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Hans Liebstoeckl

Die Geheimwissenschaften im Lichte unserer Zeit


 
Amalthea-Verlag
Zürich Leipzig Wien
 
Alle Rechte vorbehalten.
Printed in Austria
 
Copyright 1932 by Amalthea-Verlag, Wien
Druck: St. Norbertus-Druckerei, Wien III.
 
 
Ο γαρ καιρός εγγύς
Denn die Zeit ist nahe
(Apokalypse I, 3.)

Vorwort

Alle regsamen Geister dieser Erde sind dem Problem der verborgenen
Dinge und den merkwürdigen Kundgebungen von der anderen Seite des
Daseins in ihrer Weise begegnet, je nach Schicksal und Neigung. Die
großen Lehrer der Menschheit, im wahren Lichte geboren und auf diesem
Planeten wandelnd, um das schöpferische Wort auf Erden zu verkünden
und zu hüten, sind über die Grundformen alles Geschaffenen, über
Erscheinung, Wesen und Sinn der menschlichen Angelegenheiten auf
diesem Stern von Anbeginn an einig gewesen; sie bewahrten die heilige
Erinnerung an den Ursprung alles Daseins und ihr Leben war ein Opfer,
das sie, der ewigen Heimat freiwillig entsagend, als Brüder, Genossen und
Freunde des Menschen brachten.
Oft genug in den drei Jahrzehnten intensiver Arbeit, die ich an das
Problem der Geheimwissenschaften gewendet habe, bin ich gefragt
worden: »Wo sollen wir beginnen?« »Was sollen wir lesen?« »Wo ist das
Bleibende und Verläßliche?« »Wie kommen wir dazu, uns jenes Wissen
anzueignen, ohne Berufsstörung, ohne in Einöden zu flüchten, ohne der
Pflichten gegen die Pflicht zu vergessen?« »Welche Schriften zu diesem
Gegenstand entsprechen unserer Geisteslage und jener der Zeit, in der wir
leben?« Manchmal ward wohl auch schüchtern oder ironisch hinzugesetzt:
»und wozu?«. »Was kommt denn schon dabei heraus?« Alle Welt greift
heute nach okkulten Büchern, läuft in Vorträge oder schließt sich
Geheimgesellschaften an, die oft mehr Schaden anrichten als Nutzen
stiften und nicht selten just den billigsten Weisheitsplunder zu unverdienten

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 1


Ehren bringen. Es gibt Berge von Schriften, die solche Gebiete behandeln;
sie hinterlassen freilich zumeist einen recht zwiespältigen Eindruck. Sogar
die hohe Wissenschaft steigt heute schon vom Katheder, wird gesprächig,
sammelt und ordnet seltsame Erscheinungen und Erlebnisse unter
mannigfachen, das Wesen der Sache nur lose berührenden Titeln, häuft
mystisches Material, interessiert sich für die Geschichte übersinnlicher
Tatbestände und läßt durchblicken, daß sie sich gern mit diesen Problemen
beschäftigen würde, wenn man die geliebten und, ach, so angesehenen
Vorurteile beibehalten dürfte und obendrein nicht Gefahr liefe, den Nimbus
eines »exakten Forschers« einzubüßen. Fast über Nacht entstand sogar
etwas wie eine okkulte Wissenschaft. Sie steigt, durch Tatsachen
gezwungen, vom fahlen Rosse des Agnostizismus, um sich zu äußern,
bindet ihr Steckenpferd an den verdorrten Baum »voraussetzungsloser«
Erkenntnis und schlägt sich errötend ins Gebüsch. Man beobachtet, erwägt,
klassifiziert und häuft Berge von Material und Annahmen auf. Nicht viel
besser ergeht es der zünftigen Philosophie auf ihren erbgesessenen
Lehrstühlen: ein Teil der staatlichen Weisheitslehrer bleibt unbekümmert
beim alten Leisten; eine andere Gruppe schwenkt heimlich grüßend am
»Ding an sich« vorbei, das zu berühren der große Immanuel verbot oder
doch unter besondere Erlaubnis stellte. Kants Universalerben halten an
diesem veralteten Brauch noch heute fest: Besichtigung der übersinnlichen
Welten bleibt nach wie vor an bestimmte Besuchszeiten und an die
Vorweisung der Prolegomena geknüpft. Vergebliche Mühe! Auf dem Grabe
der an Entkräftigung dahingeschwundenen Schulphilosophie pflanzen
heute die Herren Parapsychiker und Parapsychologen ihre in
unbestimmbaren Farben schillernde Fahne einer neuen Wissenschaft auf,
um die sich Ärzte, Physiker und Philosophen versammeln. Es gibt
Laboratorien und Institute für die Erforschung derselben Seele, die der
arme Bechterew, kurz nachdem er entdeckt hatte, daß sie »bloß« auf
einige bescheidene »Reflexe« zurückzuführen ist, auszuhauchen
gezwungen war. Es gibt im Betriebe dieser neuen Wissenschaft
Zwangsjacken, Leuchtnadeln, Handschellen, Berufstaschenspieler, Gaukler
und Salonmagier aller Art als »Experten«, Kontroll- und Alarmapparate,
Photo und Kino und nicht zuletzt mindestens täglich zweimal frische
Hypothesen und Theorien. Freilich verraten diese Bestrebungen insgesamt
nichts anderes als das schlechte Gewissen derer, die sich solcher
Zurichtungen bedienen, und sie erweisen zuguterletzt doch nicht mehr als
den gründlichen Wandel, der sich im Gange der menschlichen
Anschauungen vollzogen hat. Gewiß ist auch da viel redlicher Wille
vorhanden; sicherlich fällt es nicht leicht, das alte, trautgewöhnte »exakte«
Weltbild von sich zu werfen, und der Abschied vom, wissenschaftlichen
Denken bleibt eine schmerzliche Angelegenheit. Es geht den Herren nicht
gut und sie müssen mancherlei leiden; das ist aber ganz gesund für sie
selbst und vielleicht sogar nützlich für die Allgemeinheit.

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 2


Verhältnismäßig langsam tastet sich die Tagespresse auf den okkulten
Gebieten vorwärts; sie bekommt gewöhnlich erst recht spät Kenntnis vom
Wandel der Dinge, dem Ehemann gleichend, der von der Untreue seiner
Frau zuletzt erfährt, ist über das Wesen übersinnlicher Erkenntnis, ganz im
Widerspruch zu sonstiger journalistischer Fixigkeit und Tüchtigkeit, noch
immer sehr mangelhaft informiert und erschöpft sich in Rückzugsgefechten,
den nachsetzenden Feind beschießend, von der Hochschulartillerie zur Not
im Rücken gedeckt. Ihre Schlachtenberichte vom geistigen
Kriegsschauplatz sind oft gefärbt, oft auch ohne Absicht unklar und
verschleiern gerne den wahren Sachverhalt. Anderseits machen die
meisten okkulten Schriften leider einen so primitiven Eindruck, sind so billig
und salbungsvoll in ihrem ganzen Gehaben, daß man wohl versteht, wenn
die Abneigung, die sie erwecken, unwillkürlich auf die Sache selbst
überspringt. So bleibt denn schließlich der Eindruck vorherrschend, daß es
sich hier überhaupt bloß um »neue Illusionen« handelt oder gar um
»verkappte Religionen«, daß in der Beschäftigung mit allen diesen Dingen
obendrein Gefahr für den gesunden Verstand liegt und daß man, um sich
auf diesem Gebiete vorwärts zu bewegen, härene Kleider anlegen oder gar
Heuschrecken verspeisen müsse. Viele Menschen haben übrigens von
Haus aus Abscheu vor allem »Verborgenen« und lassen durchblicken, daß
man »das alles« ja ohnehin nach dem Tode erleben werde; auch sind
etliche aus ihrer persönlichen Grundstimmung heraus Gegner der
»Ansicht«, daß der Mensch im Jenseits weiterdauere, und nicht selten hört
man den anscheinend triftigen Einwand, warum die Erinnerung an unsere
früheren Erdenleben, wenn es diese überhaupt gebe, nicht mehr vorhanden
sei ...
Am ehesten wären die Menschen unserer Zeit noch für den Teufel zu
haben, mit dem sie unbedenklich einen Pakt schließen würden, wenn sie
bloß wüßten, ob Satan seine Versprechungen auch richtig einhält. Lieber
als an Gott glaubt der echte Freigeist an den Teufel und seine Pulse
schlagen unwillkürlich höher, wenn man ihm zuflüstert, daß es magische
Kräfte, Formeln und Operationen gibt, die erstaunlich sind und die sich zu
jeder Art Unfug gebrauchen lassen. Manche geheimtuenden und mit
feierlichen Ritualen ausgestatteten Gesellschaften, die allerhand
schwarzmagischen Spuk treiben oder, besser gesagt, treiben möchten,
wenn sie die dazu nötigen Kräfte entwickeln könnten, geben leider klares
Zeugnis teils für die Unwissenheit der gegenwärtigen Generation, teils für
deren böse Instinkte. Es wimmelt von Meistern, die ihren Anhängern
unerhörte Wonnen versprechen und die sich besonders dadurch beliebt
machen, daß sie nicht nur okkulte, sondern auch sexuelle Sensationen
bieten. Das alles lernt man, ins Dickicht okkulter Probleme geraten, rasch
und zur Genüge kennen. Augenblicklich schlägt ja die Waage der
Menschheit unstreitig zugunsten des Bösen aus. In allen Schauläden
unserer Großstädte kann man zur Weihnachtszeit den Satan als sinniges
Geschenk für die lieben Kleinen sehen; er streckt die Zunge weit heraus

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 3


und blickt mit glühenden Augen triumphierend in die Welt, die ihm allein zu
gehören scheint. Der früher einmal so beliebte, brave, weißbärtige Nikolo,
der die Bischofsmütze auf dem Kopfe trägt und den Hirtenstab in der Hand
hält, steht heute meist nur mehr ganz unbeachtet, in kleinster Ausführung
und sichtlich bedrückt, in der Ecke, tief bekümmert ob seines schwierigen
Amtes, das ebenso lächerlich als undankbar geworden ist. All dem gesellt
sich der Jammer der Politik und das allgemeine Absterben selbst der
primitivsten spirituellen Gefühle hinzu. Die katholische Kirche, so scheint
es, sieht und hört nicht, was vorgeht. Sie steckt den Kopf in den Sand und
verliert offenkundig an Macht und Ansehen; merkwürdigerweise steht sie
mit der materialistischen und sogenannten »voraussetzungslosen«
Wissenschaft auf freundschaftlichstem Fuß; sie ist zum Beispiel deren
eifrigster Bundesgenosse im Kampfe gegen den Spiritismus, der ihre Kreise
sichtlich stört; sie täuscht aber damit sich und die Menschen, indem sie
leichthin annimmt, daß sie alle Stürme überdauern wird, die an ihrem rund
erst fünfzehnhundert Jahre alten Bau rütteln. Nicht besser steht es
allerdings um die reformierten Gemeinschaften im allgemeinen und den
Protestantismus im besonderen; er nähert sich heute schon teils der
katholischen Mentalität, teils dem Ideal einer sogenannten »natürlichen
Religion«, ohne aus der allgemeinen Liquidation der gegenwärtigen
Freimaurerei irgendwelchen Nutzen ziehen zu können. Weder die Kirche
noch die Freimaurer besitzen heute entscheidende Kräfte; sie vegetieren
nebeneinander, bleiben bei ihren überholten Formen und längst
dahingeschwundenen Voraussetzungen, waren im Kriege zu derselben
Ohnmacht verurteilt und auch nachher so schwach und unfruchtbar, daß
sie nicht einmal dem Bolschewismus an den Leib zu rücken vermochten,
der der Welt das dreiste und infame Schauspiel einer hinterlistigen
Etablierung von Gruppenseelen aus getöteten Ichs bietet.
Wie dem immer sei: die Welt ist mit ihrem Latein wieder einmal zu Ende,
obschon sie nach außen unleugbare Fortschritte gemacht hat und auf
Errungenschaften aller Art hinweisen kann. Gerade dieser schreiende
Widerspruch zwischen dem äußeren Glanz eines findigen und tatenfrohen
Zeitalters und seinem inneren Elend erscheint dem Auge des
Menschenfreundes als etwas ungeheuer Tragisches. So leicht und einfach,
wie sich Herr Spengler den »Untergang des Abendlandes« und den Ersatz
durch Maschine, Technik und reale Betätigung vorstellt, liegen die Dinge
aber keineswegs. Was bleibt denn übrig, wenn das Seelische und Geistige
von dieser Erde endgültig Abschied genommen haben? Ein Haufen
ineinander verkrampfter niederer Lebewesen, die alles vom Tierischen
stammende Leid auf sich nehmen, obzwar sie nicht einmal mehr den
Instinkt der niederen Tiere besitzen. Unermeßliche Trauer liegt über den
Abgründen des gegenwärtigen Lebens. Seine äußere Fülle und
Beweglichkeit, sein Reichtum an Formen und seine Triumphe auf
mancherlei Gebieten können niemanden täuschen, der sich liebevollen
Blick für den wahren Stand der Dinge bewahrt hat.

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 4


Die erste Schicksalsstunde der Menschheit war das Ereignis auf
Golgatha, in der zweiten steht der Mensch unserer Tage, und für ihn gelten
die Worte der Apokalypse: »denn siehe, die Zeit ist nahe!« Schon wehrt
sich die Erde selbst gegen das mißratene Geschlecht, das sie auf ihrem
Rücken trägt. Eben daran, ihr scheinbar letztes Geheimnis an die
Zertrümmerer der Atome zu verlieren, ohne Geist angegriffen und wie ein
lebloses Wesen traktiert, sammelt sie ihre »rohe Kraft« und setzt diese
ihrem Peiniger und Herrn Aug' um Auge, Zahn um Zahn entgegen. Ihre
Waffe ist die Katastrophe; der Boden erhebt sich gegen die plumpen Füße
der Menschen, und es geschehen, wenn auch unverstandener denn je,
wiederum Zeichen und Wunder. Sie heißen wohl nicht mehr so, aber die
Unbehaglichkeit, die sie dem nüchternen Verstände bereiten, ist dieselbe
geblieben; man murmelt etwas von »unerforschten Kräften« und sucht eine
Art wissenschaftlicher Orientierung durch Hintertüren in das neue Weltbild
hinüberzuretten. Indes schreiten die Botschaften aus der geistigen Welt
unerbittlich weiter. Das Medium Valiantine läßt die »Stimme der Toten«
hören, Mirabelli, die »Toten« selbst erscheinen. Aus der Flut vergangener
Zeiten taucht das alte Wissen auf und erhebt sein Haupt gegen die
entgötterte Welt. Alchimie und alte Geisteswissenschaften, Magie und Yoga
erscheinen immer wieder als neue Verlockung, aber das alles sind nur
Symptome und nicht die Sache selbst.
Die Entwicklungsgeschichte der Menschheit ist die Geschichte des
menschlichen Bewußtseins; Menschengeschichte: Bewußtseinsgeschichte!
Mein Buch will einen Gesamtüberblick über das Wissen der Gegenwart
um die andere Seite des Daseins und über den Stand der verborgenen
Dinge in dieser zweiten Schicksalsstunde der Menschheit geben, als eine
Kritik der höheren Vernunft und einwandfreie Feststellung ihrer bleibenden,
ewigen Werte. Es unternimmt, in Ursprung, Wesen und Erscheinung der
sichtbaren wie der unsichtbaren Welten einzuführen; in die Stufen
menschlicher Bewußtheit, in die Geheimlehre des Abendlandes, in die
prima philosophia, in die einzige und wahre Metaphysik, die es gibt: in das
übersinnliche Leben und die übersinnliche Erkenntnis. Es will niemandem
ersparen, geschweige denn verwehren, die großen und grundlegenden
Arbeiten auf diesem Gebiete heranzuziehen und mit minutiösester Sorgfalt
zu studieren. Das gilt insbesondere vom gigantischen und wahrhaft
erhabenen Lebenswerk Rudolf Steiners, der, ein Rufer in der Wüste, die
zweite Stunde der Menschheit vollkommen erschaute und durchdrang,
umsichtig vorbereitend, was nun zu geschehen hat. In Steiners Zeichen
erlebt und geschrieben, will mein Buch dem unbefangenen und von
Vorurteilen unbeschwerten Leser die richtigen und heute allein gangbaren
Wege weisen, ihn zumindest davor schützen, sich erst durch den Wust
einer überaus üppigen, grotesken und oft haarsträubend verstiegenen
Literatur alter und neuer Herkunft durchzuarbeiten, die eine klare und
geläuterte Erkenntnis der außerordentlich schwierigen Probleme und der
schier unübersehbaren Materie fast vollkommen unmöglich macht. So

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erklärt sich denn auch, daß ich an bestimmten Stellen und wo es die Sache
verlangt, zum Angriff übergehe, der nur dann persönlich wird, wenn eben
die persönliche Seite eines Schriftstellers von seiner anfechtbaren und
schädlichen Wirksamkeit auf dem Gebiete übersinnlicher Erkenntnis
unmöglich getrennt werden kann. Mein Buch steht weder im Dienste einer
Sekte, noch verfolgt es irgend welche geheime Zwecke. Das religiöse
Gebiet und verwandte Versuche, schwankendes Vertrauen in die Methoden
der absterbenden Kirchen aufs neue zu befestigen, habe ich nur
gelegentlich gestreift, desgleichen Erscheinungen, die, streng genommen,
gar nicht zum Thema gehören, wie Hypnose, Telekinese, Telepathie und
dergleichen Disziplinen, in denen sich die Metaphysik des Dilettanten am
liebsten austobt.
Die Geburt der Anthroposophie aus dem Geiste des Christus hat all
diesem Spuk ein Ende gesetzt. Vor den Strahlen geisteswissenschaftlicher
Einsicht erblassen Lichter, die einst Irrwischen gleich auf das Dasein
höherer Welten deuteten, aber den einzigen gangbaren Pfad zu reinem
Wissen um Gott, Welt und Mensch verbargen oder verschleierten. Was vor
Steiners Anthroposophie liegt, kann dem befreiten Auge nur noch als ein
bescheidenes Vorspiel oder als Schatten, den das große Ereignis
vorauswarf, erscheinen. Hier ist, was die Menschheit sucht: das neue
Leben, den Himmel, die Erde und das Fegefeuer vergangener Zeiten weit
hinter sich lassend.
Indem ich den Weg wies, den ich selbst gegangen bin, konnte ich freilich
der Verlockung nicht ausweichen, die wichtigsten der markierten Steige und
Pfade unterirdischer Art kritisch zu behandeln und die Haltbarkeit der heute
gangbaren okkulten Brücken, Pontons und Trajekte unserer Zeit
mitzuuntersuchen. Der Gegend kundig und mit ihr durch eigene
Wanderschaft wohlvertraut, bin ich an keiner markanten und wesentlichen
Erscheinung auf dem schier unübersehbaren Gebiet des okkulten Lebens
unserer Zeit achtlos vorbeigegangen. Daß diese kritische Arbeit einmal
getan werden mußte, wird der uneingeweihte Leser wohl erst dann
einsehen, wenn er sich durch mein Buch durchgelesen hat.
Die Luft des Abendlandes ist voll von schwelenden Dünsten und
angesammelten Gewittern. Mein Buch will Donars Hammer mitschwingen
helfen, um die Atmosphäre für den Regenbogen frei zu machen, der Ost
und West verbindet und den neuen Bund der göttlichen Welt mit der
irdischen besiegelt!
Wien, im Sommer 1931.
Hans Liebstoeckl

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Einleitung

I. Nicht Mystik, sondern Geheimwissen!

Unter Geheimwissen versteht man gemeiniglich jene Erkenntnis von der


Welt, von der Erde und vom Menschen, die nicht nur auf »geheime« Weise
zustande kommt, sondern auch bis zu einem gewissen Zeitpunkt bewußt
geheimgehalten wurde. Die »Geheimwissenschaften« sind bloß einzelne
Zweige des gesamten Geheimwissens und umfassen nicht nur die Theorie,
sondern auch die Anwendung der für gewöhnlich verborgenen Einsichten.
Geheimes wissen und geheim Gewußtes geheimhalten setzt also genau so
ein auf Erlangung solcher Einsicht gerichtetes Streben voraus, wie es sich
auf Erfahrung stützt; man muß seinen Bestand an okkulter (im Gegensatz
zu profaner) Erkenntnis erwerben und den Weg suchen, auf dem sie
erlangt wird. Die Ausdrücke: esoterisches und exoterisches, okkultes und
profanes Wissen sagen genau dasselbe; sie setzen der auf materielle und
durch die »fünf« Sinne vermittelten Art erworbener Einsicht andere, höhere
Erkenntnisweisen entgegen, die sich auf ein erweitertes Bewußtsein
stützen, und sind vom mystischen, auf ungeordnete oder gewaltsame
Weise, oder durch Lähmung und Verdämmerung des Bewußtseins
entstandenen Erlebnis streng zu unterscheiden. Nicht von den Ekstasen
und Schauungen religiös mystischer Naturen ist also hier die Rede,
wenngleich auch diese nur geheimwissenschaftlich erforscht und erklärt
werden können, sondern von einem klaren Wissen um die Welt des
Übersinnlichen, der gewöhnlichen Einsicht und Erfahrung Verschlossenen.
Die gewöhnliche Sprech- und Denkweise hat gänzlich verschwommene
Vorstellungen von diesen Tatbeständen; sie verwechselt ohne Unterlaß
Begriffe, die sie nicht abgrenzen kann, mit Zuständen und Erlebnissen, die
ihr fremd sind und fremd bleiben müssen. Auf keinem anderen Gebiete
menschlicher Betätigung herrscht ärgere Verwirrung als auf diesem, das
schon seiner Natur nach allerhand dunkle, lichtscheue und auch als
Charaktere höchst problematische Elemente um sich versammelt.

II. Einwände: die Uhr ohne den Uhrmacher

Der gewöhnlichste und zugleich billigste Einwand, der gegen die


Definition des Geheimwissens als einer verborgenen Einsicht erhoben wird,
beschränkt sich darauf, zu behaupten, es gebe überhaupt kein geheimes,
nicht allen Menschen auf gleiche Art zugängliches Wissen, sondern handle
sich im besten Falle bloß um ein Meinen, ein vermeintliches »Haben« von
Erkenntnissen, um eingebildete und oft unsauberen Zwecken dienende
Gedanken-, Wort- und Werkmanipulationen verstiegener Geister, die von
Haus aus nicht gewohnt sind, sich an die Logik zu halten, und die ihren
infantilen »Glauben« an solche Dinge für Wissen ansehen oder gar

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ausgeben. Auf diesem Standpunkt, so primitiv und unhaltbar er sein mag,
steht natürlich zum größten Teil die zünftige Kathederphilosophie und mit
ihr im innigen Bunde die exakte Wissenschaft, oft genug ein eigenartiges
Gemisch von Halbwissen, Dünkel und schlechten Manieren, das
allenthalben in großem Ansehen steht, als Brotberuf betrieben wird und
obendrein die ihr sinnesverwandte öffentliche Meinung beherrscht.
Wissenschaft und zünftige Philosophie tun aber sehr unrecht daran, diesen
ablehnenden Standpunkt einzunehmen, der seit Jahrtausenden bis zum
heutigen Tage durch die Tatsachen reichlieh widerlegt wird. Die Welt, die
Erde und die Menschheit bleiben für Leute, die nicht vernünftig genug
sind, außerhalb der »reinen Vernunft« vorhandene, weit ergiebigere
Erkenntnisquellen zu Rate zu ziehen, vollkommene Rätsel. Weder die
landläufigen Weltentstehungshypothesen, noch die Ergebnisse der
»natürlichen Schöpfungsgeschichte«, noch die Hauptgesichtspunkte der
»Entwicklungslehre« sind danach angetan, Licht in ein Dunkel zu tragen,
das durch »Zufall« Entstandenes wiederum dem »Zufall« preisgibt. Mit dem
moralischen Sittengesetz im Innern läßt sich das große Mysterium Welt und
Leben nicht um einen Zoll von der Stelle bewegen. Sind schon Zeugung
und Geburt für den bloßen Verstand und die reine Vernunft etwas gänzlich
Unbegreifliches, so erleidet die menschliche Einsicht im Augenblicke, da
der Tod auf die Szene tritt, offenkündigen Schiffbruch. Eine Fülle
rätselhafter Schicksale und Ereignisse, wie sie täglich in unseren Zeitungen
zu finden sind, bleibt, wo die »fünf« Sinne allein sprechen, ohne jede
Deutung. Schlaf und Traum, Gedächtnis und Erinnerung, ganz abgesehen
von un- oder übernatürlichen Fähigkeiten, die gegenwärtig immer häufiger
beobachtet werden, erweisen in jedem Falle aufs neue, daß das enge
Blick- und Erlebnisfeld des Durchschnittsverstandes gegenüber der Wucht
und Menge überirdischer Erscheinungen hilflos versagt. So besteht denn
das, was die materialistische und rationalistische Weltanschauung unter
Leben und Erkennen »begreift«, in Wahrheit nur aus einer sehr dürftigen
Zusammenfassung von Merkmalen, die sich im besten Falle genau
beschreiben lassen, die aber ebensowenig über das Hinter-den-Dingen
aussagen können, wie etwa die Uhr und ihr Mechanismus, mit toten Augen
geschaut, vom Uhrmacher und seinem Wesen Kunde geben.

III. Vom Dunkel unserer Zeit

Die Hauptfehlerquelle, daraus unsere landläufige, vom Tagesbewußtsein


abgeleitete Erkenntnis ihre grundlegenden Irrtümer schöpft, liegt in der
vollkommen falschen Einstellung zur Vergangenheit und deren Kräften,
insbesonders zu den Mythen, Märchen, Sagen, Legenden und sonstigen
Urkunden verflossener Zeiten. Die gewöhnliche Meinung geht dahin, daß
unsere Zeit vorläufig den Gipfel der Kultur darstellt, daß sie, so
mannigfache Gebrechen und Schattenseiten sie auch aufweisen möge,
doch durch völlige Zerstörung alles mythischen und unaufgeklärten
Denkens hervorrage, sich vom »Glauben« und »Aberglauben« völlig

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losgemacht habe und der Unwissenheit, Beschränktheit und Einfalt unserer
Vorfahren nicht mehr als ein mitleidiges Lächeln zu zollen wisse. Man
nimmt in der Regel an, die Menschheit sei eben lange Zeit in den
Kinderschuhen gesteckt, habe die Flegeljahre noch nicht ganz hinter sich
und wäre nun im gegenwärtigen Zeitpunkte, der an äußeren Erfolgen und
Errungenschaften so reich ist, eben bei der Entwicklung zum reifen, ganz
auf sich selbst und seine Erkenntnis gestellten Beherrscher der Erde
angelangt. Dieser Zustand, fälschlich Fortschritt genannt, erfüllt seine
Nutznießer und Verteidiger mit großem Stolz, denn er scheint zu verheißen,
daß, wenn es so weitergeht, immer neue Einsichten in das Wesen der
Atome und damit der Materie erwartet werden dürfen, die, vielleicht, eines
Tages gestatten könnten, in Gottes Werkstatt einzudringen und,
unabhängig von Ihm, ja sogar vielleicht gegen Ihn, Leben zu erzeugen und
das ganze Welttheater in eigene Regie zu übernehmen. In Wahrheit müßte
denkenden Leuten doch auffallen, daß die Menschheit zu altersgrauen
Zeiten, wo sie, nach der Ansicht unserer Entwicklungslehre, dem tierischen
Standpunkte noch sehr nahe gewesen sein müßte, just die tiefsten und
erhabensten Urtriebe ihres großen, weihevollen und tief ernsten Denkens,
Fühlens und Wollens offenbart, mit denen verglichen die gepriesenen
Geisteserzeugnisse unserer Kultur ein leichtfertiges und sehr seichtes
Gestammel darstellen, nicht wert, daß man es zur Kenntnis nimmt oder sich
gar näher damit befaßt. Schon ein flüchtiger Blick auf die Höhenzüge der
alten Kulturen, die noch in Sagen, Mythen, in Legenden »steckten«, lehrt
das Gegenteil von dem, was der moderne Menschenverstand in bezug auf
die Vergangenheit für wahr haben möchte. Die alten Kulturen standen dem
Geheimnis der Welt, der Erde und der Menschheit weit näher als wir; sie
sahen das Leben ganz anders und blickten ungleich tiefer in das Wesen
und die Zusammenhänge der Dinge. Auch unsere Zeit hat ihre Mystik, ihre
Dämonie, ihren Mythos (so den von der Maschine und von der »Masse
Mensch«), man hat aber gar nicht schwer, zu erkennen, daß dieser Mythus
nur den Widerschein unserer entsetzlich leeren, ungeistigen und
unmusischen Betriebsamkeit zurückwirft. Es liegt sohin nahe, anzunehmen,
die Menschheit habe den gegenwärtigen Gipfel ihrer gepriesenen
Verstandeskultur nur unter Hingabe und Aufopferung anderer
Eigenschaften erlangt, die sie einst besaß und die den Tieren erhalten
geblieben sind: Instinkt und Witterung voran. Die Menschen der alten Zeit
waren der Gottheit ebenso nahe, wie sich der Mensch von heute dem Tiere
nähert: der Triebhaftigkeit und Primitivität eines auf Masse orientierten
Herdeninstinktes. Das Altertum hat keine Zivilisation in unserem Sinne
gehabt, aber ungeheuer viel Kultur. Der moderne Mensch begnügt sich mit
seiner Zivilisation, die er für Kultur ausgibt.

IV. Das Geheimnis im Ichkern

Das Geheimnis alles Geheimwissens steckt im Ichkern des Menschen: er


ist Träger des Bewußtseins und ewiger Bestandteil der menschlichen

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Wesenheit. Von hier aus allein kann die menschliche Bewußtseinslage
verändert und auf die übersinnliche Welt erweitert werden, was sich selbst
für profane Zeugen nach einem bestimmten Plane zu vollziehen scheint. Im
Ichkern sitzt der Keim zu neuen Kulturen, Bewußtseinslagen
und Höherentwicklungen der Menschheit. Von der Stufe, die das Ich
erreicht hat, hängen auch das Äußere des Menschen, seine Körperlichkeit,
Form und Ausdruck des Antlitzes, Farbe, Lebhaftigkeit und seelischer
Gehalt des Blickes ab. Im Ichkern endlich liegt der Schlüssel zur Erkenntnis
des Schicksals, zur Notwendigkeit, wiederzukommen und das Maß der
Wirkungen durch ungezählte Fleischwerdungen mit der ewigen
Karmarechnung auszugleichen. Zwischen Geburt und Tod, zwischen Tod
und neuer Geburt liegt das ewig dahinflutende Reich der Möglichkeiten,
dieses ungeheure, unendliche Meer von Kräften, Empfindungen und
Gedanken, das die Ichkerne in sich birgt. Vom gewöhnlichen Wissen um
die irdischen Dinge unterscheidet sich die übersinnliche, übergewöhnliche
Einsicht in die Gesamtheit der Erfahrungswelt und jener anderen Welten,
die hinter ihr liegen, nicht nur durch Herkunft und Entstehungsart, sondern
auch durch die Gesamteinstellung der Persönlichkeit. Der ganze Mensch
mit seinem Ich muß erkennen, nicht nur sein Kopf und sein Gehirn. Das
geheime Wissen ergreift im Ich Leib, Seele und Geist. Niemand kann darin
weiterkommen, der nicht in seiner Gesamthaltung höheren Deutungen und
Erfassungen zustrebt. Denken allein macht hier nicht glücklich, man muß
es zugleich seelisch erleben und geistig durchdringen. Je höher das Ich
diese ideale Übereinstimmung, diese große Harmonie von Denken, Fühlen
und Wollen entwickelt, desto freier wird sein Wesen, desto weniger
Brechungen und Trübungen erleidet der göttliche Strahl, von dem es
durchdrungen wird, desto lebhafter leuchtet das innere Licht, von dem alle
Weisen dieser Erde in höchster geheimnisvoller Ehrfurcht sprechen. Hinter
ihm, wie es der Dichter so schön und treffend sagt, »im wesenlosen
Scheine«, flutet, was »uns alle bändigt«, das »Gemeine«: die Welt der
Magie, der kalten, berechnenden Mittel, der Kämpfe, der Mißverständnisse,
des Hasses und des Hochmuts, diese Hölle, dieses Fegefeuer der Triebe
und Verstellungen, der Lüge und der List. Auch sie, die chaotisch
verfahrene Zone des Jammers und des Ekels, deren einziges Gesetz die
Gesetzlosigkeit und Verwirrung zu sein scheint, führt ja ihr geheimes
Wissen mit, schrecklich in seinen Absichten wie in seinen Wirkungen. Auch
davon allerdings muß sprechen, wer von Geheimwissenschaften redet,
denn der große Hexensabbat, der sich Leben und Treiben der Welt nennt,
ist Ausfluß geheimer Kenntnis von verborgenen Kräften und nur wenigen
Menschen bekannten Möglichkeiten. Die Menschen sind nicht glücklich:
dazu fehlt ihnen die volle Einsicht in das eigene Wesen, die richtige
Schätzung der lebendigen Kräfte, die Ahnung, daß sie selbst in der Hand
haben, ihr Los und das der anderen zu bessern. Sie dürfen und sollen gar
nicht ohne Egoismus sein; sie brauchen durchaus nicht »zuletzt« an sich
selbst zu denken. Ohne die starke Dosis Magie, die im Wesen des

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Egoismus steckt, wäre die Welt nicht so bunt und schön und
abwechslungsreich und voll, wie sie es ist, doch zeigt der Egoismus gerade
im Lichte der Geheimwissenschaft sein eigenes Gepräge und seine eigene
Sendung. Man muß ihn durchschauen, um seinen Wert für die Gesamtheit
zu erkennen.

V. Die »allgemeine und Generalreformation der ganzen Welt«

Versucht man die Bestände des Geheimwissens nach Gruppen zu


ordnen, die das Bestreben zeigen, vom Allgemeinwissen zum
Sonderwissen herabzuschreiten, so ergibt sich als oberste und
universellste Erscheinung die Geheimwissenschaft Rudolf Steiners, das
gigantische Lehr- und Erkenntnisgebäude der Anthroposophie (der
Wissenschaft vom Menschen), deren schier unermeßliche Schätze sich
heute immer mehr und mehr erschließen und alles in sich begreifen, was
seit den Anfängen der menschlichen Wesenheit an verborgener Erkenntnis
vorhanden war. Steiners Anthroposophie zeigt den für diese Zeit einzig
gangbaren, vor allem für die westliche Menschheit tauglichen Weg zur
Erkenntnis höherer Welten; ihre Erkenntnistheorie, auf Goethe gestützt und
über ihn hinaus zu einer vom naturwissenschaftlichen Denken
ausgehenden Erweiterung der Bewußtseinslage gesteigert, gibt dem
Geheimschüler die einzigen verläßlichen Grundlagen zur Entwicklung, die
vor phantastischen, ausschweifenden und ungeordneten Erlebnissen
geschützt werden muß; sie lehrt eine gigantische Kosmogonie, vereinigt
Religion, Philosophie und Wissenschaft zu einer idealen Gemeinsamkeit,
durchtränkt alle okkulten Gebiete und macht ihr Wissen nach allen
Richtungen fruchtbar: aus ihr sind eine neue Betrachtungsweise der
Geschichte und der sozialen Probleme, eine neue Pädagogik, eine neue
Rechtsanschauung, eine neue Medizin, eine neue Astronomie, Mathematik
und Physik entstanden; ihr verdankt man eine umwälzende Psychologie,
Physiologie und Pneumatosophie, ja eine vollkommene Um- und
Ausbildung des gesamten Denkens. Tief in die Gebiete der Kunst und
Ästhetik hineinreichend, hat sie nebenbei Botanik, Geologie, Zoologie,
Landwirtschaft und Gärtnerei unerhört befruchtet. Die Krone des
Steinerschen Wirkens auf Erden aber stellt jene ungeheure Erneuerung der
Geisteserkenntnis dar, die allen Religionen der Erde eine universelle
Christosophie entgegenhält, dazu bestimmt, alle bisher gangbaren
religiösen Vorstellungen und Denkweisen von Grund auf zu reformieren,
zugleich als Erfüllung eines auf geistverwandtem rosenkreuzerischen
Boden erwachsenen Versprechens, das in einem entscheidenden
Augenblick Valentin Andreae bei mystischem Zwielicht aufleuchten ließ: die
Verheißung von der »allgemeinen und Generalreformation der ganzen
Welt«, vorbereitet und gepflegt von der Christengemeinschaft, mit ihrem
geistigen Zentrum im Goetheanum zu Dornach. Neben Steiners
Anthroposophie und Christosophie erscheinen alle zusammenfassenden
Bestrebungen okkulten Wissens in der neueren Zeit als halbe Versuche mit

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untauglichen und zumeist unzulänglichen Mitteln. Das gilt vor allem von der
Theosophie, die in einem bestimmten Zeitpunkt, anknüpfend an die
Geheimlehre der H. P. Blavatsky, unbestritten eine bestimmte Mission
erfüllt hat, heute indes kaum über das Gesamtbild einer schwärmerischen
Sekte hinauskommt, deren Wurzeln im Orient zu suchen sind, ohne daß
damit etwa die Kraft zur großen Vereinigung von Ost und West verbunden
würde; das gilt weiter Von ähnlichen, ordensmäßigen und bruderschaftlich
organisierten Bewegungen: wie den Martinisten, der neuen »Gnosis«, der
»Pansophie«, die an die alten Gold- und Rosenkreuzer anknüpft, von den
Ariosophen, von der Neugeistlehre und von der Gilde des Herrn Bo-Yin-Ra,
der von Zschokkes »Stunden der Andacht« in puncto salbungsvoller
Erbauung turmhoch überragt wird. Hier ist ein buntes Gemisch von Gut,
Schlecht und Mittelmäßig, das ringenden und suchenden Menschen in allen
okkulten Gewässern, als da sind, Alchimie, Magie, Kabbala und
verwandten Tätigkeiten, plätschern hilft. Eine eigenartige, wichtige und
noch ungeklärte Rolle spielt innerhalb dieses Rayons okkulter
Bestrebungen der Spiritismus, in dessen oft recht trüben Behältern die
Angel der exakten Wissenschaft nach psychophysischen und
parapsychischen Sachverhalten fischt. Alle diese Dinge bedürfen einer
kritischen Wertung und Sichtung, soll das von schwelenden und zum Teil
giftigen Dünsten geschwängerte Gebiet der okkulten Tätigkeiten zur
notwendigen Klarheit gebracht werden.

VI. Äußere und innere Schwierigkeiten

Zu den größten Schwierigkeiten, die sich einstellen, sobald man


darangeht, das Gesamtgebiet der Geheimwissenschaften zu behandeln,
zählt wohl die Frage nach der Methode der Darstellung und nach der
Gruppierung des Stoffes. Man kann hier nur schwer zum Ziele kommen, es
wäre denn, man suchte die Entwicklung der Welt mit einer behutsamen
Auseinandersetzung über die Wege zu verbinden, die zum Schauen
übersinnlicher Tatbestände führen. Die pragmatische wie die
erkenntnistheoretische Seite der Darstellung müssen einander
durchdringen, soll das Bild der Geheimwissenschaften auch für den
Laienverstand klar und deutlich erkennbar werden. An einem Punkte
scheint diese Durchdringung am vollkommensten zu sein: dort, wo an der
Hand einer Schilderung der menschlichen Bewußtseinszustände
Geschichte und Erkenntniskraft der einzelnen Kulturen bis hinauf zu
unserer Zeit einander voraussetzen und bedingen, wo also gleichsam
historische Methode und übersinnliche Erkenntnislehre gleichzeitig
auftreten, eines das andere fördernd und ergänzend. Allerdings gibt es
dabei eine empfindliche innere Schwierigkeit, die daraus erwächst, daß
unsere Sprache, nur von jenem Bewußtsein entwickelt, das die
gewöhnlichen Sinne zu Hilfe nimmt, auf übersinnliche Welten angewendet,
ihre Durchsichtigkeit, Genauigkeit und plastische Kraft einbüßt, daß diese
unsere Sprache in Gebieten also, die eigentlich eine ihnen entsprechende

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 12


besondere Ausdrucksweise erfordern würden, versagt. So ist es zum
Beispiel keineswegs leicht und einfach, einem Leser, der die
naturwissenschaftlichen Begriffe und die exakte Betrachtungsweise im
Leibe hat, klarzumachen, daß Imagination, Inspiration und Intuition in der
Geheimwissenschaft ganz andere Bedeutung haben, als ihnen etwa in den
landläufigen psychologischen, ästhetischen und philosophischen Büchern
beigelegt wird. Ein anderes Beispiel ergibt die allgemein übliche Unklarheit
in den Vorstellungen von Seele und Geist, in die selbst wohlunterrichtete
und gebildete Leser verfallen, sobald man ihnen zumutet, das Seelische
und Geistige erlebnishaft und im höheren Sinne begrifflich
auseinanderzuhalten, obwohl gerade dieses Unterscheidungsvermögen zur
Einsicht in die Wesenheit des Menschen unbedingt notwendig, ja
unerläßlich ist. Um aber auf ein greifbares Gebiet zu kommen, sei noch ein
drittes Beispiel angeführt, das die Schwierigkeiten der Darstellung vielleicht
noch einleuchtender hervorhebt: zwischen dem Äther, den die
wissenschaftliche Hypothese annimmt, und dem, was die
Geheimwissenschaft unter Äther begreift, bestehen tiefgreifende
Verschiedenheiten, die sich kaum erkennen lassen, wenn man nicht so weit
vorgeschritten ist, das Gestaltlose und rein Geistige als Wesenheit zu
erleben und sich jenseits von Raum- und Zeitbegriff zu übersinnlichen
Anschauungsformen aufzuschwingen. Physiker endlich werden
begreiflicherweise meist unruhig, wenn man von ihnen verlangt, sich zum
Beispiel unter der »Wärme« der Saturnzeit etwas anderes, Wesenhaftes
vorzustellen, als die Wärme, die eben der exakte Physiker kennt: den
sogenannten »Wärmezustand«. Aus allen diesen Beispielen ergibt sich die
betrübende, aber unvermeidliche Erkenntnis von der Notwendigkeit,
festeingewurzelte und überkommene Vorstellungen, Begriffe und
Auffassungen zugunsten höherer Deutungen und Wertungen gänzlich
aufzuheben. Das rein Dingliche unserer Sprache scheint hier gänzlich
verlorenzugehen und einer Denkweise Platz zu machen, die, der
Unvollkommenheiten der Sprache bewußt, doch versucht, sich mit den
landläufigen Worten, Bedeutungen und Zuordnungen zu behelfen.

VII. Der Mensch: das Maß der Dinge

In der Regel wird eine Weltauffassung, die den Menschen als Maß der
Dinge nimmt, mit dem geringschätzigen Tadel abgetan, daß sie höchst
unrecht daran tue, diesen Standpunkt zu beziehen; sie sei anthropomorph,
indem sie ihren Gott für ein menschenähnliches Wesen halte und die Dinge
»nach Analogie des menschlichen Innenseins« betrachte (obzwar selbst
Goethe dieser Auffassung zuneigt), und sie mache sich damit
anthropozentrischer Einstellungen schuldig, indem sie den Menschen
als den Mittelpunkt der ganzen Welt ansehe, was namentlich der älteren
Philosophie anhafte (obgleich selbst Kant im höheren Sinne
anthropozentrisch gedacht habe, indem er dem Menschen einen Zweck
innerhalb des Schaffungsganzen setzte). Der Sophist Protagoras, der, als

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 13


Urheber des Spruches vom Menschen als dem »Maß aller Dinge«, als
Urheber des »Unfugs« bezeichnet wird, rein subjektiv über die Dinge zu
urteilen, entging dem Vorwurf der Gotteslästerung nicht. Seine Schriften
wurden verbrannt, er selbst ertrank auf einer Seefahrt. So vollzog das
Schicksal eine Art Strafe an dem Manne, der eine große Wahrheit
aussprach, ohne ihren tieferen Sinn zu erfassen. Den tieferen Sinn erfaßt
unsere Zeit in der Anthroposophie, die eine Weisheitslehre vom Menschen
ist und vom Menschen aus zur Erfassung der ganzen Welt vordringt. Der
Mensch, so lehrt sie mit Recht und unterstützt von unzähligen Beispielen,
Analogien und Entsprechungen, ist, ganz exakt gesprochen, das
»Urphänomen der Welt«. Indem er in das Geheimnis seines eigenen
Wesens eindringt, erschließt sich ihm zugleich das Wesen des Kosmos; der
Mensch allein ist der Schlüssel zur »verbotenen Türe« im Märchen; indem
er auf die Frage der Sphinx, die das Rätsel des Menschen zur Lösung
stellt, Antwort gibt, stürzt er sie zugleich in den Abgrund. Am Bilde des
Menschen, das die Weltengeheimnisse in sich enthält, liest der Mensch die
Wirklichkeit jener Geheimnisse ab. Der Fehler im gewöhnlichen
anthropomorphen Denken liegt bloß darin, daß er den Menschen, so wie er
ist, als Wirklichkeit ansieht und sich nun das innere Wesen der Dinge ganz
nach Art dieser Wirklichkeit vorstellt. Der Anthroposoph nimmt den
Menschen, wie er dem Blick zunächst (als Bild) erscheint, aber als Bild
einer wahren Wirklichkeit, die nicht nur ihm, sondern eben der ganzen Welt
zugrunde liegt. Der Mensch ist der Schauspieler des großen
Weltendramas; er teilt sich selbst seine Rolle darin zu, er ist zugleich Stück
und Darsteller, Akteur und Zuschauer. (»Welch Schauspiel! Aber ach, ein
Schauspiel nur!«) Den Inhalt dessen, was er spielt, kann nur er in
Wirklichkeit umsetzen. Er hat diesen ganzen Zyklus Weltschöpfung von
Anbeginn aus mitgemacht, erst in den unvollkommensten Formen, dann
immer feiner und feiner und feiner differenziert; indem er sein Schicksal
setzt, seine Bestimmung erfüllt, setzt er auch das Weltenschicksal, erfüllt
die Bestimmung des Alls, dem er zugehört und mit dem er eins ist. Geburt,
Jugend, Reife, Alter und Tod der Welt sind menschliche Entsprechungen;
vom Leib zur Entfaltung der Seele und von da zur Entfaltung des Geistes
schreitet der einzelne Mensch und schreitet die Menschheit. Es ist nichts in
der Welt, wobei der Mensch nicht mitgewesen wäre. Was oben ist, ist auch
unten, sagt der Alchimist geheimnisvoll und meint damit nichts anderes, als
dieses: daß der Mensch das Maß aller Dinge ist und zugleich die prima
materia in der Entwicklung alles Geschaffenen. Den erkennenden
Menschen aus der menschlichen Erkenntnis ganz auszuschalten, ihn der
Natur gegenüberzustellen, als j Subjekt dem Objekt, den Menschen aus der
Natur zu erkennen, statt die Natur aus dem Menschen, das ist zum
fundamentalen Irrtum unserer gesamten Naturwissenschaft geworden, die
bald genug mit E. Du Bois-Raymonds Jammerruf »Ignorabimus!«
zusammenbrach. Sie nahm den Menschen als etwas »Gegebenes«, sie
trieb damit den primitivsten Anthropomorphismus und Anthropozentrismus

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 14


und steht heute ratlos vor dem Menschen selbst, als dem
undurchdringlichsten aller Rätsel, das alle Grundlagen ihres Wissens
zerstört, ihr Erkennen zum bloßen Kennen von Tatsachen und
Zusammenhängen erniedrigt, das wägt und weist, untersucht und
beobachtet, ohne auch nur zu ahnen, wie nahe die Wahrheit liegt, indes ihr
Wissen in die Ferne schweift. Darum beginnt eine wahrheitsgemäße
Darstellung des okkulten Wissens um Welt und Mensch, beginnt die okkulte
Geschichte des Menschen folgerichtig mit der Geschichte der geschaffenen
Welt, mit der Genesis aller Dinge in diesem großen Schöpfungszyklus.

