognition 272
CPTSD (Complex Posttraumatic Stress Disorder, komplexe dysfunktionale kognitive Schemata (s. kognitive Schemata)
PTB) 224 dysfunktionales Verhalten 252
Critical lncident Stress Debriefing (CISD, s. auch ereignis-
bezogene lnterventionsmaßnahmen, Debriefing) 193,
257

Eigenmedikation 130
Einordnung in autobiographischen Kontext 286
Einsatzdurchführung 257
Debriefing (CISD) 192, 256 - Einsatzbegleitung 256
- Critical lncident Stress Debriefing (CISD) 193, 257 - Einsatzvorbereitung 254, 257
- Determinanten psychologischer 195 Einsatznachbereitung 256, 257, 259
- Diskussion um Effektivität 194 Eitern
- Durchführung in der Gruppe 195 - Einbindung in die Behandlung 293
- Phasen des Debriefingprozesses 193 - Kommunikationsstil 289
- subjektive Akzeptanz 195 - als Kotherapeuten 297
- Vergleich mit kognitiver Verhaltenstherapie 197 - als Modelle für Coping 288
- weitere Verfahren 199 - Training 301
Debriefing-Gruppen 208, 209, 212 EMDR (Eye Movement Desensitization and Reprocess-
Defensivität (s. auch conspiracy of silence) 43 ing) 29, 31, 80, 82, 197, 230, 260, 293
Denkmuster emotionale Erstarrung (s. Erstarrung)
- Diskussion fehlerhafter 316 emotionale Reagibilität 269
- fehlerhaftes 147, 155 emotionale Taubheit 317
Depathologisierung 174, 180 emotionaler Ausdruck 298
Depersonalisation 170, 175 Empathie 43, 226
Depression 68, 131, 172, 224, 274 Entfremdungsgefühl 7, 20, 40, 223, 253
- reaktive 13, 14 Entspannungstraining 84, 212, 271, 274
Depressive Störung 170, 271 Epidemiologie 168, 268
Deprivation 228, 251 - lnzidenz 270
Derealisation 170, 175 ereignisbezogene Interventionsmaßnahme 257
Desensibilisierung, systematische 212, 271 , 273, 274 Erinnerung 146, 269, 271
Desipramin 133 - Attacken 314
DESNOS (Störungen durch Extrembelastungen) 11 - intrusive 92
Diagnoseprotokoll 313 - Störungen 234
Diagnostik 96, 111, 167, 172, 276, 314 Erstarrung 228
- Eingangsdiagnostik 45, 46 - emotionale 108
dialektische Verhaltenstherapie (s. Verhaltenstherapie) Erste Hilfe, psychische 191
Dialog Erstgespräch 38, 47
- konstruktiv-narrativer 229, 235 Erwartung, negative (s. negative Erwartung)
- sokratischer (s. auch sokratischer Dialog) 103 Erwartungsangst 239
Differenzierung zwischen den Betroffenengruppen 199 Erzähltherapie (narrative therapy) 321
Disclosure (siehe auch Offenlegung der traumatischen Essstörung 224
Erinnerungen) 27 Ethik, therapeutische 244
Dissoziation 169, 170, 175, 225, 230, 244 Exposition (s. auch prolonged exposure, s. auch Trauma-
- peritraumatische 26 exposition, Konfrontation) 96, 176, 232, 233, 238, 271,
dissoziative Störung 14, 114, 224 273
dissoziative Tendenzen 12 - graduierte 274
Down-arrowing 319 Exposition in sensu 178, 272, 274
Driving phobia (s. Phobia) Exposition in vivo 272, 274, 301
Sachverzeichnis
329 D-1
Expositionsbehandlung 276, 278 - Zusammenhang 102
Eye Movement Desensitization and Reprocessing gedankliche Verleugnung (s. Verleugnung)
(Augenbewegungstherapie, EMDR) 29, 31, 80, 82, 197, Gedenkort 32
230, 260, 293 Gefühle der Stigmatisierung (s. Stigmatisierung)
- Phasen 197 Gefühlskontrolle 116, 120, 124
- Rückfälle bei 83 Gefühlsregulation 44
- Wirksamkeit als Frühintervention 198 Gegenkonditionieren 229, 238
Gegenübertragung 42
Generalisierung 179
Genexpression 287