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 15


 

Erstes Kapitel
Genesis
I. Die Erde: ein spukhaft Ding
Der Durchschnittsmensch unserer Tage hört ohne besondere Teilnahme
von der Erde reden; er weiß herzlich wenig darüber, trotzdem er sie schon
so lange bewohnt, und es schickt sich kaum, nach ihrem Ursprung und
Wesen zu fragen, eine Frage, auf die sie selbst offenkundig die Antwort
verweigert. Die Erde? Nun: sie scheint ziemlich rund zu sein, wie auch die
anderen Weltenkörper; wahrscheinlich ist sie sogar eine mehr oder weniger
vollkommene Kugel mit schief gestellter Achse. Wohl verlautet mancherlei
über ihr Zustandekommen im Rahmen der Welt, aber die Verbreiter solcher
Gerüchte sind ehrlich genug, einzugestehen, daß ihre Mutmaßungen über
den Wert verschiedener Theorien und Hypothesen nicht hinausgehen. Als
feststehend gilt noch heute, daß der Mensch ein »Abkömmling« affenartiger
Wesen ist. Auch Herr H. G. Wells, der sich zu einer Art Wortführer für
dürftige und unselbständige Intellekte aufgeworfen hat, indem er streng
vermeidet, vom »absolut Geistigen« oder »Göttlichen« oder gar von
»genialen Individuen« zu sprechen, auch Herr H. G. Wells hat über Welt
und Mensch nicht mehr zu sagen als andere kongeniale wissenschaftliche
Durchschnittsphilister vor ihm; in Handbüchern kleineren und größeren
Formats, in denen sein »Wissen« um diese Dinge niedergelegt ist,
beschuldigt er die Erde, einer »Apfelsine« ähnlich zu sehen;
»anscheinend« sei aber der übrige Raum »grenzenlos, leer und tot«. Aus
solcher Weisheit ergibt sich dann das alte Affenmärchen natürlich ganz von
selbst; unsere Vorfahren, die anderer Meinung waren, wußten es in ihrer
kindlichen Naivität einfach nicht besser; ihre »Offenbarungen« aber sind
lediglich auf Rechnung höchst primitiver geistiger Zustände zu setzen. Wie
man bald bemerkt, hat H. G. Wells, indem er eine »neue« Geschichte
unserer Welt (fast möchte man sie Wells-Geschichte nennen) zu schreiben
unternahm, nicht Zeit gehabt, sich besser umzusehen. Es würde ihm sonst
kaum entgangen sein, daß die exakte Wissenschaft, von der er einen
ziemlich ungenauen und primitiven Auszug gibt, ihrer Sache inzwischen
recht unsicher geworden ist; zwar spricht auch sie noch von der Erde als
von einem Rotationsellipsoid, für das inzwischen der Spitzname »Geoid«
erfunden ward, zwar verbreitet auch sie noch die gewohnten gigantischen
Ziffern über das »Weltall«, aber alles das geschieht heute doch nicht mehr
so leichtfertig und ganz ohne Gewissensbisse wie einst. Vor allem scheint
die exakte Wissenschaft, mit Dacqué an der Spitze, doch endlich
einzusehen, daß ihre bisherigen Aussagen über Welt, Erde und Mensch
bloß für jene Bewußtseinslage zutreffen, aus der diese Aussagen selbst
geholt wurden, und daß seither ganz merkwürdige Dinge vorgegangen
sind, die eine gründliche Umwälzung in jenen veralteten Anschauungen
anzukündigen scheinen, indem sie gleichzeitig beweisen, um wie vieles
tiefer just unsere verachteten primitiven Voreltern in das Geheimnis der
Welt, der Erde und des Menschen eindrangen, als wir! Allerdings ist unsere

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 16


alte Erde, des Menschen Wiege, Wohnort, Tätigkeitsgebiet und Grabstatt,
auch vom Tagesbewußtsein des Augenblicks aus gesehen, in der Tat ein
hinreichend seltsames und spukhaftes Ding. Sie schwebt seit unzählbaren
Jahrmillionen, fünftausendsechshundertneunzig Trillionen Tonnen schwer,
frei im Raum um ihre Sonne, von einem melancholischen und bleichen
Trabanten begleitet, mit dem offenbar einst intimere Beziehungen
bestanden. Selbst ein Planet, bildet sie mit drei größeren und drei kleineren
Weltkörpern ihrer Art, desgleichen mit neunhundertfünfzig Asteroiden und
Myriaden von Meilen weit entfernterer Sterne ein »System«, das übervoll
an Geheimnissen ist. Schon seit den Zeiten des Philolaos und Ekphantos
weiß man übrigens, daß sie den merkwürdigen Eigensinn besitzt, sich um
ihre eigene Achse zu drehen, aber die neuere Wissenschaft möchte als
beinahe sicher erklären, daß das ganze Sonnensystem mit allem, was dazu
gehört, bei einer phantastischen Geschwindigkeit von 18 Kilometern in der
Sekunde in einer fast geraden Linie dem Sternbild des Herkules zueilt, eine
gigantische und atemraubende Reise, die dem menschlichen Bewußtsein
glücklicherweise entrückt bleibt, und schon Jahrmillionen andauert, ohne
ans Ziel zu kommen. Also spricht der Gelehrte unserer Zeit, dessen
wachsamen Augen und unheimlich fixer Rechenkunst nichts entgeht ...

II. Allerhand Offenbarer gegen die Offenbarung

Allen Berichten darüber, wie Welt und Menschen entstanden sind, mögen
sie nun als Mythos oder als wissenschaftliche Hypothese auftreten, liegt
offen oder verborgen der Begriff einer Schöpfung zugrunde. Mythos und
Wissenschaft unterscheiden sich in diesem Punkte bloß dadurch
voneinander, daß jener einen Schöpfer annimmt, schon weil er sich eine
Uhr ohne Uhrmacher nicht vorstellen kann, indes diese von »Kräften« redet
(womit sie sich allerdings unbewußt religiösen Vorstellungen anpaßt) oder
überhaupt ganz unbestimmten Vermutungen über den Hergang der Dinge
Raum gibt. Zwischen diesen beiden Hauptgruppen lebt eine breite Masse
indifferenter Elemente, die äußerlich wohl religiösen Bekenntnissen
zugehören, aber der Weisheit höchsten Gipfel doch darin erblicken, die
Frage nach Ursprung, Sinn und Ende der Erde und der Welt ganz beiseite
zu schieben, das »Gegebene« einfach hinzunehmen und sich einzig und
allein, rein im Erlebnis ruhend, auf den »Kampf ums Dasein« zu
beschränken, der mit großer Schärfe und Rücksichtslosigkeit geführt
werden »muß«. Jedenfalls sind Mythos, Sage, Märchen und Fabel unter
allen Umständen als älteste Erkenntnisweise anzusehen, auf die seitens
der sogenannten Aufgeklärten allerdings mit Geringschätzung und
ärgerlicher Geduld herabgeblickt wird. In Anbetracht eines so »kindlichen«
Gegenstandes, wie ihn die Weltentstehungssagen darstellen, nimmt man
sich gar nicht erst die Mühe, Natur und Wesen dieser seltsamen Bilder-,
Symbol- und Analogiensprache zu ergründen. Das Äußerste, was die
moderne Vorstellungsart einräumt, wäre ungefähr darin zu erblicken, daß
man zugibt, im Mythos berge sich allerhand Lebensweisheit und

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 17


Lebenswahrheit, die zum Teile für alle Zeiten zutreffe. Diese milde
Auffassung schlägt indes sofort in groben Eifer und brutalen Widerstand
um, wenn von »Offenbarung« gesprochen wird. Das haßverfolgte Wort, das
alle tiefen Geheimnisse in sich schließt, entfesselte die Wut der Freidenker
aller Zeiten im höchsten Maße; selbst der alte Freud, der seine Faust
geradezu fanatisch gegen Gott schüttelt, kann sich nicht enthalten, seine
eigenen erhabenen jüdischen Vorfahren als Betrüger und kindliche Narren
anzuspeien, da sie sich unterfingen, von Offenbarung zu sprechen. Er
gehört zu jenen unglücklichen Sklaven der materialistischen und
rationalistischen Denkweise, die gar nicht ahnen, daß Welt und Menschheit
längst nicht mehr bestünden, wenn es keine Offenbarung gegeben hätte,
wenn das alte Geheimnis der Mythen, Sagen und Märchen ganz
verlorengegangen wäre und wenn nicht zu allen Zeiten Männer und Frauen
die Flamme göttlicher Erkenntnis sorgsam gehütet und vor profanen
Händen bewahrt haben würden, ihre hohe Einsicht in die übersinnlichen
Welten bis zum heutigen Tage als rein seelisch-geistiges Gut verwaltend
und späteren Eingeweihten vererbend. Von Geheimnissen, von Einweihung
und übersinnlicher Erkenntnis wird, wie der Leser dieses Buches merkt,
hier als wie von einer mystischen Tatsache gesprochen, als von einer
Wirklichkeit und Wahrheit, die, aus sich selbst gewonnen, für alle Zeiten
und kommenden Welten auch in sich selbst ruht, von einer Wahrheit des
Unbeweisbaren, von der Wirklichkeit des Unerfahrbaren, geschöpft aus
dem Erlebnis der Liebe, die als Quelle exakter Erkenntnis ohnegleichen
erprobt ist.

III. Genesis und Wesen des Menschen

Die »exakte« Erdwissenschaft, die annimmt, daß einst ein einziger großer
Ozean den Menschenplaneten bedeckte, kann heute, wenn es sich darum
handelt, von den Zeiträumen zu sprechen, die vergangen sein mögen, bis
der gegenwärtige Zustand erreicht war, schon mit ebenso phantastischen
Ziffern aufwarten wie die indische Geheimlehre. Unsere Geologen und
Kosmologen stehen auf dem Boden der Aktualitätstheorie, das heißt: sie
behaupten, alle umwandelnden Prozesse in den verschiedenen Perioden
der Erdgeschichte hätten sich in den großen Zeiträumen »langsam, aber
stetig« vollzogen, und niemals wären dabei andere Kräfte und Ursachen
am Werke gewesen als die, die noch heute wirksam sind. Es hat wenig
Sinn, diese Paradezahlen mit ihren unübersehbaren Ziffernstellen
anzuführen, denn sie geben weder ein Bild der wahren Erdgeschichte
selbst, noch sind sie vollständig, da es bei den Schöpfungstagen sicherlich
auch Schöpfungsnächte gegeben hat, das heißt Zustände der Ruhe, in
denen alles Geschaffene, wieder zurückgenommen, ins Chaos zurückfiel,
um zu neuen Gestaltungen zu erwachen. Immerhin läßt sich mit den
»Erdperioden« vom Azoikum bis zum Diluvium und Alluvium einiges
anfangen; sie kennzeichnen wichtige Augenblicke in der Geschichte der
Erde, als da sind: Bildung der festen Substanz innerhalb des Erdkörpers,

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 18


Entstehung der Pflanzenwelt und der ersten Tierformen, fortschreitende
Erstarrung des Erdenleibes und Vervollkommnung des Menschenwesens,
das gleichsam durch zwei sich schneidende Linien gegeben wird, eine
Linie, die von oben herabkommt und eine andere, die von unten
heraufsteigt. Wie viele Hunderte von Jahrmillionen dazu notwendig
gewesen sind, und wo die Geschichte dieser ungeheuren Entwicklung etwa
geschrieben zu finden ist, ob nun im Tierkreis, ob nun vielleicht gar im
Menschen selbst, das bleibt für den Menschengeist ein gewaltiges Ding,
das mehr Beachtung verdient, als ihm heute zukommt. Ein Wissen um
blindwaltende Ursachen und Kräfte, deren Spiel immerhin
»Gesetzmäßigkeiten« verrät, könnte freilich niemandem auf dieser Erde
von Nutzen sein. Da erscheint doch wohl als weit klüger, das Leben einfach
hinzunehmen und zu leben. Indes: der Mensch ist eben mehr, als er sich
einbildet: sein Vermögen, sich zu erinnern, seine Fähigkeit, Träume zu
haben, tragen ihn über dieses Ohngefähr von scheinbar sinnlosen Zufällen,
darein er sich gestellt sieht, hoch empor. Der Mensch birgt ein köstliches
Geheimnis in sich: die Ahnung anderer Welten und seiner höheren Abkunft.
Die moderne Anthropologie und Biologie, soweit sie in die Geheimnisse des
Lebens auf Erden eingedrungen zu sein glaubt, hat im Grunde doch nur
eine übertrieben primitive Vorstellung vom menschlichen Leben im Kopfe;
sie sieht bloß den Körper, dessen prachtvollen Zweckbau auch sie
allerdings restlos bewundert. In dieser Bewunderung liegt zugleich die
äußerste Grenze, die letzte Ausschweifung, die sich der nüchterne
Beobachter verstattet, sofern er bloß auf »allgemein gültige« Erkenntnis
pirscht. Die Biologen unserer Zeit ziehen sich befriedigt auf die einfache
Formel »schöpferisches Streben« zurück und schließen in unbewachten
Augenblicken das Seelische und Geistige zur Not gerade noch als eine
»Parallelfunktion des Gehirnes« in ihr Glaubensbekenntnis ein. Überhaupt
gibt es kaum etwas Merkwürdigeres als die abgöttische Verehrung, die das
physische Gehirn des Menschen als ein mit solchen »Funktionen«
ausgestattetes Instrument just bei denen genießt, die am allerwenigsten
damit anzufangen wissen; ihre Anbetung alles Körperlichen geht so weit,
daß sie seelische und geistige Dinge unter keinen Umständen selbständig
und unabhängig von Form und Gestalt zu denken oder gar begrifflich zu
fassen imstande sind. Legt man aber alle Bücher beiseite, in denen diese
seltsame, nichtssagende und dürftige Menschenkunde vorgetragen wird,
und versucht nun, das Problem selbst wieder an den Ausgangspunkt
zurückzuführen, so erweist sich das Wesen Mensch dem unbefangenen
geistigen Auge bald als ein siebenfaches Erlebnis. In dieser
Unterscheidung liegt gar nichts Metaphysisches; sie zwingt vorläufig nicht
einmal dazu, von einer Seele zu sprechen, was schon den Forschern der
naturwissenschaftlichen Glanzzeit die größten Übelkeiten bereitete. Die
siebenfache Gliederung des Menschen kennt die Geheimlehre fast aller
Völker. An dieser Stelle soll indes, aus bestimmten Gründen, keineswegs
von Dingen gesprochen werden, die nicht auch die hohe materielle

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 19


Wissenschaft anerkennen dürfte. Es ist selbst für diese schon sehr
wahrscheinlich, daß der Körper schon vor dem individuellen Seelischen und
Geistigen, dessen vorübergehende Wohnung er ist, dagewesen sein muß.
Der Körper des Menschen stellt in der Tat heute den ältesten und
vollkommensten Wesensbestandteil der menschlichen Wesenheit dar. Sein
Präzisionsmechanismus und die bewunderungswürdig feine Struktur seiner
Organe lassen auf eine Entwicklung schließen, die ungezählte
Jahrmillionen in Anspruch genommen hat. Anders steht es um Seele und
Geist, die des Menschen ewige Bestandteile sind. Wie sollte überhaupt
möglich sein, sich Seele und Geist gedanklich anders denn als etwas
Unbegrenztes und Dahinflutendes vorzustellen? Es ist aber trotzdem an
sich gar nicht so schwer, die seelische und geistige Welt als etwas
Selbständiges, mit der Körperwelt nur zeitweise Verbundenes zu erkennen.
Wie die Luft außerhalb eines begrenzten Raumes und in diesem
selbst vorhanden ist, so erfüllt auch das Seelische und Geistige die
unermeßlichen Weltenweiten. Im Zusammenhange mit den Körpern gehen
die auch für sich und unabhängig vom Menschen bestehenden geistigen
und seelischen Strömungen offenbar bloß vorübergehende Verbindungen
ein, die eben gelöst werden, wenn der Körper aufgehört hat, ihnen als
Träger und Instrument zu dienen. Selbst der verbissenste Anbeter der
Materie, der Mechanik und der reinen Vernunft läßt sich gelegentlich dazu
überreden, daß Seele und Geist, die er bloß als Zustandsbegriffe gelten
läßt, im Verein mit dem Körperlichen eine entscheidende Rolle spielen, daß
aber seelische und geistige Erlebnisse wohl mit dem Körperlichen
gemeinsam, aber unter Umständen auch durchaus von diesem unabhängig
auftreten können. Das Seelische hat bei Denkern dieser Art eben eine
wechselnde Bedeutung und »endet« mit dem Körper, der zu fühlen
aufgehört hat, indes die geistigen Betätigungen nicht unbedingt an den
Körper anknüpfen, sondern ihn, gleich wie das Seelische, überdauern. Auf
den ersten Blick erscheint die große alte Dreiteilung von Körper, Seele und
Geist als etwas Schematisches und in diesem Sinne Bedeutungsloses. Es
wird sich jedoch später zeigen, wie gerade dieser Dreigliederung
Grundlegendes und für die Erkenntnis überaus Bedeutsames innewohnt.
Auch davon wird die Rede sein müssen, welche Tragweite dem Beschluß
der katholischen Kirche zukam, von dieser großen Dreiheit abzulassen und
bloß Leib und Seele anzuerkennen. Wie dem immer wäre: Leib, Seele und
Geist, durch Erlebnis immer wieder bekräftigt, bilden die Grundpfeiler des
menschlichen Wesens, und es ist klar, daß sie nur durch das Ich
zusammengehalten und zu einem Ganzen gemacht werden, mag man nun
das Ich bloß als einen »Komplex von zusammenhängenden
Empfindungen« betrachten oder ihm eine ganz entscheidende Rolle in der
Tatsache Mensch zuweisen. Der Ton liegt eben auf dem Zusammenhang,
auf jener synthetischen Kraft, die Körperliches, Seelisches und Geistiges
wie in einem Brennpunkt vereinigt. Aus dieser Vereinigung ergeben sich
dann auch ohne viele Mühe drei das Wesen des Menschen abschließende

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 20


Erlebnisse, deren Vorhandensein niemand bestreiten kann, die drei großen
Erlebnistatsachen: Denken, Fühlen und Wollen. Sie stehen als Gesamtheit
zur Gesamtheit von Leib, Seele und Geist in Verbindung, treten in sehr
verschiedenen Mischungen in Erscheinung, können aber ebensowenig wie
die drei Bestandteile Leib, Seele und Geist eines ohne das andere
bestehen oder bestehend gedacht werden. Dieses rätselhafte Erdenwesen
Mensch denkt, fühlt und will, und seine drei Erlebnisbestandteile sind im Ich
ebenso vereinigt wie Leib, Seele und Geist. Es ist auch klar, daß das Ich
den jüngsten Bestandteil der menschlichen Wesenheit umfaßt, da es doch
eigentlich erst einziehen konnte, als die äußeren Bedingungen für seinen
Einzug gegeben waren. Der menschliche Entwicklungsprozeß hat offenbar
vorläufig beim Ich haltgemacht. Wie diese Entwicklung des Menschen zum
Ich vor sich ging und was sie notwendigerweise mit sich bringen mußte,
gehört in ein anderes Kapitel. Leib, Seele und Geist lassen sich wohl
gedanklich voneinander trennen, aber sie durchdringen einander und
werden von Denken, Fühlen und Wollen durchflossen, die begrifflich wohl
unterscheidbar sind, aber doch ein Ganzes im Ganzen darstellen. Wohin
sich das Ich weiter entwickelt, wie diese Entwicklung mit Veränderungen
der Welt zusammenhängt, ob und wie das Eine das Andere voraussetzt,
darüber lehrt das Geheimwissen über Ende und Zukunft der Erde ganz
Bestimmtes.

IV. Das finstere Jahrhundert

Als Höhepunkt der materialistischen und rein verstandesmäßigen


Weltauffassung kann wohl das XIX. Jahrhundert angesehen werden. Es ist
hier leider nicht Raum genug, ein wenn auch noch so gedrängtes Bild
dieser in ihrer Art einzig dastehenden Epoche zu entwerfen; sie würde in
einem Gesamtgemälde der Menschheitsentwicklung ein grandioses, aber
dunkles und gewitterschwangeres Bild darstellen, dessen Grundcharakter
trotz einzelner erhabener und lichter Stellen müde, welk, dürr und
schwunglos anmutet. Das alte Hellsehen war um diese Zeit fast
vollkommen erloschen, das Wissen der Mysterien blieb nur bei Wenigen
aufbewahrt, die es eifersüchtig vor profanen Blicken verbargen, überzeugt
davon, daß sie nur Hohn und Spott ernten würden, wenn ihnen beifiele,
sich öffentlich zu ihm zu bekennen. Die Naturwissenschaft des XVII. und
XVIII. Jahrhunderts arbeitet noch mit den Regeln jener Inspirationen und
Intuitionen, die in den geheimnisvollen Hantierungen der Alchimisten
aufleuchten. Die erste Hälfte des XIX. Jahrhunderts ist selbst für profane
Augen in völliger Finsternis befangen, die Mitte dieses Säkulums aber stellt
seine dunkelste Partie dar. Die Seher sterben freilich darob nicht aus,
sondern verschwinden von der Bildfläche, doch gab es auch Eingeweihte
genug, die, ohne Seher zu sein, den Hort hüteten. Sie schieden sich in zwei
Gruppen, deren eine jede Lüftung des Schleiers, so die Geheimnisse
verbirgt, verwarf und für schädlich hielt, indes die andere, stutzig und
unruhig gemacht durch den düsteren und trostlosen Aspekt der Zeit, für

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 21


teilweise Eröffnung der geheimen Wissenssphäre eintrat. Aus dem
Kompromiß beider Richtungen ist ohne Zweifel das Wiederaufleben des
Okkultismus hervorgegangen, das fälschlich als eine Wirkung des
Weltkrieges ausgegeben wird. Der Spiritismus trat 1848 mit
bemerkenswerter Vehemenz auf, Medienschaft lenkte die Blicke der
ganzen Welt auf sich. Der Spuk von Hydesville (Herbst 1847) ward zum
Geburtstag des abendländischen Spiritismus. In seiner »Hamburgischen
Dramaturgie« verbindet Lessing das »Dittelsdorfer Kloppedink« mit
merkwürdigen Fragen, die seine volle Unbefangenheit gegenüber dem
sogenannten »Aberglauben« glänzend dartun. Von den Folgen
der Spukphänomene in Hydesville und von der weiteren Entwicklung des
Spiritismus ist an anderer Stelle die Rede. Vulgär gesprochen, bedeutete
er: erste Nachricht von den Toten in erstaunlichen Kundgebungen aus dem
Zwischenreich. Jede andere »Hypothese« war von vornherein lächerlich
und in sich selbst hinfällig. Gezwungen, mit dem materialistischen Geist zu
rechnen, der das Jahrhundert seiner Wiedergeburt beherrschte (daher sind
wohl auch die ziemlich primitiven Anfänge der sogenannten spiritistischen
Bewegung zu erklären), konnte der Spiritismus vorerst keine andere
Sendung erfüllen, als daß er einen eigenartigen, auffälligen und
merkwürdigen Beweis des Bestandes übersinnlicher Welten erbrachte, für
Jene wenigstens, die ihr inneres Auge nicht mit törichten Vorurteilen
verschlossen hielten. Es versteht sich auch ganz von selbst, daß die
Fragen nach der Entstehung der Welt und des Menschen nun erst recht
eine ganz andere, weitaus materiellere und verstandesgemäße Lösung
fanden, die jede Spur von Metaphysik verlor und im rein Zufälligen, auf das
Walten blinder Kräfte Gestellten, den Sinn, richtiger die Sinnlosigkeit alles
Geschehens zu erweisen schien. Die Wissenschaft, gegen den Spiritismus
durch maßlosen Dünkel und allgemeine Unfähigkeit geschützt, blickte nun
auf Kant und Laplace mit Verachtung zurück, ganz verliebt in die natürliche
Schöpfungsgeschichte, die allem »Wahn« auf Erden ein striktes Ende zu
bereiten hoffte. Daß niemand auch nur Zeit und Lust hatte (von Theologen
und anderen Spezialisten abgesehen), die ungeheure, tiefsinnige und
eigentlich vollkommen klare Schöpfungsgeschichte aller Rassen und
Nationen, die mosaische voran, auf ihren wissenschaftlichen Kern zu
untersuchen, liegt auf der Hand. Die Spiritisten hatten gut reden. Niemand
hörte sie, und so seltsam das Merkwürdige der spiritistischen
Erscheinungen auftrat: die Ohren der »Weisen« dieser Welt blieben mit
Wachs und Stroh verstopft, ihr Sinn war zu, ihr Herz war tot! Die
Geisterwelt fand verschlossene Türen ...

V. Die Blavatsky und das geheimnisvolle Buch Dzyan

Der Kampf der Weltanschauungen, entfesselt durch das Auftreten des


Spiritismus, bekam gegen Ende des XIX. Jahrhunderts eine bedeutsame
Wendung; die Spiritisten erhielten Sukkurs durch die Veröffentlichung der
Hauptschriften, die H. P. Blavatsky, 1891 in London gestorben, ihren

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 22


Anhängern hinterließ. Von dieser seltsamen, genialen und ohne Zweifel
inspirierten Frau soll noch an anderer Stelle die Rede sein, dort, wo das
Kapitel Theosophie auftaucht. An diesem Orte interessiert hauptsächlich
die »Geheimlehre«, ein zweibändiges Werk (einen dritten, aber sehr
problematischen Band gab Annie Besant heraus), das nicht weniger
unternahm, als ein grandioses Gemälde von der Entstehung der Welt und
des Menschen, zum Teil aus Inspiration, zum Teil als Frucht einer
Berührung mit alten, bisher unbekannten Schriften zu entwerfen. Die
Blavatsky berief sich auf ein mystisches »Buch Dzyan«, mit dem es in der
Tat eine ganz eigene Bewandtnis hat. Die erste Schrift der Blavatsky
(»Entschleierte Isis«) erschien 1879, die »Geheimlehre«, in London, 1888,
zehn Jahre später (in recht mangelhafter Übersetzung von Froebe) auch in
deutscher Sprache. Zwischen beiden Hauptschriften klafft ein Abgrund,
entstanden dadurch, daß einer der Angelpunkte des Geheimnisses, die
Lehre von der Wiederverkörperung und den wiederholten Erdenleben des
Menschen, der Schöpferin der »entschleierten Isis« verborgen blieb,
während er in der »Geheimlehre« den notwendigen zentralen Raum
einnimmt. Das »Buch Dzyan«, überaus alten Ursprungs, macht den
Philologen wenig Freude, obgleich es, wenn sie es schon nicht als Quelle
eines Wissens ansehen wollen, doch als Dichtung ihre Aufmerksamkeit und
Achtung wohl verdienen würde. Sie beginnt ihre Schilderung von der
Entstehung der Welt mit einer Zeit, da »die ewige Natur in ihrem stets
unsichtbaren Gewande während sieben Ewigkeiten wieder in Schlummer
gehüllt war«; es gab damals noch keine Zeit, »die vielmehr im Schoße der
Ewigkeit verborgen lag«; Denken, Fühlen und Wollen existierten noch nicht,
denn es waren noch keine Wesenheiten da, die diese »Fähigkeiten
enthielten«; es gab auch kein Leiden, da die allgemeinen Voraussetzungen
dazu nicht vorlagen und niemand da war, der »das Leid hätte hervorbringen
können oder der ihm unterworfen gewesen wäre«; das »All«, mit Dunkel
erfüllt, denn die Stunde hatte noch nicht geschlagen, das All ruhte noch im
Gottesgedanken und im göttlichen Herzen. Da durchdringt, eines Tages,
die »letzte Schwingung der siebenten Ewigkeit das Unendliche, die Mutter
schwillt und breitet sich aus, von innen nach außen, wie die Blüte des
Lotus«. Der Atem durchfliegt das All und erfüllt den Keim in der Dunkelheit,
die über den schlummernden Wassern des Lebens liegt; aus der
Dunkelheit aber fällt ein Strahl in die Gewässer der mütterlichen Tiefe und
durchdringt das jungfräuliche Ei, das er erzittern macht und dem der
nichtewige Keim entfällt, durch dessen Verdichtung das Weltenei entsteht;
die Dreiheit ward zur Vierheit! Nicht minder grandios und schön sind die
anderen Strophen des Buches Dzyan, die von der Entstehung des
Menschen, vom »Anfang des fühlenden Lebens« handeln. Der Engel der
vierten Welt (des Erdenzustandes) gibt den sieben Engeln das Leben. Das
große Schöpfungsrad rollt nun durch dreißig Räume (ungefähr 300
Millionen Jahre) und bringt Formen hervor, Gesteine, Pflanzen und Tiere,
bis endlich der »Herr aller Meister« kommt, um den Menschen zu schaffen.

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 23


Nicht weniger interessant sind die Erläuterungen der Blavatsky zu diesem
Weltbild, das, so offene Anklänge an die mosaische Genesis darin
vorhanden sein mögen, in dieser Art und Exaktheit, den Menschen ganz
neue Einsichten eröffnete, die, wenn die Menschheit jene Impulse besser
verstanden hätte, sicherlich geeignet gewesen wären, die Geister mächtig
zu erschüttern.

VI. Das Standardwerk des jungen Okkultismus

Wer die Geduld aufbringt, die etwas langatmigen, aber durchaus


originellen Auseinandersetzungen der »Geheimlehre« bis an ihr Ende zu
verfolgen, kehrt nicht ohne reiche Beute heim. So wirr dieses
Monumentalwerk auch erscheinen mag, übt es doch überaus starke
Wirkungen und bestärkt den Gesamteindruck, daß die H. P. Blavatsky, wie
sich Rudolf Steiner in seiner Selbstbiographie vernehmen läßt, »mit dem,
was sie (von irgend einer Seite aus den Lehren der alten Mysterienschulen)
erhielt, Offenbarungen verband, die in ihrem eigenen Innern aufgingen«;
die Blavatsky war eine menschliche Individualität, in der das Geistige durch
einen merkwürdigen Atavismus wirkte, wie es einst bei den
Mysterienleibern gewirkt hat, in einem Bewußtseinszustand, der gegenüber
dem modernen, von der Bewußtseinsseele durchleuchteten, ein »ins
Traumhafte herabgestimmter« war. So erneuerte sich in dem Menschen
Blavatsky etwas, was zu uralter Zeit in den Mysterien heimisch war. Mit der
Geheimlehre der Blavatsky konnte sich in der Tat keine andere Schrift
solcher Art früherer Zeiten messen. Die Geheimlehre blieb eine Zeitlang
das Standardwerk des neugeborenen Okkultismus, obschon im ganzen und
großen ziemlich unbeachtet von einer Generation, die im Dunkel der
naturwissenschaftlichen »natürlichen Schöpfungsgeschichte« das eigene
Menschenantlitz kaum mehr zu erkennen vermochte. Freilich hat die
»Geheimlehre« eine Reihe von Grundeinstellungen aufzuweisen, die wohl
beachtet werden müssen, soll ihr wahrer Wert und ihre wichtige, aber
vorübergehende Bedeutung scharf und grenzklar hervortreten. Die Welt der
»Geheimlehre« steigt aus dem Atem des Urwesens. Gott atmet die Wesen
aus und ein; so entsteht (im Ausatmen) die Natur und (im Einatmen) der
Geist. Ihr Schöpfer sagt Ja zu der Welt, einige der Geschöpfe verneinen
sie; so gibt es gleich zu Beginn Kampf zwischen Ja und Nein, zwischen
Licht und Finsternis, im Himmel wie auf Erden zwischen den Göttern der
Liebe und jenen der Vernichtung, zwischen den irdischen Wesen, die den
Pfad der Sonne und jenen, die den des Mondes wandeln. Verkörpert die
Sonne das Geistige, so ist der Mond der Planet der Materie. In einem
Punkte der Entwicklung aber, den die Mosaische »Genesis« den
»Sündenfall« nennt, geschieht etwas Großes: Sonne und Mond in ihren
Wirkungen und Aspekten verbinden sich, treffen sich, durchdringen sich,
was die »Geheimlehre« als ein großes Mysterium in den Brennpunkt ihrer
ganzen Betrachtungsweise stellt. Vorangegangen ist diesem großen
Augenblick natürlich die Verkörperung überhaupt; der Körper mußte da

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 24


sein, noch mehr: er war nur da, weil sich in der Mitte der sogenannten
lemurischen Epoche, die Geschlechter schieden; Sonne und Mond finden
sich in der Vereinigung der Geschlechter. Dem gebenden Teile, dem
Manne, erwächst aus diesem Mysterium die Gabe der Einsicht und des
Verstandes, dem Weibe der Fluch des Geschlechtlichen, eine Deutung, die
ja auch in den Schriften der Alchimisten immer wiederkehrt: die Sonne ist
der Vater, der Mond die Mutter. Auf dieser grandiosen, tragischen und
erschütternden Tatsache der Zweigeschlechtlichkeit ruht nun zugleich das
Geheimnis der Zukunft. Das Mondhafte ist zugunsten des Sonnenhaften zu
bekämpfen und abzulegen, das Geschlechtliche hat aus der Welt zu
verschwinden und dem Sonnenhaften zu weichen, das allein im Atem
Gottes ruht. So birgt denn auch die Weisheit des Ostens den Sinn, die
Menschheit auf den Pfad des Sonnenhaften zu führen und die
Mondenkräfte des Westens zu überwinden. Die Menschheit wird von
Luzifer geleitet, der die Sonnenkräfte in sich vereinigt und das Gute
darstellt, indes Jahve, der Mondgott, das Böse darstellend, als Ahriman die
niedrigen Fortpflanzungsinstinkte, finsterer Macht kundig, bemüht, um die
Menschheit zu verderben und der Materie auszuliefern. In diesem bipolaren
System, das die H. P. Blavatsky zu allerhand falschen Deutungen
verleitete, war natürlich für ein so hohes und entscheidendes Ereignis wie
das Mysterium von Golgatha kein richtiger Platz. In der Christusfrage blieb
die H. P. Blavatsky durchwegs blind und einseitig. Vor der Magie des
Christentums versagte ihre Einsicht.

VII. Weltenlehrer gegen Meister. –


Das Ende der Blavatskyschen »Geheimlehre«

Die durch die Geheimlehre der H. P. Blavatsky geschaffene Situation auf


dem Gebiete der Berichte über Weltentstehung und Menschwerdung ändert
sich aber grundlegend mit dem ersten Erscheinen der
»Geheimwissenschaft im Umriß« von Rudolf Steiner, die einen Markstein in
der Geschichte der okkulten Entwicklung bedeutet. Die achte Auflage der
»Geheimwissenschaft« erschien schon 1909. Sie blieb, zunächst, ziemlich
unbeachtet, ward für eine Schrift von der Art der »Geheimlehre« gehalten,
da man Steiner bloß für einen deutschen Exponenten indischer Theosophie
ansah und nun, nach Analogie der Blavatskyschen Offenbarungsweise,
vergeblich nach einem Meister (Mahatma) Umschau hielt, von dem Steiner
seine Mitteilungen über Welt und Mensch empfangen haben könnte.
Deutete man doch auch, obgleich schon ein sehr flüchtiger Blick eines
Besseren belehren mußte, Steiners »Theosophie« törichterweise als ein
Buch, das »vermutlich« der Popularisierung Besantscher Theosophie in
Deutschland dienen wollte! Die Unterschiede, die zwischen der
theosophischen Literatur und Steiners Büchern klaffen, sind aber in
Wahrheit ganz fundamentale, sowohl was die Quelle betrifft, als auch in
Hinsicht auf Wesen, Gesamterscheinung und Ziel. Steiner durchschritt die
Theosophie, wie die Erde durch Kometenschwärme hindurchzieht. Sein

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 25


Wissen und Schauen wuchs von Buch zu Buch, von Vortrag zu Vortrag, ins
Ungemessene und landete zuletzt in ganz einsamen Gebieten, die kein
anderer Seher erreichte. Steiners »Geheimwissenschaft im Umriß« und
»Theosophie« sind die einzigen wirklich grundlegenden Schriften des
europäischen Okkultismus, die einzige brauchbare und tragfähige Brücke
zwischen Ost und West, sie sind wahre Zukunftsbücher der Menschheit,
Grundpfeiler einer wahrhaften, allgemeinen »Reformation der ganzen
Welt«, um im rosenkreuzerischen Vorstellungskreis zu bleiben, dem ja
Steiners ganzes Wirken und Schaffen auf Erden zugehört, obschon es weit
über die überlieferten Grenzen hinausragt. Der rosenkreuzerische Weg ist
ein Weg der Verwandlung durch den Christusimpuls, ohne den alles okkulte
Streben und Suchen auf Grund alter und heiliger Betrachtungsweisen
Stückwerk und unfruchtbares Plätschern in übersinnlichen Gewässern bald
reinerer, bald trüberer Art bleibt. Gibt die Blavatsky
geheimwissenschaftliche Mitteilungen, aufgebaut auf den Gegensätzen
zwischen Gut und Böse, zwischen Licht und Finsternis, so läßt sie über den
Pfad zur Erkenntnis kein Wort verlauten, indes Steiner in einem dritten und
praktisch vielleicht wichtigsten Werk den Weg weist, wie man »zur
Erkenntnis höherer Welten« gelangt. Diese drei Schriften ergänzen und
durchdringen einander, sie stellen den vollkommensten »Ersatz der
Religion« dar, sind eine ideale Vereinigung von Wissenschaft und
Philosophie und entsenden ihr Licht in die entlegensten Ausläufer
menschlicher Kultur, alles belebend, erwärmend und erleuchtend, was in
ihren Strahlenbereich gerät. Um so wichtiger wird, von ihnen zu sprechen,
wenn man sich die Aufgabe gesetzt hat, die Geheimwissenschaften im
Lichte unserer Zeit zu zeigen und ihre lebendigen Werte festzustellen.
Steiner war ein Kind seiner Epoche, die unter ungeheuren Anstrengungen
die Fesseln der agnostischen Gefangenschaft abstreift, aber die Frucht
seiner Saat zielt auf kommende Läufte, gesehen, zunächst, vom Übergang
einer alten in eine neue Kultur.
Die »Meister« wichen dem Weltenlehrer!

VIII. Der »gottlose« Steiner

Die anthroposophische Kosmogonie, gegründet auf Rudolf Steiners


»Geheimwissenschaft im Umriß«, entwirft das grandiose Bild der
Erdentwicklung aus einem Urplaneten, der seinen Namen »alter Saturn«
keineswegs dem Saturn der Astronomen verdankt und aus dem die »alte
Sonne«, wie der »alte Mond« nach ungeheuren Zeiträumen, eingeteilt in
Zustände der Ruhe (Vergeistigung) und der Aktivität, als
Wiederverkörperungen hervorgingen. Man spricht am besten von
Zuständen, wenn vom Geheimnis der Genesis die Rede ist: vom Saturn-,
vom Sonnen- und vom Mondenzustand, dem der Erdenzustand folgt; auch
der Erdenzustand ist aber keineswegs ein Endzustand, sondern nur ein
Übergang zu drei weiteren Phasen, die im anthroposophischen System

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 26


Venus, Jupiter und Vulkan genannt werden, wiederum, ohne mit
vorhandenen Planeten etwas anderes als den Namen gemeinsam zu
haben. Schon aus diesem kurzen Überblick ergeben sich sieben Zustände,
die, zusammengefaßt, einen Weltenschöpfungszyklus darstellen und in
deren viertem, dem Erdezustand, die Menschheit von heute steht. Über den
Augenblick, der dem ersten Zustand, dem alten Saturn, voranging, äußert
sich Steiner nur andeutungsweise und an verschiedenen Stellen; er spricht
nicht von Gott im vulgären Sinne, wohl aber von einer göttlich geistigen
Welt, die ein göttliches Urwesen, einen Anfang aller Dinge, voraussetzt.
Diesem Umstände mag wohl zuzuschreiben sein, daß Steiners Gegner
schon bei seinen Lebzeiten vom Atheismus oder Pantheismus oder gar
Pan-En-theismus der Anthroposophie sprechen und, als besonderes
Kompliment für den Buddhismus, die törichte Behauptung aufstellen, der
Buddhismus verdiene als »gottfreie Religion« den Vorzug vor allen
anderen. Ein Hauptmerkmal der Steinerschen Denk- und Lehrweise darf in
ihrem absoluten Mangel an Spekulation erblickt werden, mag sie nun
allgemein mystischer oder theologischer Natur sein. Was Steiner lehrt und
als geschaut darstellt, ist höchste und reinste Naturwissenschaft, exakt,
mag das Wort selbst im strengsten Sinne gebraucht werden, und
gegenständlich in der vollkommensten Bedeutung des Ausdruckes. Damit
erübrigt sich ganz von selbst das Vorhandensein einer theologischen
Betrachtung über das Wesen Gottes, eines Gottsuchertums im mystischen
Sinne, einer Philosophie des Unendlichen und Ewigen, das sich von Zeit zu
Zeit manifestiert und betätigt. Die Menschheit unserer Zeit, auf der
Bewußtseinsstufe, die sie heute einnimmt, hat nicht viel Lust, noch weniger
aber Möglichkeit, sich ein Wesen vorzustellen, das, ohne Anfang und Ende,
alle anderen Wesen in sich schließt, eine alles umfassende Intelligenz, die
den Keim der gesamten Möglichkeiten birgt und »nach außen stülpt«, ein
»Agnostizismus«, der genau weiß, daß der Frage nach Ursache und
Wirkung auf Erden bestimmte Grenzen gesetzt sind, daß also in gewissen
Regionen Frage und Antwort aufhören müssen, weil sie keinen Sinn mehr
haben, sondern der Ahnung anheimgegeben bleiben, die, mit einem etwas
zu geräumigen und verfrühten Ausdruck, Bewußtsein des Göttlichen
genannt wird. Aus der Erhabenheit solcher von der Ahnung des Göttlichen
erfüllten Geister baut sich die göttlich geistige Welt auf, die Steiner die
hierarchischen Stufen hinauf bis zu den mit menschlicher Fassungskraft
nicht mehr erreichbaren, aber noch benannten Wesenheiten verfolgt. Die
alten Geheimlehren und ihr majestätischer Niederschlag in der Kabbala
nehmen reichlich Gelegenheit, von dem Einen zu handeln, dessen Name
nur in heiligster Stunde und ohne Laut und Gebärde ausgesprochen
werden darf; Sein Atem hat die ganze Welt geschaffen, die verschwinden
muß, wenn Gottes Atem wieder in das Eine zurückkehrt. Endlich geht vom
Wort und Begriff Gott, selbst in seiner vulgärsten und ins alltägliche Leben
gemischten Deutung, eine Kraft aus, mit der sich keine andere Kraft
vergleichen läßt. Es ist, als sammelte sich darin die Grundessenz aller

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 27


Mannighaftigkeit und Vielfältigkeit der Erscheinungswelt, in einer Art
Vaterbewußtseins, das dem Geschöpf für alle Zeiten als Ahnung eines
Schöpfers eingepflanzt ist. Ein so sinnreiches und unerhört kunstvoll
gearbeitetes Kunstwerk wie der Mensch, ein Werk von solcher Präzision
und einsichtsvoller Weisheit, schließt die Existenz eines Künstlers, der es
schuf, eines Uhrmachers, der es in Gang setzt, von selbst ein. Immerhin
bleibt das große Drama dieses Wesens, das Geheimnis, warum es in
unerhörten Zeiträumen schafft und gestaltet, außerhalb jeder Betrachtung.
Es gibt sozusagen ein göttliches Karma, das der Zusammenhang zwischen
Ebenbild und Schöpfer nur bloßgelegt hat, das aber niemals gedeutet
werden kann. Ein Gott, der Wesen schuf, die einer Bestimmung
unterliegen, sich selbst eine Bestimmung setzend, thront in Regionen, in
die keine Ahnung mehr einzudringen vermag. Selbst in dieser Nacht der
Notwendigkeit (Ananke) scheint freilich noch ein Licht auf, das sich als
Führer und Leiter erweist, weil es von der Substanz der Liebe lebt: das
Licht der Freiheit, der vollen Beherrschung der Entschlüsse, durch den
einzelnen Menschen gegeben und reguliert von der »moralischen
Phantasie«. Dieses Licht führt denn auch mit magischem Zwang zum
Erlebnis der göttlichen Dreifaltigkeit, die in ihren fernsten Ausläufern, als
Leib, Seele und Geist, als Denken, Fühlen und Wollen auftritt und deren
erhabene Symbole über die ganze Erscheinungswelt hin verstreut sind, nur
denen erkennbar, die den Schlüssel gefunden haben.