F gerechte Weit, Schema der (s. Schema)


Geretteter 211
Geschlechterunterschied in der Prävalenz (s. Prävalenz)
Gestalttherapie 226
Falanga 234
gesundheitsfördernde Faktoren oder Ressourcen 27
Familienbetreuungszentrum 256
Familienklima 287 Glaubwürdigkeit des Kindes 289
Glukokortikoide 287
Familienmitglieder 50, 99
Großschadensereignis 186, 192, 199, 200
fehlerhafte Denkmuster (s. Denkmuster)
Grounding-Technik 175
Flashback 7, 48, 143, 169, 178, 225, 227, 231, 234, 237,
314, 317 Grübeln 93
Grubenwehr 211
Fluoxetin 133
Gruppenkohäsion 255
Fokussierung 230, 233
Followup-Brief 180 Gruppentherapie 180, 212
Folter 10, 222
- audio-visuelle 234
- Elektrofolter 240
- psychische 222
- sexuelle 222
H
Frage, herausfordernde 147
Frühintervention 88, 186
Habituation 23, 76, 232, 242
- Eye Movement Desensitization and Reprocessing 197 Halluzination 253
- Forschungsbedarf 200
Halswirbelsäulen-Beschleunigungstrauma 268, 274
- kognitiv-behaviorale 196
Hausaufgabe 179, 271, 317
- Wirksamkeit von EMDR als Frühintervention 198
Heilungsprozess 49
- Wirksamkeitsprüfung 192 Hemmschwelle 210
Frustrationstoleranz 269, 270 Herausfiltern, Technik des 316, 319
Führungsverhalten 255
HHNA (Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-
Funktionsbeeinträchtigung, sekundäre 54, 69 Achse) 23, 24
Furchtnetzwerk 178
Hierarchie 179, 182, 276
Furchtstruktur 18, 76, 77, 178
Hilflosigkeit 268, 270
Holocaust 223
Hyperarousal 6, 136, 276
Hypervigilanz 225, 228
G hypnotherapeutisches Verfahren 237, 244, 260
Hypocampus 23
Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse
Gate-controi-Theorie 236 (HHNA) 23
Gedächtnis, autobiographisches (s. autobiographisches
Gedächtnis)
Gedächtnisbeeinträchtigung 172
Gedanken
- automatische 236
- Entwicklung alternativer 103
- Kontrolle 116, 120, 124 ICD (Internationale Klassifikation psychischer
- Stop 175 5törungen)-1 0 9, 13, 252
- Unterdrückung 22, 99, 288 Identifikation von Gedanken und Gefühlen 146
Gedanken und Gefühle Identifizierung von Hochrisikopersonen 192
- Identifikation von 146 IES-R (s. Impact of Event-Skala) 63
330 Sachverzeichnis