IX. Welt und Mensch als Weggefährten

Jeder Mensch, der die Gabe hat, sich leerzumachen von allen Vorurteilen
und vorgefaßten »Einstellungen« zu den Problemen des Lebens, kann an
der Hand seines eigenen Wesens bis zu jenen Anfängen vordringen, die in
der Kosmogonie der Anthroposophen der »alte Saturn« genannt werden
und die den Ausgangspunkt eines sieben große Zeitläufte umfassenden
Schöpfungszyklus bilden. Eine leichte Anstrengung der intuitiven Kraft
schon muß ihm sagen, daß er niemals außerhalb der Welt gewesen sein
kann, sondern, vom ersten Tage an, in irgend einer Gestalt und Form bei
dem ungeheuren Schauspiel der Weltentwicklung dabeigewesen sein muß.
Dieser erste Grad okkulter Erkenntnis, wie man den Augenblick solcher
Einsicht am liebsten nennen möchte, ist in der Formel der alten
griechischen Zeit enthalten, die zum Menschen spricht: »Erkenne dich
selbst!« Gewohnt, alles zu vernützlichen, zu vernüchtern und auf praktische
Vernunft umzudeuten, sind im Jargon der Schulphilosophie diese
Mahnworte, die mancherlei Geheimnis bergen, rasch zu einer banalen
Verhaltungsmaßregel geworden, die wohl religiösen Geruch hat, aber
weiter keine besonderen Verhaltungsweisen auferlegt. Es würde auch
wenig nützen, wollte der unglückliche Adept solcher Schulphilosophie und
Kathederweisheit, ahnend, daß das »Gnothi s'auton« doch mehr bedeuten
muß als eine Bestimmung aus der Hausordnung für Sanatorien, nunmehr
frisch und fröhlich in sich hineinbrüten, um Näheres über die Welt und sich

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 28


selbst zu erfahren. Er würde schließlich wohl einschlafen, aber beim
Erwachen doch feststellen müssen, daß die gepriesene und von allen
Weisen empfohlene Selbsterkenntnis keinerlei Fortschritte gemacht hat.
Die Formel »Erkenne dich selbst« steht sichtbar oder unsichtbar über allen
Einweihungsschulen; sie faßt die Gesamtheit der Wege zusammen, die zur
Einsicht und vollen, klaren Erkenntnis der göttlich geistigen Welt führen,
und als eine der ersten Stationen darin wäre der Augenblick anzusehen, da
der Adept der Geheimwissenschaft zu dem sicheren und untrüglichen
Schluß gelangt, daß der Mensch und die Welt vom Anfang ab beisammen
waren und sich voneinander bis zur letzten Epoche, zur Vulkanzeit, nicht
mehr trennen können. So wichtig dieser erste Schritt zur
Selbsterkenntnis ist, so wenig fruchtbar wäre er, wenn dabei nicht auf die
Behelfe geachtet würde, die notwendig waren, ihn zu tun. Das Wort
Bewußtseinszustände spielt, wie schon an anderer Stelle zu lesen war, in
der Geheimwissenschaft eine große, eine entscheidende Rolle. Die
Geschichte der Welt ist zugleich Geschichte des Bewußtseins, der
Rückblick auf verflossene Zustände nichts anderes als eine Generalschau
auf den Gesamtstand der Fähigkeiten, sich und damit die Welt zu erleben.
Es ist klar, daß in einem Zeitpunkt, den man, ziemlich ungenau, den Anfang
nennen möchte, nur ein ganz dunkles, fast bewußtloses Bewußtsein in den
Keimen schlummerte, die den Kern des künftigen Menschenwesens
bargen. Die Frage, wie ein solches dumpfes und schweres, fast
bewußtloses Bewußtsein ausgesehen habe und woher die Berechtigung
abgeleitet werden mag, sein Vorhandensein als gesichert anzunehmen, ist
viel leichter zu beantworten, als man glaubt; wir haben alle diese
Bewußtseinsgrade, die sich hinter den Ausdrücken Saturn, Sonnen-,
Monden- und Erdenzeit verbergen, noch heute in uns: das
Saturnbewußtsein ist nichts anderes als unser tiefer, schwerer, fester, an
die Natur des Gesteines anknüpfender, traumloser Schlaf, der Tieftrance
unserer Medien. Er kennzeichnet die Bewußtseinslage jener Keime, die
den Kern zum physischen Leibe des Menschen bargen, ein Ruhen im Sein
(nichts weiter) und doch schon mit Bewußtseinsspuren ausgestattet, weil
fähig, den eigenen und die anderen Weltkörper unmittelbar
mitzuempfinden, ungefähr wie der Mensch von heute das Funktionieren
seiner eigenen, inneren Organe miterlebt. Der alte Saturn und das alte
Saturnbewußtsein sind, vom Menschen aus gesehen, identisch: sie sind
Aspekte eines und desselben Zustandes. Es wäre aber natürlich gänzlich
verfehlt, zu denken, daß auf dem alten Saturn dieses dumpfe, aber doch
schon empfindungsfähige Bewußtsein allein und einsam vorhanden
gewesen wäre. Die Geheimwissenschaft Steiners spricht von zwölf
Bewußtseinszuständen, die durch ihren Helligkeitsgrad
gegeneinander abgestuft und von denen bis heute bloß vier entwickelt sind,
indes von den weiteren Zuständen drei in den nächsten (Venus, Jupiter,
Vulkan genannten) Zeiten und fünf darüber hinaus zu entwickeln sind, die
nicht mehr in Erscheinungswelten spielen. Der Mathematiker kann sich

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 29


gleichsam ein graphisches Bild von diesen Dingen machen, indem er von
Dimensionen spricht, da viele weit lieber von einer vierten Dimension als
von einem neuen Bewußtseinszustand wissen wollen. Alle diese
Bewußtseinsgrade waren auch schon auf dem alten Saturn als
selbständige Wesenheiten vorhanden, die man sich nun unschwer auch
gestuft und hierarchisch gegliedert vorzustellen vermag.

X. Der alte Saturn

Ein anderes ist es nun freilich, sich nunmehr eine Art Gesamtbild vom
ersten Entwicklungszustande, dem alten Saturn, zu machen. Steiner
bezeichnet die Situation des alten Saturn in seiner »Geheimwissenschaft«
als einen Wärmezustand, als wesenhafte Wärme; dieser Zustand
unterscheidet sich von den anderen Welten durch seine Wärme, die den
Grundton abgibt, obschon sich auch schon kältere Stellen von diesem
Grundton abdifferenzieren. Es handelt sich da um eine Art strahlender
Wärme, die nach bestimmten Richtungen und Linien geht und sogar
bestimmte Formen von unregelmäßiger Art bildet. Zusammenfassend nennt
Steiner diesen alten Saturn ein »in sich gegliedertes, in wechselnden
Zuständen erscheinendes Weltenwesen, das nur in Wärme besteht«.
Dieser Begriff Wärme, der, im Erscheinungsjahr der Geheimwissenschaft,
bei den Physikern noch Befremden erregte, weil sie unter Wärme etwas
ganz anderes verstanden, begegnet heute, wo die Erscheinung der
Strahlungen im Mittelpunkt der wissenschaftlichen Bemühungen steht,
keinen großen Schwierigkeiten mehr. Allerdings liefert die Wärme des alten
Saturn noch keineswegs die Bedingungen für mineralisches, pflanzliches
und tierisches Leben. Die Wesenheiten, die ihm seinen Sinn in der
Entwicklung und seine Stelle darin anweisen, haben bloß eine durch die
physischen, sich in Wärmewirkungen äußernden Gesetze bedingte
Körperlichkeit, einen »feinen, dünnen, ätherischen Wärmekörper«; neben
und über ihnen aber wirken noch andere, leibfreie Wesen, die durch andere
Wesensglieder ausgezeichnet sind. Den alten Saturn, diese Gesamtheit
von feinen, dünnen, ätherischen Wärmekörpern, umgibt ein Luftkreis
geistiger Art; das Ganze wird ein wechselndes Spiegelbild der Wesenheiten
mit Lichtsignalen und sonderbaren Vorfällen in der späteren
Saturnentwicklung. Wie sich dieses Spiel vollzieht, wie es seine Phasen
durchläuft, wie es langsam zu einem »da und dort aufflackernden und
wieder abdunkelnden, zitternden und zuckenden Flimmern und Blitzen«
kommt, darin sich die ersten Anlagen des Menschenkeimes entwickeln, wie
hier die Grundlagen für die menschlichen Sinne gelegt werden, wie die
geistigen Wesenheiten ihre Wirksamkeit daran entfalten, wie nach und
nach alle Möglichkeiten aller künftigen Entwicklungen geschaffen werden,
wie reine innere Wärme, reines geistiges Licht und reines Innenwesen
einander umströmen, wie sich unter diesen Verhältnissen der
Menschenkeim aufschließt und eine gewisse Stufe erreicht, indes sich die
wirkenden Geister, mit der Weisheit früherer Zyklen erfüllt, an der

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 30


Entwicklung arbeitend, selbst entwickeln und der Mensch selbst schließlich
als ein Willenswesen aus der Finsternis hervorgeht: das alles rollt sich in
der Geheimwissenschaft, in Steiners Akashachronik und in den einzelnen
Vortragszyklen als ein Gemälde von gewaltiger dramatischer Kraft und
plastischer Lebendigkeit ab. In der Akashachronik führt Steiner aus, wie die
Geister des Willens, die Geister der Weisheit, die Geister der Bewegung,
die Geister der Form, die Geister der Persönlichkeit, die Söhne des Feuers
und des Zwielichtes in sieben Kreisläufen wirken, wie sich im vierten
Kreislauf die Geister der Persönlichkeit zur Stufe der Menschheit erheben,
im fünften auch die Seraphime, vom sechsten Kreislauf an die eigentlichen
»Schöpfer des Menschen«, die »Throne«, offenbaren und wie im
siebenten, dank dieser Offenbarung, die Anlage zum Atman, zum
»Geistmenschen« geschaffen wird. In einem wundervollen Vortragszyklus
vom Herbst 1911 aber, betitelt: »Die Evolution vom Gesichtspunkte des
Wahrhaftigen«, spricht Steiner vom »inneren Aspekt der
Saturnverkörperung der Erde«, der ohne Zeit und Raum verläuft, vor dem
der Gedanke stillestehen muß, und die ein Ergebnis der Opfer ist,
dargebracht von den Thronen vor dem Angesichte der Cherubime. Es gibt
sicherlich Menschen, die da nicht mitkönnen, weil die Stunde der
Erkenntnis für sie noch nicht geschlagen hat, weil es ihnen große
Schwierigkeiten macht, zu »glauben«, daß es jemals solche Wesenheiten
höherer Natur gegeben habe und heute noch gibt. Für sie weiß indes der
Steiner-Schüler Guenther-Wachsmuth heute eine andere Möglichkeit, die
ihnen, da in des letzteren Buche »Die ätherischen Bildekräfte in Kosmos,
Erde und Mensch« die ungeheuer wichtige Wissenschaft vom Äther (einem
anderen Äther als dem, den Einstein leugnet) entwickelt wird, ein farbiges
Bild vom Saturnzustand gibt: den aus Wärmeäther bestehenden, von einem
schmalen Ring des früheren Äthers umwandeten alten Saturn-Weltkörper.
Lichtäther, chemischer Äther und Lebensäther umgeben ihn in
verschiedenem Ausmaß, gelb, blau und rosarot in der Farbe, als eine
Atmosphäre geistiger Art, die den Saturn einhüllt und von der Steiner in der
Geheimwissenschaft andeutungsweise spricht. Das Eine ordnet sich in der
zusammenfassenden Phantasie zum anderen auf Grund einer ganz neuen
Art wissenschaftlicher Erkenntnis, die vom Schauen und Erleben ausgeht
und alle exakten Schöpfungsphantasien weit hinter sich läßt. Freilich ruht
sie denn auch auf ganz anderen Voraussetzungen: auf dem Menschen
selbst, der bisher von der wissenschaftlichen und philosophischen
Betrachtungsweise ganz ausgeschaltet war. Die Quelle dieser Schauungen
ist das Weltengedächtnis, die Weltenerinnerung, niedergelegt und
aufgespeichert im Erinnerungs- und Gedächtnisäther: in der
Akashachronik. Das Lächeln über diese scheinbar so phantastische
»Annahme« erstirbt aber sofort, wenn ein wahrhaft wissenschaftlicher
Mensch das Problem der Erinnerung und des Gedächtnisses vor seinen
seelischen Blick stellend, zu der Erkenntnis vordringt, daß es kein
menschliches Gedächtnis und keine menschliche Erinnerung gäbe, wenn

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 31


diese Möglichkeiten nicht auch im Weltenall vorhanden wären. Nur wer das
»praktische Denken« in sich zu entwickeln weiß, kann zu den Mysterien der
Welt vordringen.

XI. Die alte Sonne

Nach einem Prozesse, der wohl nur mit Jahrmillionen angegeben werden
kann, geht der Zustand, den die Geheimwissenschaft Saturndasein nennt,
in einen Zustand der Ruhe ein; der Saturn, bestimmt, die als
Saturnbewußtsein bezeichnete Stufe zu entwickeln, vergeistigt sich, schläft
ein, und das, was als menschliches Wesen vorhanden ist, mit ihm, um,
wieder mit ihm, zu einem neuen, nächsten Zustand zu erwachen, zum
Sonnenzustand, zur alten Sonne, die mit dem, was heute Sonne genannt
wird, nichts zu tun hat. Der Übergang geschieht freilich nur ganz allmählich.
Das im Saturnzustand Erworbene taucht aus der kosmischen Nacht wieder
auf; es ist keim- und sonnenhaft vorhanden und entwickelt sich zum
Sonnenbewußtsein, einem Zustand, der unserem traumlosen Schlafe
gleicht. Der Schlaf des Erdenmenschen von heute ist sozusagen eine
Erinnerung an jene dumpfe Rechenschaft, die sich der Menschenkeim zur
Sonnenzeit von seiner Existenz gibt und mit der sich vergleichen läßt, was
die Forscher noch heute »Seelenleben« der Pflanzen nennen. An das
Ruhen im Sein (Saturn) reiht sich das Wirken im Sein (Sonne), wie es sich
in der Pflanze offenbart. Der Stein ruht im Sein, die Pflanze wirkt im Sein.
Das Wirken im alten Sonnensein hat allerdings einen bestimmten
Charakter. Das alte Sonnenbewußtsein schafft sich seine Formen. Der
Saturnleib, das physische körperartige Gebilde der Saturnzeit, noch
automatisch und leblos, durchdringt sich, nach Abschluß der
Saturnwiederholung, dank der Arbeit der Geister der Weisheit, mit einem
feineren, strömenden Wesensglied, das der heutige Mensch in seinem
Ätherleib wiedererkennt, jener Zusammenfassung und ausfüllenden
Aktivität, die das Körperlich-physische zum Leben aufruft, es zum
lebendigen Wesen macht. Leben ist Bewegung. Alles, was sich bewegt,
lebt und ist ein lebendes Wesen. In der alten Sonnenzeit, anschließend an
die Anfänge des menschlichen Ätherleibes, treten die Geister der
Bewegung ihr schöpferisches Amt an und rufen damit die Geister der Form
hinzu. Bewegung führt zur Form, zur Gestalt. Die Form, also, nimmt in der
alten Sonnenzeit ihren Anfang. Indem sich die Formen aus der Bewegung
auslösen und gestalten, tritt der Kern des Differenzierten, des
Abgegrenzten, des »Individuellen« in Erscheinung, ein Ergebnis der Geister
der Persönlichkeit. Alle diese Tätigkeiten vollziehen sich an dem in der
Saturnzeit entstandenen physischen Leib. Von diesem Prozeß empfangen
die Geister des Feuers wiederum die Kraft, sich auf die Stufe des
Menschentums Zu erheben; die durch die Menschensphäre geschrittenen
Geister des Feuers übernehmen nun, empfangend und gleich wieder
gebend, die weitere Arbeit am Ätherleib, indes zur selben Zeit die »Söhne
des Zwielichts« am physischen Leib wirken. Der Name »Söhne des

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 32


Zwielichts« mag auf den Leser dieser Beschreibung einigermaßen
befremdend wirken. Es genügt aber zu bemerken, daß die »Söhne des
Zwielichts« die Engel der christlichen Geheimlehre, die sogenannten Pitris
der indischen Theosophie sind, und daß ihre Zwischenstellung zwischen
Himmel und Erde den Namen wenigstens äußerlich zu erklären vermag. In
einem späteren Augenblick, um die Mitte des sechsten Kreislaufes der
Sonnenepoche, überlassen die Söhne des Zwielichts die Arbeit am
physischen Körper der Menschenwesenheit selbst, indem sie einen
bestimmten Grad Vollendung am Ätherleib bewirken. So entsteht, ungefähr
um die Mitte des siebenten Kreislaufes das, was mit den Mitteln moderner
Sprache ungefähr die Entstehung der belebten »Monade« genannt werden
könnte. Es erübrigt nun noch, ein Wort über das Bewußtsein der
Sonnenzeit, über die Vorgänge zwischen den Hierarchien und über die
»physikalische« Seite dieser Dinge zu verlieren. Das alte
Sonnenbewußtsein der Menschenwesenheit steht bildlich um einen Grad,
eine Stufe, höher als das des Saturnzustandes. Es rückt vom Tiefschlaf
zum festen, traumlosen Schlaf vor. Die Dinge und Wesen, die dem alten
Sonnenbewußtsein entsprechen, kann nur der Hellseher oder eine medial
veranlagte Person wahrnehmen. Das alte Sonnenbewußtsein erstreckte
sich bloß auf die alte Sonne selbst und die mit ihr zunächst
zusammenhängenden Weltkörper; das Menschenwesen der Sonnenzeit
kann nur diese und deren Gleichnisse etwa so miterleben, wie der heutige
Mensch seine Herztätigkeit erlebt. Will man nun aber einen Blick auf das
Spiel der Wesenheiten werfen, die an der Entwicklung des
Menschenwesens und an den aufeinanderfolgenden, der Erde
vorangehenden, kosmischen Epochen beteiligt sind, so läßt sich der
Vorgang, der vom alten Saturn zur alten Sonne führt, ungefähr als ein
durch ungeheure Zeiträume hindurchgehender Umwandlungsprozeß
verstehen, der die Wärme des Saturn zur Luft und zum Licht der alten
Sonne umschuf. Luft und Licht sind dabei nicht so sehr dinglich als seelisch
und geistig zu verstehen. Die Umwandlung des alten Saturn zur alten
Sonne ist gleichfalls als eine Opfertat anzusehen. Opferten die Throne in
der Saturnzeit einen Teil ihres Idealwesens den Cherubimen, so ist damit
die Wiege jenes wundersamen Wortes berührt, das da »Gnade« und
»Zustand der Gnade« heißt. Auf der alten Sonne treten zu den Wesen, die
in der Saturnzeit wirkten, die Geister der Weisheit hinzu, deren
Kennzeichen die »schenkende, gnadenwirkende« Tugend ausmacht. Die
Geister der Weisheit schenken zur Sonnenzeit ihr eigenes Wesen an die
Umgehung. Ein Wesen, das die alte Sonnenzeit von außen gesehen haben
würde, hätte ungefähr die Illusion eines Luft- und Lichtkörpers gehabt, der,
näher betrachtet, nichts anderes war als die »schenkende Tugend« der
Geister der Weisheit. Aus dieser Gnadentat der Hingabe stammt die »Luft«,
die das Wesen der Sonnenzeit gegenüber der Saturnzeit (diese aus
»Wärme« bestehend) ausmacht. Allerdings taucht nun, da von Opfer,
Schenken, Hingeben und Gnadeströmen die Rede ist, auch ganz von

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 33


selbst die Frage nach den Wesenheiten auf, die bestimmt waren,
aufzunehmen, was die Geister der Weisheit zur Sonnenzeit gaben; auch
diese Wesen kennt die Geheimlehre unter einem bestimmten Namen: unter
dem Namen der Erzengel (Archangeloi). Zwischen dem Akt des Gebens
und dem des Nehmens (aus den Opfern der Throne an die Cherubime der
Saturnepoche, entstanden die Geister der Zeit) liegt nun eine Zeit, die
ungefähr ein Spiegel braucht, um ein Bild (die Gabe und die Weihe der
Hinnahme) zu spiegeln. Die Luft der Geister der Weisheit ist die
Lichtantwort der Engel, die damit zugleich als die Schöpfer des Lichtes
anzusehen sind. In diesem kosmischen Augenblick gibt es also ein Geben
und Spiegeln, ein Innen und Außen, so, wie es, dank der Geister der Zeit,
ein Früher oder Später gibt, ein »Inneres« und »Äußeres«, schon auf dem
Saturn keimhaft vorhanden. Es entsteht damit: der Raum. Steiner entwirft in
seinem schon erwähnten Herbstzyklus von 1911 ein grandioses Bild dieser
Vorgänge: aus dem Opfer der Throne an die Cherubime werden in der
Saturnzeit die Zeitgeister geboren; in einem kugelartigen Innenraum schaut
das innere Auge die Throne, vor den Cherubimen kniend, Geister vor
geflügelten Wesen, ihr eigenes Wesen opfernd; die Geister der Weisheit, in
der Sonnenzeit hinzutretend, verharren beim seligen Anblick dieses Opfers
in einer Glut, aus der Opferrauch aufsteigt: die »Luft«, aus deren Wolken, in
unbeschreiblichem Glanz, die Erzengel strahlend geboren werden, das
Geschenk der Geister der Weisheit rückgebend und die Sphäre der Sonne
in dieser Weise schaffend. Die Schöpfer des Lichtes halten an der äußeren
Peripherie; sie bewahren, indem sie für Luft Licht geben, das Frühere: die
Erinnerung an die Gabe, und sie stellen in einem späteren Zeitpunkt
gleichsam dar, was im Anfang war; sie sind damit die Geister, die Boten
des Anfangs: Archangeloi, Engel des Beginns. Aus diesem erhabenen Bild
empfängt die ehrfurchtschauernde Seele eine Vorahnung dessen, was die
Christuswesenheit der Erde bedeutet; sie schaut, erinnernd, Leonardo da
Vincis Abendmahl als einen erhebenden Widerschein jener seligen und
beseligenden Vorgänge. In die etwas nüchterne Sprache der
geheimwissenschaftlichen Geophysik und Ätherlehre übertragen, hat der
Verstandesmensch immerhin noch die Möglichkeit, diese erhabenen und
schier unbegreiflichen Geschehnisse der Erdentwicklung auf seine Art zu
verstehen; er darf von einem vor der Saturnzeit liegenden, rein geistig
wesenhaften und unräumlichen Zustand sprechen, der während der
Saturnzeit in einen Wärmeätherzustand übergeht, einem neuerlichen, nicht
räumlichen Zustand Platz macht, den Wärmeätherzustand wiederholt und
dann, während der Sonnenzeit, in den Lichtätherzustand übergeht, und er
wird sich ohne Zweifel beruhigt fühlen, wenn er dazu erfährt, daß das
Wesen des Weltenäthers expansiv (ausdehnend) wirkt, sphärisch, der
Form nach, ist und den Zustand der Wärme bewirkt, indes der Lichtäther, in
der Raumbildung zentrifugal, in der Form dreieckig auftritt und den
gasförmigen Zustand herbeiführt. Was wir Zeit, Wärme und Licht nennen,

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 34


ist eine Wirkung der ätherischen Bildekräfte, die hier den Namen Wärme-
und Lichtäther tragen, ihn gegen jene hohe Wesenheiten eintauschend.

XII. Der alte Mond

Dem Sonnenzustand folgt, nach Jahrmillionen, das alte Mondendasein, in


der Geheimwissenschaft kurz der alte Mond genannt. Auch diesem
Zustand geht wieder ein Zustand der Vernichtung, der scheinbaren Ruhe
voran. Die Ergebnisse der Sonnenentwicklung tauchen in ein Sein unter,
das dem einer Pflanze gleicht, deren Wachstumskräfte im Samen ruhen.
Aus dem Weltenschoße steigt nun die Totalität der Sonnenzeit zu einem
neuen planetarischen Dasein auf, dem Mondendasein, das mit unserem
heutigen Erdentrabanten, Mond, nicht verwechselt werden darf. Das
physische Menschenwesen durchläuft, wiederholend, Saturn- und
Sonnenentwicklung. War der physische Leib des Menschen auf dem alten
Saturn ein Wärmeleib, so ist er zur alten Sonnenzelt ein Luftleib geworden,
der, gashaft, einen weiteren Zustand der Verdichtung darstellt. Die
Mondenzeit bricht an: sie trägt das astralische Element in die Entwicklung
und schafft damit die flüssige Daseinsform, einen »Wasserkörper«,
durchzogen von Luftströmungen und mit diesen auf Wärmewirkungen
aufgebaut. Allerdings ist in diesem Augenblicke sehr wichtig, festzustellen,
daß das Ziel der Entwicklung nicht von allen Wesen erreicht wird, die an ihr
teilnehmen. Die einen bleiben auf der Saturn-, andere auf der Sonnenstufe
zurück, so daß neben den sich Systematisch entwickelnden
Menschenwesen nun zwei andere Reiche entstehen, die von Saturn-
beziehungsweise Sonnennaturen repräsentiert werden. Diesen Zwiespalt,
fühlbar erst in der Mondenentwicklung, setzt sich bis in die
Menschenwesenheit fort und führt zu einer Spaltung im alten
Mondenweltkörper selbst: auf dem Einen wohnen höhere Wesenheiten und
bilden mit ihm eine Art verfeinerter Sonne, auf den anderen niedere Wesen,
Menschenwesen niederer Art und gewisse höhere Wesenheiten, die den
Anschluß an den ersten der beiden Weltkörper verpaßten, und die nun den
eigentlichen alten Mond, als dritte planetarische Vorstufe unserer Erde,
bilden. Der Mondkörper sondert sich vom Sonnenkörper ab. Auf dem
Sonnenkörper: geistige Wesenheiten, das Wärme- und Luftelement
erlebend, auf dem Mondenkörper: niedere Wesen, sich im Wärme-, Luft-
und Wasserelement erfühlend. Die Wesenheiten des Mondenkörpers,
erfüllt mit dem von den Thronen empfangenen Willen, entwickeln ein vom
Sonnenleben unabhängiges Wunsch- und Begierdendasein, das eben im
astralen Wesensglied enthalten ist. Das Menschenwesen, in diesen
Gegensatz hineingezogen, hat nun Mondenerlebnisse, die unter dem
Sonnenimpulse geschehen, und daneben seine selbständigen
Monderlebnisse, die zur ersten Gattung im Empörungs- und
Aufstandsverhältnisse stehen; der Abfall der niederen Engel, von dem die
Bibel spricht, vollzieht sich. Der Gesamtzustand des alten Mondes bietet
sonach etwa das folgende, von Steiner in der »Geheimwissenschaft«

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 35


meisterhaft skizzierte Bild: die Grundmasse des Mondes besteht aus einer
lebenhaften Grundsubstanz, die bald in träger, bald in lebhafter Bewegung
ist. Geisterhafte Pflanzen, pflanzenhafte Tiere, tierhafte Menschen,
Anfänge von Lebensleib und Astralleib, unter der Einwirkung jener höheren
Wesenheiten, die auf der ausgeschiedenen Sonne Wohnsitz nehmen!
Diese Wesenheiten bewirken Mondenwesen mit Sonnenbewußtsein,
genauer ausgedrückt Menschenwesen, die zwischen hellerem und
dumpferem. Bewußtsein schwanken und in frevelhafter Mannigfaltigkeit
leben, die Gebilde der Saturnzeit, der Sonnen- und Mondenzeit bis zur
jüngsten Mondenphase umfassend. Ähnliche Differenzierungen treten auch
in den Hierarchien der geistigen Wesenheiten auf. Mit der Sonne zugleich,
im Zuge der großen Spaltung der Mondenzeit, spalten sich zahlreiche
andere Weltkörper ab, von denen hier nicht die Rede sein kann, um den
großen Grundriß, den zu erfassen ohnehin seine Schwierigkeiten hat, nicht
überflüssigerweise durch neue Linien zu verwischen. Der Mensch, in dieses
grandiose Tableau von flutendem Leben und vielseitigster Mannigfaltigkeit
gestellt, fährt auch in der Mondenzeit, unter Leitung geistiger Wesenheiten,
fort, an seinem physischen Leibe zu arbeiten. Die Geister der
Persönlichkeit wirken am Astralleib, dem sie eine Vorahnung des Ichs
einhauchen, die Feuergeister auf den Ätherleib. Das Menschenwesen fühlt
sich in seinem Dasein von diesen Wesenheiten gleichsam getragen.
Säftebewegung, Drüsenbildung, Wachstum setzen ein, Gase verdichten zu
Flüssigkeit, eine Art Ernährung greift Platz, eine Art Atem tritt auf und mit
ihm werden Gefühle der Lust und Unlust geweckt; in dampfartiger
Umgebung, tauchen Bilder empor, das sogenannte Bilderbewußtsein
begründend, und als ätherisch-seelische Gebilde erscheinen in diesen
Bildern die »Söhne des Lebens«: Sympathie und Antipathie eröffnen ihr
Spiel und tragen dazu bei, das Phänomen der »Entsprechungen«
hervorzurufen. Die Mondenzeit ist die Epoche der Wandlungen: Geburt und
Tod halten ihren Einzug, getragen von einer dunklen Sicherheit in Hinsicht
auf die Unzerstörbarkeit des kommenden Ichs, das auszubilden der
Erdentwicklung vorbehalten blieb. Versucht man, diese schwierige Partie
der Geheimwissenschaft, vielleicht eine der schwierigsten, von anderen
Gesichtspunkten aus zu ordnen, so wird die alte Mondenzeit zunächst
durch die Fähigkeit des Bewußtseins charakterisiert, Bilder zu haben, den
Traumbildern gleichend, die heute unseren leichteren Schlafzustand
begleiten, sich aber von den Bildern der alten Mondenzeit durch
Verschwommenheit und Willkürlichkeit unterscheiden. Im Weltenzeitalter
des alten Mondes entwickelt der Mensch den dritten seiner sieben (zwölf)
Bewußtseinsgrade. Das Mondenbewußtsein sieht (nicht etwa wie im
Schlaftraum von heute) Sinnbilder (nicht Abbilder) der Dinge. Daß dieses
Bilderbewußtsein zustande kam, war eine Wirkung des Astralleibes, als des
dritten Wesensgliedes der menschlichen Wesenheit, das sich zur
Mondenzeit, ungefähr um die dritte Mondenrunde, entwickelte. Der
Astralleib ist ein Geschenk der Geister der Bewegung aus der eigenen

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 36


Natur; sie entfalten auf dem alten Mond: die Begierde, den Trieb, den
Wunsch. Der Astralleib konnte erst dann eingegliedert werden, als,
innerhalb der ersten Mondenrunde, der physische Leib von den Geistern
der Bewegung, in der zweiten von denen der Form, in der dritten von denen
der Persönlichkeit, in der vierten von denen des Feuers und in der fünften
von jenen des Zwielichts zur Reife gebracht worden war. Zur Zeit, da die
Geister des Zwielichts am physischen Leib tätig sind, arbeiten die Geister
der Persönlichkeit am Astralleib und die Geister des Zwielichts am
physischen Leib. Die Entwicklung des Ätherleibs vollzieht sich in anderer
Weise: er empfängt seine Notwendigkeiten in der ersten Runde von den
Geistern der Weisheit, in der zweiten von denen der Bewegung, in der
dritten von denen der Form, in der vierten von denen der Persönlichkeit und
in der fünften von denen des Feuers. Aus der Arbeit der Geister des
Zwielichts am Ätherleib, aus der Verbindung ihres Bewußtseinszustandes
mit dem Bewußtseinswillen des Ätherleibes, entstehen Lust und Schmerz
für den Menschen, ein Geschenk der alten Mondenzeit! Zur selben Zeit und
auf ähnliche Weise wecken die Feuergeister im Astralleib Gefühl und
Empfindung, Affekte, Liebe und Haß, Leidenschaften und Instinkte aller Art
und von triebhaftem Charakter. Die Mondenzeit hat den Tiermenschen zum
Grundtyp; das Mondenmineral hat pflanzlichen, die Mondenpflanze
tierischen Charakter. Dem Tiermenschen der alten Mondenzeit fehlen die
Knochen; er hat nur Knorpeln; er springt und schwebt, statt zu gehen; aus
dem dickflüssigen Element, das ihn umgibt, holt er seine mineralische und
tierische Nahrung, aus ihr zieht er auch die Kraft der Befruchtung;
eingeschlechtlich, ein Wesen aus Wasserluft, entwickelt er doch schon die
Ansätze der Zweigeschlechtlichkeit. Bei der Betrachtung der Impulse, den
geistige Wesenheiten in die Weltenwicklung einfließen lassen, war aber
auch von Opfern, von Hingabe und Hinnahme die Rede. Ein Teil der
Schritte, die für die Entwicklung der Welt geschehen sind, hängt mit einem
Verzicht zusammen, den solche Wesenheiten auf Kosten der eigenen
Weiterentwicklung leisten, um der Erdentwicklung dienlich zu sein. Unter
diesen geistigen Wesenheiten, die durch Verzicht gewisse leitende
Gesichtspunkte der Schöpfung verwirklichen helfen, nehmen die (von
Steiner so benannten) luziferischen Wesenheiten einen großen Raum ein,
die auf dem Monde zurückblieben, damit der Mensch zur Möglichkeit freier
Entschließung komme. Sie sind im Lichte dieser Betrachtung wohl
gewissermaßen Schädlinge, aber doch auch gerade dadurch nützlich und
notwendig. Wohl verdankt die Menschenwesenheit den luziferischen
Wesenheiten ihre Begierden- und Triebhaftigkeit, die bewußt in die Tiefe
ziehen, doch würde ihr die Wohltat des freien Entschlusses gänzlich fehlen,
wenn dieser Zustand nicht eingetreten wäre. Die menschliche
Willensfreiheit ist Luzifers, des »Lichtbringers«, Geschenk. Die
Gedankengänge, die sich auf diesen Teil der Akashaschauungen beziehen
und dem Auge des Hellsehers darbieten, sind überaus kompliziert. Als
Ergebnis kommt hier bloß in Betracht, daß der Verzicht der Götter zur alten

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 37


Sonnenzeit den Verzichtenden Göttern die Palme der Unsterblichkeit
errang. Das Wässerige der alten Mondzeit erscheint im Geistigen als
Verzicht und Entsagung. (Ein Zusammenhang, der in Lenaus wundervollem
Gedicht »Blick in den Strom« mit hellseherischer Sicherheit berührt wird.)
Die zurückgeworfene, gleichsam übrigbleibende Opfersubstanz wird von
zurückgebliebenen Wesenheiten aufgenommen, so daß diese nun
sozusagen als selbständige Wesenheiten neben die Opfernden treten. Das
Böse, entstanden durch diesen Mißbrauch, stammt also eigentlich aus
guter Quelle: aus der Gabe des Verzichtes und der Resignation. Wesen,
die nicht opfern können, können aber nur in sich selbst leben, in ihrer
Egoität. Treten auf dem Saturn Willens-, auf der Sonne Weisheitswesen
auf, so sind es die Geister der Bewegung auf dem alten Monde, die im
weitesten Sinne auch die Bewegung der Gedanken, die Denkbewegung
einleiten; ihnen verdanken die Wesenheiten, die nicht zu opfern imstande
sind und daher in ihrer Egoität leben, ihre Errettung aus der Gefahr der
Vereinsamung und der Einseitigkeit. Sache der Geister der Bewegung ist,
die Beziehungen zwischen den Geistwesen zu veranlassen und zu
befördern. Sie sind damit Besieger der Langeweile und zugleich Schöpfer
der Sehnsucht. Indem diese Geister der Bewegung Veränderung und
Beziehungswechsel hervorbringen, lassen sie Sehnsucht und Wille
zusammenfließen und erzeugen statt der Gedanken Bilder. Das Aufsteigen
des Bilderbewußtseins auf dem alten Mond erscheint als ein Geschenk der
Geister der Bewegung. Im geisteswissenschaftlichen Sinne ist der alte
Mondenzustand, dem ein nicht räumlicher Zustand voranging, zunächst
eine Wiederholung des Saturn- (Wärme-) und des Sonnen- (Licht-)
Zustandes, wozu nun die Phase des chemischen Ätherzustandes hinzutritt,
der die Substanz des alten Mondes ausmacht, die chemischen Prozesse,
die Differenzierung, das Trennen und Zusammenfügen der Stoffe bewirkt
und den Ton ergibt; seine Raumbildung ist saugend und
zusammenziehend, seine Form halbmondförmig, sein Zustand flüssig: der
naturwissenschaftlich gebildete Leser wird unschwer erkennen, daß hier
eine Wiederkehr des ontogenetischen und phylogenetischen Gesetzes
vorliegt, wenn auch in anderer Art.
Mit dem Mondenzustand schließt die vorirdische Entwicklung. In der
kosmischen Nacht nach der Mondenzeit wird die Erde geboren, des
Menschen nächster, vierter Aufenthalt im Rade der Schöpfung!

XIII. Die Geburt der Erde

Jahrmillionen sind vergangen. Der Zustand der Ruhe nach der dritten
Phase, der Mondenzeit, ist zu Ende. Alles, was ihr zugehört und ihr Wesen
ausmacht, erwacht, vergeistigt, zu neuer Tätigkeit und weiterer
Entwicklung. Drei andere Formen sind dem Zustand, der Erde genannt
wird, vorangegangen: Saturn, Sonne und Mond; diese drei planetenhaften
Epochen sind also als frühere Zustände der Erde anzusehen, die in drei

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 38


weiteren Planetenformen (Jupiter, Venus und Vulkan) überzugehen
bestimmt ist. Die Erde ist sonach das mittlere Glied eines siebenfachen
Schöpfungszyklus. In sieben Stufen vollendet der Mensch seine
Entwicklung von den niederen zu den höchsten Bewußtseinszuständen,
vom dumpfen Saturn- durch das Sonnen- und Mondenbewußtsein zum
gegenständlichen Bewußtsein der Erde, getragen von den »Sinnen«. An
die Stelle des Bilderbewußtseins der Mondenzeit rücken Vorstellungen und
Gedanken, Gedächtnis und Selbstbewußtsein treten in Erscheinung,
zugleich als Keime für die kommenden Bewußtseinszustände. Der letzte
dieser Zustände als Ziel der Entwicklung, Vulkan genannt, führt zum
spirituellen Bewußtsein, der Gottseligkeit. Es kann keinem Leser, der sich
über den gegenwärtigen Stand der Geheimwissenschaft informieren will,
erspart werden, in Steiners Geheimwissenschaft die Vorgänge, die zur
Erdentwicklung im heutigen Sinne führten, immer wieder nachzulesen.
Vermag er dem hohen Fluge dieser gigantischen Schilderungen nicht recht
zu folgen, so gibt es Mittel genug, einen annähernden Begriff von der
Genesis auch mit Ausdrücken der modernen Naturwissenschaft zu
erlangen. Den Erdenzuständen und Bewußtseinsformen entsprechen die
vier Ätherarten der Geheimwissenschaft: Wärme-, Licht-, chemischer
(Klang-) und Lebensäther, deren erster, ausdehnend im Raum, sphärisch in
der Form, den Wärme-, deren zweiter, zentrifugal im Raum, dreieckig in der
Form, den gasförmigen, deren dritter, saugend und zusammenziehend im
Raum, halbmondförmig in der Form, den flüssigen und deren vierter
endlich, zentripetal im Räume, viereckig in der Form, den festen Zustand
bewirkt, als in dem wir unseren Erdenplaneten erkennen. Das Spiel dieser
Ätherkräfte setzt nach einem aller Entwicklung vorausgegangenen, rein
geistig wesenhaften, nicht räumlichen Zustand mit der Wärmeätherepoche
(Saturn) ein, bringt den Lichtätherzustand (Sonne) und den chemischen
Ätherzustand (Mond) hervor und führt nach Wiederholungen der drei
früheren Zustände zum Lebensätherzustande unserer Erde. Über die
Ätherarten und Bewußtseinszustände der kommenden drei Entwicklungen
(Jupiter, Venus, Vulkan) kann heute noch nicht gesprochen werden, ohne
Mißverständnisse hervorzurufen. Für den Adepten der Geheimwissenschaft
bleibt, da die exakte und esoterische Naturforschung das Fiasko des
Urnebels erlebt hat, aus dem die Welt geworden sein sollte, allemal und als
Hauptweisheit wichtig, daß unsere Erde aus rein geistigen Zuständen
hervorgegangen ist; durch die schöpferische Kraft der ätherischen
Bildekräfte, die ihre Impulse von geistigen Wesenheiten empfingen und
empfangen, sind alle Substanzen entstanden, die unseres Erdenplaneten
Dasein garantierten und noch heute garantieren. Freilich hat die Erde
wiederum sieben Zustände durchzumachen, ehe sie zur kosmischen Nacht
übergeht, die einst zum nächsten, zum Jupiterzustand führt; von den sieben
Zuständen sind vier vorbei; wir halten im fünften, der der sogenannten
nachatlantischen Epoche folgte. Die Namen der abgelaufenen vier
Epochen sind nach Steiner: die polarische, die hyperboräische, die

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 39


lemurische und die atlantische, so daß wir gegenwärtig in der fünften, der
nachatlantischen Zeit stehen. Der in der Atmosphäre der exakten
Naturwissenschaft aufgewachsene Denker, der mit diesen Bezeichnungen
wahrscheinlich wenig anzufangen weiß, wird sie wesentlich befriedigter zur
Kenntnis nehmen, wenn man ihm unter vier Augen sagt, daß das, was er
als physische Entwicklung der Erde ansieht, ungefähr beim Übergang von
der hyperboräischen zur lemurischen Epoche einsetzt, daß diesem die
sogenannte archaische, paläozoische, mesozoische und känozoische Zeit
bis zur »Eiszeit« folgen, welch letztere ungefähr in den Übergang von der
atlantischen zu unserer nachatlantischen Epoche fällt. Die archaische und
paläozoische Periode würden die mehr ätherischen Vorgänge der polaren
und hyperboräischen Epoche gleichsam im Physischen widerspiegeln,
indes die mesozoische etwa den Höhepunkt der lemurischen Epoche
darstellen könnte. Der berühmte Kant-Laplacesche Urnebel, das heißt das
Auftreten des gasförmigen Zustandes, durch Wärmedifferenzierungen
hervorgerufen, hätte ungefähr im Übergang von der polarischen zur
hyperboräischen Epoche Platz. Was aber nun die geologischen Perioden
der Erdengenesis vom Gesichtspunkte des Ätherischen betrifft, so beginnt
während der polarischen Epoche der Wärmeäther von außen nach innen
zu strömen; aus der rein geistigen Welt bilden sich die ätherischen
Sphären; während der hyperboräischen Epoche strömt das lichtätherische
Element nach innen, indes die übrigen Bildekräfte (Feuer und Licht) von
außen einwirken (Urnebel; Sonnentrennung); während der lemurischen
Epoche strömt das Chemisch-Ätherische nach innen, indem es Licht- und
Wärmeäther im Rahmen großer Feuerkatastrophen verdrängt
(Mondentrennung); während der atlantischen Epoche aber strömt der
Lebensäther nach innen und verdrängt das chemisch-ätherische Element
im Rahmen großer Wasserkatastrophen (Sintflut). Unsere heutige
Erdenstruktur (die der nachatlantischen Epoche) ist dadurch entstanden,
daß die verdrängten Bildekräfte wieder nach außen wandern und die
Umstülpung der Sphären damit vollzogen ist.

XIV. Die ersten drei Wurzelrassen

Wenn man von den beiden ersten irdischen Epochen, der polarischen und
der hyperboräischen spricht, so sind damit zugleich auch die beiden ersten
Wurzelrassen der Menschheit in das Bild der Sphärenwissenschaft
eingeführt: die polarische und die hyperboräische, beide zunächst
eingeschlechtliche Formen, deren Hauptmerkmal ausmacht, daß der
physische Leib der unmittelbaren Einwirkung durch die Seele entzogen
blieb. Leib und Seele gehen ihren eigenen Weg: sie trennen sich, da der
Leib, der physischen und chemischen Stoffwelt gänzlich ausgeliefert, vom
Seelischen aus nicht mehr beherrscht werden kann, im Tode, der nunmehr
zum obersten Gesetz alles Lebendigen wird. Der eingeschlechtliche
Mensch teilt sich: das Muttergebilde lebt restlos im Tochtergebilde fort.
Diesem Zustande folgt die Fortpflanzung und die Wiederverkörperung des

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 40


Seelenlebens im neuerstandenen Tochterorganismus. Tod und beginnende
Zweigeschlechtlichkeit werden die Hauptpfeiler der beiden ersten
menschlichen Wurzelrassen. Mit dem Tode greift Ahriman, mit der
Zweigeschlechtlichkeit Luzifer in die menschliche Entwicklung ein, zwei
Wesenheiten, die von größter Bedeutung und mit der Erdentwicklung eng
verbunden sind. Solange die Seele das Stoffliche beherrschte, war sie
männlich und weiblich zugleich, ihr männliches Element dem Wollen und ihr
weibliches dem Vorstellungsvermögen verwandt. Die Trennung der
Geschlechter fällt in einen bestimmten Zeitpunkt des
Verdichtungsprozesses der Erde; sie ist zugleich die Geburtszeit des
Denkens auf Erden, das mit dem Opfer der Eingeschlechtlichkeit bezahlt
werden mußte. Für das Äußere wird der Mensch fortab von außen
befruchtet, für das Innere aber von innen, wodurch von selbst erhellt, daß
im männlichen Leibe eine weibliche, im weiblichen aber eine männliche
Seele wohnt; zweigeschlechtlich werden sie erst wieder durch Befruchtung
mit dem Geist. Man sieht, sagt Steiner an einer wichtigen Stelle seiner
Akashachronik, daß das Höhere im Menschen mit Mann und Weib nichts
zu tun hat. Die innere Ausgleichung kommt bei der Frau aus einer
männlichen, beim Manne aus einer weiblichen Seele; sie wird durch
Vereinigung mit dem Geiste bewirkt. »Daß aber vor dem
Zustandekommen dieser Gleichheit Verschiedenheit vorhanden ist, dies
schließt ein Geheimnis der Menschennatur ein, dessen Erkenntnis für alle
Geheimwissenschaften von großer Bedeutung ist.« Jedenfalls gibt es den
»Schlüssel« zu den »Lebensrätseln« und es ist, sagt Steiner, »vorläufig
nicht erlaubt, den Schleier, der über dieses Geheimnis gebreitet ist,
fortzuziehen«. Durch die Zweigeschlechtlichkeit ist der Mensch ein
geistiges Wesen geworden. Der doppelgeschlechtliche Mensch der ersten
lemurischen Zeit war ein ganz anderes Wesen als der Mensch von heute;
ihm fehlte die Möglichkeit, sinnliche Wahrnehmungen mit Gedanken zu
verbinden, er konnte nicht denken in unserem Sinne, sein Leben verlief
zunächst ganz triebartig, war von Instinkten und Begierden und Wünschen
aufgestachelt, in einer Art traumhaften Bewußtseins dumpf dahinlebend.
Allerdings gilt diese Zustandsschilderung bloß von dem Durchschnitt des
Menschen und seinem primitiven Typus. Neben und über diesem
Durchschnittstypus gab es Wesen, die, höher entwickelt, trotz ihrer
Zweigeschlechtlichkeit Erkenntnis und Wissen zu erwerben imstande
waren. Der Durchschnittsmensch denkt auf dem Umweg über sein Gehirn;
seine Seele wäre ohne diesen Umweg geistlos geblieben. Bei jenen
anderen menschlichen Wesenheiten aber war die Fähigkeit vorhanden,
Weisheit und Erkenntnis auf übersinnliche Weise zu erwerben; den Umweg
des Geistes über die sinnliche Stofflichkeit, diesen Herabstieg der Seele in
die Materie nennt die exoterische Esoterik populär »Sündenfall«. Jene
höher entwickelten Wesen waren Hellseher und Träger uralter, nämlich
höherer und göttlicher Weisheit. Die Weisheit der Anderen mußte erst
erworben werden: ein Verlangen nach Wissen entstand erst als Folge der

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 41


Zweigeschlechtlichkeit. Von diesem Punkte aus lohnt es sich wohl, einen
Blick auf jenen tragischen Komplex zu werfen, dessen Träger die
lemurische Rasse war. Sie bewohnte den lemurischen Kontinent, den die
Geheimwissenschaft in den Süden Asiens, von Ceylon bis Madagaskar, in
das heutige südliche Asien und Teile von Afrika verlegt. Es gab zu dieser
Zeit weder Gedächtnis noch Sprache; die Lemurier waren indes geborene
Magier; der bloße Wille hob die schwersten Lasten; in den Knaben erzogen
sie den Willen, in den Mädchen die Phantasie. Die Umwelt Lemurias
bestand aus dichter Luft und dünnem Wasser, die Erdkruste war weicher
und lockerer, es gab bloß Palmen- und palmenähnliche Gewächse, hohe
baumartige Farne und Farnwälder, dazu eine Fauna aus Amphibien,
niederen Vögeln und Säugetieren, endlich Menschen, die noch tierartig
lebten. Im Bewußtsein der höheren Menschen lag das göttliche Geheimnis,
streng gehütet; sie standen im Umgang mit den Göttern, einem Umgang,
der die Grundlage aller späteren Einweihungsschulen und Mysterienkulte,
ausgeübt auf Mysterienstätten, geworden ist. In den Frauen, als
Trägerinnen des höheren Vorstellungslebens, bildeten sich die ersten
Keime des Gedächtnisses und mit dem Gedächtnis die Keime des
moralischen Bewußtseins; der Unterschied zwischen Gut und Böse kam
auf, geschaut vom Manne, gedeutet von der Frau. Von großer Schönheit ist
die Schilderung der Ausklänge der lemurischen Zeit in Steiners
Akashachronik, als da sind: Auswahl einer feinen und von hohen geistigen
Wesenheiten zusammengestellten lemurischen Rasse zum Keim der
künftigen atlantischen Zeit, Entstehung der Religion und der Sprache,
fortentwickelt und weitergestaltet auf einem von vulkanischen
Erschütterungen heimgesuchten Boden, fern, an einem ruhigeren Orte, der,
als besondere Kolonie, die richtige Menschengestalt schaffen hilft. Eine
Feuerkatastrophe von ungeheuren Dimensionen macht dieser tragischen
und doch großartigen Epoche ein Ende.

XV. Die vierte Rasse: unsere atlantischen Vorfahren

Ein anderes Bild bietet die der lemurischen folgende, vierte, atlantische
Wurzelrasse, die Vorläuferin unserer nachatlantischen, arischen
Menschheit. Auch hier ist das Bild der Durchschnittsentwicklung von dem
der Führer wohl zu unterscheiden und sorgfältig abzugrenzen. Die Führer
der atlantischen Menschheit waren im richtigen Sinne Boten der Götter,
Angeloi, Engel, wohlbekannt in den sorgfältig verborgenen Mysterien und
Kultstätten. Ihnen stand die große Masse der Atlantier gegenüber, dumpf in
ihren Denkanfängen, doch mit Naturfähigkeiten ausgestattet, die heute
verlorengegangen sind. Endlich gab es noch eine dritte Gruppe, dazu
bestimmt, die Botschaften der Angeloi im Denken zu erfassen. Eine aus
dieser dritten Gruppe hervorgegangene Wesenheit war Manu, der die
Erlesenen der atlantischen Rasse in Innerasien versammelte und sie lehrte,
den Befehlen Gottes zu gehorchen, ohne sich ein Götzenbild der Gottheit
anzufertigen. Im Zeichen Manus stand die Ordnung des gesamten,

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 42


atlantischen Lebens nach höheren, göttlichen Gesichtspunkten. Mit der
atlantischen Epoche und der atlantischen Rasse hat es seine besondere
Bewandtnis; ihr Geheimnis liegt schon in der Existenz des atlantischen
Erdteils, der zwischen Amerika und Europa gesucht werden muß. Der
Atlantische Ozean bedeckt heute den Boden dieses seltsamen und
wunderlichen Kontinents, doch beschränkt sich das, was atlantische Kultur
genannt werden kann, auch auf die jenem Kontinent benachbarten Gebiete
des heutigen Asien, Afrika, Europa und Amerika. In den ersten Zeiten der
atlantischen Menschheit war das Gedächtnis hoch entwickelt. Der Atlantier
dachte in Bildern, ein Denken, das der heutige Mensch mit seinen
ausgeprägten Begriffen kaum zu erfassen vermag. Einen Fortschritt in
unserem Sinne konnte es nicht geben, da nichts zu erdenken und nur die
Erinnerung tätig war. Die Atlantier beherrschten die Lebenskraft, besaßen
Flugzeuge und lebten in Ansiedlungen. Sie, ihre Vorfahren, die Lemurier,
und ihre Erben, die Arier, bilden die drei eigentlichen Wurzelrassen der
doppelgeschlechtlichen Menschheit. Jede dieser Wurzelrassen hat
bestimmte physische und geistige Eigenschaften und schreitet durch
sieben Unterrassen ihrem Ziele in der Entwicklung der Menschheit zu. Die
Namen der sieben Unterrassen der Atlantier aber sind folgende: die
Rmoahals, aus den Resten der lemurischen Rasse gebildet, noch
gedächtnislos, aber schon des Gefühls fähig, in der Sprache entwickelt und
des Zaubers des Wortes kundig; die Tlavatli, ehrgeizig, gedächtnisstärker,
dem Ahnenkult ergeben, zur Bildung von Gruppen mit gleichen
Erinnerungen neigend; die Tolteken, sozial empfindend, mit den Anfängen
zu persönlicher Erfahrung behaftet, mit einem Gefühl für die Macht der
Persönlichkeit ausgestattet und in die Geheimnisse der geistigen
Entwicklung eingeweiht; die Urturanier, selbstsüchtig, begierdenhaft,
eigensinnig, aber in den Anfängen logischen Denkens bewandert, gleich
der nächsten Unterrasse, den Ursemiten, vergleichender Urteilskraft schon
einigermaßen mächtig, daher schon Rechner, Kombinatoren, Hörer der
inneren Stimme, in ihrer Art dazu bestimmt, in einer Auswahl die Grundlage
zur arischen Wurzelrasse zu legen; die Akkadier, als sechste Unterrasse:
gewandte Denker, klug, neuerungssüchtig und stets veränderungsbedürftig,
zur Ausbildung von Rechtsbegriffen und zur Bildung von Gefühlen neigend,
unternehmungslustig, und endlich, als siebente Unterrasse, die Mongolen,
Wiederholer der vierten Unterrasse, der Erinnerung treu, glaubensfroh,
ihren Nachbarvölkern ein Rätsel und als geheimer Kräfte kundig bekannt.
Das Ende der Atlantis durch eine Wasserkatastrophe bildet die Grundlage
zu den Sintflutberichten fast aller Völker. Die exakte Wissenschaft neigte
lange Zeit dazu, die Atlantis für ein Märchen zu halten; sie nahm die
berühmte Erzählung des Platonischen »Timaios« für einen Mythos, den der
große griechische Denker jenem pythagoräischen Buche entliehen hatte,
das ihm in die Hand fiel und dem die Welt den »Timaios« verdankt. Die
Wandlungen dieser »Legende« kann man in Henri Martins französischer
Übersetzung und Monographie an der Hand der älteren Literatur verfolgen

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 43


und von hier aus bis zu den heutigen genaueren Feststellungen über den
atlantischen Erdteil, seine Schicksale und seine Geheimnisse vordringen.
Der atlantischen Kultur verdanken wir, als ihre arischen Erben und als
Träger der nachatlantischen, unseren heutigen Menschengrad, der als eine
Mischung aller vorangegangenen Epochen erscheint. Die atlantische Zeit
ist ein außerordentlich wichtiger Punkt der Erdentwicklung; sie stellt
sozusagen die Mitte des Gesamtprozesses dar, der mit Saturn, Sonne,
Mond und Erde einsetzt und mit Jupiter, Venus und Vulkan schließt. Die
Tätigkeit des Luzifer im Laufe dieser Entwicklungsgeschichte, schon in der
lemurischen Epoche begonnen, birgt ein tiefes Geheimnis: die Geburt des
Icheinschlages, des Ichimpulses im Menschen! In der atlantischen Epoche
wirft das große Ereignis des Ichs seine Schatten voraus. Die Entwicklung
im Gebiete der Atlantis brachte die wichtige Sonderung von Saturn-,
Sonnen-, Jupiter- und Marsmenschen. Die Venus- und Merkurrassen
(Malaien und Neger) kamen vom alten lemurischen Kontinent nach Asien
und Afrika, die Saturn-, Sonnen-, Jupiter- und Marsrassen aber brachten
ihre Anlagen auf dem atlantischen Kontinent zur Entfaltung. Vom
atlantischen Kontinent beginnen dann die großen Wanderungen der
Unterrassen. Im Zeichen der in der Sintflut versunkenen Atlantis steht
unsere Kultur und unser weiteres gemeinsames Menschenschicksal, von
dem nun, an der Hand der alten Kulturen, die Rede sein muß ...

XVI. Die Erde ein lebendiges Wesen

Das Geoid, das wir Erde nennen, kann seine Jahrmillionen alte
Vorgeschichte nicht verleugnen. Seit der atlantischen Epoche zu
scheinbarer Ruhe gekommen, trägt es die Menschheit bis zum Tage, da es
seine Rolle ausgespielt haben wird, um in die nächsthöhere Zustandsform
überzugehen, der die Geheimwissenschaft den Namen »Jupiter« gibt. Als
Träger alles Lebens ist unsere Erde selbst ein lebender Organismus, in
einem beständigen Kampf gegen die von außen chaotisch einwirkenden
Einflüsse, der Sonne, voran, begriffen, die allerdings anderseits auch das
Leben auf der Erde garantieren. Der gegenwärtige Erdenzustand vereinigt
in der Hauptsache den Lebens- und den chemischen Äther (beide mit
saugender und zusammenziehender Wirkung), um die erreichte
Kräfteanordnung zu erhalten, indes die auseinanderstrebenden das
Zentrum fliehenden Kräfte des Licht- und des Wärmeäthers die gasförmige
Atmosphäre rings um die Erde erfüllen und diese mit einem Wärmemantel
gegen den übrigen Kosmos abschließen. Aus dem »erhabenen
Wechselspiel« von Tag und Nacht, Chaos und Ordnung, Sommer und
Winter, Sonnennähe und Sonnenferne gehen alle atmosphärischen und
meteorologischen Erscheinungen hervor. Die Erde beginnt bei
Sonnenaufgang auszuatmen; sie führt ihren Atmungsprozeß mittags und
nachmittags durch, fängt gegen Sonnenuntergang einzuatmen an und führt
den Einatmungsprozeß bis gegen drei und vier Uhr morgens zu Ende. Die
Beobachtung des lebendigen Erdorganismus und der dabei auftretenden

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 44


rhythmischen Vorgänge eröffnen denn auch Einblick in das Geheimnis der
Erdumdrehung; sie erklärt sich durchaus aus Tätigkeiten innerhalb der Erde
selbst und ist keineswegs etwa bloße mechanische Umdrehung eines toten
Körpers durch »unbekannte und noch unerforschte« Kräfte, sondern eine
Folge der rhythmischen Vorgänge innerhalb der ätherischen Bildekräfte des
Erdorganismus. Die drei lebendigen Naturreiche sind nach dem geistigen
Gesetz der Polarität in Kreuzesform angeordnet: der Mensch, aufrecht, mit
dem Haupt nach oben, das Tier, waagrecht und die Pflanze mit dem Haupt
(Wurzel) nach unten, bilden das erhabene Symbol der an das Kreuz des
Weltenleibes geschlagenen Weltseele (Plato). Auch Schwerkraft und
Erdmagnetismus finden an der Hand der Erkenntnis von der ätherischen
Struktur des Erdorganismus ihre zureichende und einleuchtende
Begründung. Allerdings eröffnet die Geheimwissenschaft, eben auf dem
Wege, das Geheimnis des »Magnetismus« zu erhellen, den Ausblick auf
eine ganz neue Auffassung von der Natur der Sonne. Der Magnetismus
hängt einzig und allein von der Wirksamkeit des Lebensäthers ab; die
Sonne, keineswegs der glühende Gasball, als der sie von der exakten
Naturwissenschaft aufgefaßt wird, ist von Lebensäther erfüllt und stellt
einen substanzlosen Hohlraum dar, ein Loch, dahinein alle substantiellen
und nichtsubstantiellen Inhalte des Weltenraumes strömen, ein Zustand,
der an die geheimnisvolle Tatsache des Brennpunktes einer Linse erinnert,
darin sich die Glut des Sonnenstrahls ansammelt und aufspeichert. Nicht
weniger erstaunlich als dieser von der Geheimwissenschaft erschlossene
Komplex von Tatsachen wirkt endlich ein Blick in das Innere der Erde. Im
festen Erdkörper wirkt der Lebensäther, die anderen ätherischen Kräfte
kommen bloß in abgetönten Veränderungen zur Wirkung. Der Kern der
Erde gehört dem Wärmeäther an und besteht, nach neuesten Angaben
(Nippoldt), aus glühenden Gasen von Eisen, Nickel und Kobalt und das
Erdinnere stellt in bezug auf die Verteilung der ätherischen Kräfte eine
genaue Umstülpung der außerhalb der Erdrinde herrschenden ätherischen
Struktur des Erdorganismus dar, ein Vorgang, der sich auch bei anderen
makrokosmischen und mikrokosmischen Organismen wiederholt. Die
Sphären des Erdorganismus verlaufen folgendermaßen: Wärmeäther wirkt
in der äußeren (atmosphärischen) Erde und im Erdinnern, beidemal an den
äußersten Punkten, des weiteren der Lichtäther und der chemische Äther;
die Erdfeste, vom Lebensäther beherrscht, stellt die mittlere Zone zwischen
den je drei Sphären der äußeren und der inneren Erde dar. Das
Wärmegebiet bildet eine Art Brücke zwischen den verschiedenen Welten,
der Mensch ist als ein allen diesen verschiedenen Gebieten gemeinsam
zugehöriges Wesen in das Ganze eingeordnet. In den Ätherarten
verbergen sich zugleich die menschlichen Bewußtseinszustände. Raum
und Zeit treten erst mit dem Wirken der ätherischen Bildekräfte auf. Im
Räume liegt der geheimnisvolle Übergang vom Wesen zur Erscheinung.
Jedenfalls ist der Wärmeäther das erste Agens (das erste Wirkende) der
Welt gewesen. Die Zeit gehört schon der Erscheinungswelt an. Die

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 45


Entwicklung der Welt verläuft also nicht nur zwischen »Urnebel« und
»Wärmetod«, sondern zwischen Raumbejahung und Raumverneinung. Aus
dem abstrakten Begriffsspiel des Kantianismus und Neukantianismus wird
das Raum- und Zeitproblem durch die anthroposophisch orientierte
Geisteswissenschaft ein Gegenstand »wirklichkeitsgemäßer und
lebensvoller« Forschung. Von hier aus führt die Anthroposophie auch zu
neuen Anschauungen über das Licht und die Farben. Der Kreis des
Spektrums der Natur und des Lichtes umschließt zwei Welten. Die
sogenannte »voraussetzungslose Wissenschaft« ist nur ein Aftergebilde,
eine Wissenschaft um den Weltenleichnam; auch sie hat freilich eine und
noch dazu eigenartige Voraussetzung: den Dünkel derer, die sie betreiben.
Wäre sie imstande, die Menschheitsgeschichte bis zu dem Augenblick zu
verfolgen, da der Mensch ohne sein »Zutun« sein Wissen aus den
geistigen Welten empfing, so würde sie sich bald außerstande sehen,
atheistische Allüren anzunehmen: denn sie hätte damit den wahren
Gottesbeweis in Händen ...

Zweites Kapitel
Die alten Kulturen bis zum Ereignis von Palästina

I. Altes neues Wissen von Erde und Mensch


Die Darstellung der Genesis wäre nun bei dem Zeitpunkt angelangt, da
die alten Kulturen, Ergebnisse der nachatlantischen Zeit, ihren Anfang
nehmen. Die Erde hat die Saturn-, Sonnen- und Mondzustände
durchschritten, und die Entwicklung des Menschen ist bis zu dem Zeitpunkt
gediehen, da er damit beginnt, seinem leiblichen, ätherischen Und astralen
Organismus das Ich einzufügen, das den ewigen Kern des Menschen
ausmacht und aus dem sich die nächsten drei höheren
Bewußtseinszustände, die nach der indischen Geheimlehre die
Bezeichnungen Manas, Buddhi und Atman tragen, nach der
anthroposophischen Geisteswissenschaft aber Geistselbst, Lebensgeist
und Geistmensch genannt werden, entwickeln, indem, vom Ichkern aus,
zunächst der astralische, der ätherische und endlich der physische Leib in
ihre geistigen Daseinszustände einmünden. Um die Mitte der atlantischen
Zeit tritt eine unheilvolle Note in die menschliche Entwicklung, nach
Maßgabe des Gebrauches, den die Menschen von der Freiheit ihrer
Entschließungen machen. Die menschliche Freiheit spielt in der
Geheimwissenschaft eine grundlegende Rolle. Eine wahre und
wirklichkeitsgemäße Erkenntnis der menschlichen Freiheit entkräftet
zugleich am vollkommensten den törichten Einwand gegen die göttliche
Weltordnung, den man aus dem Munde zeitgemäßer Agnostiker so oft zu
hören bekommt: Gott hätte besser daran getan, die Dinge der
Erfahrungswelt gleich vom Anfang der Schöpfung ab so zu ordnen, daß
absolute Glückseligkeit hätte eintreten können; indem er das Böse nicht
unterdrückte, habe Er seine wahre Ohnmacht erwiesen und, obwohl ein

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 46


gerechter und gütiger Gott, zugelassen, daß diese Erde zur Hölle würde.
Daß im Wesen des Göttlichen zugleich die Freiheit liegt, bewußt zu
schaffen und nicht bloß ein leeres, wenn auch vollkommenes Spielzeug
schöpferischer Laune herzustellen, sind sie einzusehen außerstande. Ohne
die Möglichkeit freier Entschließung hätte die göttliche Schöpfung nicht
einen Augenblick bestehen können, weil sie sinnlos gewesen wäre. Indem
Gott schuf, schuf er auch die Möglichkeit zur Erkenntnis des Göttlichen und
mit dieser die Möglichkeit, den göttlichen Ursprung zu vergessen und ihm
zuwiderzuhandeln. Um nun wieder zur Mitte der atlantischen Epoche
zurückzukehren: das geheime Wissen, von den Eingeweihten streng
gehütet und vor Mißbrauch durch unreine Naturen geschützt, wird um diese
Zeit Menschen ausgeliefert, die sich seiner bedienen, um Aufruhr gegen
das Göttliche zu stiften. Ihr falsches und gegen das Wesen der göttlichen
und menschlichen Wahrheit gerichtetes Tun bringt, unter Mitwirkung
niederer, elementarer Wesenheiten, die Kräfte der Natur zu entfesselter
und zerstörender Wirkung. Ihr Treiben ist als die Ursache jener
Katastrophen anzusehen, denen die atlantische Welt erlag. Was in den
Stürmen der Katastrophe nicht zugrunde ging, wanderte in jene Teile der
Erde aus, die sich aus dem Chaos der Flut neu gestalteten. Von den sieben
Unterrassen der atlantischen Zeit, von den Ursemiten, die das logische
Denken in gewissem Sinne entwickelten, nimmt die nach atlantische
Menschheit, die Schöpferin der nachatlantischen, ältesten
Menschheitskulturen, ihren Anfang. Die fünfte Wurzelrasse, geführt von
einem Eingeweihten, den die okkulte Tradition Manu nennt, bestand aus
Bevölkerungsresten, die zum Teile schon eine Art eigener Kultur besaßen;
auf dem südasiatischen Kontinent saßen Ausläufer der lemurischen
Rasse angesiedelt, deren Abkömmlinge auch noch in Australien zu finden
waren, indes West- und Nordasien sowie Südeuropa von Resten der
vierten Rasse, der Urturanier, bewohnt wurden. Der Boden, in den Zweige
der fünften Wurzelrasse gesenkt waren, umfaßte sonach zwei Strömungen:
eine lemurisch- und eine atlantisch-arische, beide mit Resten noch älterer
Kulturen im Leibe. In Skandinavien, Nordrußland, Sibirien und China gab es
Reste der hyperboräischen Kultur. Aus der Gegend um die Wüsten Gobi
und Schama entstand eine Priesterkultur bei einer relativ spirituell
hochentwickelten Rasse, bestimmt, das »volle Heruntersteigen auf den
physischen Plan vorzubereiten« und Kolonien nach Indien und Afrika
auszusenden. Von diesem Auswandererzug stammten die Indoarier und
die Hamiten, begründend die indische und die ägyptische Kultur. Die
Eingeweihten des Zarathustra schufen die Kultur der Meder, Perser, Bakter
und Chaldäer, in einem anderen Kolonisationszweig erstanden die Kulturen
der Babylonier, Phönizier und Araber. Auf dem Boden des alten
Griechenland erwächst die pelasgische Kultur, geheiligt durch den Zeus
von Dodona, in Italien die technisch und sozial hochstehende Kultur der
Etrusker. Im Norden entwickelt die keltische Rasse eine dritte Aussendung
der Kultur der mosaischen Genesis und des trojanischen Kreises. Die

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 47


ätherische Kräftestruktur an bestimmten Orten der Erdoberfläche und die
organische Struktur der an diesen Orten entwickelten Kulturen stehen
jedesmal in einem bedeutsamen Zusammenhang. Die Geheimwissenschaft
der Anthroposophie kennt eine eigene Art Erdkunde: die Äthergeographie,
eine noch junge, von Günther-Wachsmuth sorgsam entwickelte Doktrin, die
tiefe Einblicke in die Völkerpsychologie gewährt. Sie unterscheidet ein
europäisches und ein asiatisches Kräftekreuz mit einem großen
Gebirgsmassiv im Schnittpunkt, den Alpen und dem Himalaya, gebildet von
Kräftestrahlungen. Die Kindheit der Menschheit verläuft in Afrika, die
Jugend in Asien, das mittlere Lebensalter in Europa, das späte Alter in
Amerika. In ein anderes Kapitel der neuen Erdlehre gehört die Erkenntnis
von den Urformen der Kontinente. Ein flüchtiger Blick auf den Globus zeigt,
daß die festen Teile der Erdoberfläche überwiegend nach dem Nordpol, die
flüssigen vornehmlich nach dem Südpol zu orientiert sind. Der Nordpol stellt
also gleichsam den Brennpunkt der Lebensätherkräfte, mit
Sonnenwirkungen verknüpft, dar, indes der Süden, dem chemischen Äther
zugeordnet, mehr den Mondwirkungen unterliegt. Die Kontinente streben
der Dreiecksform zu, die auch bei vielen großen Inseln und Halbinseln
(Grönland, Arabien usw.) festgestellt werden kann. Es ist schon erwähnt
worden, daß den vier Ätherformen bestimmte formbildende Tendenzen
eigentümlich sind: dem Wärmeäther die sphärische, dem Lichtäther die
dreieckige, dem chemischen Äther die halbmondförmige und dem
Lebensäther die viereckige (kubische). Unwillkürlich erinnert diese
Zuordnung an Greens Behauptung von der tetraedrischen Erdgestalt. Die
Äthergeographie spricht von der Erde als einem Salzwürfel, der in der
sphärischen Wassermenge schwimmt und die Urform des Lebensäthers
trägt.
Nach diesen Abschweifungen vom Thema kehrt die Darstellung nun zum
Thema der alten Kulturen zurück. Sie umfassen einen Zeitraum von
ungefähr 7200 v. Chr. bis 3500 n. Chr., nach welchem Zeitraum die fünfte
Kultur (unser gegenwärtiges angelsächsisch-arisches Zeitalter) beendigt
sein wird, um einer kurzen, nach slawischen Impulsen geordneten Kultur
Platz zu machen. Den Tierkreiszeichen zugeordnet, ergibt sich die folgende
Anordnung: 1. Die uralte indische Kultur, im Zeichen des Krebses, zirka
7200 bis 5000 v. Chr.; 2. die uralte persische Kultur, im Zeichen der
Zwillinge, zirka 5000 bis 3000 v. Chr.: 3. die ägyptisch-jüdisch-babylonisch-
chaldäische Kultur, im Zeichen des Stieres, zirka 3000 v. Chr. bis 747 v.
Chr.; 4. die griechisch-lateinische Zeit, von 747 v. Chr. bis 1413 n. Chr.,
im Zeichen des Widders (Lammes), und 5. unsere Zeit, von 1413 bis zirka
3500 n. Chr., im Zeichen der Fische.

II. Der altindische Kulturkreis


Wenn von der alten indischen Kultur gesprochen wird, die ungefähr den
Zeitraum von 7200 v. Chr. bis 5000 v. Chr. ausfüllt und im Tierkreiszeichen
des Krebses stand, so ist schon an dieser äußerlichen Feststellung zu

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 48


erkennen, daß es sich dabei keineswegs um jenes Stück indischer Kultur
und Geschichte handelt, das die exoterische Geschichtsforschung das alte
Indien nennt. Für die rund 2000 Jahre, die der ersten nachatlantischen
Epoche, der altindischen Kultur gehören, gibt es keine äußeren
Dokumente. Der Inder der Altertumsforscher ist eine viel spätere
Erscheinung als der Träger der alten indischen Kultur. Erst während der
Entwicklung der nachfolgenden Kulturen, der persischen und der ägyptisch-
chaldäischen, entwickelt sich auf dem indischen Boden das, was die
landläufige Wissenschaft altes Indien nennt. Die spätere Einteilung der
Menschen in Kasten wurzelte in den Anschauungen der alten indischen
Kultur, die verschiedene Arten von Menschen umfaßte und zugleich lehrte,
daß jede Seele die Kaste, welcher sie angehörte, sich selbst gewählt habe,
da sie durch ihr Vorleben zu dieser bestimmten Art Dasein taugte. Die
Zuordnung der alten indischen Kultur zum Tierkreiszeichen des Krebses
kann an dieser Stelle noch nicht ihre vollkommene Erklärung finden. In der
Astrologie ist das Zeichen des Krebses eines von den sieben hellen
Sommer-Sternbildern, aber zugleich auch ein Zeichen des Niederstieges in
die irdische Welt und gehört dem Erdenkreuze (im Gegensatze zum
ätherischen Kreuze) an, im Zeichen einer Involution, der die Evolution der
atlantischen Epoche vorangegangen ist; im Krebszeichen kann der okkult
Geschulte das Geheimnis der Zweigeschlechtlichkeit erblicken: die
Schöpfung des Weibes aus der Rippe des Adam. Die niedere Astrologie
schreibt den Krebsmenschen launische, phantastische, jedoch
schweigsame Charaktere zu, aber der Krebs ist in Wahrheit nördlich,
beweglich und nächtig geartet, wenn auch ein herrschendes Zeichen. In der
Tat ist der Mensch der alten indischen Kultur ein merkwürdiges Wesen, das
dem Erlebnis der Außenwelt durch die Sinne, dem Erlebnis der Schwerkraft
im Skelett, andere Erlebnisse entgegensetzt: das Erlebnis der Magie, der
Unwirklichkeit aller physischen Dinge und das Erlebnis Somas, der
somatischen Flüssigkeit, des Wasserprozesses der ganzen Erde. Nicht vor
dem Tode bangt dem Menschen der alten indischen Kultur, sondern vor
dem Leben! Sich freimachen von den Kräften, die in die Geburt
hinabführen, ist oberste Weisheit im Sinne Buddhas; er erlebt die Mars- aus
der Jupitersphäre, die Regionen der Geister der Weisheit und jener der
Bewegung. Der große Kampf am Himmel, von dem die Genesis erzählt,
spiegelt das okkulteste Dokument der Inder, die Bhagavadghita, aber schon
die hohe Weisheit der Veden und Upanishaden ist nur mehr ein dunkler
Nachklang jener hohen Einsicht, die das Weben und Leben der uralten
indischen Kultur trug. In einem späteren Augenblick wird die Rede davon
sein, daß schon die alten Mysterien das Christusgeheimnis enthalten. Am
schwierigsten läßt sich dieses wichtige Element allerdings in den
urindischen Mysterien erweisen. Jede Kultur barg die Geheimnisse und den
Sinn ihres Wesens in Einweihungsschulen. Die urindischen Mysterien
wurzeln noch durchaus im Erlebnis des Paradieses, das verlorenging, sie
bewegen sich am liebsten in der in den Äther verflüchtigten Urheimat des

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 49


Menschen. Wohl war, natürlich, in dieser Region auch die vorgeburtliche
Offenbarung des Christus zu schauen, aber das Mysterium von Golgatha,
die Erscheinung des Christus zwischen Luzifer und Ahriman, lag für den
irdischen Blick des urindischen Mysten im Dunkel. Noch verschwimmt ihm
das Menschenwesen »in der unbestimmten Gesamtheit aller Wesen«, aber
in den Hymnen an Vishvakarman des Rigveda wird deutlicher, als in der
ganzen späteren Brahmanenweisheit, plötzlich das gigantische Bild eines
Weltenopfers entrollt und der Weltzimmermann, ganz wie in den
Evangelien, »Herr und Meister« genannt. Aus der weltfernen Sphäre des
verlorenen Paradieses steigt der große indische Eingeweihte Krishna
herab, um beim Übergang in das finstere Zeitalter, in die dritte
nachatlantische Kulturepoche, die Richtung des indischen Geisteslebens zu
bestimmen. Da hat man wiederum das Wort Abstieg und Niederstieg, das
mit dem Sternbild des Krebses geheimnisvoll verbunden ist, ein Avatara
des Vishnu, der sich hineinopfert in die Wesenheit der Fische, selbst als
Fisch (das Zeichen des Christus) verkörpert. So dringt auch aus der
indischen Kultur das Geisteslicht in seiner Weise( und zwischen der
Bhagavadghita und den Paulusbriefen hat kein Geringerer als Rudolf
Steiner Zusammenhänge erhabenster Natur gefunden. Die zwei Wege der
indischen Einweihung werden durch den Yoga und den achtgliedrigen Pfad
bezeichnet. Das Yogasystem ist die Wurzel des achtgliedrigen Pfades, den
Gotamo Buddha weist; er verhält sich zum Pfad wie Magie zu Mystik.
Versteht man unter Magie Wirken im Irdischen und schöpferische
Verwandlung der Stoffe durch fremde und eigene Kräfte, so hat Mystik im
eigentlichen Sinne kein Wirkungsgebiet; sie strebt nach innerlicher
Vereinigung mit dem göttlichen Prinzip, nach Rückkehr zu diesem; fern von
den Sensationen des magischen Tuns empfiehlt der Buddha die
Anwendung der Kräfte, die auch er kannte, »zum Wohle der Erde und der
Menschheit«. Wohl ist es schön und groß, Wunder zu wirken, wilde Tiere
durch den bloßen Gedanken zu zähmen, Heilungen vorzunehmen, aber all
diese Dinge, mit dem Wesen des Yoga verwoben, spielen keine Rolle mehr
für den Mystiker, der die Abgeschlossenheit im Ich sucht. Das alte Indien
war und ist ohne Zweifel noch heute ein Märchen- und Zauberland
ohnegleichen, das Schulland der Magie, erinnert man bloß daran, daß die
uralte indische Kultur noch im Anschluß an das »Paradies« lebte und im
Ätherischen zu wirken wußte, aber die Entzauberer und Vernüchterer der
Welt werden nicht aufhören, zu behaupten, daß sie nichts davon bemerkt
haben und daß es, im Gegenteil, eine stark rationalistische und erotische
Note im indischen Wesen gibt. Sie gleichen darin einem Toren, der nur den
Schatten bemerkt, für die Lichtquelle aber, deren sekundäre Erscheinung
der Schatten ist, kein Auge hat.

III. Der Yoga


Es ist schon gesagt worden, daß die Yogaeinweihung die Wurzel und
Quelle des indischen Mysterienwesens darstellt, daß sie, zumindest als die

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 50


frühere und ältere Erscheinung, im Vergleich zum achtgliedrigen Pfad des
Buddha, den Mittelpunkt des gesamten indischen Einweihungssystems
ausmacht. In der Tat sind denn auch beide Formen des indischen
Okkultismus bis zum heutigen Tag im Westen zu finden; die Theosophie
pflegt, zum Schaden derer, die den »westlichen Yoga« anwenden, den
Yoga, der Neobuddhismus, wenn auch in Modifikationen, den
achtgliedrigen Pfad, obschon er heute und hier weder als zeit- noch
ortsgemäß erscheint. Das große Dunkel, das dank der theosophischen
Methoden geflissentlich über den Yoga gebreitet war, hat seine
schattenhaften Schlupfwinkel dank Steiner und dank der mustergültigen
Forschungen Hermann Beckhs eingebüßt; diesem ausgezeichneten und
genialen Schüler Rudolf Steiners blieb vorbehalten, die zahlreichen
Irrtümer, so über Yoga und Yogapraxis im Umlauf sind, zu klären und
namentlich die Unterschiede zwischen dem sogenannten Hatha- und dem
Raja-Yoga endgültig festzustellen. Gestützt auf diese grundlegenden und
entscheidenden Arbeiten ist man heute glücklicherweise in der Lage,
Wahrheit und Wirklichkeit des Yogaweges einwandfrei zu erkennen und
gegen überflüssige Geheimtuereien (namentlich in Hinsicht auf das
Kundalinifeuer) ein für allemal abzugrenzen. Nichtsdestoweniger gehört
eine einwandfreie Erläuterung des Yoga noch immer zu den schwierigsten
Aufgaben, die das ungeheure Gebiet des Okkultismus aufzuweisen hat.
Volle Einsicht in das Wesen des Yoga wird zunächst durch ein
umfassendes Wissen um die Geheimnisse der Weltentstehung und der
Menschwerdung, durch genaue Kenntnis der ätherischen Bildekräfte und
durch die historische Wertung der Bewußtseinsstufen und -grade
gewonnen. Der Yoga, Ziel aller Betrachtungen in der »Bhagavadghita«,
stellt den Mittelpunkt des indischen Mysterienwesens dar; er führt zum
Unterbewußtsein durch Konzentration, Meditation und Kontemplation auf
rhythmischem Wege, hat eine mystische (Weg nach Innen, Suche nach
dem höheren Ich des Menschen) und eine magische Seite (Entfaltung
magischer Kräfte zu magischen Wirkungen durch Mantrams). »Der indische
Yoga«, sagt Steiner im Jahre 1925 in einer Mitteilung an die Mitglieder der
anthroposophischen Gesellschaft, »will im Erleben des Rhythmus ganz
aufgehen; er will das Gebiet des Vorstellens, des Ichs, verlassen und in
einem inneren Erleben, das dem Erinnern sehr ähnlich ist, in die Welt
schauen, die hinter dem liegt, was das gewöhnliche Bewußtsein kennen
kann. «Der Yoga wurzelt im kosmischen Rhythmus. Atman (dem deutschen
Worte Atem verwandt) drückt die Einheit des Menschen mit dem
Weltenselbst aus. Die höchste Weisheit kann nur eratmet werden! Arbeit
am Atem heißt auch in der alten Rosenkreuzerepoche Arbeit am Stein (der
Weisen) und mit den Atemübungen (Pranayama) beginnt der Yoga sein
Verwandlungswerk, die geistige Alchimie mit ihrem Ziel: Einwirkung des
Geistmenschen auf den physischen Leib. In seinen Dornacher Vorträgen
vom Jahre 1922 betont Steiner vor allem das moralische Moment des
Atems. Der eigentlichen Yogapraxis gehen zwei Stufen moralischer Natur

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 51


voraus: Yama und Niyama, Läuterungsvorspiele, die ein vollkommenes
Aufgeben aller weltlichen Aspirationen voraussetzen. Erst dann, wenn
dieses Läuterungswerk am Ende angelangt ist, tritt Asana ein,
Atembeherrschung bei Meditation. In den älteren Yogabüchern, die den
sogenannten Hatha-Yoga lehren, findet man umständliche Beschreibungen
jener verschlungenen Stellungen (»Sitz« genannt) vor, die den Kult des
Ätherleibes ermöglichen; sie sind später fallen gelassen und durch
Zurückführung auf den einfachen Sitz des Buddha nach europäischer Art
vereinfacht worden. Man kann diese dritte Stufe (Asana) nicht erreichen,
ohne gleichzeitig mit der Beherrschung des Atems (Pranayama) zu
beginnen, die als vierte Stufe in Betracht kommt und zur fünften Stufe
(Pratyayama) Beherrschung der Sinne, Abzug der Sinne von den
Sinnesdingen, führt. Zusammengefaßt sind diese fünf Stufen (Yama,
Niyama, Asana, Pranayama und Pratyayama) indes bloße Vorbedingungen
des wirklichen Yoga, der aus Konzentration (Dharana), Meditation (Dhyana)
und Kontemplation (Samadhi) besteht. Schon hier muß aber ein Irrtum
aufgeklärt werden, der sich in vielen okkulten Werken findet und die
Gesamtheit des Yoga in einem falschen Lichte zeigt. Die moderne englisch
indische Theosophie tut sehr geheimnisvoll, wenn sie den sogenannten
Hatha-Yoga als einen »niederen« Yoga anspricht; sie setzt ihn dem hohen,
echten Raja-Yoga entgegen, der den Adepten allein anbefohlen wird,
indem man ihnen zugleich den niederen, »schwarzmagischen« Yoga mit
allen seinen Greueln vor Augen führt. In Wahrheit ist der Hatha-Yoga nicht
mehr und nicht weniger als die medizinische Seite des Yoga und damit
zugleich ein, vielleicht sogar der einzige untrügliche Beweis dafür, daß die
Yogaentwicklung ihren richtigen Weg gegangen ist. Beide Yogaarten
(Hatha- und Raja-Yoga) schließen einander nicht aus, sondern ergänzen
sich, und das Ganze wird sofort deutbar, wenn man die in der
»Bhagavadghita« erwähnten vier Stufen des Yoga mit den vier Ätherarten
der Anthroposophie verbindet und den Bhakti-Yoga (Yoga der mystischen
Hingabe) dem Wärme-, den Dhyana-Yoga (Erkenntnisyoga), dem Licht-,
den Hatha-Yoga (den magisch-medizinischen Yoga) aber dem Klangäther
zuordnet und mit dem Raja-Yoga (dem Yoga der höchsten Entwicklung)
nicht nur einseitig den Lebensäther zusammenbringt, sondern vielmehr im
Raja-Yoga eine Verbindung der vier Ätherarten überhaupt gegeben sieht.

IV. Die Lotosblumen


Der vielgefürchtete und mißverstandene Hatha-Yoga, dem Raja-Yoga, als
dem hohen und heiligen Yoga, gleichsam wie eine niedere und finstere
Form gegenübergestellt, stützt sich also auf das Körperliche im
geheimwissenschaftlichen Sinne, auf physischen Leib und Ätherleib, wobei,
vorgreifend, der Ätherleib als jenes Glied der menschlichen Wesenheit
angesehen werden muß, das die Kräfte des physischen Körpers zum
Leben aufruft und beim Leben erhält. Sein Protektor ist, nach Beckh,
Schiwa, der, zugleich, als heilender Gott, mit Leben und Tod zu tun hat und

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 52


der somit die medizinische Seite des Yoga darstellt. Etymologisch gehört
das Wort Hatha allem zu, was Gewaltanwendung, was Gewalt als Zustand
und Tätigkeit angeht. Der Hatha-Yoga wendet gewissermaßen Gewalt an.
Sein Geheimnis ruht aber, wie die eine mystische Silbe ha (Sonne), die
andere aber tha (Mond) andeutet, in Sonne und Mond, den beiden
Grundsymbolen der Alchimie als einer rosenkreuzerischen und königlichen
Kunst, die die Erinnerung an die Zeit voraussetzt, da, durch die Trennung
der Sonne von der Erde, den Menschen der »Baum des Lebens«
verlorenging und Erkenntnis und Leben voneinander Abschied nahmen,
indem die Erkenntnis der Erde, das Leben aber der Sonne verblieb. Als
nicht minder geheimnisvoll erscheint aber eine andere Seite der erhabenen
Symbole, hinter denen sich Mann (Sonne) und Weib (Mond) verbergen.
Mann und Weib, Leben und Erkenntnis, werden durch den Hatha-Yoga
vereinigt; das Ewigweibliche und Ewigmännliche vereinigen sich, und das
Kind der Sonne und des Mondes tritt in Erscheinung, aus einer mystischen
Hochzeit der oberen und unteren Ätherarten hervorgegangen; Gleichnis ist
zum Erreichnis im faustischen Sinne und im Sinne Goethes geworden; die
Phantasie des Lesers findet von diesem Bilde unschwer zum Paradies der
Märchen zurück, zur Kristallkugel bei Grimm, aber auch zu »Siegfried« und
»Tristan«, und unschwer erkennt er nun, daß diese hohe mystische
Vereinigung, diese »chymische Hochzeit«, durch den Raja-Yoga, durch die
königliche Kunst vollzogen, und die Vereinigung von Shiwa und dem
Shakti, einer Yogakraft, die unter dem Namen Aditi bekannt ist, die
mystische Tatsache einer Vereinigung des Osiris und der Isis des
ägyptischen Kulturkreises für das indische Wesen verwirklicht. Magie wird
hier zur Mystik, und es soll später gezeigt werden, wie das Geheimnis von
Golgatha diese Vereinigung für immer, das heißt, für alle Erdenzeiten
vollzieht. Der Yoga der Inder führt überhaupt in die Tiefen geheimnisvoller
Menschenkunde ein. Beckh, dem, wie schon hervorgehoben, die erste
lichte und klare Gesamtdarstellung dieses Weges zu danken ist, behandelt
sein schwieriges Thema nach vier Hauptgesichtspunkten. Der Yoga geht
vom Rückgrat des Menschen aus, dem die Kraft des Ichs und des Wissens
zugeordnet ist: das, was als das Männliche angesprochen zu werden pflegt.
In einer Hatha-Yoga-Urkunde findet man um die okkulte Wirbelsäule sechs
Blumenblätter, dem Lotos gleichend, nebst Zwischenblättern und
entsprechenden Zwischenorganen, angedeutet; sie scheinen der Säule eng
verbunden, also vom Ich und Willen kaum loslösbar, stammen sie doch
noch aus einer Zeit, da die menschliche Entwicklung just die Festigung und
Ausbildung des Ichs zu durchschreiten und zugleich zu vollziehen hatte!
Die Lotosblumen sind die eigentlichen okkulten Erkenntnisorgane, und ihre
Entwicklung umschließt das Hauptgeheimnis der gesamten okkulten Lehre.
Von den sechs Hauptlotosblumen gehören die zwei untersten, die vier- und
die sechsblätterige, bräunlich an Farbe, dem Stoffwechsel- und
Gliedmaßensystem des Menschen, die zwei mittleren, die eine,
zehnblätterig, am Sonnengeflecht (Solarplexus), gelegen, blaßblau von

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 53


Farbe, die andere, zwölfblätterig, hellviolett von Farbe, dem rhythmischen,
die sechzehnblätterige, über der zwölfblätterigen gelegen, dunkelrötlich von
Farbe, und die zweiblätterige, im Zwischenbrauenkreis gelagerte
Lotosblume, von unbestimmter Farbe, dem Nerven-, Sinnessystem und
Bewußtseinspol des Menschen an. Neben und zwischen diesen
Hauptlotosblumen gibt es noch andere, so zwischen der zwölf- und der
zehnblätterigen Lotosblume eine achtblätterige, in den Regenbogenfarben
abwechselnd aufstrahlende (alles Gute und Böse der Welt aufzeigend), die
mehr mit dem Herzen als mit dem Rückgrat verbunden ist, ein
Juweleneiland (o Juwel, im Lotos! Om mani padme hum), zwischen der
sechzehn- und der zweiblätterigen aber, in der Nabelgegend, eine
dreiblätterige, und zwischen der sechs- und der zehnblätterigen Lotosblume
ein radartiges Zwischenorgan, »Kundalini-Tschakram«, das als Sitz der
Ausstrahlungen des Ätherleibes anzusehen ist. Endlich wäre, nur dem
indischen Yoga bekannt, von dem bei Steiner nicht erwähnten
tausendblätterigen Lotos die Rede, wo sich die eigentliche Hochzeit von
Shiwa und Shakti vollzieht und der Ichkern des erlösten Yogin den
irdischen Körper verläßt, um nicht mehr in das irdische Dasein
zurückzukehren. Von den Zwischenorganen, die als Schwan und Vogel
Greif angesprochen werden, von der Zuordnung der Lotosblumen zu den
Tierkreiszeichen, desgleichen von den indischen Namen, die den
Lotosblumen zu eigen sind, kann hier aus Mangel an Raum und Zeit nicht
die Rede sein. Von größerer Bedeutung bleibt allerdings, daß die sechs
Haupterkenntnisorgane auf den Lotosblättern den 50 Lauten des indischen
Alphabets zugeordnet sind und daß, die achtblätterige Lotosblume nicht
mitgerechnet, in der Tat 50 Blätter gezählt werden können. Obendrein
werden gewisse Lotosblumen, die zwei- und die vierblätterige, dem Hauch-
beziehungsweise dem Zischlaut (h und s) zugeordnet. Ziel und Sinn des
Yoga ist, den gebundenen Lebensäther freizubekommen. Avalon führt
übrigens an, daß es in Indien einen Yoga gab, der nicht von unten, nicht
von der vierblätterigen, sondern von oben, von der zweiblätterigen
Lotosblume ausging und dessen Hauptmeditation die schon erwähnte
berühmte Sonnenstrophe des Rigveda bildete. In dieser Abzweigung liegt,
heute mehr denn je, der Schlüssel zum Schicksal Indiens!