lmagery Rescripting and Reprocessing 29, 177 - Psycheedukation 299


Imagination 179, 243 - Psychopharmaka 293
- imaginierte Exposition (s. Exposition) - Ziele der kognitiv-behavioralen Therapie 297
- Übung 230 Kindesmissbrauch, sexueller (s. auch sexueller
imaginatives Verfahren 231 Missbrauch) 168, 287, 288
lmaging Rescripting 29 Kindling 136
lmipramin 134, 277 Kleinkinder
Impact of Event-Skala - Revised (IES-R) 63 - traumatisierte 283
Informationsüberlastung 110 klinisches Interview, strukturiertes (s. Interview, strukturiertes
Infragestellen unangemessener Überzeugungen 154 klinisches)
Integration (s. auch Aufarbeitung) 215, 226, 233 kognitive Intervention 92, 102
- des Ereignisses 144 kognitive Schemata 286, 310, 311
- von Schemata 114 kognitive Schemata, dysfunktionale 178
INTERAPY (s. Internet-gestützte Therapie) 29 kognitive Umstrukturierung 25, 28, 29, 77, 149, 177, 212,
Internet-gestützte Therapie (INTERAPY) 29 271, 273
Interpretation, katastrophisierende (s. katastrophisierende kognitive Verarbeitungstherapie 80, 142, 143, 144, 149
Interpretation) kognitive Verhaltenstherapie (s. auch Verhaltenstherapie,
Intervention KVT) 31
- Ich-stützende 212 - für Kinder und Jugendliche 297
- kognitive (s. kognitive Intervention) kognitive Vermeidung (s. auch Vermeidung) 92
- therapeutische (s. therapeutische Intervention) - paradoxe Effekte 93
Interview kognitiver Irrtum 177
- strukturiertes für Kinder und Jugendliche 289 kognitives Modell der Aufrechterhaltung posttraumatischer
- strukturiertes klinisches 55, 271, 292 Symptomatik 92, 95, 102
Intervision 233 kognitives Störungsmodell 21
Intimitätsproblem 148 Kohärenzsinn, Kritik am Kohärenzsinnkonstrukt 27
Intrusion 77, 92, 98, 108, 111, 120, 169, 178, 225, 235, Kombinationstherapie 82, 85, 131
275, 277 Kommunikation, offene 302
- Bedeutung und Interpretation 94 Kommunikationsstil der Eitern 289
- negative Bedeutung 95 Kommunikationstraining 174
- Tagebuch zum Aufrechterhalten von 100 Komorbidität 16, 69, 130, 131, 133, 173, 271, 274
lrritierbarkeit 269, 270 Kompetenz 174, 182
Irrtum, kognitiver (s. kognitiver Irrtum) Komplikationen 210
Konditionierung
- klassische 224, 225
- operante 224
J Konflikt zwischen Selbstkonzepten 111
Konfrontation (s. auch Traumaexposition) 39, 49, 50, 76, 98,
145, 215, 217, 240, 249, 269, 276, 316
Jahrestag, Reaktion auf 310 - Formen bei Kindern und Jugendlichen 300
Janet, Pierre 26 - gestufte 238
juristische Auseinandersetzung 278 - imaginative 84
- langdauernde (prolonged exposure) 77, 79, 81, 82, 85
- Therapie, Wirksamkeit 81
Konfrontation in sensu 176, 215, 291
Konfrontation in vivo 176, 217, 240
Konfrontationsverfahren 78, 96, 144, 175, 215
Kontrollgruppenstudien, randomisierte 31, 291
Katastrophe 186, 206, 209 - Plazebo-kontrolliert 130, 132
katastrophisierende Interpretation 94 Kontrollüberzeugung 39
Kinder Kontrollverlust 228, 235
- unter 4 Jahren, Kriterien 283 Konzentrationsprobleme 8, 111, 216
- traumatisierte 211 Konzentrationsstörungen 234
Kinder und Jugendliche Kopfschmerzen 275
- Art der Traumatisierung 285 körperorientierte Psychotherapie (s. Psychotherapie)
- Besonderheiten der PTB-Symptomatik 282 Kortisolspiegel 23
- biologische Entwicklung 287 Krankheitsbewältigung 278
- epidemiologische Studien 284 Krankheitsmodell 271, 272, 276
Sachverzeich nis 331 J-P
Krisenintervention 190
- akute 259, 277 0
KVT (s. Kognitive Verhaltenstherapie)

offene Kommunikation (s. Kommunikation)


Offenlegung der traumatischen Erinnerungen 27
L Opfer 40, 112, 143, 168
Opferrolle 212, 213, 215
Opfer-Täter-Beziehung 172
Labeling 47 Organstörungen, stressbedingte funktionelle 248
Lamatrigin 135 Oszillationsphase 120
Langzeiteffekt 314
Lebensbedrohlichkeil 289
Leidensdruck 39
Life-Review-Therapie 29
Lithium 135, 260
p