V. Das Kundalinifeuer
Der dritte Hauptgesichtspunkt, den Beckh zur Erläuterung des Yoga
heranzieht, liegt in dem viel besprochenen, mit Geheimnistuerei aller Art
geschäftig umgebenen Problem des Kundalinifeuers. Im okkulten Rückgrat
und in den Lotosblumen ist gleichsam das Instrumentale der Yogapraxis
gegeben: sie stellen das Rüstzeug der Erkenntnis dar. Das Ziel, die
Vereinigung von Shiwa und Shakti, des Ewigmännlichen mit dem
Ewigweiblichen, birgt aber das eigentliche, geistigseelische, vom
Instrument losgelöste Mysterium des Yoga. Kundalini, die Sphinx des Yoga,
ist die Shakti, die Königstochter, die erweckt werden muß, soll der Yoga

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 54


sein überirdisches Ziel erreichen. Für den Hatha-Yoga ist Shakti die
mikrokosmische Offenbarung der weiblichen Urkraft im physischen und
ätherischen Leib. Sie wird im Bilde der Schlange, aber auch als jugendliche
Frau von bestrickender Schönheit geschaut. Solange die Shaktikraft im
Menschen schläft, kann er nicht zum höheren Wissen gelangen; erwacht
sie, von ihm erweckt, so erschließt sich ihm die höhere Welt. Im
Johannesevangelium wird von ihr als dem »Licht des Menschen«, im
Lukasevangelium als dem »Licht des Leibes« gesprochen, und die Mönche
des Athos kennen sie als das Athoslicht: die freie Verbindung aller
Ätherkräfte. Ist Shiwa die göttliche Kraft, die am Bewußtseinspol, im
Haupte, waltet, als Kraft des Denkens, so stellt Shakti die göttliche Kraft am
Lebenspol, die Lebens- und Liebeskraft am Pol des Seins, dar, die »Herrin,
die am Eingang des Brahmantores schläft«. Im untersten Kreise des
Menschensystems, im Stoffwechsel- und Gliedmaßenkreis, ruht Kundalini,
die vierblätterige Lotosblume, am Eingang Brahmas, beim »Pol der warmen
Flamme«, in der Zone des Feuers, als latente Kraft, erreichbar durch die
Atemführungen, die der Yoga vorschreibt; hier befindet sich das Brahmator,
das sie bewacht und das sich öffnet, wenn die Lotosblumen, eine nach der
anderen, erweckt werden; tritt Kundalini dann in die Sphäre des
rhythmischen Menschen ein, wo sie die höheren Lotosblumen aufweckt, so
äußert sie sich als »tönendes Leben«; in der Herzenslotosblume erklingt
die Stimme der Stille, die Sphärenmusik, Licht- und Klangäther wirken
zusammen. In der obersten Sphäre endlich, im Nerven-Sinnes-Menschen,
in der Mondensphäre, beim »Pol der kalten Flamme«, die da leuchtet, aber
nicht brennt, vollzieht sich die mystische Vereinigung der vier Ätherarten,
mit dem Klangäther als der hauptsächlich wirksamen Kraft, die für den
Hatha-Yoga entscheidend ist. Da erwacht Kundalini von der feurigen Kraft
(vom Wort zum Ton geschritten) zum Licht. Hier liegt nun auch der
Ausgangspunkt für die Betrachtung der Atempraxis, die im Yoga auftritt und
das Mittel zur Erweckung in die Hand gibt. Der Atem der esoterischen
Anthropologie ist nichts, als der bei der Ausatmung hervortretende
Luftstrom, der weniger Sauerstoff als die eingeatmete Luft enthält, aber
mehr Kohlensäure und Wasser birgt und annähernd die Temperatur des
Körpers besitzt. Die Atmung dient ihr bloß dazu, dem Körper den zum
Leben nötigen Sauerstoff zuzuführen und die beim Stoffwechsel frei
werdende giftige Kohlensäure zu entfernen. Die Anregung zu den
Atembewegungen geht, nach Vermutungen der exakten Wissenschaft, von
einer »bestimmten Stelle im Gehirn«, dem »Atemzentrum im Kopfmark«
aus, das »automatisch tätig ist« und seinen Hauptreiz aus der Kohlensäure
des Blutes empfängt. Anders gestaltet sich das Bild, das sich die alte Kultur
Indiens vom Geheimnis des Atems macht; sie spricht von okkulten Arterien
(Nadis), in denen die »Lebensströme« zirkulieren und unter denen (72.000
an der Zahl) drei für die Yogaübung mit dem Atem entscheidend sind: Ida,
Pingala und Sushumna. Ida, bläulich, Pingala, rötlich von Farbe, und
Sushumna, in der Farbe unbestimmt, sind links, rechts und in der Mitte

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 55


wirksam und sie überkreuzen sich mehrfach: der Merkurstab wird zum
Symbol des Yoga. Ha (Sonne) und Tha (Mond) vereinigen sich in der
Sushumna, die noch zwei feinere Arterien: Vajra und Citrini, birgt. Mit dem
physischen Atem des Menschen hat es allerdings seine eigentümliche
Bewandtnis: er ist, wie Beckh treffend sagt, heute zu sehr »ins Physische
gezogen«, zu stark »vermaterialisiert«. Darum kann auf indische Art
eingeleitete Atempraxis, ohne weiteres auf den westlichen Menschen
übertragen, eine Quelle großer Gefahren für den werden, der sie übt. Der
Mensch der alten indischen Kultur lebte noch im Zusammenhang mit dem
Weltganzen, er verstand die Kunst, die höchsten Weltengeheimnisse zu
eratmen, nicht aber etwa auf verstandesmäßige Art zu erkennen. Mit dem
Atem bezeichnete er den göttlichen Weltenodem, mit dem Worte
Rhythmus, das dem Worte Ritus so blutsverwandt ist, zugleich die heilige
Weltordnung und die erhabenen Gedanken des Opferns. Mit seinem Atem
stand der alte Inder im Weltenganzen, mit der
»Weltenharmonie mitzuschwingen und mitzuklingen« war das Ziel seiner
Yogaübungen, und hinter den ebenso grotesken als wunderlichen
Vorschriften, die sich in den zahlreichen Yogabüchern vorfinden, verbirgt er
die Grundtatsachen des Atemgeheimnisses und der Atempraxis. Der Weg
des Yoga führt über den Atem zur Meditation. »Der Atmungsprozeß«, sagt
Steiner, »ist, von außen angesehen, nichts als ein materieller Prozeß, nach
innen aber ein durchgeistigter Vorgang, der in einer weit höheren Welt
spielt.« »Gedankenkraft«, fügt er an einer anderen Stelle hinzu, »ist nichts
anderes als verdünnte Atemkraft«, Denken ein verfeinertes Atmen, und
schon in den Upanishaden ist von der Wechselbeziehung zwischen Denken
und Atmen (Manas und Prana) die Rede. Allerdings hat auch der Yoga, ehe
er mit dem Atmen beginnt, eine Reihe von moralischen und ethischen
Voraussetzungen zu erfüllen, aber Yama und Niyama im achtgliedrigen
Pfad des Patanjali bedeuten eigentlich schon ein Loslösen von der Welt,
nicht aber, was erst seit dem Christus möglich ist, ein Sichhineinstellen in
das Irdische ...

VI. Die altpersische Kultur


Buddha und mit ihm der achtgliedrige Pfad beherrschen das Indien von
heute nicht mehr. Die Grundzüge seiner Lehren sind im Hinduismus
aufgegangen. Als erster Initiator der indischen Urkultur ist Manu
anzusehen, der ungefähr eine ähnliche Rolle spielt und die gleiche
Bedeutung hat wie Moses im Judentum. Zwischen den beiden äußersten
Polen des alten Indertums, den Brahmanen und den Parias, bewegen sich
drei Kastenklassen: die feudalen Krieger und ihre Leute, die Kaufleute,
Handwerker und Bauern und endlich die Arbeiter und Diener. Von diesen
Hauptgruppen zweigen viele Unterkasten ab, von denen behauptet wird,
daß sie die Zahl 3000 erreichten. Neben diesen äußeren Merkmalen stand
im Mittelpunkt der urindischen Kulturimpulse der Yoga und die Lehre von
den Nadis und Tatwas, im Zeichen des Krebses. Von anderer Art ist die

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 56


zweite der Urkulturen, die persische, reichend von 5000 bis ungefähr 3000
vor Christus, im Zeichen der Zwillinge. Schauplatz dieser Kultur waren die
vorderasiatischen Gebiete, durch langandauernde Wanderzüge bevölkert,
die seit dem Beginn der atlantischen Zerstörung von West nach Ost
strebten. Ihre Nachkommenschaft wird in der Geschichte als das persische
Volk bezeichnet; sie selbst aber trugen die altpersische Kultur. Stand der
Urinder der indischen Entwicklung fremd gegenüber, empfand er das
Nichtsein als einen Zustand, der jeder Art von Sein im Irdischen
vorzuziehen war, fürchtete er also nicht so sehr den Tod als die Geburt, so
strebt der Urperser der Erde zu, die er liebt. Erdenliebe ist der Grundzug
seines Wesens; er fühlt, daß die Erde dem Menschen gehört, der sich sie
untertan zu machen vermag. Um die Erde und ihren Besitz führt der
Urperser seine Kriege, der Erde ringt er Schätze ab. Bestand für den
Urinder die Gefahr, die Erde als Maya, als »Illusion«, gänzlich zu verlieren,
so hat der Urperser Mühe, sich das Bewußtsein einer übersinnlichen Welt
zu erhalten und es nicht an die physische, sinnliche Welt zu verlieren.
Dieses Bewußtsein bewahren, lehrten Einweihungsschulen und
Orakelstätten, die zugleich das Geheimnis pflegten, der Natur ihre
Geheimnisse abzulauschen und ihre Kräfte in den Dienst des Menschen zu
stellen. Der urpersische Eingeweihte war Magier; er gebot über innere und
äußere Kräfte, die mit den Elementen, vor allem aber mit dem feurigen
Element zusammenhingen. Feuerkult in den höchsten und niedrigsten
Formen kennzeichnet die urpersische Kultur, ein Ergebnis luziferischer
Impulse. Führer der urpersischen Kultur und Hüter des Sonnenorakels ist
Zarathustra, der aber mit dem geschichtlichen Zoroaster nichts zu tun hat,
es wäre denn, daß der spätere als ein Nachfolger des ersten Zarathustra
genommen würde. Des Urzarathustra Sendung war, den Sinn des Volkes
für die geistige Welt zu erhalten und das Übergewicht des Luziferischen in
ihm auszugleichen. Er war ein Verkünder der Sonnenkräfte: er lehrte die
Existenz der Sonnenaura, den Ahura mazdao, den Ormuzd, einen
Lichtgeist, dem Ahriman als Macht gegenübersteht, verderblich durch seine
Einseitigkeit und durch den Verrat der Vulkangeheimnisse stark und
mächtig geworden. Zwischen Ormuzd und Ahriman besteht ein
immerwährender Kampf. Kern- und Angelpunkt dieser Geheimwissenschaft
ist die Erkenntnis der wiederholten Erdenleben. Griechische Autoren
verlegen die Wirksamkeit Zarathustras ungefähr auf 5000 Jahre vor
Christus, in den Zeitraum eines Bilderbewußtseins, mit seinen
Zwischenzuständen zwischen Wachen und Schlaf. Von zwei Seiten her
vermag der Mensch zur übersinnlichen Welt vorzudringen; der eine Weg
führt in das Innere des Menschen, in die eigenen Seelentiefen, der andere
nach außen, hinter den »Teppich der physischen Welt«. Den ersten lehrt
der Buddha, den zweiten Zarathustra; er lehrt Durchdringung des Schleiers
der äußeren Sinneswelt zum Zwecke der Erkenntnis der äußeren Welt. So
steckt hinter der physischen Erscheinung der Sonne der Mittelpunkt des
geistigen Lebens; neben der physischen lehrt er die Geistessonne

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 57


schauen: die große Aura, die der kleinen Aura, der geistigen hinter dem
physischen Menschen, entspricht. Der Schüler Zarathustras sah im
Menschen ein Abbild der Welt. Die ganze Welt ist gleichsam ein
ausgebreiteter Mensch, dessen beste Kräfte vom Ahura mazdao herrühren,
der im ewigen Kampfe mit Ahriman steht. Dem Ormuzd des Urpersers dient
eine Schar von geistigen Hilfskräften. Vergangenheit und Zukunft,
scheinbar in einer Linie liegend, schließen sich im Unendlichen zum Kreis.
Hier ist die Urform der Schlange, der Ewigkeit, der Ormuzd und Ahriman als
Licht und Schatten einverwoben sind. In den Sternen sah der Schüler des
Urzarathustra eine Zeichenschrift, gewoben aus den Buchstaben des
geistigen Wortes. Der Tierkreis ist die Schrift der Schlange der Ewigkeit;
eine in sich selbst zurückkehrende Linie, Zaruana akarana, die Schrift
Ormuzds. Die oberen Tierkreiszeichen sind dem Ormuzd, die unteren dem
Ahriman zugeordnet, als Diener und Hilfskräfte, Amshaspands genannt,
deren sieben dem Ormuzd, fünf dem Ahriman dienen. Mit den
Amshaspands ist übrigens die Reihe der Hilfsgenien keineswegs
abgeschlossen: die Izeds, 28 bis 31 an der Zahl, die Frawashars, die bis in
die Übergründe des Tierreiches eindringen, bis zu den Gruppenseelen der
Tiere. So umfaßt die geistige Lehre des Zarathustra den ganzen Umkreis
des physisch-sinnlichen und geistig-seelischen Lebens: den Makrokosmos;
sie wäre unvollkommen geblieben, hätte sie nicht verstanden, den
Entsprechungen zwischen Makro- und Mikrokosmos nachzugehen. Auch in
das menschliche Haupt strömen zwölf Kräfte, sieben gute, fünf böse
Amshaspandsgenien, entsprechend den zwölf Hauptpaaren von
Gehirnnerven, die vom Gehirn aus in den Leib hinabreichen. In gleicher
Weise entsprechen die 28 bis 31 Izeds den 28 Nerven des Rückenmarks,
den Frawashars aber die Gedanken, die über das Denken und über das
Gehirn emporheben.

VII. Die Lehren Zarathustras


Die Impulse, die der Zarathustra der altpersischen Kultur der Menschheit
gegeben hat, lassen sich auch in den anderen Kulturen bis in die Zeiten
des ersten Christentums verfolgen. Sie empfangen ihr besonderes Merkmal
durch die ausgeprägte Abgrenzung des Guten gegen das Böse, des
Lichtes im Leiblichen und der Wahrheit im Geistigen gegen das Dunkel und
die Lüge. In der altvedischen Kultur ruht der Ton darauf, daß der Adept,
losgelöst von der Sinneswelt und dem Reiche der Farben und Töne, die ihn
zu verführen imstande sind, nach der Vereinigung mit Brahma trachte, der
im Reiche der Devas zu finden ist. Alles, was der Magie, der Welt der
Erscheinungen, zugehört, bleibe dem Schüler ferne, denn er hat es hier
einzig und allein mit Täuschungen zu tun, die ihm die Magie vorspiegelt,
damit er den Weg zu Brahman nicht finde. Anders Zaratas (Zarathustra,
Zoroaster), der Führer der altpersischen Kultur. Sein Pfad führt nicht in das
Innere der Menschennatur, sondern in die Welt der Asuras, der äußeren
Dinge, die alles enthalten und gewähren, was der Mensch zum Leben

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 58


braucht. Für Zaratas ist die Frage der Urkultur eine Menschheitsfrage
ersten Ranges: er lehrt den Ackerbau, er lehrt die Beschäftigung mit den
äußeren Dingen, die dem Menschen dienen. Durch die Schicht der unteren
Asuras, der Diener Ahrimans, zu den höheren, die der Welt des Ahura
Mazdao angehören, muß der Schüler des Zaratas den Weg zur Läuterung
und zum Lichte finden, zur Erlösung, die hier zum ersten Male in voller
Klarheit in den Bereich des menschlichen Bewußtseins tritt. In Ahriman ruht
das Prinzip des Dunkels; er ist der Vater der Verwirrung, der Lüge und der
Verleumdung. »Nicht mehr besiegen soll er, der böse Feind und Irrlehrer,
den Geist des Guten, der mit seinem schlimmen Hauch des Menschen
Stimme und Rede schon seit so langer Zeit durchdringt.« Zarathustra dient
dem Lichtprinzip Ahura Mazdao, auf dessen Wort der Mensch achten muß,
soll er nicht »Schlimmes erfahren«, ehe noch der Erdenzyklus zu seinem
Ende gekommen ist. Die im Zend Avesta erhaltenen Zarathustradokumente
gehen, wie Beckh überzeugend dartut, wohl auf einen späteren Nachfolger
des Urzarathustra hin, der im zweiten oder ersten Jahrtausend vor Christus
wirkte, Zarathustras Namen wieder aufnahm und seine Impulse erneuerte,
sie enthalten aber ohne Zweifel Weisheiten des »Magiers Zoroaster«, von
dem Plutarch erzählt und der als um 5000 Jahre älter denn der trojanische
Krieg bezeichnet wird. Im Hamunsee, im Gebiete des persisch-
afghanischen Grenzlandes, ruht nach iranischer Sage der heilige Same
Zarathustras, aus dem die künftigen Heilande der Welt hervorgehen sollen.
Das vedische Sanskrit und das ihm nahestehende Avesta waren keine
Gebrauchssprachen im Alltagssinne, sondern heilige Sprachen,
Priestersprachen, die die Kraft des Wortes, des Mantrams, noch in sich
bargen. Das Avesta klingt wie Zauber, ein mächtiger Gefühlsstrom belebt
seinen Laut; es gehört zu dem heiligen Gute im Hamunsee und ist Wort
vom heiligen Samen Zarathustras. Ahuro Mazdao ist der Herr der ewigen
Weltenordnung und des Menschenschicksals; er ist der große
Weltenkünstler. Darum ruht im Schoße des Zarathustrawortes zugleich der
Ursprung des Feuerkultus, der ein Abbild des kosmischen Opferfeuers vor
Augen nimmt. Zarathustra lehrt die Heiligkeit des Feuers: keine andere
Religion hat den Feuerimpuls reiner und klarer ausgeprägt. Auch die
irdische Flamme ist darin wohl eingeschlossen, aber der Myste, der vom
Feuer spricht, hat ein höheres, ein ätherisches Feuer im Sinn. Im Avesta
heißt das Feuer athar, das dem griechischen aither (Äther) verwandt ist.
Am Tage des großen Feuerordals, des jüngsten Gerichtes, der großen
Entscheidung am Ende der Erdentwicklung, wird sich das heilige,
reinigende, läuternde Wesen des Feuers bewähren, dessen säubernde
Gluten die Guten wie die Bösen durchschreiten müssen; allerdings werden
die Guten, der Natur des heiligen Feuers verwandt, dieses wie einen
labenden Milchstrom empfinden, der für die Bösen nur Qual und
versehrende Wirkung bedeutet. Da wird nun, am Tage dieses großen
Feuerordals, die Sache zwischen Gut und Böse, zwischen Drug (Trug,
Lüge) und Asha, der heiligen Wahrheit, entschieden werden. Auch im

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 59


sogenannten jüngeren Avesta aber sind noch die Impulse des
Urzarathustra lebendig. Es gibt nach dem Avesta sechs, wenn man ihnen
den Ahura Mazdao selbst zurechnet, sieben Amshaspands, zwölf aber,
wenn man ihnen ihre Gegenfüßler, die dunklen Engel, beigibt, die, gleich
den hellen, unsterblichen Heiligen, ihre bestimmten Namen im Avesta
tragen. Über den Amshaspands stehen nach dem Avesta die Jzeds
(Yazatos), die Erzengel des Zarathustrakults; darunter der Sonnenerzengel
Mithra, an dessen Namen in einem späteren Zeitpunkt die Mithrasmysterien
anknüpften. Der Mithra, dessen Name übrigens auch im Rigveda
vorkommt, ist die Gottheit des lichten Tageshimmels, der Sonnengott, der
über dem Kaukasus emporsteigt und von dessen herrlichen Höhen er das
ganze Land der Arier überschaut. Eine dritte Gruppe endlich, die Fravashi
(Engel, Schutzengel), umfaßt die »gewaltigen, überkräftigen« Schutzengel
der Frommen, der Menschen, die eines guten Willens sind. So entrollt sich
im Spiegel der alten Zarathustrakultur das gigantische und strahlende
Gemälde der Schöpfung des Gottes, der den Menschen auf Erden durch
Zaratas den »Sinn der Erde« verkünden ließ!

VIII. Die Tauruskulturen


Die dritte der alten Kulturen, die das ägyptisch-jüdisch-babylonisch-
chaldäische Zeitalter in sich begreift, umfaßt einen Zeitraum von ungefähr
3000 bis 747 vor Christus und steht im Zeichen des Stieres. Sie birgt eine
große Wandlung des menschlichen Bewußtseins: man tritt in das heilige
Dunkel des Hermes und des Moses als eines Eingeweihten in die
ägyptischen Mysterien. Wenn davon die Rede ist, daß dieser gewaltige
Zeitraum die Jahre 2907 vor Christus bis 747 vor Christus umfaßt, so darf
der Leser nicht etwa denken, es träten für den Adepten der
Geheimwissenschaft die ägyptische Kultur und die ihr gleichzeitigen
Kulturen mit dem Glockenschlage des Jahres 2907 vor Christus in die
Erscheinung. Das ägyptische Bewußtsein beginnt mit einer
Fixsternweisheit, die ungefähr von 5702 bis 4242 v. Chr. reicht und umfaßt,
von 4242 bis 2782, eine Periode der Planeten-, von 2782 bis 1322 v. Chr.
eine der Elementen-Weisheit und von 1322 v. Chr. bis 138 n. Chr. ein
»Sinneswissen«. Es handelt sich hier um die sogenannten Sothisperioden,
deren eine mit dem Jahre 1322 v. Chr. abschließt. Wenn nun
davon gesprochen wird, daß die eigentliche ägyptische Kulturperiode von
2907 bis 747 v. Chr. reicht, so ergibt sich daraus von selbst, daß diese
Periode schon den Abklang der sogenannten Elementenweisheit bringt und
daß das niedere Sinneswissen, gekennzeichnet durch das Erlöschen des
Elementenbewußtseins, innerhalb dieser Periode merklich einsetzt. So ragt
die Hermeskultur, der Impuls des altägyptischen Kulturkreises, noch tief
hinein in die altpersische Zarathustrakultur. Die dritte Epoche der
nachatlantischen Zeit beginnt bei den Völkern, die durch Wanderzüge in
Vorderasien und Nordafrika zusammenströmten. Hatte der nachatlantische
Mensch im allgemeinen die Sendung, das Sinneswissen zu entwickeln und

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 60


den versiegten Mysterienstrom darin neu aufleuchten zu lassen, so spielt
diese dritte Kulturepoche eine bedeutsame Rolle in der Geschichte der
Besitzergreifung der Erde durch den Menschen. Richtet schon der alte
Inder seine Seelenverfassung auf die physische Welt, die er allerdings als
eine Täuschung ansieht und der er die übersinnliche Welt vorzieht, so zeigt
sich in der urpersischen Epoche das Bestreben der nachatlantischen
Menschen, von der physisch sinnlichen Welt Besitz zu ergreifen, weit
deutlicher; allerdings versucht er das noch mit den Resten jener alten
hellseherischen Kräfte, die ihm geblieben sind. Ein anderes Profil zeigt der
nachatlantische Mensch der dritten alten Kultur. Die Völker dieses
Zeitkreises haben ihre übersinnlichen Fähigkeiten zum großen Teile schon
eingebüßt, aber indem sie ihre Verstandeskräfte und ihr Denkvermögen
darauf anwenden, die geistigen Gesetze zu erforschen, die hinter der
physisch sinnlichen Welt wirksam sind, entstehen bei ihnen, keimhaft,
schon die ersten Anzeichen dessen, was man menschliches Wissen und
menschliches Forschen nennen kann: Sinn für Kultur und Technik, für
Kunst und Arbeit, für Werkzeug und Mittel. Der alte Ägypter fühlt sich der
Erde durch seine Arbeit verbunden. Das geheime Wissen, erworben durch
Merkur- und Venusorakel, sammelt sich in den Mysterienstätten, von denen
die Keime zur Gesamtkultur des ägyptischen Kreises gepflegt und
entwickelt werden. Mit diesem Komplex ist der Name Hermes als der eines
Eingeweihten aus dem altpersischen Kulturkreis verbunden, der auch in die
Zarathustrageheimnisse Einblick besaß. Im altägyptischen Volke lebt eine
starke, auf das Wesen des Todes gerichtete Strömung. Wohl erscheinen
ihm die Dinge der Außenwelt als Ergebnisse der Arbeit geistiger
Wesenheiten, die sein profanes Auge nicht mehr schauen kann, aber er
sammelt ein bestimmtes Wissen um die Verhältnisse nach dem Tode, um
das Leben und Wirken mit denselben geistigen Wesenheiten, deren Wirken
in der physisch sinnlichen Welt er bei Lebzeiten erkannte. Der ägyptische
Mensch muß auf Erden so wirken, daß er sich nach dem Tode mit diesen
Mächten vereinigen kann, mit der obersten dieser Mächte vor allem: mit der
Osiriswesenheit. Stärker wohl als die Ägypter empfinden die Chaldäer und
Babylonier den Reiz der physisch sinnlichen Welt. Ihr übersinnliches
Bewußtsein verdunkelt sich rascher und gründlicher. Wohl erforschen auch
ihre Eingeweihten die Welt der geistigen Urbilder, aber das Volk frönt
seinem Hange, an die Stelle des Sternengeistes die Sterne selbst zu
setzen und physisch sinnliche Kräfte durch Götzenbilder zu materialisieren.
Zwischen den babylonischen und assyrischen Priestern, soweit sie in die
Mysterien eingeweiht sind, und dem profanen Volk entwickeln sich tiefe
Gegensätze, denen man oft genug, ja fast durchgehends, in der Geschichte
des Hebräervolkes und seines Kampfes mit den Eingeweihten und
Propheten jener Zeit begegnet. Von diesem Aspekt des dritten
Kulturkreises muß noch gesondert gesprochen werden; das Volk Moses'
und der Propheten nimmt durch seine Wesensverbindung mit dem
Christusereignis eine ganz eigenartige Stellung in der Geschichte der

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 61


Menschheit ein. Wichtig bleibt hier die Feststellung, daß Moses ein Adept
der hermetischen Weisheit war, ein Umstand, den man in der exakten
Geschichte unserer hervorragenden Altertumshistoriker vergeblich sucht.
Für diese guten Leute hat es einen Hermes (nicht einmal den
geschichtlichen) niemals gegeben, zweifeln sie doch heute auch schon an
der geschichtlichen Realität des Moses, und Kroll hat viel Fleiß in seinem
Buche daran gewendet, nachzuweisen, daß alles, was hermetisch genannt
wird, nichts ist als ein Niederschlag griechischer Philosophie. Um so
wichtiger erscheint es, sich hier mit Hermes, dem dreimalgrößten, zu
befassen.

IX. Hermes trismegistos


Der aufmerksame Leser okkulter Bücher begegnet dem Namen des
Hermes am häufigsten in der alchimistischen Literatur, die die erhabene
königliche Kunst der Verwandlung ohne Umschweife eine hermetische
Kunst, geübt von den Rosenkreuzern, nennt und deren oberste Grundsätze
in der sogenannten Tabula smaragdina enthalten sind. Da es sich in
diesem Abschnitt zunächst um den Hermes als Initiator der altägyptischen
Kultur handelt und der Alchimie im Lichte unserer Zeit ein besonderer
Abschnitt dieses Buches gewidmet ist, erübrigt hier, bloß von der
Wesenheit des Hermes in historischem Sinne zu sprechen. Die Verwirrung,
die um das Wesen Hermes' herrscht, wird in erster Reihe dadurch
vermehrt, daß er allenthalben auch unter anderen Namen auftaucht, von
denen Tot, Thod, Tehu und Tehuti (auch Tech und Techuti) die
gebräuchlichsten sind. In den ägyptischen Überlieferungen erscheint Thot =
Hermes häufig als Mondgott, in Verbindung mit dem Mondgott Xunsu und
dem Hundskopfaffen(auch von der Hieroglyphe des Mondes begleitet),
dem, zur Entsprechung, im 15. unterägyptischen Nomos eine Göttin Thot,
als Beschützerin der »Liebeslust bis zur Sättigung«, zugeordnet wird; er ist,
nach den ägyptischen Quellen, ein »Teiler der Zeit, Bewohner des Himmels
und Zähler der Sterne«, auch Bewohner der Welt und Zähler alles dessen,
was in ihr ist, Herrscher über Maß und Zahl überhaupt, dem die Elle als
Maß zugeschrieben wird, Urheber alles Gesetzmäßigen und Geregelten in
der Natur, innerer Sinn aller Dinge, Schützer aller irdischen Gesetze, und,
als Hüter der heiligen Sprache, die Zunge des Râ und Verkünder seines
Willens; was aus der Öffnung seines Mundes hervorquillt, geschieht; was er
ausspricht, wird Befehl; Hermes-Thot ist der Träger der Erkenntnis und der
Eröffner des Verborgenen; als »Schreiber der neun Götter«, des »Königs
der Götter und Menschen« ist er, ein Gott der Schrift und aller bildlichen
Darstellung, Verbreiter der göttlichen Wahrheit, Gott der Bibliotheken, des
»großen Hauses des Lebens«, und es gibt überhaupt »keinen Gott, der
Hermes gleicht«. In einem Hymnus auf Thot wird er als Der gepriesen, der
die Regeln dessen macht, was da ist und was nicht ist; im 64. Kapitel des
Totenbuches ist Thot ein Gott der Intelligenz, ein Arzt und Magier zugleich,
der Gesundheit und Leben gibt, aber nach dem Tode des Menschen

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 62


beginnt seine Tätigkeit erst recht; dem Toten gibt man »das Buch vom
Odem des Thot« als Führer bei der Reise in das »Land« mit, wo das
Schweigen wohnt. Dem christlichen Vorstellungskreise nähert sich die
Behauptung, daß Hermes-Thot ein menschgewordener Gott ist. In seiner
ersten Inkarnation wird er ein (jetzt längst verstorbener) König; ein Buch,
das er mit eigener Hand angefertigt hat, stiehlt, im demotischen Roman des
Setnau zu Bulak, der Prinz Ptahneferku und »verzaubert«, auf diese Weise
in den Besitz der hermetischen Geheimnisse gelangt, »Himmel und Erde,
Meer und Berge«; hat man das zweite Blatt dieses Buches gelesen, so
kann man die Unterwelt in derselben Gestalt verlassen, die man auf Erden
besaß, »um die Götter im Himmel und die Sterne zu schauen«. Thot meldet
den Frevel dem Gotte Râ, der den Prinzen und dessen Helfer umkommen
läßt. Von Thot als Theut erzählt Platon im »Philebos« und »Phaidros«, von
Hermes im »Kratylos«, im »Protagoras« und in den »Nomoi«, vom
»Hermuaster«, vom Stern des Hermes, im »Timaios«; Platons Nachfolger
verehren in ihm den Logios und Träger der Hermeneia als Vertreter des
Nus im Weltall. Ovid preist ihn als Erfinder der Sprache. Bei den
Neuplatonikern spielt er eine große Rolle. Plutarch nennt Isis eine Tochter
des Hermes; er hat fünf Tage, als Gewinn im Brettspiel mit Selene, den 360
Tagen des Jahres hinzugefügt. Aus allen diesen Aussagen ist zu ersehen,
wie fest sich die Gestalt des Hermes als eines großen Eingeweihten dem
Bewußtsein des Altertums eingeprägt hat. Hermes hat nicht nur das
Geistige gelehrt, sondern auch in dessen Betätigung unterwiesen. Da er die
ganze physische Welt für eine Schrift der Götter erklärt, verstand sich von
selbst, daß er auch mit der Kunst vertraut machte, diese Götterschrift zu
lesen. In den Geheimschulen aber lehrt er die Wahrheit über das
Geheimnis des Todes, den Durchgang durch die elementarische Welt: das
Schauen der Sonne um Mitternacht und die Begegnung mit den unteren
und oberen Göttern. Mit dem Schauen der Sonne um Mitternacht beginnt
die eigentliche hermetische Einweihung. Durch diesen Hinweis ergibt sich
zugleich Gelegenheit, sich mit der ägyptischen Geheimlehre zu befassen,
die in der Dreiheit Osiris (Sonne), Isis (Mond) und Horuskind, geboren aus
Typhon, dem Lufthauch, gipfelt.

X. Das Totenbuch
Nicht ohne Lächeln und Staunen sieht man den Bemühungen zu, die
gewisse Herausgeber okkulter Dokumente immer wieder darauf
verwenden, die Meinung zu zerstören oder doch herabzusetzen, daß diese
Dokumente auf übersinnliche Zusammenhänge, Erfahrungen und
Erkenntnisse hindeuten. Das gilt sowohl für die Erneuerer indischer
Literatur wie für die Versuche des Diederichsverlages, zu behaupten, das
ägyptische Totenbuch beruhe ebenso auf »abergläubischen Vorstellungen«
wie die »Bhagavadghita«. Wohl geben sie zu, daß Ägypten sozusagen die
Wiege aller Wissenschaft und Religion darstelle, aber ihr profanes Auge ist
gänzlich außerstande, Pyramiden, Sphinx und Symbol der geflügelten

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 63


Sonne anders als mit nüchternen und phantasielosen Gefühlen zu
schauen. Welch armseliges Bild des alten Ägypten kommt zum Vorschein,
zwingt man sich, Eduard Meyers ägyptische Darstellungen für das Letzte
zu nehmen, was die »exakte« historische Wissenschaft über dieses uralte
Wunderland zu sagen weiß! Das Geheimnis, das dem alten Ägypter mit
dem Tode entgegentrat und das im Totenbuch in seiner ganzen erhabenen
Schönheit verborgen liegt, ist ihm ein Buch mit sieben Siegeln. Der
schlechte Führer im Totenbuch, der den Kopf nach rückwärts wendet, weil
er den materiellen Instinkten dienen will, der gute, der vorn am Bug des
Totenschiffes steht und ins Dunkel vor sich blickt, wo die göttliche Welt als
Reiseziel liegen muß, sie bleiben für den stumpfen Intellekt des
wissenschaftlichen Betrachters ewig stumm. Vor der Mauer des
Totenbuches stehen die Herren ohne Erlebnis, der »Saal der Wahrheit«,
darin Osiris Gericht hält und Hermes als Zeuge auftritt, sagt ihnen nichts,
der Habicht mit dem Menschenkopf, der über der Mumie schwebt, ist ein
mystisches Geschöpf des unsterblichen »Aberglaubens«, der alle
»primitiven« Völker erfüllte. Worum es ging, als die Hyksos in Ägypten
einbrachen und die Priester Ägyptens in die Tiefe ihrer Tempel flüchteten,
um dort die Seele des Volkes und das alte Wissen des ägyptischen
Kulturkreises rein zu bewahren, ahnen sie nicht; wie sollte ihnen auch
einleuchten, daß die Kraft, die der Befreier nach vier Jahrhunderten
Knechtschaft brauchte, um das Joch des Fremdvolkes abzuschütteln, aus
diesen heiligen Quellen empfangen ward? Woher sollen sie die Erleuchtung
nehmen, die nötig ist, um das ungeheure Drama vom zerstückelten Osiris
und der Isis, die seine Teile sammelt, in seine tiefsten Tiefen hinein zu
verstehen? Der Name Hermes, des dreimal Größten, ist Schall und Rauch
für sie, und keiner weiß, was er mit dieser »mythologischen Figur«
beginnen soll. Welchen Scharfsinn bringen sie nicht auf, um zu beweisen,
daß es mit dem Geheimnis der Cheopspyramide nichts ist und daß nur
Schwärmer sind, die annehmen, es gebe geheime Dinge auf dem Boden
der sakralen Bauten des alten Ägypten. Dabei genügt es, den einfachen,
klaren, unverdorbenen, durch Vorurteile nicht vergifteten Verstand zu
gebrauchen, soll sich das Dunkel, das Hermes und die ägyptische Welt
vom großen Chorus des »Intellekts« abschließt, erhellen. Der Leser kann in
den Büchern Eduard Schures mehr Exaktes über Hermes und das alte
Ägypten finden als in allen wissenschaftlichen Schmökern der Historiker
zusammen. Es ist allerdings nicht leicht, sich in diesem Dunkel
zurechtzufinden. Dem Durchschnittsmenschen unserer Zeit kann man
schwer begreiflich machen, daß der Name Hermes nicht etwa nur eine
Persönlichkeit deckt. Der erste Hermes, der Initiator der altägyptischen
Hellseherkultur, der dreimal Große genannt, ist nicht jener spätere Hermes,
der die Impulse des großen Hermes wieder aufnahm und erneuerte, und
doch geht nicht fehl, wer die Namen Hermes, auf zwei verschiedene
Gestalten verteilt, im Sinne der Einweihung für Eines nimmt! Die moderne
Wissenschaft, die manchmal, in lichten Augenblicken, die Stimme ihres

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 64


besseren Gewissens rufen hört, ist in einer Anwandlung von Schwäche des
öfteren bereit, mit sich reden zu lassen; sie willigt, um ein Beispiel
anzuführen, gern darein, mit den »Begriffen« Osiris und Isis gewisse
astronomische Vorstellungen zu verbinden und Osiris der Sonne, Isis aber
dem Monde zuzuordnen. Dieses unschuldige Spiel mit Symbolen hat aber
natürlich mit tieferem Wissen um Seele und Kultur des alten Ägyptens
nicht: das geringste zu tun. Aus den bloßen »astronomischen
Auslegungen« und Zuordnungen entspringt nicht ein Tropfen lebendige
Einsicht in den wahren Stand der Dinge. Etwas näher kommt die
Wissenschaft schon der Wahrheit, wenn sie sich entschließen kann, unter
Osiris und Isis »Kräfte« zu verstehen. Selbst der trockenste Gelehrte wird
die Vorstellung, der alte Ägypter habe etwas wie Osiriskraft in sich gefühlt,
nicht zurückweisen und sogar gewissermaßen einräumen, es habe einen
Zusammenhang zwischen jener Osiriskraft und der Sternenschrift am
Firmament gegeben, so daß das Sonnenlicht, das den Raum durchwebt,
die tätige Lichtkraft, jener Osiriskraft verwandt ist. Gedankengänge dieser
Art weiterspinnend, wird ein Gelehrter dieses Schlages vielleicht sogar bald
dazukommen, so wie der Mond, kalt und dunkel, das Licht der Sonne
verwertet, um es zurückzuwerfen, die Isiskraft als eine Mondkraft
anzusehen. Mit Betrachtungen dieser Art betritt der Wissenschafter solcher
Art allerdings schon das große Gebiet der Entsprechungen und Parallelen,
das sozusagen einen der Hauptschlüssel zum Verständnis okkulter
Probleme in sich birgt. In Wahrheit handelt es sich um ein tief ausgebildetes
Wissen um Gang und Ziel der altägyptischen Einweihung, um den Weg zu
Osiris durch den Tod oder durch die Einweihung und Durchdringung mit der
Isiskraft.

XI. Der Tote als Osiris und die Begegnung mit Isis
Auf zweifachem Wege begegnet der Mensch der altägyptischen Kultur,
dem Osiris: durch den Tod und durch die Einweihung; vom Leibe befreit,
erwacht das Bewußtsein seiner Wesensverwandtschaft mit dem Osiris, der
Tote wird Eins mit Osiris, er selbst ist Osiris. Auf dem anderen Wege, auf
dem Pfade der Einweihung, lernt er das Unsichtbare, das Übersinnliche der
menschlichen Natur erkennen, er begegnet Isis, erfüllt sich mit der Isiskraft.
Im eigenen Innern entdeckt er sein Ich; er stirbt auch auf diesem Wege,
aber es ist ein Tod, durch den er hindurchgeht. dem Erlebnis des Todes,
das der Eingeweihte hat, folgt seine Wanderschaft, sein Durchgang durch
die elementarische Welt. In sein Inneres absteigend bis in das Geheimnis
des Blutes, darin das Ich lebt, kommt er an ein offenes und ein
geschlossenes Tor und geht nun an die Feuer-, Luft- und Wasserprobe, zu
den drei Hauptaspekten der elementarischen Welt; er schaut die geistigen
Wesen von Angesicht zu Angesicht: die Sonne um Mitternacht geht für ihn
auf; außerhalb des physischen und ätherischen Leibes bei seiner
Wanderung, betritt er damit die heilige Stätte, mit dem Wesenhaften
vereinigt, das von Inkarnation zu Inkarnation geht und am astralischen

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 65


Leibe arbeitet; aus dieser Wesenhaftigkeit strömen Licht und Kraft, aber sie
selbst bleibt stumm und die Seele wird von einer gewaltigen Sehnsucht
ergriffen, das Rätsel des Daseins zu durchdringen. Aus der Wesenheit, mit
der er nun vereinigt ist, wird seit uralten Zeiten immer wieder eine neue
Wesenheit gestaltet, und das Wesen, das da entsteht, aus dem Wesen
geboren und selbst Wesenheit, schaut nun Isis: die stumme, die
schweigsame Göttin; Sphärenmusik durchzieht den Bewußtseinsraum,
Osiris ist es, Sohn und Gemahl der Isis, dessen Weltenwort ertönt, und die
nun zurückkommen von diesem Lande, fühlen sich, bis zu einem
bestimmten Zeitpunkt der ägyptischen Einweihung wenigstens, als »Söhne
der Witwe«, im Räume zwischen der Osiris- und Isiseinweihung, dort, wo
die Einweihung des Moses einsetzt. Moses fügt der Isiseinweihung die
Osiriseinweihung hinzu; das ist der wahre Sinn der ägyptischen
»Knechtschaft« und von hier führen erhabene Wege bis hinauf ins neunte
Jahrhundert nach Christus, bis zum Geheimnis des Grals. Das Land des
Nils las Menschen- und Schicksalsgeheimnis aus der Schrift der Sterne.
Aus der Sternenschrift empfing Hermes-Thot sein Wissen. Mit jedem
großen Sonnenjahr aber nahm die hellseherische Kraft um eine ganze
Stufe ab. Der Sternenhimmel spiegelt sich allerdings auch im menschlichen
Organismus; so kam der alte Ägypter zu seinem Wissen um den
Organismus des Menschen, zu einer Organwissenschaft von besonderer,
exakter Anschaulichkeit. Ich kann mir beim Abschluß dieses ganz flüchtigen
und die erhabensten Punkte der ägyptischen Einweihung berührenden
Bildes nicht versagen, diesem ein erquickend frohes Nachspiel folgen zu
lassen. Eine schier unerschöpfliche Quelle der Heiterkeit wird die Vorrede,
die der Diederichsverlag seinen »Urkunden zur Religion des alten Ägypten«
vorangeschickt. Roeders und Völlers sind darin einig, daß die alten Ägypter
ein »barbarisches Volk ohne höhere Kultur« gewesen sind; daß ihr Glaube
»primitiv« und »ohne viel Reflexion« war; daß sie eine »Kinderpuppe« von
»rohem Götzenbild, namens Ptah« anbeteten; daß sie die Bilderschrift
benützten, um »Rechnungen und Nachrichten« zu Papyrus zu bringen; daß
die ägyptische Religion »in der Hand der Landeskirche« war; daß die
»Sonnenlieder« des Ägypters nicht ohne »poetischen Reiz« gewesen sind;
daß der alte Ägypter ein »starkes Gottesbedürfnis« besaß; daß der Tod
dem Ägypter alle Zeit hindurch »etwas nicht Unsympathisches« schien; daß
die »Ernennung« des Toten zum Osiris »nicht viel mehr als die Verleihung
eines schönen Titels« bedeutete; daß die »Abschließung des Tempels
gegen die Außenwelt« und die »Heranbildung eines besonderen
Priesterstandes« eine Erfindung »priesterlicher Betrüger« gewesen ist; daß
die ägyptischen »Vorstellungen« später »verarmten« und ganz
verlorengingen; daß »Plutarch den ägyptischen Pantheon verfälschte und
verzeichnete«; daß Goethe, Herder, Heine und die Romantiker leider alle
»im Banne der Mystik« standen, wenn sie vom alten Ägypten redeten; daß
Hegel die ägyptische Religion unbegreiflicherweise eine »Religion der
Rätsel« nannte, daß aber die »neuere Ägyptologie« der ganzen Sache

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 66


einen »anderen« Anstrich gebe! Nach der neueren Ägyptologie hätten sich
die Ägypter der Urzeit in einem »Zustande« befunden, der sich nicht viel
von dem heutigen Afrikaner mit unentwickelter Kultur unterscheidet«; der
Untertan der Pharaonen erscheine »uns« nicht mehr als ein »von
mystischen Ideen erfüllter Denker«, sondern als ein »schlichter, realer
Mensch und sorgloser Genießer irdischer Freuden«; »Gefühle« wären
durchaus nicht des Ägypters Sache; »Poesie« ersetze er durch »Pathos«,
und »so komme es«, daß »wir« trotz der »übergroßen Fülle religiöser
Texte, vom Glauben des alten Ägypters so wenig wissen«! Dieses
kindische, dilettantische Gestammel, diese ungeheure Blamage der
Ägyptologie, dieses kopflose Herumraten und Herumtasten an den alten
Dingen ist wahrhaftig lange genug als Wissenschaft gepriesen worden!
Diese absolute Unfähigkeit, verschärft durch die Dreistigkeit hohlköpfiger
Rechthaber, ist ein europäischer Skandal, an dem leider wir Deutsche mit
einem großen Prozentsatz beteiligt sind. Nichts kann den falschen Gang,
den unsere Intellektkultur genommen hat, besser illustrieren als dieses
dünkelhafte Getue, das vor Freud, Einstein und Shaw auf dem Bauche liegt
und dabei blind und taub vor den erhabenen Denkmälern der alten
Gotteskulturen steht, die es weder zu deuten noch zu fassen vermag!
Dieses ganze Gelehrtenpack, das Goethe »mystischer Neigungen«
bezichtigt und dank der »neueren Ägyptologie« zu einem Dummkopf
machen möchte, ist, so hoffe ich, am Ende seines Unfugs angelangt. Der
Materialismus und seine letzten Ausläufer liegen in den letzten Zügen; er
verdient, mit seinen Büchern und seiner Wissenschaft aus der Erinnerung
der Menschen für immer zu verschwinden, ausradiert und vertilgt für alle
Zeiten ...