Paroxetin 133, 277


Patientenrolle 39
M Patient-Therapeut-Beziehung (s. auch therapeutische
Beziehung) 41, 46
Pävention, primäre (s. primäre Prävention)
Maladaptive Überzeugung (s. Überzeugung)
PDS (Posttraumatic Diagnostic Scale) 65
Man made disaster 5, 222
Peers 195
MAO-Hemmer 132, 134
Pensionierung 311
Mehrgenerationenproblematik 223
peritraumatische Dissoziation 26
Menschenrechte 222
Personalauswahl 254
Missbrauch, sexueller (s. sexueller Missbrauch)
persönliche Reifung 28, 30
Missbrauchssyndrom 169
Persönlichkeit, prätraumatische 237
Mitleidsmüdigkeit 44
Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung,
Modelllernen 175, 180
andauernde 253
Monoaminoxidase-A-Hemmstoffe (s. MAO-Hemmer)
Persönlichkeitseigenschaften 115, 119, 124
Monotherapie 131
Persönlichkeitsstörung 277
Mood Stabilizer 135, 136
Pfarrer 207
Multimorbidität 224
Phenelzin 134
Muskelentspannung, progressive (auch Muskelrelaxation,
Phobia (auch Phobie)
progressive) 175, 236, 260, 272, 276
- accident 273
- driving 273
- travel 273
physiologische Veränderung 23
N Posttraumatic Diagnostic Scale (PDS) 65
Posttraumatic Growth (posttraumatische Reifung) 28
Posttraumatische Belastungsstörung (s. auch PTB)
Nachsorge 199
- Kohärenz des Störungsbildes 9
narrative therapy (Erzähltherapie) 321
- subsyndromale 270
Negative Erwartung 98
- Symptommuster bei Kindern 11
Neubewertung 77, 180, 215
- Verlauf 17
Neuroleptikum 131, 132, 136
posttraumatische Persönlichkeitsveränderung, andauernde
neuropsychologische Beeinträchtigung 271, 275
(s. Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung)
Neurotizismus 254
posttraumatische Reaktionen, Phasen 109
NLP 226, 229
posttraumatische Reifung (Posttraumatic Growth) 28
Noncontact abuse 168
posttraumatische Stress Skaia-l 0 (PTSS-1 0) 65
Notfallpsychologie 209
prädisponierender Faktor 254
notfallpsychologische Intervention
Prävalenz 131, 168, 169
- Basisregeln für Laienhelfer 191
- Dunkelfeldproblem 169
- Forschungsbedarf 186
- in Deutschland 16
- Indikationskriterien 189
- Geschlechterunterschied in der 284
- Regeln für professionelle Helfer 191
- in den USA 14, 15
332 Sachverzeichnis

Prävention 254 Re-storying 31 6, 321


- primäre 189 Restrukturierung 238
- Vorbereitung und Ausbildung 189 Retraumatisierung 12, 171, 227, 232, 244, 277, 278
Problemlösetraining 174 Reviktimierung (s. Retraumatisierung)
Prolonged exposure (s. auch Exposition, s. langdauernde RIMA (reversible MAO-A-Hemmstoffe) 134
Konfrontation) 176 Risikofaktor 25
Promethazin 277 Rollenspiel 175, 299, 301
PSS-SR (PTSD Symptom Skala) 64 Rollentausch 102, 243
psychische Erste Hilfe 191 Rückfallprophylaxe 232
psychische Störungen, Klassifikation 54 Rules of engagement 250
Psychodrama 226, 230, 243, 244
Psychoedukation 47, 144, 190, 229, 235, 271, 276,
299, 300
- Edukationsphase 145
psychologisches Debriefing (s. Debriefing) s
Psychopharmakatherapie 130
psychophysiologische Aktivierung (s. Aktivierung)
psychophysiologische Aktivität (s. Aktivität) Schadenersatzforderung 277
psychosomatische Erkrankung 248 Schamgefühle 172, 180, 223, 272, 278
psychosomatischer Schmerzzustand (s. Schmerzzustand) Scheinhinrichtung 234, 241
Psychotherapie Schema
- körperorientierte 226 - Arbeit 321
- Wirksamkeit 31, 80 - der gerechten Welt 142
Psychotraumatologie 268 Schlafmittel 130
PTB (posttraumatische Belastungsstörung) 17 Schlafstörungen 131, 134, 172, 234, 260, 277
- biologische Erklärungsansätze 23 Schlaftagebuch 236
Schlüsselreiz 46, 215
- chronische 312
- Differenzialdiagnostik 67 Schmerzen 244, 277
- Epidemiologie 14 Schmerzskala 31 7
- Erklärungsansatz von Horowitz 20 Schmerzsyndrom 268
- kognitive Schemata 20 - chronifiziertes 271
- komplexe (Complex Posttraumatic Stress Disorder, - chronisches 274, 275
CPTSD) 11, 12, 61,224 Schmerzzustand, psychosomatischer 238
- multifaktorielles Rahmenmodell 24 Schock 210
- prätraumatische Faktoren 25 Schreckhaftigkeit 269, 270
- sekundäre (s. auch Traumatisierung, stellvertretende) 44 Schreckreaktion 8, 23
Schuldgefühle 12, 26, 29, 111, 123, 171, 216, 234, 240, 253,
- subsyndromale 268
- Theorie von Janoff-Bulman 21 269, 270, 272, 278, 289
- verzögerter Beginn 17 - des Kindes 298
PTSD Symptom Skala - Self Report (PSS-SR) 64 Schutzfaktor 24, 25
PTSS-10 (posttraumatische Stress Skala-10) 65 SCL-90-R (Symptom-Checklist) 65
Screeningmethode 259
Screentechnik 230, 231, 233
Selbstachtung 148
Selbstberuhigungs- und Selbstbesänftigungs-
R möglichkeit 178
Selbstbeschuldigung 120, 145, 146, 170, 171, 176
Selbstbeurteilungsverfahren 271, 276, 316
Rache 12, 26, 29 selbstdestruktive Verhaltensweise 170, 181, 282, 297
Reframing 21 2 Selbstdia log, geleiteter 175
Reinszenierung 229 Selbstexploration
Reintegration 257 - taktile 176
Reiseangst 268, 273 - visuelle 176
Reizbarkeit 8 Selbstgespräche, positive 212
Rekonstruktion 231 Selbstkontroll-Strategie 174
Ressource (s. auch gesundheitsfördernde Faktoren) 173, Selbstkonzepte, Konflikt zwischen neuen und alten 111
212, 229, 230, 237, 254 Selbstsicherheitstraining 174
- Arbeit 20, 28 Selbststimulation, genitale 176
- Erfassung von 70 Selbstwahrnehmung des Opfers 77
Sachverzeichnis 333 R-V
Serotonin-Wideraufnahmehemmer (SSRI) 131, 132 therapeutische Beziehung (s. auch Patient-Therapeut-Bezie-
- selektive 133 hung) 38,39 45, 118, 122, 127, 174, 222,226, 317
Sertralin 133 therapeutische Ethik (s. Ethik)
Sexualerziehung 302 Therapeut-Patient-Beziehung (s. therapeutische Beziehung)
sexuelle Dysfunktion 172, 176, 177 Therapieabbruchrate 37, 41 , 149
sexueller Kindesmissbrauch (s. Kindesmissbrauch) Therapieevaluation 277
sexueller Missbrauch (s. auch Kindesmissbrauch) 142, 291, Therapiestudien, kontrollierte (s. Kontrollgruppenstudien)
294, 295, 296, 299 Therapietechnik 107, 117, 121, 126
Sicherheitsbedürfnis 46 Therapieziel 38, 47, 102, 173, 212, 317, 318, 319
- Probleme 147 Todesangst 224, 241
Sicherheitsverhalten 22 - als Stimulus 18
Simulation 68, 252 TOP-8 (Treatment Outcome PTSD Scale) 71
Sinnverlust 12 Trancearbeit (s. hypnotherapeutisches Verfahren)
Situationshierarchie 176 Tranquilizer 132
sokratischer Dialog 103, 233, 241, 320 Tranylcypromin 134
Somatisierung 170, 224 Trauerverarbeitung 207, 233
- Störungen 12, 16 Trauma
somatoformes Symptom 282 - Gedächtnis 22
Sozialarbeiter 209 - Klassifikation 5
soziale Anerkennung als Opfer bzw. Überlebender 27 - Kriterium 4
soziale Unterstützung 173, 251, 254, 256 - Schwere 25
sozialer Rückzug 253 - Skript 225
Spacing out 170 - Typ I 5
Spezialambulanz 275 - Typ II 5
Spiel mit Puppen 301 Traumaexposition 28
SSRI (Serotonin-Wiederaufnehmehemmer) 131, 132 - Dissoziation als Problem 86
Stabilisierungstechnik 30, 190 - Ermutigung durch den Therapeuten 87
stellvertretende Traumatisierung (s. Traumatisierung) - Therapierationale 86
Stigmatisierung 180 Traumatisierung
- Gefühle der 172 - im frühen Lebensalter, Besonderheiten 286
Störungen durch Extrembelastungen (DESNOS) 11 - sekundäre 275
Stressanalgesie 241 - stellvertretende (s. auch PTB, sekundäre) 44, 45, 227
Stressbewältigungstraining 277 Travel phobia (s. Phobia)
Stresshormon 23 Treatment Outcome PTSD Scale (TOP-8) 71
Stressimpfungstraining 79, 175 Trimipramin 277
Stressoren gesellschaftlicher Art 287 Trizyklika 132
strukturiertes Interview (s. Interview)
Subjective Units of Distress (SUD) 87, 36, 236, 242, 272
Substanzmittelabusus 268
Suizid 170, 173, 181, 182, 315
Suizidalität 136, 224, 285
u
Supervision 45, 208, 210, 233
Symptom-Checklist (SCL-90-R) 65
Überakkommodation 143, 144
Symptomkontrolle 235
Übererregtheit 131
Überidentifizierung 43
Überlebensführer 322
Überzeugung, maladaptive 174, 176