XII. Moses als ägyptischer Eingeweihter


Im Jahre 1322 v. Chr. führt Moses, eingeweiht in das »Elementenwissen«
der ägyptischen Geheimlehre, sein Volk aus Ägypten. In den Wundern, die
von ihm. erzählt werden, spielen die Elemente Wasser, Feuer und Luft eine
große Rolle. Er schlägt mit dem Stab gegen einen Felsen und schafft
Wasser für sein dürstendes Volk, im brennenden Dornbusch erscheint ihm
der Herr, der »Ich-bin« als »der Ichbin« (die Aussage »Ich bin« wird zum
Namen »der Ichbin«), aus der Luft unter Donner und Blitz empfängt er die
zehn Gebote (sie sind im erhabensten Sinne: aus der Luft gegriffen) und
die Wunder, die er wirkt, um das Herz des Pharao zu erschüttern,
geschehen mit Hilfe der Elemente. Beherrscht sein Bruder Aaron Erde und
Wasser, so sind Feuer und Luft die Elemente des Moses. Vor das Rote
Meer hingestellt, führt er das auserwählte Volk, der elementaren
Zusammenhänge kundig, vertraut mit Ostwind und Ebbe und Flut, zu
günstiger Stunde und gelegenen Aspekten durch die Wogen. Die Ägypter
ertrinken darin; ihre hellseherische Erkenntnis der; Elementenweisheit
verdämmert langsam, ihr Wissen um die Naturkräfte und elementaren
Zusammenhänge ist verlorengegangen, sie gehen irre und schreiten dem

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 67


Untergang ihrer Kultur zu. Auf das Sinnenwissen angewiesen, erwerben sie
das Ich-Erlebnis, das Elementenwissen für die vier Gruppenseelen der
Sphinx preisgebend. Sucht man nach »evidenten« Belegen für diese
Wandlung in der ägyptischen Geschichte selbst, so finden Sie sich reichlich
genug in der Geschichte Amenophis, des Vierten, der als Eingeweihter des
»Ich« den alten Göttern den Bücken kehrt, an die Stelle des Ammon den
Aton setzt und seinen Namen Amenophis in Echnaton ändert. Im
Sonnenhymnus des Echnaton wird schon die physisch-sinnlich
wahrnehmbare Sonnenscheibe gepriesen. Von Buddha, Zarathustra und
Hermes unterscheidet sich die Gestalt des Moses für uns in mancherlei
Hinsicht. Der Eingeweihte, der Führer des jüdischen Volkes, steht unserem
Erlebnis weit näher, seine Impulse wirken noch auf die heutige Menschheit.
Seine überragende Gestalt erscheint gleichsam am ersten Tore, das zu
unserer Zeit führt. Er ist noch heute populär in gewissem Sinne, und die
Bibel des alten Bundes, das unsterblichste aller vorchristlichen Bücher,
erscheint unserem Bewußtsein in heller Erinnerung als etwas Bekanntes,
ins Wesen Aufgenommenes. Rudolf Steiner hat zum erstenmal auf die
tragische Situation der offiziellen Bibelforschung hingewiesen. Eine
Unsumme von Gelehrsamkeit, ein Übermaß von eisernem Fleiß ist darauf
verwendet worden, zu beweisen, daß die Geschichte des sogenannten
alten Testamentes, Stück für Stück, die Überlieferung aus verschiedenen
Zeitabschnitten zusammengesetzt hat. Die Bibelforschung, unermüdlich in
ihrer Kunst der Synthese und der Analyse, erreicht ihr höchstes Ziel in der
Erkenntnis des Ursprungs der heiligen Schrift. Heiliger als die Schrift selbst
ist ihr die Wissenschaft um deren Herkunft. Die Bibel des alten
Testamentes ist ein Geschichtsbuch und zugleich eine grandiose
Psychologie und Geistgeschichte. Mitten unter den granitenen Quadern des
Geschehens in Zeit und Raum finden sich, wesensgleich, ganze Partien
symbolischer Art und übersinnlicher Schauungs- und Denkweise. Die
Genesis ist ein Bericht und ein Einweihungsdokument zugleich, und
nirgends wird dieser erhabene Umstand klarer als dort, wo von Moses
selbst die Rede ist. Philo, der die althebräische Geschichte mehr von der
symbolischen und seelischen Seite nahm, war außerstande, die Trennung
zwischen äußerem Geschehen und innerer Erlebnisfolge deutlich zu
ziehen. Erst die moderne, von Rudolf Steiner begründete
Geisteswissenschaft darf mit Fug und Recht davon sprechen, daß sie
volles Licht auf die Sendung des Moses im Rahmen der alten Kulturen wirft.
Hat sich Laistner in seinem Buch vom »Rätsel der Sphinx« verhältnismäßig
am weitesten vorgewagt, indem er den »Mythus« als die Fortsetzung der
Träume eines Volkes und einer Kultur ansah, so setzt die
Geisteswissenschaft ganz klar und präzise die Forschung über Mythen auf
eine Wirklichkeitsgrundlage, nämlich darauf, daß die alten Kulturen,
Religionen und Einweihungen einzig und allein aus dem
Bewußtseinszustand ihrer Zeit zu erklären sind. Wohl stellen sie in den
Hauptwahrheiten gemeinsames Gut dar, aber nichts ist

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 68


unwissenschaftlicher, als anzunehmen, die Verschiedenheiten der
Anschauung wären bloß zufällige und stammten nicht etwa aus dem
besonderen Bild besonderer Sendungen, die eben den alten Kulturen eigen
waren. Die alten Völker hatten alle eine bestimmte, zeitlich und räumlich
begrenzte Sendung zum Gesamtbild der menschlichen Entwicklung. Jedem
Volk schlug seine erhabene Stunde, jede der alten Kulturen weist Jugend,
Höhepunkt und Verfall auf. Mußte sie fort, so war eben ihre Uhr abgelaufen.
Was die eine Kultur, das eine Volk, nicht mehr vermögen, geht an eine
andere Kultur und auf andere Völker über. Was in der Sendung der
altägyptischen Epoche lag, wirkte auch im seelischen und geistigen Wesen
des Moses, aber nichts wäre ihm unmöglicher gewesen, als die
ägyptischen Impulse einfach fortzusetzen. Auf den alten Stamm pfropft der
Eingeweihte der althebräischen Kultur ein neues Reis, aus den Ruinen der
altägyptischen Kultur läßt er neues Leben ersprießen, und von diesem
erhabenen Standpunkt erhält auch die Erzählung der ägyptischen
Königstochter, sie habe das Knäblein »aus dem Wasser gezogen« und
Moses genannt, ihren tiefen esoterischen Sinn. Die Vertreterin der alten
ägyptischen Kultur fand auf ihrem Wege eine »Seele«, die »mit (neuen)
Ewigkeitsgehalten« erfüllt war. Die Geschichte des Lebens, das Moses
geführt hat, verläuft in der Bibel zunächst als ein Bericht über äußere
Geschehnisse, aber schon die Zusammenkunft mit dem midianitischen
Priester Jethro oder Reguel führt, wie Steiner gezeigt hat, tief in das
esoterische Dunkel. Hier schwimmen äußerer Bericht über Moses und
Darstellung innerer Erlebnisse merkwürdig durcheinander. Jethro ist als
nichts anderes, denn als ein Führer der Lehrer der Menschheit anzusehen.
Moses begegnet in Jethros Töchtern den 7 menschlichen Seelenkräften ...

XIII. Moses und Josua


Rudolf Steiner faßt die Sendung des Mose in den Satz zusammen, es
habe sich um Ablösung des alten Hellsehens durch das intellektuelle
Verstandesbewußtsein gehandelt. Diese Feststellung hängt mit der
Einteilung Steiners zusammen, der Empfindungs-, Verstandes- und
Bewußtseinsseele unterscheidet. Es möchte nun, auf den ersten Blick,
manchem Unbefangenen scheinen, als wären diese der modernen
anthroposophischen Ausdrucks weise zugehörigen Bezeichnungen zu
Unrecht dem Vorstellungskreise der althebräischen Kultur eingebaut. Man
muß aber wohl bedenken, daß schon die mosaische Schöpfungsgeschichte
in ganz exakter Weise die großen kosmischen Entwicklungsperioden
schildert, daß der siebente Schöpfungstag dieser Urkunde zum Beispiel
dem lemurischen Zeitalter entspricht, daß die »Nebel« der biblischen
Kosmogonie mit den Nebeln der Atlantis zusammenfallen, und daß die in
der Kabbala zum System vereinigten Ausdrücke Nephesch, Ruach und
Neschuma nichts anderes sind als eben jene drei Seelenglieder,
Empfindungs-, Verstandes- und Bewußtseinsseele. Moses' göttliches
Wissen ruht zur Gänze auf dem alten Hellsehen, wie denn auch seine

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 69


Erfassung des Intellektualen als eines Zukunftszustandes noch durchaus
von hellseherischen Kräften rührte. Eben aus diesem Grunde aber war die
Sendung des Moses durchaus begrenzt; er konnte sein Volk nur bis zu
einem bestimmten Punkte führen, was in der mosaischen Überlieferung
darin zum Ausdrucke kommt, daß er selbst Palästina nicht mehr schauen
kann, sondern knapp vor dem Einzug in die höheren Welten abberufen
wird, denen er entstammte. Gerade diese grandiose Andeutung des
Begrenzten in der mosaischen Mission ist aber zugleich ein lebendiger und
schlagender Beweis für diese Sendung selbst, als eine Impulsgebung, die
dem Nachfolger Josua Durchführung und Vollendung überließ und
überlassen mußte. Moses' erhabene Schritte führen bis zur Begründung
der Ichkultur, darin der »Ich-bin« eine zentrale Rolle spielt; Moses gab das
köstliche Gefäß, das den neuen Inhalt aufzunehmen bestimmt war. Man
wird später sehen, was das bedeutet, nämlich nichts Geringeres als eine
Vorbereitung des Geheimnisses von Golgatha, aber schon in der Bibel des
alten Testamentes ist ein Beleg für diesen Zusammenhang zu finden, lenkt
man das Auge auf die höchst merkwürdige und erschütternde Erzählung
vom armen Dulder Hiob, den Unglück über Unglück ereilt, ohne daß sein
Vertrauen in Gott auch nur im geringsten erschüttert worden wäre. Leuchtet
aus dem Drama des Hiob nicht die große Lehre auf, daß, wer sich von Gott
lossagt, austritt aus dem Kreise der lebendigen Wesen? Läßt sich diese
wahrhaft große Lehre überhaupt anders verstehen als aus dem
Christusimpulse? Oder, wie es Steiner ausführt: »Willst du das Ewige in
dein Ich aufnehmen, so mußt du nicht bloß die Zusammenfassung des
Zeitlichen, nicht bloß die Jahveeinheit hinter allem im Raum und Zeit
Ausgebreiteten erkennen, sondern auch den konzentrisch hinter aller
Einheit selbst gegebenen Christusquell.« Darum ist Moses überhaupt nichts
anderes als der große Wegbereiter des Christus Jesus in der menschlichen
Entwicklung. Man kann aber, nach Festlegung dieser erhabenen
Tatbestände, von der Gestalt des Moses nicht Abschied nehmen, ohne auf
zwei wichtige Momente des Mosesproblems hinzuweisen: auf die
Empfängnis der zehn Gebote und auf die esoterische Bedeutung der fünf
Bücher des Moses. Die unerhört dramatische Szene des Erlebnisses auf
dem Sinai birgt nichts Geringeres als eine fundamentale Setzung der
Kardinalpunkte dessen, was den Menschen zum Menschen macht, als eine
lapidare Zusammenfassung der göttlichen Minimalforderungen an die
Menschheit. Daß es Gebote sind, daß sie Gesetzescharakter haben,
beweist, wie aus dem alten Hellsehen in die aufkeimende Ichkultur Impulse
einströmen, die in Befehlsform eingebaut werden müssen, weil sie das
noch schwache Ich noch nicht aus sich selbst erleben und erfassen kann.
Der Befehlscharakter der zehn Gebote kennzeichnet die Bewußtseinsstufe
der althebräischen Kultur in vollkommener Weise. Was aber die fünf Bücher
des Moses betrifft, so kann an dieser Stelle nicht unterlassen werden, auf
Fabre d'Olivets großartige Arbeit über die Wiederherstellung der
hebräischen Sprache nach ihrem Geiste und esoterischen Gehalt

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 70


hinzuweisen. Man verdankt Fabre d'Olivet nichts Geringeres als die erste,
den esoterischen Sinn der Mosaischen Kosmogonie wiedergebende
Übertragung des Offenbarungstextes, die zugleich den lebendigen Hinweis
auf die Elohim als Helfer des Weltenschöpfers enthalten und die Lehre von
den Hierarchien der Engel in sich bergen, die später bei Dionysios, dem
Areopagiten, und im ehrfurchtgebietenden Riesengebäude der Kabbalah
ihre glorreiche Auferstehung feiern. Über die Kabbalah selbst wird in einem
späteren Abschnitt noch zu sprechen sein. Hier sei nur eine Bemerkung
gestattet, die das wunderliche Treiben des Antisemitismus und der
Zionisten betrifft. Beweisen die Antisemiten von heute, daß sie unwissend
bis auf die Knochen sind und keinen Zusammenhang mit dem innersten
Heiligtum des Menschengeheimnisses haben, so beeilen sich die
nationalen Juden bei jedem Anlaß, zu betonen, daß sie Freigeister und
voraussetzungslose Skeptiker sein wollen, die ihr eigenes Nest
beschmutzen, indem sie ihren ungeheuren Besitz an esoterischer Kultur
geringschätzig beiseite schieben ...

XIV. Die griechisch-lateinische Zeit


Die gedrängte Schilderung der alten Kulturen und der esoterischen
Impulse, die sich darin offenbaren, wäre nunmehr bis zur griechisch-
lateinischen Zeit vorgeschritten, die von 747 v. Chr. bis ungefähr 1413 n.
Chr. anzusetzen ist und im Zeichen des Widders steht. Sie enthält, als in
die Mitte der sieben Entwicklungen der nachatlantischen
Entwicklungsperioden gelagert und schon darum für die Geschichte der
Menschheit entscheidend und bedeutungsvoll, das Christusereignis, den
großen Wendepunkt im Leben der Erde und die Vorbereitung unserer
Kultur, die im Zeichen der Fische zu denken ist. Nicht die Geschichte des
Griechen- und Römertums bis zum Zeitpunkt des Ereignisses von
Palästina, sondern die Bewußtseinslage der griechisch-lateinischen Zeit ist
hier zu berühren; zu zeigen ist, wie gerade sie den Nährboden für dieses
Erlösungs- und Überwinderdrama abgibt und wie sie, nach seiner
Zusammenfassung aller alten Einweihungen und alten Geheimwissens, die
esoterische Erkenntnis und Lebenshaltung auf vollkommen neue
Grundlagen stellt, indem sie das »Ichbin« der vorangehenden Kultur in die
andere heilige Grundformel »nicht ich, sondern der Christus in mir«
verwandelt. Es kann sich an dieser Stelle nicht darum handeln, ein
geschichtliches Bild der griechisch-lateinischen Entwicklung zu geben, noch
darum, das Erlöschen des alten Hellsehens, schon in den Ausläufern des
ägyptisch-hebräisch-chaldäischen Kreises deutlich wahrnehmbar, an der
Hand einer Betrachtung über die griechische Philosophie und die
Ausbildung des römischen Staats- und Rechtsgedankens zu zeigen. Mit
den Griechen und Römern treten zwei ganz neue Kulturimpulse in die
Geschichte der Menschheit. Ein oberflächlicher Blick auf das Gesamtbild
zunächst des griechischen Wesens ergibt zwei Extreme, in offenkundigem
Zwiespalt: auf der einen Seite das heitere, lebenslustige, bukolische Hellas

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 71


mit seiner reichen Schar an Göttern und Göttinnen, stark sexuell betont,
aber immer froh und schönheitstrunken, auf der anderen das düstere, in
furchtbarer Schicksale und Verhängnisse Blut und Dunkel getaucht,
einsam, traurig und hoffnungslos, dabei national zerworfen und unglücklich
in seinen kriegerischen Unternehmungen. Dort ein Bild des Lichtes, der
Kunst und des fröhlichen Lebensgenusses, hier ein Tableau des Jammers,
wenn auch in der trübsten Tiefe nicht ohne heroische und wahrhaft
imposante Züge. Dabei eine hohe Kultur und bewunderungswürdige Kunst,
die als beider Wesenheiten Mischung erscheint, gekrönt und umschlossen
von den Höhenzügen des griechischen Gedankens, der nach und nach
an die Stelle des alten noch in »Ilias« und »Odyssee« wirksamen
Bilderbewußtseins tritt. Vor dem Griechentum gibt es keine Philosophie in
der menschlichen Geschichte, denn im strengen Sinne lassen sich weder
die Veden noch die Dokumente der Ägypter und Hebräer als Belege für den
Bestand einer Philosophie werten. Um so verborgener blüht die
Geheimwissenschaft der Griechen, im Wesen stark mit ägyptischen Zügen
durchsetzt, sprachlich obendrein durch merkwürdige Parallelen zwischen
dem Griechischen und Hebräischen bemerkenswert. Im alten Griechenland
blüht das Orakelwesen und Priestertum (von Delphi, Dodona u. a.), die
streng genommen, in die Geschichte des Spiritismus gehören. Auf den
Urgrund der griechischen Seele reichen das heilige Drama von Eleusis, die
orphischen Mysterien, die Geheimnisse des Dionysos, Pythagoras und die
Mysterien von Delphi mit ihren Prüfungen, ihrem Neophytentum und den
Vorbereitungen für ein geläutertes pythagoräisches Leben, mit ihren
Zahlenwundern, ihrem kosmischen Wissen, ihrer großen Lehre von der
Wiedergeburt bis zur völligen Tilgung des Karmas, ihrem Magiertum, ihrer
erhabenen Verbindung zwischen Mann und Frau und mit dem tragischen
Ende der pythagoräischen Schule; auf den Urgrund der griechischen Seele
reichen, desgleichen, die Mysterien von Eleusis, denen der himmlische
Platon nahesteht. Wer sich neben diesen schier unerschöpflichen Gebieten
für die Magie der Griechen und den griechisch-ägyptischen
Offenbarungszauber interessiert, findet bei Dr. Theodor Hopfner mit
erstaunlichem Bienenfleiß und vorbildlicher Gelehrsamkeit alles, was vom
Zwischenreich, von den Dämonen, Heroen und Seelen und ihrem
Verhältnis zu Göttern und Menschen, von der Usia der Toten, der
Lebendigen und der Götter, vom wahren Namen, von Zaubergebeten und
Zauberformeln, von Beschwörungen, Anrufungen und Amuletten, von
Gnosis, Theurgie, Magie und Goetie, kurz von Geheimwissenschaften und
dunklen Praktiken zu wissen frommt. Demselben Autor verdankt man auch
kürzere, nicht minder wertvolle Darstellungen der griechischen Mystik und
der griechisch-orientalischen Mysterien. Manch einem von der offiziellen
Philologie und Philosophie verächtlich beiseite geschobenen Forscher
(Creuzer, Gladisch, Roth, Wolfgang Schultz bis hinauf zu Joël) ist
inzwischen zum Teile volle Gerechtigkeit widerfahren, zum Teile aber
verschwinden unberufene rationalistische Einmenger in das antike

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 72


Mysterienwesen, wie de Jong, heute schon lautlos in wohlverdienter
Vergessenheit. Die Geisteswissenschaft Steiners hat inzwischen volles
Licht auch in diesen dunklen Winkel getragen, darin sich die Entfaltung der
menschlichen Verstandes- oder Gemütsseele zu vollziehen begann.

XV. Griechische Mysterien


Die Orphiker waren, so scheint es, die Stifter und Begründer der
griechischen Mysterien; Eumolpos, der von vielen als ihr Stifter und
Begründer bezeichnet wird, gehörte dem orphischen Kreise an; er und
seine Schule, die Wohlsingenden, Eumolpiden, genannt, hatten als Sänger
und Tänzer starken Anteil an den Geheimkulten. Eine sehr klare und
anschauliche Schilderung der kleinen wie der großen eleusinischen
Mysterien entwirft, als einen Versuch zur Rekonstruktion, Uexküll, dem man
auch eine ähnliche Skizze von der ägyptischen Einweihung verdankt.
Gewisse Parallelen zwischen den griechischen und den orientalischen
Mysterien haben Charles Hünerberg, Konrad Schmidt und Oskar Fischer
mit mehr oder weniger Glück zu ziehen versucht, Ita Wegmann ist den
medizinischen Zusammenhängen mit den Mysterien von Samothrake an
der Hand Rudolf Steiners nachgegangen. Die griechische Philosophie, mit
Pherekydes auf Syros einsetzend, ergibt, wie Steiner gezeigt hat, ein
getreues Bild vom allmählichen Erlöschen des alten Hellsehens und
mit diesem der Fähigkeit, die Dinge der übersinnlichen Welten als Bilder zu
schauen. Auf drei Gebieten hat das Griechentum durch Jahrtausende die
Führung behalten: im Drama, in der bildenden Kunst und in der
Philosophie. Bis ins 13. Jahrhundert n. Chr. hat Plato das Geistesleben
beherrscht, indes von dieser Zeit ab Aristoteles und die aristotelische
Schule in den Vordergrund treten, und erst mit dem Ausklang der
Scholastik reißt der Faden ab, die das Mittelalter unmittelbar mit den
Griechen verband. Parallel mit der Philosophie, denen der Wind noch so
manches fruchtbare Körnlein aus dem mystischen Bewußtseinskreise
zutrug, hörten die Hüter der Mysterien nicht auf, das Geheimnis,
abgeschieden von der Welt, rein zu bewahren. Hopfner zählt folgende neun
Gruppen auf: 1. Die Mysterien der Demeter (Kore und Jakchos), die
zugleich die ältesten, uns bekannten Mysterien darstellen; 2. die der
Demeter Thesmophoros, der Gesetzesstifterin und Göttin der Ehe, nur für
Frauen zugänglich; 3. die des Dionysos-Bakchos, des thrakischen Gottes
Zagreus, von Orpheus angeblich um 600 v. Chr. gestiftet; 4. die von
Samothrake, gleich den übrigen hier aufgezählten, orientalischen
Ursprungs; 5. die des Sabazios, ungefähr um das 5. Jahrhundert v. Chr.
nach Griechenland verpflanzt; 6. die des syrischen Adonis, von Sappho und
Xenophonos schon für das 7. und 6. Jahrhundert v. Chr. bezeugt; 7. die der
Rhea-Kybele, die schon Pindaros im 5. Jahrhundert kennt; 8. die der Isis
und Osiris, mit denen des Serapis von Alexandria verschmolzen, die schon,
ägyptisches Gut, getränkt mit dem griechischen Naturell, im 4. Jahrhundert
nach Griechenland eindrangen, und endlich 9. die Mithrasmysterien,

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 73


persischen Ursprungs, im alten Griechenland nicht recht gangbar, obgleich
schon vorhanden, aber doch erst im 1. Jahrhundert n. Chr. in Rom zur
Geltung gelangt. Noch durch nahezu vier Jahrhunderte nach Christus
lassen sich die Spuren der griechisch-orientalischen Mysterien verfolgen;
als Wahrzeichen ihres endgültigen Unterganges mag mit Hopfner
stichhältig die Zerstörung des Serapistempels in Alexandria angesehen
werden; ungefähr zwanzig Jahre früher machte Valentinian den Mysterien
von Eleusis ein Ende. Erhabene Abschiedsworte für die Eleusinier sprach
Sophokles, der dreimal selig jene Sterblichen nennt, die solche Weihen
einst geschaut und dann hinab zum Hades stiegen, wofür ihnen jetzt dort
(im Zwischenreich) Leben zuteil wird, indes die anderen nur Drangsal und
Not im Jenseits finden. Philosophie, Dichtkunst und Malerei waren
Geschenke und Schöpfungen des Sohnes der Persephone, des Dionysos,
als des Initiators der griechischen Kultur; das Mysterium der Geburt des
Dionysos aus dem Schoße der Persephone ersteht in »begrifflichem
Gewand« in der Philosophie Platons aufs neue, der eine Wiederholung des
Dionysos in historischer Zeit darstellt: die große, erhabene Lehre vom Eros
gilt für Körper und Geist; für den Körper als Umarmung im Zeichen der
Sinne, für den Geist als Umfängnis der Seele durch den Weltengeist. Nur
wer Blick für das Wesen der Dionysosmysterien hat, kann den wahren Sinn
des platonischen Eros verstehen, der sich in dem entzückenden Märchen
von Amor und Psyche wiederholt. Noch in unserem Weihnachtsmysterium
endlich leuchtet hell die Flamme der alten Erosweisheit auf. Es wird sich
später, bei der Betrachtung des Dramas von Golgatha, auch zeigen, welche
Bedeutung im Vergleiche zur römischen Übersetzung des neuen
Testamentes die griechische Sprache für das Christuswesen und das
Christentum gehabt hat. In Steiners grundlegender Schrift vom Christentum
als einer »mystischen Tatsache« wird klar und lichtvoll ausgeführt, welche
Kraft die griechische Philosophie aus dem Dämmer der Mysterien bezog;
Herakleitos, der »Dunkle«, wird hell und durchsichtig, wenn man ihn durch
die Schauer der Mysterien anblickt, und als gewaltiges Dokument der
Mysterienweisheit ragt Platons »Timaios« in einsamer Größe zum
Firmament empor, das »Drama des Weltenwerdens« mit der Ahnung der
Urkraft im Schoße. Hier findet sich das große Geheimnis der Weltseele, die
auf das Kreuz des Weltenleibes gespannt ist, hier die unerhörte
Vieldeutigkeit des Logos, der gleichzeitig als Weltvernunft und
Riesenchronik aller Geschehnisse zu nehmen ist, aus der, »auf die Urbilder
schauend«, der Demiurgos alle Dinge erschuf. Bei Philo endlich, der als
Wiedergeburt des Platon gilt, taucht der Name »Sohn Gottes« für den
Logos auf, bei demselben Philo, für den es zwei Wege gibt: die Sinnenwelt
mit ihrer Beschränkung auf Wahrnehmung und Verstand, oder das
Bewußtsein einer kosmischen Allkraft, die das Persönliche im Menschen
die Ewigkeit erleben läßt.

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 74


XVI. Der ewige Dionysos
Mit Friedrich Nietzsches Unterscheidung des Dionysischen vom
Apollinischen, mit der Neubelebung der Schriften Bachofens spielt das
Grundproblem der griechischen Einweihung in unsere Zeit hinein. Rudolf
Steiner erfaßte das vorsokratische Seelenbewußtsein, anders als der
feinfühlige Philologe Bachofen und der Künstler Nietzsche, vom Geistigen.
Seine geisteswissenschaftliche Methode führt ihr zur Erkenntnis, daß der
Mythos ein Dokument und Ergebnis des alten Hellsehens darstellt, einer
Seelenverfassung, die heute noch zumeist in ungeordneter und
ungepflegter Weise, bei medial veranlagten Personen anzutreffen ist. Wo
Bachofen von einer gynaikokratischen Epoche, einem Zeitabschnitt des
»Mutterrechtes« spricht, meint er die Ära der Demeter und des
Demeterkults, deren Menschen wesentlich anders organisiert waren als der
historische Grieche; Denken, Fühlen und Wollen des »mystischen«
Menschen stehen noch in voller Harmonie, ihre Zusammenhänge sind von
kosmischgeistigen Kräften geregelt. Der Mensch des demetrischen
Zeitalters, Körper und Geist zugleich, steht der Umwelt nicht als Außenwelt
gegenüber; er sieht die Natur bildhaft als ein mütterliches Wesen, die
chthonische Urmutter, die ihm das durch Generationen vererbte Hellsehen
bildhaft als Persephone schenkt. Bei Pherekydes auf Syros, mit dessen
eigentümlicher Kosmogonie die Philosophie der Griechen einsetzt, wird aus
Zeus, der im Räume wirkenden Weisheitsmacht, und aus Persephone, dem
»im Zeitlichen wirksamen Bildschauen«, das Ichbewußtsein des Menschen
geboren, schmerzhaft zunächst, als etwas, was unter Leiden geschieht.
Aus Zeus und Persephone kam der ältere Dionysos, der, dem Osiris gleich,
von unterirdischen Kräften zerstückelt und zerrissen (die Titanen besorgen
dieses Geschäft), doch mit seinem von Pallas Athene geretteten Herzen
neuerlich mit Zeus vereint wird. Der schöpferische Weltverstand des Zeus
(Nus) und der Pulsschlag des Ichs verschmelzen zur »kulturbildenden
Intelligenz«, zur »selbstbewußten Macht des Wissens«; sie auf Erden
heimisch zu machen, war des jüngeren Dionysos Aufgabe; oberflächlicher
als die des Dionysos des älteren, des Dionysos Zagreus, begründet er, mit
seinen Faunen und Silenen und seinem Wein, den Hauch einer neuen
Lebensweise auf der Erde, zu der er als Mensch, als entgötterter freilich,
herabsteigt. Das Weltbild der Wissenschaft wird durch ihn geboren. Der
ewige Dionysos, sein himmlischer Lehrer, tritt ins Land der Vergessenheit
zurück. Als letzter Ausläufer des Faunischen und Silenhaften, sucht er,
berauscht von der neuen »Wahrheit«, die aus seinem Wein aufsteigt, seine
Herkunft hei den Affen. Den ewigen Dionysos suchend, begegnete
Nietzsche dem Zarathustra, einem von der Phantasie erzeugten Untergott
und Übermenschen, einem Zerrbild des großen Initiators der persischen
Kulturepoche. Versucht man Menschen unserer Zeit den Unterschied des
Dionysischen und Apollinischen zu erklären, so wird gewöhnlich die vulgäre
Formel gebraucht, das Apollinische habe mehr Objektives, das Dionysische
mehr Subjektives zum Wesensbestandteil, der apollinische Künstler, kühl

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 75


und rein, hebe sich vom Dionysischen ab, der sich im Feuer seiner eigenen
Leidenschaft verbraucht. Die Philologie Nietzsches und Erwin Rohdes
erschien der Generation dieser bedeutenden Männer begreiflicherweise als
eine befreiende Deutungsart. Steiner hat den richtigen Erkenntnisweg auch
hier gewiesen: durch die dunklen Untergründe der Seele, die er überwindet
und hinter sich läßt, steigt Dionysos zur Welt des Lichtes auf, Apollo aber
vom Himmel zur Erde; ward Dionysos zum Menschen, so blieb Apollo ein
Gott, ein reines Lichtwesen, das seinen Sitz auf der Sonne hat; er wandelt
von Stern zu Stern, nähert sich aber der Erde, und Jupiter, Mars, Merkur
und Venus sind Abwandlungen des apollinischen Prinzips; Apollo tötet den
Drachen Python, der in der Nebelregion der Erde haust, sein Sonnenpfeil
trifft die erdgeborene Schlange, deren dampfender Atem aus dem Schlund
einer Schlucht emporsteigt. Über dieser Schlucht, der der Odem der
erdgeborenen Schlange entsteigt, steht später der Tempel des Gottes
Apollon, darin die Pythia wohnt, die Erbin der Demeterzeit, Prophetin und
Heilerin zugleich. Auch der Gott selbst, gleich der Pythia, ist Arzt, und sein
schwerster Patient wird Dionysos, dessen innere Kräfte in
immerwährendem Aufruhr sind und ihn zum »rasenden Gotte« machen.
Sobald aber die Zeit erfüllt ist, erscheint Apollo selbst auf der Erde, der Gott
des Lichtes, der »milde, schuldlose, Heilige und Heilende«, der Erlöser!
Himmel und Erde reichen sich, wie Apollo und Zarathustra, die Hände.
Apollo und Dionysos sind erhabene Verwandte, so wie Licht und Liebe
miteinander verwandt sind. Vergeistigt sich die Dionysosliebe zum Licht,
verwandelt sich apollinisches Licht in Liebe, so daß beide Eins werden,
dann ist die Stunde der Erlösung gekommen, Himmel und Erde empfehlen
sich als Vermählte. In wundervoller Klarheit hat Rudolf Steiner gezeigt, wie
der einseitige Dionysos zum Übermenschen Nietzsches, der einseitige
Apollo aber zum katholischen Gottesstaat führt; sucht jener nur die Erde als
letztes Ziel, so dieser nur den Himmel. Das Dritte, Große, Erlösende, tritt im
Christusprinzip auf, im Geheimnis der Überwindung des Todes. Von ihm zu
sprechen, ist die Aufgabe des dritten Hauptabschnittes, der vom Christus
Jesus handelt. Es bleibt nur noch ein Blick auf den römischen Teil der
griechisch-lateinischen Epoche zu werden übrig.

XVII. Das Rätsel Roms


Die landläufige Geschichtswissenschaft setzt die Gründung Roms
ungefähr in das Jahr 753 v. Chr., also ungefähr in die athenische
Archontenzeit und den nahen Untergang Israels. Die Geisteswissenschaft
Rudolf Steiners nennt exakt und präzis das Jahr 747 v. Chr. als
Gründungsjahr Roms, und sie verweist auf den mehr als 22 Jahrzehnte
dauernden Zustand der Königsherrschaft über Rom als eine Zeit mystischer
Begebenheiten. Die Schulbücher unserer Kinder, vom Hauche moderner
Sachlichkeit vergiftet, die alle mystischen Tatbestände geringschätzig
belächelt, enthalten die »Sage« von den sieben römischen Königen als
»unhistorisch« längst nicht mehr; man hat sie als Ballast ausgemerzt,

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 76


obschon Titus Livius, der sie ausführlich behandelt, keinen Zweifel an der
Realität dieses Geschehens aufkommen läßt. Der große römische
Geschichtschreiber bringt die Gründung Roms mit Wanderungen in
Zusammenhang, die nach der Zerstörung Trojas einsetzten, und nennt bei
diesem Anlaß zunächst den Namen des Romulus, der, im Gegensatz zu
Aeneas, einem Sohne der Venus, als ein Sohn des Mars bezeichnet wird.
W. J. Stein, dem man eine wertvolle Studie über das Wesen der
»römischen Apokalypse« verdankt, bemerkt treffend, der Gegensatz
zwischen trojanischer Priesterkultur und römischer Kriegskultur, die
gänzlich nach weltlicher Geltung strebt, lasse sich kaum schärfer
kennzeichnen als durch die Gegenüberstellung von Venus und Mars. Titus
Livius gibt freimütig zu, daß es sich so verhält, ohne »großes Gewicht«
darauf zu legen. Schon der Name Romulus, der mit der griechischen
Bezeichnung der Stärke und Kraft (Rome) zu tun hat, deutet auf ein Wesen
von außerordentlichen physischen Kräften; Romulus huldigte dem Gotte
Herkules. Der Zwilling Remus anderseits, kein Herkules und bestimmt, zu
sterben, stellt wohl, wie W. J. Stein hinzufügt, bloß eine Wesensseite des
Marssohnes Romulus dar, der dem Jupiter durch seinen Tod zugetan war.
Jupiter verkündet durch sein Vogelzeichen, daß Romulus und nicht Remus
über Rom herrschen soll. So ersteht Rom aus zwei Grundkräften: aus der
Marskraft der nur von den Sinnen bezogenen Wahrnehmungen und aus der
Jupiterkraft des reinen, gegenständlichen Denkens, und die Mauern, die es
umschließen, deuten auf den Wunsch der lateinischen Rasse, die im
Sinnessein begrenzt sein will. Da nun Romulus seine vom Gotte
geweissagte Herrschaft über Rom antrat, bezog die Sonne das Sternbild
des Widders, des Lammes. Nicht Amor begründete Roma: so stand es in
der erhabenen Schrift der Sterne. Romulus war der erste, Numa Pompilius,
der Sabiner, aus dem Volke, dem man die Frauen raubte, weil die Römer
aus eigener Kraft nicht imstande waren, die Zeit dem Raume hinzuzufügen,
der Pythagoräer, der zweite König Roms. Unter dem dritten, Hostilius, dem
feindlichen, nahmen Licht, Gewalt und Krankheit zu, unter dem vierten,
Gaius Martius, dem ordnenden, die Naturen des Romulus und des Numa
vereinigenden, blüht die Gesetzgebung, unter dem fünften, Lucius
Tarquinius Priscus, der eine etruskische Frau hat, die Technik und die
Kunst, unter dem sechsten, Servius Tullius, dem Erleuchteten, der der
Diana einen Tempel errichtete, die Begründung des Unterschiedes der
Sünde. Der siebente endlich, Superbus, kommt durch Frevel auf den Thron;
in diesem siebenten Zeitraum wird der Tempel der menschlichen
Gesellschaftsordnung vollendet. So ergibt die »Sage« von den sieben
römischen Königen ein grandioses apokalyptisches Bild der Entwicklung.
Das Römer- und das byzantinische Romäerreich hat eine Gesamtdauer
von rund 2200 Jahren. Gestützt wird die griechisch-lateinische Zeit durch
zwei Grundkräfte: durch die staatbildenden Impulse des römischen
Elements und die Durchgeistigung mit dem Griechentum, das dieser
Epoche die »spirituelle Substanz« gibt. Sie offenbart ein doppelt Gesicht,

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 77


einen Januskopf; der griechisch-lateinische Mensch hält die Waage
zwischen Geist und Materie, zumindest bis 1000 oder 1100, das die
Begründung des neuen Rom, Konstantinopels, bringt. Schwingt Rom das
Schwert des Kriegsgottes Mars, so bleibt das edle alte Griechenland die
köstliche Quelle aller Geistesimpulse, mit ihren Mysterien, ihrer Kunst, ihrer
Dichtung und Musik, ihrem Lebensgefühl und Gottesbewußtsein, ihrer
Philosophie, die aus den Inspirationen des griechischen Volksgeistes
gespeist wird. Um die Zeit, da der Christus-Jesus in die Erscheinung tritt,
vollzieht sich allerdings schon der Abstieg dieser Philosophie durch den
Übergang in das Epikuräertum, durch den Niedergang der alten
(Platonischen) Akademie und der aristotelisch-peripatetischen Schule,
durch den Abglanz in der Advokatenphilosophie Ciceros; doch weist diese
Epoche, rund um Christi Geburt, auch neue Antriebe auf. In Nigidius
Figulus und Apollonius v. Thyana erreichen die Neupythagoräer und die
judaisierenden Platoniker in Philon v. Alexandrien ihren Höhepunkt, und der
große Name Plutarch folgt ihnen in kurzem Abstand. Die Darstellung der
nachatlantischen Kulturen ist hier absichtlich nur bis zu dem Zeitpunkte, da
der Christus in die Erscheinung tritt, geführt worden. Das Mysterium von
Golgatha steht als gigantisches, für die Geschichte der Erde
entscheidendes Ereignis mitten in der griechisch-lateinischen Zeit, die
selbst wieder die Mitte in den sieben Entwicklungen dieses Schöpferzyklus
einnimmt und auch keine vorangehende Epoche wiederholt. Der Erlöser
der Welt tritt auf!

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 78


 

Drittes Kapitel
Das Mysterium von Golgatha

I. Eingang
Die griechisch-lateinische Epoche (von 747 v. Chr. bis 1413 n. Chr.
gerechnet) birgt ein für die ganze Menschheit, ja für den Erdenplaneten und
seine kommenden Zustände entscheidendes, von den Schauern höchster
Geheimnisse umhülltes Ereignis: die Geburt, den Erdenwandel und den
Kreuzestod des Christus Jesus auf Golgatha. Mit der Darstellung dieses
Ereignisses beginnt freilich auch eine erhöhte Verantwortlichkeit für den
Autor, dessen Begabung und Gewandtheit, vor eine überaus schwierige
Aufgabe gestellt, ohne die Hilfe und den Beistand eben jener Kräfte und
Impulse, die mit dem Erscheinen des Christus auftreten und wirksam
werden, zum stumpfen Werkzeug herabsinken müßten. Sich dieses
Beistandes zu versichern, sich gleichsam mit dem ganzen Wesen in dieses
erhabenste Kapitel der Menschheitsgeschichte zu versenken, erschien mir
als unerläßliche Voraussetzung. Die gewöhnliche Routine einer irdischen
Feder wird hier zuschanden, die Kunst des Schreibers zur heiligen
Handlung, sein Schreibtisch zum Altar, seine landläufige Stilisteneitelkeit
aber zur Farce. Die Stille um ihn wandelt sich zu lebenserfüllter Ruhe und
Klarheit: an das hohe Geheimnis rühren nur gefaltete Hände! Es ist etwas
anderes, von den vorchristlichen Kulturen und Mysterien zu sprechen,
etwas anderes, in den Vorhof der allerheiligsten Dreifaltigkeit einzutreten,
entblößten Hauptes und barfuß, als Gottes Gast und Bekenner. Der billige
Ruhmesglanz alltäglicher Schriftstellerei verlischt davor wie ein armseliges
Flämmchen, das die Finsternis nur vermehrt, statt sie zu besiegen, das zu
leuchten nur vermeint, obschon es, bei aller Demut, ein Fünkchen aus dem
unermeßlichen Vorrat des göttlichen Lichtes ist. Niemand kann, zeitlos, in
den Raum dieser Begebenheiten vordringen, ohne von den Dingen dieser
Welt abzufallen denen er einzig und allein durch das Maß der Liebe, das
ihm vom Schöpfer gegeben ist, verbunden bleibt. Das Denken wandelt sich
hier zum reinen Klang der Andacht. Von der Vorstellung der Schönheit,
vom Begriff des Guten, vom Urteil des Mysten »Du bist« nimmt der Weg
zur Christuserkenntnis seinen Anfang; der Weg selbst aber führt in
weltenferne Höben, zu denen die atonale Musik der Tiefe kaum mehr
emporklingt. Der wahre Bekenner des Christus Jesus »glaubt« nicht mehr
an Gott, an den Gottessohn und an den heiligen Geist: er weiß sie; er ist in
Ihnen und Sie sind in »ihm«, indem er sich anschickt, Zeugnis von Ihnen zu
geben. »Ich bin«, so lautet das ewige göttliche Wort, »der Weg, die
Wahrheit und das Leben!« Kein anderer erhabener Geist aus den höchsten
Lichtregionen durfte diesen Satz sprechen, ehe denn der Christus Jesus
kam; es gab, vordem, auch keine Ohren, ihn zu hören, keine Herzen, ihn zu
verstehen, keine Möglichkeit, ein voller Mensch zu sein, ehe nicht Gott
selbst herniederstieg, um als Mensch unter den Menschen zu wandeln und
für ihre Sache zu sterben. Kein Irdischer kommt, an Gott vorbei, zu sich

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 79


selbst, der eine Wohnung des Göttlichen ist. Ihn »leugnen« heißt: sich
selbst aufheben und in die Nacht des Nichts versinken; Ihn »verneinen«:
die heilige Erlaubnis, auf Erden Ja zu sagen, für immer verlieren; ihn nicht
bekennen: das Recht verwirken, auf zwei Beinen und erhobenen Hauptes
auf diesem »Geoid« zu wandeln. Die Menschheit schreitet, so chaotisch ihr
Zustand auch anmuten mag, auf ganz bestimmten Wegen durch die
Erkenntnis des Christus zum Erlebnis des Jesus. In seinem Namen streben
Orient und Okzident zu ihrer Vereinigung. Wer ohne dieses lebendige
Wissen ist, hat keinen wahren Anteil am Gang der Dinge, es mögen noch
so viel Macht und äußerliches Ansehen mit ihm verbunden sein. Sein Wort
mag so stark tönen, als es will, es klingt nicht, seine Gedanken haben keine
Flügel, und das Licht, das von ihm ausgeht, wird aus Sümpfen gespeist, als
ein Irrlicht. Alle Unrast, aller Jammer auf Erden stammen daher, daß die
Menschen sich selbst fremd sind, daß sie etwas suchen, was außerhalb
ihnen wäre. Lalande, wenn ich mich richtig erinnere, rief eines Tages
triumphierend aus, er habe alle Höhen und Tiefen des Weltalls forschend
durchmessen, aber nirgends Gott finden können! Der rettende Gedanke,
bei sich selbst vorzusprechen, kam ihm nicht, denn seine Karma war, vor
der verschlossenen Türe zu stehen und sie nicht als Türe zu erkennen.
Darum mußte das alte Wissen, so unabhängig es auch auftreten mochte,
erst gänzlich absterben und der Erkenntnis im Zeichen des Christus Jesus
weichen. Haben die alten Mysterien verschiedene Möglichkeiten, so
entströmt dem Christus Jesus Gewißheit. Führt der gottfremde
Forschergeist zu »Annahmen«, so erhebt das Christentum als mystische
Tatsache das menschliche Wesen zum Schauen und Erleben der Wahrheit.
Das ist es, was gesagt werden muß, ehe das Auge zum Kreuze aufblicken
kann, als dem erhabensten Symbol der Wirklichkeit und Einsicht. Im
Mysterium von Golgatha gipfelt die menschliche Geschichte bis ans Ende
der Weltentage, deren sieben im Buche der Schöpfung verzeichnet sind.
Die Erde und der Christus sind Eins!

II. Vom Christus in der Entwicklung der Erde


Das Mysterium von Golgatha fällt in den vierten Kulturraum der
nachatlantischen Zeit, sohin in die Mitte des sieben Kulturen umfassenden
Kreises der Erdentwicklung. Unserem Fischezeitalter folgen dann eine
Wassermann- und eine Steinbockkultur, die in neue kosmische Nacht führt
und zur nächsten Erdverkörperung der Jupiterzeit, überleitet; dem Jupiter
folgen dann Venus und Vulkan, als die beiden letzten Verkörperungen der
Erde. So stellt die Geheimwissenschaft unserer Zeit das Christusereignis
genau ins Zentrum nicht nur der Erdentwicklung selbst, sondern auch der
dem reinen Erdenstadium eingebetteten sieben Kulturabschnitte. Schon in
diesem Umstände drückt sich die ungeheure Bedeutung der mystischen
Vorgänge im heiligen Lande aus. Ein neuer, die ganze Erde und ihr Wesen
erfassender Impuls tritt unter Erscheinungen zutage, deren Eigenart
keinerlei Vergleich mit früheren Epochen des religiösen Erlebens zuläßt.