T Umstrukturierung, kognitive (s. kognitive


Umstrukturierung)

Tagebuch 101, 271, 276, 316, 317


- zum Aufrechterhalten von Intrusionen 100
Tagesstrukturierung 276 V
Täter 39, 93, 112, 126, 172, 223
- Konfrontation 178
Taubheit, emotionale (s. emotionale Taubheit) Valproat 135, 136
Technik des Herausfilterns (s. Herausfiltern) Valproinsäure 135, 136
Testimony 29, 30 Veränderungsmodell 47-49
334 Sachverzeichnis

Verarbeitungstherapie, kognitive (s. kognitive Verarbeitungs-


theorie) w
Verfestigung 310
Verfolgung, staatliche 222
Vergewaltigung 10, 93, 142, 151, 152, 171, 223, 252 Wachsamkeit 314, 317
Verhaltenstherapie Waffentragen 47
- dialektische 181 Wahnvorstellung 253
- kognitive 316 Werksfürsorge 206
Verkehrsunfall 268 Widerstand 111, 114, 123, 123, 143,317
Verleugnung, gedankliche 108 Wiedererleben 6, 136, 238, 244
Vermeidung (s. auch kognitive Vermeidung) 6, 49, 92, 93, 99, Wiederherstellen, erzählendes 321
112, 113, 116, 133, 143, 182,215,224,225,228,232,233, Wut 12
269, 270, 317
- paradoxe Wirkung 93
- partielle 268
Vermeidungsverhalten 77
- im Straßenverkehr, phobisches 273, 274, 275
z
Vertrauensaufbau 46
Vertrauensverlust 45, 147, 171 zirkadianer Rhythmus 251
Vortäuschen, artifizielles 68 Zusammenhang zwischen Gedanken und Gefühlen 102
zwanghafte Wiederholung des Traumas 108
Zwangsstörung 224

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