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 80


Das hängt allerdings, wie eine kleine Meditation ergibt, mit dem Geheimnis
der Siebenheit überhaupt zusammen. Die Siebenheit stellt einen
abgeschlossenen Komplex im Zahlenraum, dar; in der Musik ist die
Septime der letzte selbständige Intervall, denn die Oktave wiederholt nur
die Prime, die None die Sekunde, die Dezime die Terz. Die Vierzahl bildet
gleichsam die Brücke zwischen zwei Dreiheiten, einer niederen und einer
höheren. In der Vier ruht die Zählung und Gruppierung aus, indem jene ihre
Wurzeln nach links in 1, 2 und 3, nach rechts aber in 5, 6 und 7 schlägt; sie
umfaßt in dieser Weise die Wesenselemente der beiden Dreiheiten, die in
der Siebenheit stecken, und ist sozusagen mit dem Inhalt beider Dreiheiten,
der vorangegangenen wie der nachfolgenden (zukünftigen), gesättigt.
Darum hat die vierte Entwicklungsphase der nachatlantischen Kulturen
auch eine ganz eigenartige Stellung, während die nachfolgende fünfte die
vorangegangene dritte, die nachfolgende sechste die vorangegangene
zweite und die nachfolgende siebente die vorangegangene erste Kultur
wiederholt, ähnlich wie oberhalb und unterhalb des mystischen Raumes um
die Vierzahl, Verbindungen von der Fünf zur Drei, von der Sechs zur Zwei
und von der Sieben zur Eins laufend gedacht werden können. Diese kleine
Betrachtung wird deshalb wichtig, weil sie für den, dem das Geheimnis der
Siebenzahl in Fleisch und Blut übergegangen ist, keinen Zweifel darüber
aufkommen läßt, daß das Christentum nicht etwa bloß eine »Religion« des
vierten Kulturraumes darstellt, sondern daß es, in der Vier, die
übersinnliche Erkenntnis dreier vorangegangenen Epochen zu höherer
Einheit zusammenfaßt und gleichzeitig die drei folgenden Zeitabschnitte
durchsetzt und durchtränkt, daß in ihm also der Geist der Erde wohnt.
Damit erledigen sich auch von selbst die landläufigen und gebräuchlichen
Einordnungen des Christus Jesus in die Galerie der »Religionsstifter«,
gleichwie es zu den bewußten Irreführungen unseres (des »Fische-«)
Zeitalters gehört, wenn die neuen Gnostiker und Bruderschaften von
ähnlicher Farbe behaupten, die Religion des Mitleids, als welche die
christliche Religion allgemein bekannt ist, habe im Augenblicke, da die
Sonne ins Wassermannzeichen eintrete, einer Neuorientierung der Liebe
Platz zu machen, die durch die höchst gefährliche und sehr zweideutige
Formel »mitleidlose Liebe« (kalte Liebe) ausgedrückt wird. Das Mysterium
von Golgatha ist sonach ein zentrales Ereignis in der gesamten
Menschheits- und Erdgeschichte; es durchdringt die Erde, in die es mit dem
Blute des Erlösers einzog, dem Wesen Erde gleichsam sein ewiges Ich
gebend. (Die Vierheit erlöst die beiden Dreiheiten der Vergangenheit und
der Zukunft, in dem sie diese zusammenfaßt, sie verankert und von der
Sieben in eine Einheit zurückbindet.)
Lächerlich wäre, zu behaupten, die Menschheit bedürfe einer neuen
Religion, die, aus der reinen Vernunft geschöpft, eine Art »Ersatz durch
Vollkommeneres« darstellt. Nicht eine neue Religion, sondern neue und
wahrhafte Erkenntnis des Christus Jesus tut not und nur aus solcher
Erkenntnis können die beiden nachfolgenden Kulturen ihre Impulse holen.

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 81


Alle diese Dinge verstehen sich ganz von selbst, wenn man den Mut und
die Seelenstärke aufbringt, losgelöst von allen Vorurteilen und
Mayaergebnissen des gegenwärtigen Schulunterrichtes, das Christentum
als eine mystische Tatsache geistig zu durchdringen und damit seelisch zu
begreifen. Den erdhaften und doch himmlisch erhabenen Sinn des Christus
Jesus verkennen bedeutet daher nicht mehr und nicht weniger, als
außerhalb der Erdentwicklung auf einem ganz unmöglichen und
widersinnigen Standort stehen und die freie Entwicklung der Menschheit
verneinen und stören. In der Tat kommt, wer die historischen, sozialen und
ethischen Grundlagen des Christusereignisses unbefangen prüft, zu ganz
erstaunlichen und beglückenden Feststellungen, aus denen sich die
Einzigartigkeit und abschließende Bedeutung des Mysteriums? von
Golgatha unzweifelhaft ergibt. Man muß die Natur des Ackers verstehen,
darin der Same des Christusgeheimnisses aufging, um nur zu begreifen,
warum der Schauplatz dieses in seinen Wirkungen unermeßlichen
Geschehens überraschenderweise nicht mit den Mysterienorten
vorangegangener Kulturen zusammenfällt, sondern ganz neues, durch
Josua erobertes Land erfaßt: Palästina, das heilige Land, darin der Tempel
wieder aufgerichtet wird, nicht etwa als Gotteshaus einer bestimmten
Nation, sondern als äußeres und unsichtbares Wahrzeichen der
Gesamtheit der Menschen.

III. Zeit und Ort des Mysteriums


Die Äußerlichkeit des Zeitraumes, darin des Christus Jesus Geburt,
Wirken und Tod auftreten, wird durch drei geschichtliche Momente
gekennzeichnet: durch die große Dämmerung des römischen Weltreiches,
durch das erste Auftreten der Germanen im europäischen Räume und
durch die Auflösung des alten Judentums. Mit anderen Worten: durch den
Untergang der res publica, vorbereitet durch die Auseinandersetzungen
zwischen Pompejus und Caesar, Antonius und Oktavian, durch Roms
Kämpfe mit den Germanen (Drusus und Tiberius), den Aufstand der
Pannonier und Dalmater und den Übergang in das römische Kaiserreich
einerseits, anderseits durch die Erhebung Judäas zur römischen Provinz.
Das Ende der griechischen Philosophie, der griechischen Kultur, die
Befestigung römischer Rechtsanschauungen im Menschengeiste, die
vollkommene Zersetzung des Menschentums, das vom Heimweh nach
einem Erlöser ergriffen wird, bereiten die Atmosphäre des Christus vor, den
schon die alten Kulturen verkünden, der aber allerdings, ganz anders, ganz
schlicht, scheinbar ganz abseits und unbemerkt, in die Weltentwicklung
eintritt. In den alten Mysterien (das ist hier schon angedeutet worden) liegt
das Christusgeheimnis schon seit Anbeginn der nachatlantischen Kulturen
verborgen. Schwierig durchschaubar wird, wenn es sich darum handelt,
den Beweis für diese Tatsache zu erbringen, bloß das Dunkel der
altindischen Kultur; der alte Inder war sich der menschlichen Situation,
verursacht durch den Verlust des Paradieses, kaum bewußt; er sah

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 82


gleichsam nur das Ahrimanische der Sache; immerhin ist im Rigveda vom
Weltenopfer und vom Weltenzimmermann deutlich genug die Rede; auch
Krishna steigt zur Erde nieder; am schärfsten aber drückt der indische Yoga
selbst das Christusgeheimnis aus; der Yoga lehrt den Weg ins Innere des
Menschen, damit er die »Ruhe im Ich« finde, freilich unter Verlust der
äußeren Welt, die als Maya ihre Wirklichkeit einbüßt; der Christus vollendet,
wie Steiner und später Beckh gezeigt haben, die mystische, die Ich-Seite
des Yoga, unter Preisgabe seiner magischen Natur, die, genau so wie die
mystische, erst durch die Christuskraft vollendet wird. Weit heller (auch
darauf ist schon hingewiesen worden) strahlt das Christusgeheimnis aus
den Mysterien des Zarathustra; durch die Gegensätze von Licht und
Finsternis gewinnt, zum erstenmal in der Menschheitsgeschichte, die
Offenbarung erhabenen Sinn; Zarathustra selbst wirkt auf der Erde, deren
Geschöpf er ist. Zarathustras Wesen fließt stückweise in die Mysterien der
vorchristlichen Menschheit, und was aus dem Zarathustraimpulse heraus
geschieht, geschieht zum erhabenen Zwecke, die Menschen
vorwärtszubringen, sie zu entwickeln, das dahinsterbende Erdendasein zu
erneuern (zu erlösen), den Tod zu überwinden und die Freiheit des Willens
auf Erden zu begründen. Was endlich die ägyptischen Mysterien betrifft, so
stellen sie, durch den Auszug der Hebräer aus Ägypten bedeutungsvoll
vorbereitet, die eigentlichen Christusmysterien der vorchristlichen Zeit dar.
Ägypten hat große und gewaltige Gräber hinterlassen, eine Totenkultur
begründet, die ohne Vergleich ist, aber erst das Mysterium von Golgatha
gibt dieser gespenstigen Kultur lebendigen Sinn, und die alte
Sternenweisheit der Ägypter feiert im esoterischen Christentum des Grals
seine Auferstehung: die neue Isis der Menschheitsseele erwacht als »neue
Offenbarung der Geheimnisse der Sternenschrift«. Ganz nahe endlich und
mit ihm schicksalhaft verbunden, rückt das alte Testament in den Bannkreis
des Christusereignisses. Hier steigert sich die Symbolik der Jahvereligion
zu greifbarer Deutlichkeit; sie begründet, gleich dem Logos der Griechen,
die Lehre der Erlösung durch den Messias, der den zerstörten Tempel in
Jerusalem wieder aufbauen wird. Seit 63 v. Chr. war Palästina ein Teil des
römischen Reiches; ein Edomiter, Herodes, erfeilscht und ergattert in den
Wirren des römischen Bürgerkrieges vom Senat die Würde und den Titel
eines »Königs der Juden«. In dem mächtigen Tempel, den er über den
Trümmern der einstigen Burg Ahabs errichten läßt, treibt er religiösen Kult
mit Augustus, seinem kaiserlichen Herrn; es nützt wenig, daß er den
Neubau des Tempels von Jerusalem in die Hand nimmt: die Juden
durchschauen sein Tun, obzwar ihr Land dem Herodes einen kulturellen
Aufschwung von großer Schwungkraft verdankt. Warum übrigens gerade
Palästina als Schauplatz für das Mysterium von Golgatha auftrat, führt
Wachsmuth in lebendiger und anschaulicher Art aus; er zeigt, daß
zwischen den höchsten Erhebungen der Erde und deren tiefstem Punkt
eine »zunächst geheimnisvolle Gesetzmäßigkeit waltet« und daß sie »mit
dem geistigen Schicksal der Menschheit eng verbunden sind«. Das

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 83


Hochplateau von Tibet, eine der höchsten Erhebungen der Erde, war die
Heimat und Wiege der orientalischen Kulturen und Religionen, eine der
tiefsten Senkungen der Erde, das Jordantal aber, durch die Jordantaufe,
die Geburtsstätte der christlichen »Religion«. So greifen Geistesgeschichte
und Geologie ineinander. An jenem Punkte, der das »Außen« der Erde am
stärksten betont, erstand die religiöse Geisteskultur der Orientalen: die
Wärme- und Lichtätherreligion des Buddhismus. Das Jordantal vom
Tiberiasee bis zum Toten Meere, die Geburtsstätte des Christentums, zählt
zu den größten unter den bekannten Depressionen der Erde. Hier ist
gleichsam das »Innere« der Erde betont, wo das Lebensätherische
überwiegt. Die Bewußtseinsentwicklung an Orten, wie dem Plateau von
Tibet und dem Jordantale, konnte von diesen Umständen nicht unberührt
bleiben.

IV. Steiners erstes Buch zur Christuserkenntnis


Die neue Erkenntnis des Christentums setzt kurz nach dem Beginn des
20. Jahrhunderts ein; sie darf aber ihr Anfangs- und Ausgangsdatum
getrost in das Jahr 1902 zurückverlegen, in welchem Rudolf Steiners
»Christentum als mystische Tatsache und die Mysterien des Altertums«
erschien. Der Umstand, daß Steiners Schrift sechs Jahre vor De Jongs
Buch über das »antike Mysterienwesen« herauskam, das in
wissenschaftlichen Kreisen merkwürdigerweise noch immer großes
Ansehen genießt, gab dem Holländer, einem Privatdozenten der Universität
in Leyden, Anlaß zu einem ebenso dünkelhaften als rüden und echt
professoralen, gleichsam mit den Hufen der Hinterbeine verübten Ausfall
auf Steiners Buch, dessen Bedeutung auch nur zu ahnen, De Jong
allerdings nicht imstande war; er nennt Steiner einen »Schwindler wie
keiner« und dessen »Christentum als mystische Tatsache« »jeder
Wissenschaftlichkeit und Phantasie bar«. De Jong gleicht bei seinem
Versuch, mit untauglichen Mitteln, Vermutungen und Annahmen an die
geistigen Dinge heranzukommen, ungefähr einem Skiläufer, der sich
Schlittschuhe anschnallt. In Wahrheit will Steiner in jener Schrift zunächst
zeigen, daß das Christentum als »ein Keim von selbständiger Art« im
Boden der vorchristlichen Mystik wurzelt, obgleich es durchaus als eine
selbständige Wahrheit zu verstehen ist. Sein Buch, obwohl der
wissenschaftlichen Denkweise jener Zeit angepaßt (es wäre gefährlich
gewesen, sich damals schon anders zu gebärden), gibt zunächst einen
Überblick über die wichtigsten und wesenhaftesten Merkmale der antiken
Einweihung in ganz klaren und exakten Sätzen; der Neophyt entwickelt die
im Menschen verborgenen Kräfte zu voller Wirklichkeit; sie liegen wie
verzaubert im Menschen und harren ihrer Erlösung; ergreift sie der Mensch
nicht und unterläßt er, sie zu entwickeln, so verschwinden sie ins Nichts.
Bei den vorsokratischen Philosophen und bei Platon ist wenig zu gewinnen,
vermag der Forscher ihr Mystisches nicht zu durchdringen; Platon selbst,
den göttlichen Meister, umgab Mysterienatmosphäre, sonst wären die

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 84


Obertöne seiner Worte bald verklungen; seine Weisheit gipfelt in dem
grandiosen okkulten Dokument des »Timaios«, der auf mystische Weise
einsetzt und helles Licht über den Mysteriencharakter der platonischen
Philosophie wirft. Uraltes übersinnliches Erkenntnisgut ruht auch auf dem
Grunde der griechischen Mythen, die sich rationalistischen oder gar
psychoanalytischen Deutungen streng verschließen. In den ägyptischen
Mysterien, in Leben und Lehre des Mythus überhaupt, sind erhabene
Hinweise auf das Christusereignis verborgen. Was sich in den alten
Mysterienkulten und im Innern der Mysterientempel abspielte, wird durch
das Christentum später als weltgeschichtliche Tatsache beglaubigt. Das
alles hätte De Jong seinen Lesern nicht vorenthalten dürfen, wenn er nicht
bar jeder wissenschaftlichen Kritik und jeglichen Schauungsvermögens
gewesen wäre. Man wird gleich sehen, welche wichtigen Feststellungen
Steiners Buch dort unternimmt, wo es auf die Evangelien, auf das
Lazaruswunder, auf die Apokalypse, auf Jesus und seinen geschichtlichen
Hintergrund, auf das Wesen des Christentums, auf dessen Verhältnis zur
heidnischen Weisheit und auf Augustinus und die Kirche übergeht. Wie
dem immer wäre, festzustellen bleibt, daß der Boden, darin der Same des
Christentums aufgehen sollte, durch die Mysterien vorgelockert war. Philo
beschreibt das Leben zweier palästinensischer »Sekten«, die sich Essäer
und Therapeuten nannten, deren eine, nach dem Muster des alten
pythagoräischen Ordens organisiert, den bestimmten Zweck hatte, höheres
Leben zu entwickeln und die Wiedergeburt des Geistigen vorzubereiten.
Die Essäer (zur Zeit der Geburt Christi ungefähr 4000 Köpfe stark) und
Therapeuten stellen bloß den natürlichen Übergang von den alten
Mysterien zum Christentum dar, nicht mehr; schon deshalb, weil das
höhere Leben hier dem Betrieb einer begrenzten Gemeinschaft anvertraut
war, indes das Christentum, den Rahmen der Völkergemeinschaft und der
Blutsbande sprengend, von Anbeginn an mit eigenartiger Klarheit und
Offenheit als eine Sache der ganzen Menschheit auftrat. Was immer der
antike Myste erleben und erschauen mochte, je nach Maßgabe des
Grades, den seine Entwicklung erreicht hatte: es war nur für ihn sichtbar,
denn kein gewöhnlicher Sterblicher hat vor Christus jemals Gott selbst
geschaut. In Christus Jesus aber kommt Gott selbst zur Erde; der Christus
Jesus erlöst in erster Reihe die sterblichen und irdischen Menschen vom
Unglauben an das Dasein Gottes; der »eingeborene« Gottessohn
(eingeboren, weil es nicht zweier Menschen, Vaters und Mutters, bedurfte,
um dieses Wunder von Menschwerdung zu vollziehen), der eingeborene
Gottessohn steigt zur Erde herab, deren Erlösung damit zur Tatsache wird.
Des Erlösers Blut vermählt sich mit diesem Planeten, der noch drei weitere
Entwicklungen durchzumachen hat, ehe sein Ziel erreicht und seine
Sendung erfüllt ist. So manchem, mit reinen Verstandesmitteln forschenden
Betrachter des Mysteriums auf Golgatha mag schon der Gedanke
gekommen sein, was aus der Menschheit und der Erde geworden wäre,
wenn sie ohne den Christus Jesus hätte dahinleben müssen. Die

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 85


Geheimwissenschaft gibt auf diese Frage eine überraschende und klare
Antwort: die Menschheit wäre verdorrt, die Erde verkümmert, und sie gibt
diese Antwort keineswegs als dogmatische Antwort, denn nur sie allein ist
in der Lage, zu beweisen, was sie sagt.

V. Die Evangelien als Quelle


Als Hauptquelle für das Wissen über Geburt, Wirken und Tod des
Christus Jesus kommen die vier Evangelien Matthäus, Markus, Lukas und
Johannes in Betracht. Angaben über die Persönlichkeit der vier
Evangelisten fließen nur spärlich. Matthäus, der Gottgeschenkte, war ein
Apostel Jesu; sein Vater Alphaeus Zolleinnehmer am See Genezareth;
Matthäus selbst, dessen Fest auf den 21. September fällt, soll als
Märtyrermissionär gestorben sein und sein Grab wird in Salerno gezeigt;
als Attribut ist ihm die Gestalt eines Engels beigegeben; man behauptet
auch, das Evangelium des Matthäus beruhe auf desselben »Verfassers«
»Reden des Herrn« und Zustände der flavischen Kaiserzeit wären darin
deutlich sichtbar. Markus (auch Johannes Markus genannt) stammte nach
Aussagen der Theologen aus Jerusalem; er war Reisegefährte des Petrus
und später des Paulus und gründete die Gemeinde von Alexandrien; als
Schutzheiliger Venedigs, wo sein Leichnam bewahrt wird, hat er den Löwen
zum Sinnbild und sein Festtag ist der 25. April; unter den vier Evangelisten
zeichnet er sich als bedachter und die Form pflegender »Schriftsteller« aus,
der sein Material weise zu ordnen versteht; sein Evangelium gibt Proben
der Paulinischen Gedankenwelt. Lukas, der Evangelist und Arzt,
Reisegefährte des Paulus und gleichzeitig Verfasser der Apostelgeschichte,
gilt, nach der Legende, als Patron der Maler; Malergerät und Ochse (Stier)
sind als seine sinnbildlichen Zugaben zu sehen; sein Evangelium ist
Theophilos gewidmet, sein Fest fällt auf den 14. Oktober. Johannes endlich
(hebräisch Jochanaan, das ist von Gottes Gnaden), »der Jünger, den der
Herr liebhatte«, ist ein Sohn des galiläischen Fischers Zebedäus; sein
Bruder Jacobus, Simon Petrus und Er waren die vertrautesten Jünger des
Herrn; einige behaupten, Johannes sei 44 in Jerusalem, wahrscheinlich
samt seinem Bruder, hingerichtet worden; nach anderen lebte er »später«
in Ephesos weiter, wurde von Domitian auf Pathmos verwiesen und starb
hochbetagt in Ephesos; sein Tag ist der 27. Dezember, sein Attribut eine
Schlange. Blickt man diesen mageren Daten näher ins Auge, so scheinen
sie, wenigstens was die Verfasser des Markus- und Matthäusevangeliums
betrifft, auf Notizen zu beruhen, die Papios von Hieropolis (ein Schriftsteller
aus der ersten Hälfte des 2. Jahrhundert) hinterlassen hat, aber auch
Papios beruft sich ganz allgemein auf »mündliche Äußerungen eines
Älteren; er hielt die apostolischen Prediger für Skribenten, die gelegentlich
mit einem Sekretär reisten. Ebenso unsicher wie die Angaben über die
Persönlichkeit der Apostel sind jene über die Zeit der Abfassung der
Evangelien. Bei Lukas werden Stellen aus diesem Evangelium darauf
gedeutet, daß dieser Apostel die Belagerung und Zerstörung Jerusalems

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 86


mitgemacht habe, Lukasevangelien und Apostelgeschichte somit nach dem
Jahre 70 entstanden sind. Auch eine Stelle bei Matthäus wird auf die
Zerstörung Jerusalems bezogen. Markus hingegen erweckt den Eindruck,
als habe er das Erlebnis der Auferstehung am leeren Grabe Christi
miterlebt und erzählte es als Erster und Augenzeuge. Eine Reihe
spitzfindiger Schlüsse kommt sonach zum Ergebnis, daß auch das
sogenannte älteste Evangelium erst nach 70 entstanden sei, welches
Datum aber auf mindestens 20 Jahre später verschoben werden müßte,
sofern der Verfasser der Apostelgeschichte wirklich Josephus Flavius
benützt hätte. Der Stand der Dinge um die Evangelien bleibt also für die
theologische Wissenschaft rettungslos in Dunkel gehüllt; um so heller und
glänzender sprechen der Gehalt und der hohe Atem dieser überirdischen
und wunderreichen Bücher dafür, daß es ein aussichtsloses Beginnen ist,
die Äußerlichkeiten der Evangelistik irgendwie festzustellen. Die erhabenen
Wirkungen, die von den Evangelien ausgehen, weisen ohne Zweifel auf ein
Mysterium, das in ihnen ruht und das den Mysterien des Todes auf
Golgatha selbst nur wenig nachsteht. Exegeten und Wortklauber haben
angesichts dieser ewigen und unzerstörbaren Dokumente in der Tat einen
schweren Stand. Sie werden in erster Reihe von gewissen Widersprüchen
verwirrt, die zwischen den einzelnen Evangelien zu bestehen scheinen und
die sich auf exoterischem Wege als unlöslich erwiesen haben. Daß diese
Widersprüche allerdings nicht so sehr in den Evangelien selbst als bei
denen zu suchen sind, denen sie eben als Widersprüche erschienen, liegt
auf der Hand. Gottes Bücher sind für rein irdische Naturen schwer leserlich;
Übersinnliches erscheint den Sinnen natürlich als ein Rätsel, und mit
schmerzlicher Entsagung muß festgestellt werden, daß übersinnliche
Sachverhalte sich in der sinnlichen, auf rein irdische Zusammenhänge
gerichteten Sprache oft als fehl übersetzt herausstellen. Eine dem
Mysterium entsprechende deutsche Übersetzung gibt es ebensowenig wie
etwa eine in irgend einer anderen lebenden Sprache. Als weit fruchtbarer
erweist sich der griechische Text der Evangelien, der dem Geiste der
heiligen Bücher noch weit näher stand und besonders dann reiche
Aufschlüsse gibt, wenn der Urbedeutung einzelner Ausdrücke, wie Logos,
Pleroma und mancher anderer nachgegangen wird. Unter dem Einflüsse
Rudolf Steiners hat die freie Christengemeinschaft indes schon heute
überaus Wertvolles an Deutung, Erklärung und synthetischer
Schauungsgabe zutage gefördert. Eine vollkommen neue, tiefe und
sinngemäße Theologie ist, dank der ausgezeichneten Männer, die 1925 die
freie Christengemeinschaft ins Leben riefen, im Werden.

VI. Die innere Ordnung der Evangelien


Für den, der die Einsicht erlangt hat, daß das Christentum als mystische
Tatsache ein für die gesamte Erdentwicklung und alle Menschen
bedeutungsvolles Ereignis ist, verschwinden auch die Widersprüche, die
sich daraus ergeben, daß die Evangelien gleichzeitig bloß als literarische

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 87


Erzeugnisse und mehr oder weniger verläßliche Darstellungen von
Zeitgenossen aufgefaßt werden. Überschaut man aber das Werk der
Evangelisten gleichsam als »eine Art höherer Figur«, die von innen beseelt
wird, so erscheinen die Evangelien als »Kunstwerke Gottes«, einzig und
allein aus dem Geiste der heiligen Ordnung und jener Gesetze zu
verstehen, die in der göttlich-geistigen Welt wurzeln und ewige Geltung
haben. Schon in der Komposition dieser heiligen Schriften ruht ein
Geheimnis, das den Schlüssel zum Verständnis der Evangelien birgt;
Wissenschaft und Kunst vereinigen sich darin mit dem Religiösen, woraus
schon der unbefangen wägende Verstand folgern mag, daß eine ganz neue
Art Theologie heraufkommen muß, weil es bei der landläufigen, bloß auf
das Moralischreligiöse oder auf das Wissenschaftlich-geschichtliche
aufgebauten Exegese nicht mehr bleiben kann. Mit den Evangelien verhält
es sich so, daß man, ihrem tiefen und erhabenen Sinn mit dem Herzen
nachforschend, immer wieder auf neue Tiefen stößt und ihm niemals ganz
auf den Grund kommen kann. Es gehört zu den beliebtesten theologischen
Gebräuchen, bei jeder Gelegenheit mit Bibelstellen aufzuwarten und auf
diese Weise eine Art regelmäßigen Zitatenbetrieb einzurichten, der dem
Fleiß der Sammler sicherlich alle Ehre macht, zum Verständnis der heiligen
Sache selbst aber nicht das geringste beiträgt. Ist doch aus diesem
Lieblingsverfahren der rein äußerlichen Theologie gerade das
hervorgegangen, was sich als wirksamster Hemmschuh am Rade der
christlichen Verständnisentwicklung erwies: das Dogma! Auf Grund jener
rein äußerlichen und betriebsamen Kritik der Evangelien begann bald ein
Feilschen und Streiten über die Echtheit dieser oder jener Schriften, über
die Zulässigkeit dieser oder jener Auslegungen; der Mensch warf sich zum
Kritiker der Evangelien auf, die ihm nicht mehr als ein Kunstwerk Gottes,
sondern als ein Dokument historischer und lehrhafter Art erschienen. So
blieb in den Händen derer, die es ja wahrlich gut meinten und in ihrer Art
der christlichen! Sache nützlich zu sein glaubten, schließlich wenig mehr
übrig als ein Häuflein von Dogmen und ein Kranz von Legenden. Man sieht
die Evangelien vor lauter Exegese nicht mehr. Würde sorgfältiger auf die
Herkunft des Wortes Evangelium geachtet werden, so ergäbe sich bald von
selbst, daß der wahre Charakter der heiligen Schriften schon im Namen
selbst zum Ausdrucke kommt, der »Botschaft«, »Kundschaft« von Engeln
und aus Engelsphären bedeutet. Die Evangelien sind, schon ihrer
Bezeichnung nach, keineswegs etwa bloße Beschreibungen von
Vorgängen und Erlebnissen, die sich innerhalb des irdischen Bereiches
abspielen, sondern vielmehr Botschaften, Kundgebungen, Offenbarungen
übersinnlicher Wahrheiten, Einsichten und Sachverhalte, die hier zum
erstenmal sichtbar und greifbar werden. Das unsterbliche Verdienst Rudolf
Steiners (er durchschlug die Wand, die ein materialistisches und
rationalistisches Zeitalter zwischen sich und dem wahren Verständnis der
Evangelien errichtet hatte) steht, ein für allemal, als eine der größten Taten
des forschenden Menschengeistes an der Eingangspforte zu einer ganz

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 88


neuen, alles Bisherige verdunkelnden Erkenntnis vom göttlich-geistigen
Inhalt der Evangelien. Das Werk, das die freie Christengemeinschaft auf
ihre Schultern nahm und das heute so verheißungsvolle Fortschritte macht,
wäre ohne Rudolf Steiners maßgebende Impulse niemals möglich
gewesen. Leider muß ich mir hier, da der Rahmen dieses Buches eng
begrenzt ist, versagen, Beispiele dafür zu geben, wie die zünftige,
namentlich aber die neuere protestantische Theologie zu Werke geht und
welche Früchte, im Gegensatze dazu, die Evangelienforschung der
Anthroposophie und der freien Christengemeinschaft schon gezeitigt hat
und ohne Unterlaß zeitigt. Wenn nun von der Frage der Komposition der
Evangelien die Rede ist, meint niemand, dem sinngemäßes Eindringen in
die Evangelien am Herzen liegt, etwa die Frage der literarischen
Zusammensetzung und des Aufbaues der heiligen Schriften, sondern:
einzig und allein von der göttlichen Komposition, dem göttlichen Grundriß
der Evangelien wird gesprochen, und unter Komposition selbst die »innere
Ordnung der geistigen Realitäten verstanden, die sich in der
Evangelistenseele spiegeln«, ohne daß dieser Vorgang dem Bewußtsein
der Evangelisten selbst nahegelegen wäre; nicht menschliche Willkür führt
behutsam die Sonde dieser neuen Evangelienkritik, sondern Ehrfurcht vor
und Sehnsucht nach der göttlichen Wahrheit und Wirklichkeit. Damit langt
unsere Darstellung ganz von selbst bei der Frage nach dem Impuls an, der
den Evangelien eben ihren Charakter als göttlichgeistigen Wahrheiten
verleiht: bei der Frage nach dem Wesen der Inspiration, die als eigentliche
Erkenntnisquelle der Evangelisten angesehen werden muß, denn in der Tat
und ganz gewiß und gänzlich außer jedem Zweifel ist, daß in der Inspiration
die Hauptquelle liegt, aus der die Evangelien ihre Erkenntnis geschöpft
haben, womit keineswegs etwa gesagt sein soll, ein Wunder wäre dabei
geschehen, oder die Evangelien wären etwa als ein direktes Diktat aus der
göttlich-geistigen Welt aufzufassen.

VII. Die drei Erkenntnisstufen in den Evangelien


Der gebildete, aber in der Lektüre mystischer Tatsachenberichte
ungeübte Leser wird, da er das Wort Inspiration hört, wahrscheinlich ein
ziemlich enttäuschtes Gesicht machen. Das Wort Inspiration ist ihm
keineswegs unbekannt; er hört es vielmehr sehr oft aussprechen und
verbindet damit in der Regel, als mit einem Begriff der neueren
Psychologie, ungefähr geistige Eingebung, Erleuchtung, »effektiv betontes
Ergriffensein von einer Idee«, einem Wissen, das scheinbar ohne
Vorbereitung ins Bewußtsein tritt, während »in Wahrheit assoziative,
phantasiemäßige, intuitiv-kombinatorische, synthetische, aber
unterbewußtbleibende Geistesfunktionen die Inspiration herbeiführen oder
vorbereiten«; er denkt an Shaftesburys »enthusiasm«, an wissenschaftliche
oder künstlerische Einfälle und Eingebungen, oder gar an jenen »Sturm von
Freiheitsgefühl«, darin Nietzsche »Alles«, aber »im höchsten Grade
unfreiwillig« geschehen läßt.' Es gibt natürlich auch solche »Inspiration«,

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 89


und sie spielt, namentlich beim schöpferischen Künstler, sicherlich eine
große Rolle, da er doch, als Enthusiast (abgeleitet von, en to theo ejnaj), im
Augenblicke der Inspiration in Gott ist. Nichtsdestoweniger hat man, wenn
Steiner von Inspiration spricht, etwas ganz anderes darunter zu verstehen.
Für die Geisteswissenschaft Rudolf Steiners ist Inspiration eine ganz
bestimmte Stufe (die dritte; materielle und imaginative Erkenntnisart gehen
ihr voran) bewußter geistiger Entwicklung und Bewußtseinserhöhung; sie
wird zur Quelle höherer Erkenntnis und aus solcher Quelle schöpfen die
Evangelien. Damit wird diese Quelle aber auch zugleich von jener
ungeordneten und aus einem herabgeminderten Bewußtsein fließenden
»Inspiration« geschieden, die auf spiritistischem Wege zustande kommt
und aus der beispielsweise Jakob Lorbers zehnbändiges »Evangelium«
empfangen ist; wohl erscheint dieser Weg interessant und lehrreich, aber er
hat mit dem, was inspirativer Impuls im Zusammenhang mit den Evangelien
genannt wird, nichts zu tun. Das inspirative Bewußtsein trat, schicksalhaft
oder aber durch Schulung erworben, in der Zeit des Urchristentums vielfach
auf; es spiegelt die übersinnliche Welt, eröffnet den Blick in Vergangenheit
und Zukunft (eine Gegenwart in diesem Sinne gibt es nicht) und erhebt zu
den hierarchischen Stufen der göttlichgeistigen Wesenheiten, wohlgemerkt,
bei vollem Vorhandensein des irdischen, materiell erkennenden
Bewußtseins. Bis zu welchem Grade dieses inspirative Bewußtsein, bei
vollem Bestand des irdischen Bewußtseins, im Evangelisten entwickelt war,
davon hing eben auch die Grundstimmung ab, in der das Evangelium als
Offenbarung empfangen wurde. Aus diesen Feststellungen lassen sich sehr
wichtige und grundlegende Erkenntnisse gewinnen. Man hört, wie ich
schon erwähnte, sehr oft, meist in geringschätziger Weise, von
Offenbarung sprechen; das oberste Dogma aller Formen des Freisinns, der
Aufklärung und des sogenannten voraussetzungslosen Wissens ist ja
gerade darin verankert, daß die Offenbarung »geleugnet« oder sogar als
ein Humbug und Selbstbetrug schlimmster Art hingestellt wird; man beliebt
in Schriften dieser Art gerne auf die Lächerlichkeit der Annahme
hinzuweisen, daß Gott oder irgend welche göttliche Wesenheiten
auserwählten Menschen bestimmte Eröffnungen gemacht hätten. Das
göttliche Wort ist zu allen Zeiten und in allen Ewigkeiten da; die Natur
offenbart in jedem Augenblick ihre Geheimnisse; man muß nur Augen
haben, zu sehen, und Ohren, zu hören, und Goethes Faustwort: »die
Geisterwelt ist nicht verschlossen, dein Sinn ist zu, dein Herz ist tot«, sagen
heute mehr denn je. Obgleich ich nie in Australien war, muß ich doch
annehmen, daß es ein Australien gibt, denn dieser fünfte Erdteil hat sich
zahlreichen Menschen, die schon in Australien waren, tatsächlich als
solcher geoffenbart; ich wäre also ohne Zweifel ein Narr und Tor, wollte ich
leugnen, daß es Australien gibt. Narrentum und Torheit dieser Art wird aber
unablässig von Freidenkern, die weder frei sind, noch denken können, als
befreiende Weisheit und letzte Raison aller »vernünftigen« Menschen
gepriesen. Da es Offenbarungen nur für ein erhöhtes Bewußtsein geben

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 90


kann, bleibt nichts übrig, als ein erhöhtes Bewußtsein zu entwickeln, will
man einer Offenbarung teilhaftig werden, woraus sich von selbst ergibt, daß
die Tatsache inspirativen Bewußtseins kein Dogma ist, das Glauben
verlangt, sondern eine Erfahrungstatsache, an der jeder teilhaben kann, je
nach Schicksal und Entschluß. In den vier Evangelien offenbaren sich vier
verschiedene Seelen, vier »grundlegende Arten erhöhten Menschentums«.
Um aber zu dem Ausdruck Inspiration zurückzukehren, so ist damit
zugleich die Fähigkeit, Worte zu hören, bezeichnet, während die Vorstufe,
die der Imagination, des Schauens von Bildern, die nachfolgende aber, die
der Intuition, die Fähigkeit birgt, mit den Dingen und Wesen eins zu werden,
sie zu berühren und damit in sie einzufließen, indes diese selbst zugleich
den Ichraum des Eingeweihten erfüllen: die drei ersten Evangelien, aus der
Inspiration empfangen, ruhen auf Imaginationen (auf der Fähigkeit, Bilder
zu schauen), das Johannesevangelium aber umfaßt alle drei
Erkenntnisstufen zusammen. Johannesevangelium und die drei
vorangehenden Evangelien ergeben eine ideale Einheit, eine Art ewigen
Gesamtevangeliums; sie bilden eine mystische Figur, die auch die übrigen
Kompositionsgeheimnisse umfaßt. Man kann in ihr Inneres mit den
Voraussetzungen gewöhnlichen Forschens und Dichtens nicht eindringen.
Der kalte Blick kann nichts von ihren Geheimnissen schauen, das
gleichgültige Ohr das tönende Wort nicht vernehmen, und keine Kunst der
»Einfühlung« kann das ersetzen, was die Geheimwissenschaft Intuition
nennt.

VIII. Jesus und Christus; die beiden Jesusknaben


Von den vier Evangelien sind zwei (Matthäus und Lukas) Jesus-, zwei
(Markus und Johannes) Christusevangelien. Das Zusammenwirken des
Jesus- und Christusimpulses gehört überhaupt zu den tiefsten
Geheimnissen der vor- und nachchristlichen Zeit. Die beiden
Jesusevangelien unterscheiden sich von den beiden Christusevangelien
schon äußerlich dadurch, daß die beiden ersteren sich auch mit der Zeit vor
der Taufe im Jordan befassen, also, gleichsam, die Kindheits- und
Jugendgeschichte Jesu berühren, indes Markus und Johannes schon mit
oder nach der Taufe im Jordan einsetzen. Merkwürdigerweise folgen die
Jesus- und die Christusevangelien einander nicht unmittelbar, sondern
wechseln ab; auf je ein Jesusevangelium folgt ein Christusevangelium.
Auch darin liegt Sinn, der sich erst dem eindringenden Blicke offenbart. Das
Matthäusevangelium, in der neuen, durch Steiner begründeten Auffassung,
ist in gewissem Sinne das Evangelium des Petrusmenschen, und nichts
wäre törichter als die Annahme, das Matthäusevangelium eröffne die Reihe
der Evangelien nur ganz zufällig. Es wächst als ein herrlich aufragender
Baum aus dem Boden des alten Testamentes hervor und stellt die Brücke
vom alten zum neuen Bunde dar; nach urchristlicher Quelle war es
ursprünglich in hebräischer Sprache abgefaßt; leider hat sich diese
Urschrift nicht erhalten. In seinem Geschlechtsregister bis zu Jesus, einer

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 91


sehr wichtigen und von der Exegese zu Unrecht geringgeschätzten
»Einleitung«, zählt es von Abraham bis zu Jesus 42 Generationen;
sechsmal sieben (dreimal vierzehn) Stufen weist die Leiter auf, die von
Abraham bis Jesus führt, als eine kurzgefaßte, tabellarische
Zusammenstellung des alten Testamentes; »jeder der darin angeführten
Namen ist ein Schlag an die Glocke eines alttestamentlichen Mysteriums«;
das erste Kapitel des Matthäusevangeliums sammelt eine bewegte und
lebendige Gruppe von Gestalten, Bildern und Szenen, man beschreitet,
»wie durch eine von Schauern erfüllte Vorhalle den erhabenen Dom des
Christentums«. Der Name hat ja im alten Testament überhaupt eine ganz
andere Bedeutung;, als sie der Namensgebung unserer Zeiten ansonsten
zukommt. Die Namen des alten Bundes haben jeder für sich unter- und
überirdische Beziehungen zu dem Wesen, das ihn (den Namen) trägt, und
niemals gab es ein weiseres und besser treffendes Wort, als das vom
nomen, so ein omen ist. Es würde zu weit führen, wollte man im Rahmen
dieses Buches etwa versuchen, das Problem der vier Frauen zu
beleuchten, die im Geschlechtsregister Matthaei genannt werden (Thamar,
Rahel, Ruth und Bathseba), so daß als fünfter Name des Registers, Maria
erscheint, womit das Mysterium der jungfräulichen Geburt verknüpft ist.
Matthäus, als Schüler des Matthai (was auf das Essäertum hindeutet),
vereinigt in sich einen neuen Menschen, einen Weltenmenschen, der das
Denken des Levitentums, das Fühlen der Essäer und, von Beruf römischer
Zöllner, das römische Wollen in sich vereinigt. Auch im Lukasevangelium
findet sich ein Geschlechtsregister vor, allerdings nicht zu Beginn dieses
Evangeliums, sondern erst im dritten Kapitel, nachdem der Evangelist
erzählt hat, wie Jesus »begann, als er ungefähr dreißig Jahre alt war«, und
dieses Register reicht, im Gegensatz zu dem des Matthäusevangeliums,
von Jesus bis (über Abraham) hinauf zu Adam, »der Gottes war«. Aus
diesen beiden Registern, aus ihren Abweichungen vor allem, lassen sich
auch äußerlich Belege dafür ableiten, was Rudolf Steiner, aus
übersinnlicher Forschung heraus, zum erstenmal festgestellt hat und was
geradezu ein Ausgangspunkt für die vollkommene Erneuerung des
Christusverständnisses geworden ist, entscheidend für alle späteren Zeiten:
Belege dafür, daß es in Wahrheit zwei Jesusknaben gegeben hat. Die
ersten Eröffnungen über dieses Geheimnis machte Rudolf Steiner im
engeren Kreise 1909 bei einem Vortragszyklus über das
Lukasevangelium, öffentlich zwei Jahre später. Der Widerspruch, den diese
Feststellung hervorrief, war ebenso heftig als unbegründet; sie als
Ausgeburt der Phantasie zu werten, blieb allerdings nur jenen Kritikern
vorbehalten, die keine Möglichkeit hatten, einzusehen, wie übersinnliche
Erkenntnisse überhaupt zustande kommen; im Eifer des Gefechtes
ignorierten sie zugleich den Umstand, daß aus den Evangelien selbst die
Erkenntnis von den beiden Jesusknaben gewonnen werden kann, die
schon zu sehr frühen Zeiten vorhanden war. Immerhin ist, ehe an eine
gedrängte Darstellung dieses Sachverhaltes geschritten werden kann,

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 92


zunächst notwendig, noch einmal auf das Problem des Jesus und des
Christus im Mysterium von Golgatha zurückzukommen. Es gibt ein
Christus- und ein Jesusmysterium! Der Schritt vom Jesus zu Christus, in
den Evangelien ganz deutlich unternommen, bedeutet soviel wie ein
Verständnis des Jesusmysteriums im Lichte des Christusgeheimnisses. Er
muß unternommen werden, soll das Verständnis für den Jesus nicht
gänzlich an der Oberfläche bleiben; ein zweiter Schritt bleibt allerdings zu
tun übrig; er führt vom Christusmysterium gleichsam zu einer um eine
Oktave höheren Auffassung des Jesus, in die alle christliche Entwicklung
führen muß. Petrus und die Urapostel taten den Schritt von Jesus zu
Christus, Paulus den vom Christus zum Jesus; er war im Besitze eines
höheren Jesusmysteriums als Petrus. Die oben erwähnte Anordnung der
Evangelien zwingt dazu, den Schritt vom Jesus zu Christus zweimal zu tun,
einmal im Matthäus-, das anderemal im Lukasevangelium. Das Geheimnis
der Mitte (der Schritt von Markus zu Lukas) liegt darin, daß Lukas eben ein
Jesusevangelium im anderen Sinne ist als das Matthäusevangelium; es
steht unmittelbar vor dem Johannesevangelium, über welchem die Krone
der Mysterien aufstrahlt.

IX. Der salomonische und der nathanische Jesus


Die Jesuszeit im Leben des Christus-Jesus umfaßt den Zeitabschnitt von
der Geburt bis zum dreißigsten Jahre; ihr folgen drei Christusjahre, von der
Jordantaufe bis zum Opfertod am Kreuz. Matthäus und Lukas führen die
Kindheitsgeschichte des Jesus nur bis zum zwölften Jahre. Der Raum vor
dem zwölften Jahre, vor den Geburtsgeschichten und dem Erlebnis mit
dem zwölfjährigen Jesus bleibt ebenso leer wie der Abschnitt vom zwölften
bis zum dreißigsten Jahre im Leben Jesu. Die landläufige Forschung
schreibt diesen offenkundigen Mangel dem Umstände zu, daß es den
Evangelisten an Quellen und Überlieferungen gebrach, denn sie hätten
sonst, so meint man, sicherlich nicht darüber geschwiegen. In Wahrheit
wollten aber die Evangelisten keineswegs das bieten, was man eine
lückenlose Lebensbeschreibung nennt; was sie sagen und worüber sie
sprechen wollten, das haben sie sicherlich gesagt. Es gibt aber ein fünftes
Evangelium, das zur gegebenen Zeit zu den vier Evangelien hinzutreten
wird; darüber hat Steiner (1913, in Christiania vom 1. bis zum 6. Oktober)
Mitteilungen gemacht; das fünfte Evangelium ist von gleichem Alter wie die
vier anderen; es wirft volles Licht auf das Pfingstereignis, es verkündet die
überirdische Wahrheit über den Christus: seine Berührung mit den Stätten
des Mithraskultes, sein Verhältnis zum Streit der beiden Rabbinerschulen,
seine Wanderungen bis zum vierundzwanzigsten Jahre, die ihn die
Abgründe der Menschennatur erkennen ließen, seine Erlebnisse mit den
Essäern, die Versuchung durch Luzifer und Ahriman und die Entstehung
des »Vaterunser«. Um aber zur Kindheitsgeschichte des Jesus von
Nazareth zurückzukehren, die, wie schon angedeutet ward, das Geheimnis
der beiden Jesusknaben birgt, so liegt auch für den ersten flüchtigen Blick

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 93


klar zutage, daß Matthäus und Lukas in zwei ganz verschiedene Welten
einführen. Matthäus erzählt die irdischdramatische, Lukas die
himmlischmusikalische Weihnachtsgeschichte. Worauf es hier in erster
Reihe ankommt, das ist der Umstand, daß bei sorgfältiger Betrachtung der
beiden Geburtsgeschichten der Eindruck entsteht, es handle sich gar nicht
um einen und denselben Jesusknaben; die beiden Geburtsgeschichten
haben nichts gemeinsam, als den Namen des Bandes und den der Eltern,
welch letztere übrigens in jener Zeit von vielen getragen wurden und sehr
häufig vorkamen. Da findet sich vor allem die Geschichte des
bethlehemitischen Kindesmordes im Matthäusevangelium, die zur Flucht
nach Ägypten zwang, ausgeführt unmittelbar nach der Anbetung durch die
drei Könige des Morgenlandes. Lukas weiß nichts davon. Das Jesukind
wird geboren, in der Krippe von frommen Hirten angebetet und nach acht
Tagen nach Jerusalem zur Beschneidung gebracht; darauf kehren die
Eltern mit dem Kinde wieder nach Nazareth zurück. Die eine Erzählung
schließt die andere aus. Wenn Herodes den Befehl gab, alle Kinder, die in
jener Nacht zur Welt kamen, umzubringen, wie konnten dann Jesu und
seine Eltern ruhig in Jerusalem und Nazareth verweilen, ohne von den
Häschern des Herodes aufgefangen zu werden? Des weiteren hat Steiner
mit Recht darauf hingewiesen, daß das nach Lukas ein halbes Jahr vor
dem Jesusknaben geborene Johannesknäblein dem Herodes entging,
obzwar dieser den Befehl gegeben hatte, alle Knaben unter zwei Jahren zu
töten. Nach Lukas sind die Eltern des Jesusknaben in Nazareth ansässig,
ziehen zur Volkszählung nach Bethlehem, zur Beschneidung nach
Jerusalem und kehren dann wieder nach »ihrer Stadt« (Nazareth) zurück.
Nach Matthäus wohnen die Eltern Jesu in Bethlehem, wo das Knäblein
geboren wird. Erst nach der Heimkehr aus Ägypten zieht Josef nach Galiläa
und erst geraume Zeit später kommt er, um dort Wohnung zu nehmen, in
die Stadt, die da heißt: Nazareth, damit sich das Prophetenwort erfülle. Ist
das nicht wirklich so, als handelte es sich, nach den beiden Evangelien, um
zwei verschiedene Elternpaare mit je einem Jesusknaben, das eine in
Bethlehem, das andere in Nazareth wohnhaft? Diese Gedankengänge
erhalten aber weitere Nahrung eben durch die in den beiden, einander
»widersprechenden« Evangelien (Matthäus und Lukas) enthaltenen
Geschlechtsregister. Das Geschlechtsregister bei Matthäus führt, gleich an
der Spitze des Evangeliums, Jesu Stammbaum aus der Vergangenheit bis
zur Gegenwart (von Abraham zu Jesus). Das Lukasevangelium, das von
der Gegenwart in die Vergangenheit, von Jesus bis Adam, »der Gottes
war«, hinaufsteigt, stellt seine Stammbaumtafel erst in das 3. Kapitel, also
in unmittelbare Nähe des Christuswirkens, gleich nach der Jordantaufe, mit
der das Christuswirken einsetzt. Matthäus zählt von Abraham bis Jesus 41,
Lukas von Jesus bis Adam 76 Namen auf, 20 (die bei Matthäus ganz
fehlen) von Gott bis Abraham (darunter Henoch) und 56 von Abraham bis
Jesus. Von Abraham bis David decken sich das matthäische und das
Lukas'sche Geschlechtsregister; bis zum 14. Namen (dem Davids) sind

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 94


beide gleichlautend. Von David ab beginnt indes eine völlige
Verschiedenheit der Namen und der Zahl der Generationen; nur die Namen
Sealthiel, Serubabel, Joseph und Jesus stimmen überein. Die Evangelisten
führen also zwei ganz verschiedene Stammbäume vor, deren einer die
salomonische, deren anderer aber die nathanische Liste (als einem
anderen Sohn des David) als Davids Nachkommen anführt, so daß man,
wohl auch mit einiger äußerlicher Berechtigung, von einem salomonischen
(Matthäus) und einem nathanischen (Lukas) Jesusknaben sprechen darf.

X. Noch einmal: das Rätsel der Geschlechtsregister


Die landläufige Theologie hat, um nicht annehmen zu müssen, daß bei
Matthäus und Lukas zwei verschiedene Geschlechtsregister und daher
auch zwei Jesusknaben zu finden sind, die gequältesten Kombinationen
gewagt. Ihre Neigung, überhaupt so zu tun, als wären die Evangelisten sehr
naive und sozusagen primitive Leute gewesen, die schleuderhaft arbeiteten
und nicht einmal in der Bestimmung des Großvaters Jesu (bei Matthäus ist
es Jakob, des Matthäus Sohn, und bei Lukas Eli, Matthats Sohn) einig
waren. Selbst wenn man diese törichte Annahme irgendwie für berechtigt
hielte, bliebe aber noch immer eine andere, ebenso unhaltbare Auffassung
übrig, nämlich die, das Urchristentum, das jeden Buchstaben der heiligen
Bücher anbetete und zu deuten wußte, wäre über so grundlegende
Abweichungen, wie sie die Geschlechtsregister bei Matthäus und Lukas
aufweisen, stillschweigend zur Tagesordnung übergegangen. In der Tat hat
sich schon Julius Afrikanus (im 2. bis 3. Jahrhundert n. Chr.) bemüht, die
Leviratsehe (Schwagerehe) des herrschenden mosaischen Geschlechtes
zur Erklärung der Widersprüche heranzuziehen und Joseph wohl für den
rechtlichen Sohn des Eli (bei Lukas), aber gleichzeitig für den leiblichen
Sohn des Jakob (bei Matthäus) anzusehen. Allerdings darf nicht vergessen
werden, daß das Geschlechtsregister des Matthäus auch mit den
Stammbäumen der Königsbücher des alten Testamentes nicht
übereinstimmt, sondern daß Matthäus ab und zu eine oder mehrere
Generationen ganz ausläßt, woraus sich für die theologische Forschung
ergibt, Matthäus habe, um seiner »spielerischen« Generationenrechnung (2
x 7 bis David, 2 x 7 bis zur babylonischen Gefangenschaft und 2 x 7 bis
Jesus, also im ganzen 42 Generationen) willen, nach Belieben unter
anderem drei wichtige Könige ausgelassen, die in den Königsbüchern
natürlich vorkommen. Es stellt sich aber überraschenderweise heraus, daß
der Evangelist Matthäus im Zählen »geirrt« hat: die letzte Zählung (von der
babylonischen Gefangenschaft bis Jesus) stimmt nicht, sie umfaßt nicht
vierzehn, sondern dreizehn Glieder. Rudolf Steiner hat auch diesen
»Irrtum« erklärt; die Geschlechtsregister sind zugleich die Stufen eines bei
den Essäern üblichen Einweihungsweges, auf dem das Bewußtsein seinen
ursprünglichen himmlischen (übersinnlichen) Inhalt zurückerlangt. In der
alten Einweihung spielt die 7 als Zahl eine besondere Rolle, Matthäus
nennt 6 x 7 Stufen, aber die 7. Siebenergruppe als oberstes Stockwerk wird

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 95


auf 6 x 7 Stufen erreicht. Dazu kommt nun etwas nicht minder
Merkwürdiges. Lukas läßt die Siebenzählung ganz beiseite, er führt sie
äußerlich, im Gegensatze zu Matthäus, nicht durch, aber in der Lukasweihe
ist die Formel 6 x 7 doch auch enthalten. Lukas zählt 7 x 11 Stufen, also 77,
enthält aber bloß 76 Stufen, so daß auch bei ihm (nur daß er sich dabei
nicht äußerlich irrt) eine Stufe fehlt, die Stufe, die der Initiierte selbst als
eigentliche erste Stufe einnimmt. Wie dem immer sein mag, sicher ist, daß,
wenn das Lukasevangelium nicht vorhanden wäre, es nur einen
Jesusknaben, den salomonischen Jesus, gäbe; den zweiten Jesusknaben,
der allerdings später mit dem nathanischen Jesus in eine Gestalt
zusammenfließt, fügt das Lukasevangelium ganz unzweideutig hinzu.
Zwischen den beiden Jesusknaben liegt nach Steiner ein Geburtsjahr. Der
Zusammenhang zwischen beiden, den Steiner gibt, stellt sich nun, auf die
kürzeste Formel gebracht, so dar: in Bethlehem wie in Nazareth leben um
dieselbe Zeit zwei Ehepaare Joseph und Maria; beide Joseph stammen aus
dem königlichen Geschlechte des Hauses David, der zu Bethlehem von
Salomon, als dem einen, der zu Nazareth von Nathan, als dem anderen
Sohne Davids; sie repräsentieren zusammen ein königliches und ein
priesterliches Geschlecht, denn Nathan war, schon seinem Namen nach,
Priester. Das Kind aus der salomonischen Linie, zuerst geboren, ist der
Jesusknabe des Matthäusevangeliums; die Könige aus dem Morgenlande
beten es an und seine Eltern fliehen (mit ihrem in Bethlehem geborenen
Kinde) vor der Verfolgung des Herodes nach Ägypten. Ein knappes Jahr
später kommt der Jesusknabe der nathanischen Linie (auch in Bethlehem)
zur Welt; seine Mutter ist ein besonderes, jungfräuliches, noch im
Mädchenalter stehendes Wesen; an der Krippe dieses Jesusknaben beten
die frommen Hirten; der hethlehemitische Kindermord ist vorüber und
vergessen; gefahrlos bringen die Eltern das Kind nach Jerusalem, um dann
mit ihm nach Nazareth zurückzukehren. Aus Ägypten heimgekommen,
nimmt nun das früher in Bethlehem seßhafte salomonische Ehepaar in
Nazareth seinen Wohnsitz. Beide Familien, das salomonische und das
nathanische, wohnen fortab am gleichen Ort; beide Jesusknaben wachsen
zusammen auf, der ältere, durch Inkarnationen gegangen, sehr reif und
weise, der jüngere (nathanische) zart von Leib und Seele, himmlisch gut
und tief an Gefühl; während dem älteren (irdischeren) Jesusknaben noch
Geschwister geboren worden (Markus 6, 3) bleibt der jüngere, nathanische,
das einzige Kind seines Vaters und seiner jungfräulichen Mutter. Beide
Familien sind durch Freundschaft miteinander verbunden. An einem
Osterfest, von dem das Lukasevangelium erzählt, pilgern beide Familien
gemeinsam nach Jerusalem. Hier im Tempel spielt sich nun die
merkwürdige Szene ab, die Lukas schildert. Der Jesusknabe sitzt im
Tempel, mitten unter den Gelehrten, hört ihnen zu und legt ihnen Fragen
vor. Seine Eltern können ihn kaum erkennen. Im Tempel, so faßt Steiner
den mystischen Vorgang zusammen, ging der salomonische Jesusknabe
auf den nathanischen über.

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 96


XI. Die Lehre von den drei Leibern des Jesus von Nazareth
Die Erzählung des Lukasevangeliums schildert diesen Umzug des
salomonischen Jesus-Ichs in das nathanische Jesus-Ich; vom zweiten,
anderen Jesusknaben ist darin nicht die Rede; sie gibt eben nur das
Resultat und die Wirkungen des Ergebnisses auf die Eltern. Materielle
Gehirne, Tatsachen- und Wirklichkeitsintellekte, können ein Geschehen
solcher Art weder verstehen noch sich irgendwie vorstellen, aber Steiner
selbst hat in einem wundersam zarten Bilde den Vorgang ungefähr so
beschrieben, wie er für irdische Gedankengänge noch zur Not faßbar ist.
Die beiden Kinder, miteinander aufgewachsen und traumhaft spielend,
kommen ungefähr zur selben Zeit beim Wendepunkt der Geschlechtsreife
an; sie steigen aus dem Kinderlande ins Land der Jugend auf; sie
erwachen, und der Eintritt in den Tempel übt tiefgehenden Einfluß auf ihr
junges Gemüt; die Knaben sind sich förmlich fremd geworden, aber in dem
irdischeren von beiden, im gedankenreiferen und ichstärkeren,
salomonischen Jesusknaben blüht ein Strahl der Erkenntnis über das
eigene und über das Wesen des nathanischen Knaben auf, der in seiner
Gemütstiefe und Seelenreinheit göttliches Licht verbreitet. Ein Gefühl
unsagbarer Hingabe erfaßt den salomonischen Jesusknaben; das Gefühl
dieser Hingabe wird so stark, daß es sich zum realen Geschehen wandelt.
Der zurückgebliebene, schwächere, ganz im Gemüt versonnene und
weltfremde nathanische Jesusknabe erwacht in einem verstärkten Ich, in
neuer Denkkraft, denn der andere, der salomonische Jesusknabe hat
seinen Wesensinhalt in die leuchtende Seelenschale des nathanischen
Jesusknaben ergossen. Drei Tage lang suchen die nathanischen Eltern ihr
Kind und können es nicht finden. Am dritten Tage finden sie Jesus im
Tempel, staunen über seine Weisheit und finden ihn völlig verändert, ohne
seine Reden verstehen zu können. Nach diesem großen Erlebnis ziehen
beide Familien wieder nach Nazareth zurück. Der salomonische
Jesusknabe, der sein Ich geopfert hat, siecht dahin und stirbt kurz nachher;
sein Ich lebt im nathanischen Jesusknaben weiter. Indessen segnet nun
auch der Vater des salomonischen Jesusknaben, Joseph, das Zeitliche und
bald darauf stirbt die junge Mutter des nathanischen Jesusknaben. Der
nathanische Joseph nimmt die salomonische Maria samt ihren Kindern zu
sich. Der nathanische Jesusknabe lebt nun also mit seinem leiblichen
Vater, der Stiefmutter Maria und den Geschwistern des verstorbenen
salomonischen Jesusknaben zusammen. Später stirbt dann auch der
nathanische Joseph, und der nathanische Jesus schließt sich mit
besonderer Innigkeit an die Stiefmutter Maria an. Eine Reihe tiefer und
schwerer Erlebnisse, die im fünften Evangelium geschildert werden, führt
den nathanischen Jesus nun bis zur Jordantaufe, in der er sein Ich opfert,
um das Christuswesen in sich aufzunehmen. Man kann sich ungefähr
vorstellen, welche Wirkungen diese Feststellungen Steiners auf die zünftige
protestantische und katholische Theologie ausübten. Sie schalten ihn einen
ausgemachten Phantasten, wenn nicht Schlimmeres und waren

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 97


außerstande, auch nur in den Vorhof des Jesusgeheimnisses, das in dieser
Erkenntnis von den beiden Jesusknaben steckt, einzudringen, obgleich hier
allein der Schlüssel zum Mysterium Menschensohn und Gott liegt.
Vergeblich wird man den zünftigen Bibelkritikern vorhalten, daß das
apokryphe Ägypterevangelium die Frage, wann das Reich des Herrn
kommt, damit beantwortet, daß es wörtlich sagt: »bis die zwei Eins sind und
das Auswendige wie das Inwendige und das Männliche mit dem
Weiblichen«; vergeblich, für solche Ohren, erzählt die salomonische
Jesusmutter in der Pistis Sophia, daß das andere Ich des Knaben ihr
erschien, daß sie es an das Bett gebunden habe und daß es dann mit dem
Jesus eins geworden sei; vergeblich, für ihr Auge, sitzt auf dem
Raffaelgemälde im Berliner Museum die Madonna mit dem Jesuskind auf
dem Schoße, links von ihr ist ein zweites Kind zu sehen, dem Jesuskind
unverkennbar ähnlich, rechts aber der kleine Johannes der Täufer;
vergeblich gewahren sie auf dem Gemälde »Jesus im Tempel«, das von
Borgognone stammt und in Mailand aufbewahrt wird, die Jesusmutter unter
den Schriftgelehrten, vorne, links vom Beschauer, aber den Jesusknaben
noch einmal, mit erloschenen Augen, kränklich von Aussehen und im
Abgang begriffen; vergeblich erinnern sie sich daran, daß im Sohar, der
einen Teil der jüdischen Kabbala bildet, gesagt wird: »der Sohn Davids und
der Sohn Josephs sind Zwei, nicht Einer«. Die Mitteilung Steiners über die
beiden Jesusknaben und die Opferung des Jesus-Ichs, vollzogen am
Jordan, damit die Christuswesenheit in den Leib des nathanischen Jesus
einziehe, sind der Ausgangspunkt einer völlig neuen Erkenntnis des
Mysteriums von Golgatha. Strahlt doch gerade aus dieser Enthüllung des
Golgathageheimnisses die Lehre von den drei Leibern des Jesus von
Nazareth hervor, die in ihrer Zusammenfügung eine Menschheitssubstanz
darstellen, so auf der Erde niemals im Fleische verkörpert war. Ohne
dieses Mysterium wäre ein geistiges Chaos ohnegleichen über das
Abendland hereingebrochen. Es gibt eine elementarische Welt voll
dämonischer und gespenstiger Kräfte, die immer bereit sind, sich des
Menschen zu bemächtigen und ihn zum Spielzeug ihrer sinnlosen Impulse
zu machen. Der Christus, der in den drei Leibern des nathanischen Jesus
Wohnung nahm, hat, in die Erdenaura eingeflossen, die dunklen
sibyllinischen Kräfte um ihre Stoß- und Triebkraft gebracht. Ihre Macht ist
für immer vorbei!

XII. Die Taufe im Jordan


Drei Evangelien erzählen von Johannes dem Täufer und von der Taufe im
Jordan, die nichts anderes offenbart als den Einzug des Christus in die
irdischen Leiber des Jesus. Lukas berührt das Geheimnis der Geburt des
Johannes, Matthäus schildert aber auch die Persönlichkeit des Rufers in
der Einsamkeit und Markus die Teilnahme des heiligen Geistes an der
Taufe im Jordan. Es besteht kein Zweifel darüber, daß Johannes der Täufer
der Sekte der Essäer und Nasiräer angehört hat. Wohl verkündigt er noch

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 98


Essäerweisheit, aber er beeilt sich, gleichzeitig festzustellen, daß diese
Weisheit schon im Abklingen begriffen ist und daß mit dem Christusjesus
etwas Neues, Unmeßbares, alle Dinge Veränderndes in die
Erdenentwicklung eintritt: »Er (Christus) muß wachsen, ich aber
abnehmen«. Bei Markus ist Johannes der Täufer ein priesterlicher Engel,
der die Taufe vorzunehmen hat (»Siehe, ich sende meinen Engel vor Dir
her«). Bei Matthäus aber stehen die ebenso erhabenen wie düsteren
Ausdrücke (in des Johannes Munde) von der Axt am Baume und der
Worfschaufel auf der Tenne, und der erste Evangelist schildert den Engel
als einen Menschen, Lukas aber als einen Hierophanten, der den Abstieg
zur Erde vollendet hat und den Rückweg von der Erde zum Himmel antritt.
Der »Prediger in der Wüste«, der »Rufer in der Einsamkeit«, beide
Bezeichnungen drücken die Mission dieses wundersamen und rätselhaften
Mannes aus. Die Seele, dank dem Pharisäertum, verarmt und verhärtet.
Eine neue Menschheit wird geboren und Christus ist ihr Ahnherr. Kam in
Bethlehem der Jesus zur Welt, so ereignet sich am Jordan die geistige
Geburt des Christus. Immerhin bleibt noch übrig, das Dunkel des Taufaktes
selbst zu erhellen. In alten Zeiten war der Umstand, daß der Mensch an
den vier »Elementen«, Erde, Wasser, Luft und Feuer wesentlichen Anteil
hat, etwas Selbstverständliches und Bekanntes. In der Anthroposophie sind
die Elemente den vier niederen Wesensgliedern des Menschen
zugeordnet: dem physischen Leib das Erdige, dem Äther- oder Lebensleib
das Wässerige, dem astralischen die Luft und dem Ich das Feuer. Dort, wo
Johannes der Täufer von den beiden verschiedenen Taufen spricht (er tauft
mit Wasser, der Christus aber wird mit Licht und Feuer taufen), berührt er
selbst das Wesen der Wassertaufe, die ohne Zweifel eine Institution des
Essäer- und Nasiräerbundes ist. Die Wassertaufe war ein strenger und
ernster Einweihungsakt. Der Täufling, unter das Wasser getaucht, erlebte
einen todesähnlichen Prozeß: die Heraushebung des Äther-, Astral- und
Ichleibes aus dem physischen Körper. In den Schriften der freien
Christengemeinschaft wird mit jener plastischen Deutlichkeit, die ihnen
eigen ist, sehr anschaulich gesagt: die Seele erlebte auf diese Weise die
Dreifältigkeit des menschlichen Wesens; sie sah auf den physischen Leib
herab, der die Vaterkräfte trägt; ihr höheres geistiges Ich, im Erdensein mit
ihr vereinigt, sah diese in Gestalt einer Taube oder der feurigen Zunge; sich
selbst aber erlebte sie gleichsam in der Mitte, durch die Taufe, eben ein
zweites Mal, als Sohn des Vaters, geboren. So stellt sich die Taufe im
Jordan als eine letzte große Zusammenfassung der vorchristlichen
Einweihungsgeheimnisse dar. Daraus erklärt sich auch, warum der Taufakt
von heute nur noch eine sehr blasse Erinnerung an das schwere
Todeserlebnis der Johanneischen Ganztaufe bedeutet; der Taufakt von
heute und die Taufe im Jordan sind äußere (außerbiblische) Taufen, die
Christustaufe mit Luft und Feuer aber eine innerliche: das Feurige und
Luftige wird in das Erden- und Wasserelement hinabgetragen. Der heilige
Geist als das reinste und höchste Seelentum und das heilige Feuer des

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 99


Christus-Ichs ziehen in den Menschen ein, dessen Bewußtsein für die
geistige Welt er erweckt. Nicht ohne Grund fällt also, am 6. Jänner, die
Huldigung der drei Könige mit der Jordantaufe und dem Feste der
Epiphanie zusammen; es ist das gemeinsame Fest des Opfers, das hier
begangen wird. Die Taufe wird zum Weihefest der Geburt zweifacher Art:
das Mysterium des Herabsteigens und das des Empfangenwerdens sind in
ihr vereinigt. Über der Wiege jedes neugeborenen Kindes schwebt der
Dauerstern (Goethe, im Faust, II) des gottentkeimten Ichs, darin das
Geheimnis der Individualität, der Besonderheit verborgen liegt. Jeder
Mensch hat seinen Namen in der göttlichgeistigen Welt, bei dem er gerufen
werden kann. Darum wird die Namengebung in der Bibel als etwas
Feierliches, Bedeutsames und durchaus Mysteriöses erörtert. In der
geistigen Welt gibt es keine Herde und keine Masse, hier ist der Mensch
keine bloße Nummer, kein Fleck wie jeder andere im Mengenbild, sondern
ein ewiges, unzerstörbares, gegen alle anderen Iche scharf abgegrenztes
Ich. So wurden Geburt und Taufakt zum Fest der Weltbejahung,
demgegenüber die buddhistische Meinung, es wäre besser, gar nicht
geboren zu sein, bloß die Trauer und die Schauer des Auf-die-Welt-
Kommens zum Ausdruck bringt. So enthält das Christentum als mystische
Tatsache auch den Grundkern, die Grundformel, das Grundschema einer
Eroberung der Einheit der Menschen aus dem Innern heraus, aus dem
Leben der Individualitäten. Eine Fülle grandioser Imaginationen eröffnet
sich dem Blick, der auf die Geheimnisse der Menschwerdung des Christus
und dessen Einzug in die Jesushülle gerichtet ist. Nur ein Blick dieser Art
kann auch das Wunder des Taubengeistes bei der Taufe im Jordan
ermessen und in der Schauung neu erleben lassen, was sich nun in jedem
auf den göttlichen Sinn eingestellten Taufakt wiederholt. Mit der Taufe im
Jordan schließt das Wunder der Jesuswerdung und Christuserfüllung ab.
Nach ihr beginnt das Christusdrama: die Opferung auf der Schädelstätte zu
Golgatha.

XIII. Versuchung und Wunder


Wie schon erwähnt wurde, fehlen, was die Zeit zwischen dem 12. und 30.
Jahre im Leben Jesu betrifft, jegliche äußere, historischen Mitteilungen. Die
apokryphen Berichte, zumeist in einem späten Zeitpunkte
niedergeschrieben, besitzen legendenhaften Charakter. Steiner hat in zwei
Vorträgen über das Mysterium von Golgatha gesprochen. Umgeben von
einer geistesverlassenen Menschheit, fühlt die Jesusseele das nahende
Gotteswesen, von dem sie überwältigt wird. Kein irdischer Mensch kann
sich dieses Jesusringen mit der göttlichen Sendung auch nur annähernd
vorstellen. »Unter der Last der Stunde«, sagt ein Kapitel der wundervollen
Evangelienbetrachtungen, die im Rahmen der »freien
Christengemeinschaft« erschienen sind, »unter der Last der Stunde
zerbrechend, ganz vom Willen zum Opfer und zur Hingabe erfüllt, stieg
Jesus von Nazareth unter Anspannung seiner letzten Kräfte zum Jordan

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 100


hinab, um sich von Johannes taufen zu lassen; er opferte sein Ich völlig hin,
um den Christus in sich aufzunehmen. Zur Stunde, in der das Jesus-Ich am
Jordan starb und in seine geistige Welt zurückfand, verkörperte sich das
Christuswesen in der Leibes- und Seelenhülle des Jesus; es war das
gewaltigste Seelenereignis, das die Menschheitsgeschichte aufzuweisen
hat.« An die Jordantaufe schließen sich nun zunächst die drei Szenen der
Versuchung, der das Christus-Jesus-Wesen ausgesetzt war. Zur selben
Zeit, da der Christus-Jesus auf Erden wandelte, spätestens um die Mitte
des ersten Jahrhunderts, darin Christi Lebens- und Seelenwandel spielt,
kommt ein hellenischer Theurge aus Thyana in Kappadokien nach Athen,
dessen Heiligtümer er besichtigt. Er reist umher, um die Menschen das
religiöse Leben zu lehren, unterstützt, ein großer Magier aus dem Osten,
seine Lehren durch Wunder, die er kraft der alten Einweihungen verrichtet
und die in manchem Punkte mit den Wundern, die der Christus Jesus
verrichtete, übereinstimmen. Die Welt dieser Zeit war voll mit Magiern, die
ihre Kraft aus den sich auflösenden Geheimschulen des Ostens, der
Pythagoräer und der alten hebräischen Einweihungen schöpften. Versuche
der geistigen Welt, wie sie an den Christus Jesus herantreten, fanden bei
Magiern dieser Art leichteres Spiel. In die drei Wesensglieder des
menschgewordenen Gottes senken jene Wesen vergeblich ihre
Verführersubstanz: der Christusleib widersteht dem Wesen, das ihn lehren
Will, aus Steinen Brot zu machen, der Ätherleib des Christus wehrt dem
Versucher, der ihn dazu verführen will, sich, mit den Lebenskräften
spielend, von der Zinne des Tempels hinabzustürzen, und der Astralleib
des Christus Jesus bricht vollends die Macht des Verführers, der ihm
nahelegt, lieber die Rolle eines Weltbeherrschers als die eines
Weltenerlösers auf sich zu nehmen. War in diesem Erlöser, der als hoher
Sonnengeist und Menschensohn über die Erde wandelte, nicht tatsächlich
eine so übergroße Macht und Schöpfungskraft, daß es reizte, sie zu
mißbrauchen? Liegt aber nicht gerade darin, daß die Versucher, bei aller
»Gewißheit«, doch nicht wußten, wen sie vor sich hatten, die ganze
Tragödie der Versuchung überhaupt? Wie dem immer wäre, anschließend
an die drei Versuchungsszenen ist es jetzt wohl auch an der Zeit, ein Wort
über die Wunder Christi zu verlieren. Niemand, der die Evangelien mit rein
irdischen Augen ansieht, will mit ihnen zu tun haben. Neben den
Kurzsichtigen, die an Wunder überhaupt nicht glauben, stehen andere, die
etwas von Legende und Sage stammeln, wenn von Wundern die Rede ist,
oder sie versuchen allerhand aus der reinen Vernunft geholte Deutungen.
Trotzdem steht fest, daß die Wunder Christi einen unlöslichen Bestandteil
der Evangelien und des Christentums als einer mystischen Tatsache
bilden; versucht man sie aus dem Rahmen herauszureißen, der sie umgibt,
so geht bei diesem Gewaltprozeß das Evangelium und mit ihm das ganze
Mysterium von Golgatha unwiederbringlich verloren. Alle Unsicherheit löst
sich aber sofort, wenn die Wunder Christi als Einweihungserlebnisse
erkannt werden; dann haben sie die volle geistige und seelische und, wenn

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 101


man so will und wenn man es so versteht, auch materielle Wirklichkeit. An
allen drei Wirklichkeiten hatte der Spötter und Zyniker Heinrich Heine teil,
als er, ein Jude, in seinem herrlichen Gedichte »Frieden« schrieb: »halb im
Wachen und halb im Schlummer, schaute ich Christus, den Heiland der
Welt; im wallend weißen Gewände wandelt er riesengroß über Land und
Meer«. Nicht ohne Grund ist aber an dieser Stelle gerade von den Wundern
des Apollonios von Thyana gesprochen worden. Auch Apollonios, der
große Magier, wandelte auf dem Wasser; er vermochte es als magische
Verrichtung, die, die Schwerkraft aufhebend, Gesetze der physischen Welt
über den Haufen warf. Bei spiritistischen Sitzungen mit
einem hervorragenden Medium geschehen, wahrhaftig, noch heute,
Wunder. Ist die Aufhebung der Schwerkraft keines? Sind die Scherze und
Spässe der Dämonen und Elemente des Zwischenreiches nicht Mirakel von
ganz besonderer, wenn auch gespenstiger Realität? Sind die
»Erscheinungen Verstorbener«, die Materialisationen von Armen und
Beinen, die Klopflaute, Lichterscheinungen, das kalte Licht und der kalte
Wind, der den Seancenraum durchfließt oder durchweht, nicht wundersame
Begebenheiten für brave Materialisten, die sich in den Kopf gesetzt haben,
hinter diese Geheimnisse zu kommen, und die erleichtert aufatmen, wenn
ihnen hinterdrein jemand sagt, daß es sich um »Schwindel« oder um
»Selbstbetrug« gehandelt habe? Die Wunder Christi gehören auf ein
anderes Blatt; sie sind frei von Magie, sie sind keine Wunder für
Materialisten und Sinnesmenschen; ihre Wirklichkeit besteht auf höherer
Ebene, in den Regionen der göttlichgeistigen Welt, für Jeden Erlebnis, der
die höheren Sinnesorgane entwickelt.

XIV. Der Tod des Christus Jesus auf Golgatha


So verlockend es wäre, an dieser Stelle über die Wunder und die
Gleichnisse des Christus Jesus zu sprechen, so gebieterisch mahnen die
Grenzen, die diesem Buche gesetzt sind, zu einsichtiger Beschränkung des
ungeheuren Stoffes. Er drängt nun zur geisteswissenschaftlichen
Erkenntnis vom Mysterium auf Golgatha selbst. Das Drama des Erlösers
beginnt mit der Taufe im Jordan, es erreicht seinen Höhepunkt in der
Kreuzigung und Auferstehung, seinen Abschluß in der Erscheinung des
Christus Jesus vor seinen Jüngern. Im Leben und Erdenwandel des
Christus Jesus gibt es, noch weniger, als es ihn ansonsten gibt, keinerlei
Zufall. Der Prozeß Christi und dessen martervoller Tod, der Tod eines
Gottes, der auch als Mensch keinen Fehler besaß, hat sich wirklich so
abgespielt, wie ihn die heiligen Schriften erzählen und schildern.
Gleichzeitig sind aber alle diese äußerlichen Geschehnisse in der geistigen
Welt bedeutsam und voll von geheimnisvollen Beziehungen zur Welt- und
Menschenentwicklung im göttlichen Sinne. Die Allmacht Roms, die Christi
Ankläger gewähren ließ, obzwar sie selbst von der vollkommenen Unschuld
des Angeklagten überzeugt War und auch genug Machtmittel besaß, die
schmachvolle Hinrichtung des Gottesmenschen Jesus zu verhindern, war,

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 102


wenn man den Ausdruck im Rahmen einer so ernsten Sache gestatten will,
mit ihrem Latein zu Ende. Es war ihr Karma, auf das schreckliche Karma
einzuwirken, das den Henkern des Christus Jesus gebot, sich zu
Vollziehern einer schändlichen Tat aufzuwerfen. Die »erleuchteten«
Priester Judas waren ebenso blind und unfähig, diese ihre schmähliche
Rolle zu durchschauen; so sind sie denn als finsterer Teil der
Christustragödie für ewig in das Mysterium von Golgatha eingebaut und in
ihrer Art mit diesem selbst, wenn auch im trübsten Verstände, unsterblich
geworden. Der Prozeß Christi war zugleich ein Kampf des Gesetzes gegen
das ewige und unzerstörbare Ich, das zur Christusstunde sich für immer
vom Gesetze loslöst, indes das Verbleiben im Gesetze zwei dreifache
Abirrungen zuläßt: Almosen, Beten und Fasten einerseits, Anhäufung von
Schätzen, irdische Sorgen und angemaßte Richterfunktionen anderseits;
diesen beiden je dreifachen Abirrungen stehen die drei Stufen christlichen
Werdens gegenüber: Gebet, die enge Pforte zum Himmelreich und die
Wachsamkeit derer, die auf dem Wege dahin sind. In den drei Worten
Gethsemane, Ölberg und Golgatha ist das Mysterium des Christusjesus für
immer verankert; sie haben heute allerdings einen ganz neuen Klang. Der
Hügel Golgatha, den das Johannesevangelium selbst als »Schädelstätte«
deutet, ist von allen anderen Erhebungen dieser Erde für immer
unterschieden. Die alten Eingeweihten wußten um das Geheimnis, daß die
Erde, die Stätte alles Lebens, selbst ein lebendiges Wesen ist, dem
Menschen vergleichbar, den sie hervorgebracht hat und trägt. Ist Palästina
das Haupt, so ist Golgatha die Stirnwölbung dieses Wesens. Die
Schädelstätte war zur selben Zeit, wie das Adamsbuch, ein Dokument alter
Weisheitsüberlieferung, zeigt: Mittelpunkt der Erde, Schatzhöhle, Grab
Adams und Altar des ewigen Hohepriesters Melchisedek. Wie die Erde, so
hat auch jeder einzelne Mensch seine Schädelstätte; starb auf Golgatha
der Gottmensch, so erstarb im Haupte des Menschen der Geist des
Menschen zum bloßen Gedanken. So bleiben Golgatha und
Menschenschädelstätte für immer miteinander verbunden; des Menschen
Haut wird von der mineralischen Substanz der Knochen gebildet, und der
Totenschädel ist seit jeher das Symbol des Todes gewesen. Hier wird auch
die Erkenntnis eines neuen Lebens geboren, das, nicht mehr an den Leib
gebunden, dem Tode benachbart ist, so wie das Auferstehungsgrab Christi
und der Garten des Josef von Arimathea Golgatha benachbart waren. Auf
Golgatha ist der Kelch des Menschenwesens bis an den Rand gefüllt. Eine
göttliche Trinität, am Jordan geoffenbart, spiegelt sich hart und irdisch in
den drei Kreuzen auf der Schädelstätte. Hier hängt Gottes Sohn in der Mitte
zwischen Ahriman, als dem linken Schacher, der den Gottvater um der
Stoffwelt willen verließ, indes Lucifer, der rechte Schacher, eine Abirrung
des heiligen Geistes, den Weg zum Christus, weicher und heller als
Ahriman, noch immer finden kann. Christus zwischen Ahriman und Lucifer:
hier bietet sich dem schauenden Menschen das erschütternde Bild einer
»allzu irdischen Trinität«. Hinzugefügt sei hier noch, daß in den sieben

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 103


Worten Christi am Kreuze ein besonderes Geheimnis steckt, kulminierend
in dem alten Kultwort: »Es ist vollbracht!« Wen ein gütiges Schicksal das
ungeheure Erdenmysterium von Golgatha in seiner geistesgeschichtlichen
und ewigen Wahrheit erkennen läßt, der wird von diesen rein
schemenhaften Andeutungen, die aus den Schriften der
Christengemeinschaft geschöpft sind, wohl zu den Quellen selbst
zurückgreifen, die, trotzdem auch sie nur Andeutungen geben können,
doch die ganze herrliche Wunderwelt des wahren Christentums angelweit
vor dem erschauernden Blicke öffnen, deren Torwächter Rudolf Steiner ist.
In einem späten Augenblicke meines an Irrtümern reichen Lebens bin ich,
selbst wie durch ein Wunder, vor diese Wunderwelt geführt worden, der
eine unirdische, alles verklärende Kraft entströmt. Sie gab mir am Abend
meines Daseins eine Fülle von Erkenntnissen, von denen nicht gesprochen
werden kann, ohne daß die ganze Armseligkeit und Nichtigkeit des Wortes
und Begriffes Dank wie brennender Stoff auf unbewehrte Haut fiele. Die
echte Dankbarkeit verstummt, weil sie keine Worte mehr findet.

XV. Die Gefährten und die Nachfolge Christi


Das Mysterium von Golgatha schließt, um ihm eine äußerliche Grenze zu
setzen, obzwar es längst in das Wesen der Erde übergegangen ist, mit der
Auferstehung, mit dem Pfingsterlebnis der Apostel und mit der
Paulusbekehrung auf dem Wege nach Damaskus. Es ist notwendig, von
diesen Dingen an der Hand des Evangeliums und der Apostelgeschichte zu
sprechen, ehe von den weiteren Schicksalen des Urchristentums die Rede
ist. Man kann diese außerordentlichen Begebenheiten allerdings nicht
verstehen, ohne das persönliche Christentum und die Berufung der ersten
Jünger zu berühren, mit denen die große Frage der Nachfolge Christi
einsetzt. Im Evangelium des Matthäus wird erzählt, wie Jesus, am Gestade
des Galiläischen Meeres wandelnd, zwei Schiffe mit je einem Bruderpaare
sieht, Netze nach Fischen auswerfend, eines ferner auf dem offenen
Meere, das andere näher dem Ufer. In einem Fischerkahn sitzen Simon
Petrus und Andreas, im anderen Jakobus und Johannes, die Söhne des
Zebedäus. Das Meer verlassend, legen sie am Ufer an. Auch auf dem
Grunde dieser Begebenheit liegt ein Gleichnis, ein reales Schicksal, das
seinen vollen Sinn erst vom Geistigen her empfängt. Dann wieder erzählt
Johannes, im vierten Evangelium, Johannes der Täufer sei mit zweien
seiner Jünger an dem Wege gestanden, wo Jesus vorüberging. Der Täufer
weist auf Jesus hin und sagt: »Das ist das Lamm Gottes.« Daraufhin
werden die beiden Johannesjünger Jünger Jesu; einer von den beiden ist
Andreas, der sogleich seinen Bruder Simon Petrus mitbringt; der zweite der
Jünger, der bei Johannes dem Täufer stand, wird nicht genannt. Das
Verschweigen eines Namens kehrt im Evangelium sehr oft wieder; auch der
Name des Jüngers Johannes kommt im vierten Evangelium nicht vor, was
sicherlich nie ohne Absicht geschieht; so bleibt denn immerhin die
Vermutung offen, der zweite Jünger des Johannes sei Johannes gewesen,

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 104


der darauf seinen Bruder Jakobus zu Christus Jesus führte. Andreas und
Johannes gehen als Jünger des Täufers, Petrus und Jakobus aber durch
Vermittlung ihrer Brüder zu Christus über. Die Evangelisten Matthäus und
Johannes scheinen auf verschiedenen Wegen zur Berufung der ersten
Jünger gelangt zu sein: Matthäus durch das Schauen der beiden Schiffe
auf dem Meere, Johannes aber als Mitwirkender bei dieser Gelegenheit
selbst. Wie dem immer wäre (insbesondere ob nun Petrus und Jakobus
wirkliche oder nur im Einweihungssinne Brüder des Andreas,
beziehungsweise des Johannes waren oder nicht): die geistige Kraft, die
dieser Szene entströmt, eröffnet auch das Geheimnis des persönlichen
Christentums und der Nachfolge Christi überhaupt. Der Christus Jesus gibt
den Mut zur Persönlichkeit. Nur das heimatlos gewordene Ich vermag die
Nachfolge Christi anzutreten. Am Schlusse des Johannesevangeliums aber
sagt der Jünger, »den der Herr liebhatte«: »dieses ist derselbe Jünger, der
von diesen Begebenheiten Zeugnis gibt und dieses geschrieben hat, und
wir wissen, daß sein Zeugnis wahr ist.« Man weiß ferner, daß es nach und
nach zwölf Jünger waren, die den Gottessohn umgaben, und daß Simon
Petrus unter ihnen die erste Stelle einnahm, obzwar gerade er es war, der
Christum »dreimal verleugnete«, Johannes aber der Jünger, den der Herr
liebhatte. Ein erstaunlicher Vorzug also, ebenso erstaunlich wie die Figur
Judas', des Verräters, unter den zwölf Jüngern. Auch der Name Petrus, den
Simon von Jesus empfängt und der »Fels« heißt, will so gar nicht mit dem
Wesen dieses Jüngers übereinstimmen, der auszusprechen bestimmt war:
»Ich kenne diesen Menschen nicht!« Dennoch liegen auch in diesen
scheinbaren Widersprüchen tief geistige Dinge verborgen. In der Zahl 12
der Jünger offenbaren sich kosmische Beziehungen zu dem Tierkreis, in
den Jüngern, Petrus Jakobus und Johannes klingt das ewige, flüssige und
luftige Element an, indes der Christusjesus selbst das feurige darstellt.
Auch der Name Jona, den Christus im Matthäusevangelium dem Petrus
beilegt (ein hebräisches Wort, das zu deutsch »Taube« heißt, mit dem
Johannesnamen enge verwandt ist und jenem Propheten zukommt, der das
Abenteuer mit dem Walfisch hatte), als die »erste, große Verwirklichung
des Christuswortes von der Erneuerung des Jonaszeichens«, liegt in dem
siebenstufigen Johannesweg bis zur Auferweckung des Lazarus. Durch die
Hinzufügung des »Jona« zu Petrus wird angedeutet, daß sich Petrus- und
Johannesweg nun berühren. Damit wird also die Johannesnähe des Petrus
bezeichnet: die Johannes-, aber auch die Judas-Nähe, die in den Worten
»Hebe dich, Satan, von mir«, verborgen liegt! Beim Abendmahl sitzt Petrus
zwischen Judas und Johannes! Als tiefes Weltsymbol endlich erscheint der
Schlaf des Petrus im Garten zu Gethsemane: hier schläft der »Fels«. Dazu
tritt die Szene mit dem Knecht, dem Petrus das Ohr abschlägt, symbolisch
tief bis in die innersten Winkel. Die zwölf Apostel sind zwölf Arten von
Menschen. Der Judas, geisteswissenschaftlich in die Nähe des Oedipus zu
rücken, ist ein Märtyrer des Intellekts und die Judastragödie zugleich die
Tragödie des jüdischen Volkes jener Zeit, das zwischen Bewunderung und

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 105


Furcht vor dem Römertum schwankte. Mit ihr ist der Verrat des Judas zu
erklären, der den Christus zu einer magischen Tat gegen das Römervolk
zwingen will. Zwischen diesem Apostel und Jesus besteht eine schwere
dramatische Spannung, dieselbe Spannung, die zwischen niederem und
höherem Ich vorhanden ist. In Judas, der die Haltlosigkeit einer
vereinsamten Ichseele darstellt, lebt Ahasver, »der ewige Jude«; er huldigt
dem Grundirrtum unserer Zeit, daß immer etwas »getan« werden muß;
unsere Zeit hat das Judasprofil, die Ruhelosigkeit einer falsch verstandenen
Sozialität; sie führt zu Wahnsinn und Selbstmord. Nicht ohne innerliche
Berechtigung ist Judas der Abgott des Bolschewismus geworden; dieser
unheimlichsten aller ischariotischen Unternehmungen auf Erden. Der
Skorpion Judas starb an dem Stich, den er dem Menschensohne versetzte.
Welches Ende mag den heutigen Anhängern des Judas vorbestimmt sein!

XVI. Die ersten Wirkungen und die Anrufung des Elias


Der Tod des Christus Jesus auf Golgatha und was sich nach diesem
Ereignis begab wird in den vier Evangelien je nach dem Grade der
Imagination, Inspiration und Intuition, als ein erschütterndes Weltendrama
geschildert. Nach Matthäus entstand, von der sechsten Stunde an, eine
Finsternis über dem ganzen Land bis um die neunte Stunde; um die neunte
Stunde aber, mit lauter Stimme schreiend: »Mein Gott, mein Gott! Warum
hast Du mich verlassen?«, starb der Menschensohn. Einige Umstehende,
die das hörten, sagten: »Er ruft den Elias!« Da lief sogleich einer von ihnen
hinzu, nahm einen Schwamm, füllte ihn mit Essig, steckte ihn auf ein Rohr
und gab Jesu zu trinken; die anderen aber riefen: »Warte, laß uns sehen,
ob Elias kommt, ihm zu helfen«; da nun Jesus noch einmal laut gerufen,
gab er den Geist auf; und siehe: der Vorhang im Tempel riß von oben bis
unten entzwei, die Erde bebte, die Felsen spalteten, die Grüfte öffneten
sich, viele Leichname entschlafener Heiliger standen auf, verließen ihre
Gräber und wandelten. Der Hauptmann und die Wachleute erschraken sehr
und sprachen: »in der Tat, dieses war Gottes Sohn!« Jedes Wort dieser
Schilderung hat mystischen Sinn. Die sieben Stufen des Christustodes
(Fußwaschung, Geißelung, Dornenkrönung, Kreuzigung, Grablegung,
Auferstehung und Himmelfahrt) sind Stufen der christlichen Einweihung, die
vom Neophyten des ersten Christentums innerlich meditiert und erlebt
wurden, so wie sie denn auch in den Exerzitien des Ignaz von Loyola eine
große Rolle spielen. Am Kreuze offenbart sich das Geheimnis der
Menschengestalt; nicht ohne Sinn nennt der Mensch sein Rückgrat sein
»Kreuz« und zugleich die Schwelle zur anderen Welt. Durch den Tod am
Kreuz wird der Mikrokosmos zum Makrokosmos. Die Erde bereitet sich zum
Empfange des Gottessohnes vor, dessen Blut sie aufgenommen hat: die
Sonne verfinstert sich, die Erde bebt und verstorbene Heilige stehen aus
ihren Gräbern auf; auch die sechste und neunte Stunde sind nicht
bedeutungslos und im gleichen Grade erfordert die Szene mit dem
Essigschwamm und die Deutung des Schmerzensrufes des Erlösers als

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 106


Anrufung des Propheten Elias besondere Aufmerksamkeit. Im Essig liegt
das Geheimnis des Weines, ganz abgesehen davon, daß er in den
Allegorien der alten Alchimisten einen bestimmten Platz einnimmt. Der
Prophet Elias, eine der glanzvollsten Gestalten des alten Bundes, fällt in die
Zeit des Zerfalles in ein Reich Juda und ein Reich Israel; König Ahab hat
die Tochter des Königs von Tyrus und Sidon zur Frau genommen, Jesabel.
Die großen religiösen Prophetenschulen Palästinas spielten ungefähr
dieselbe Rolle wie die Initiationsstätten und Mysteriumschulen der andere
Völker, als Zusammenfassungen Eingeweihter und Einzuweihender, die vor
allem mit einem außerordentlichen Witterungsvermögen für alle
Wandlungen in der menschlichen Bewußtseinslage ausgestattet und für
Vorgänge solcher Art besonders empfänglich waren. So konnte denn eine
so gewaltige, den König Ahab mit Schauern erfüllende Gestalt wie die des
Propheten Elias nicht auftreten, ohne daß die Propheten ihre nahende Kraft
gespürt hätten. König Ahab, der wohl vom Propheten Elias gehört hat, aber
ihn, obwohl heimlich erschauernd, sucht, weiß nicht, daß Elias sein
Nachbar ist und sich in unmittelbarer Nähe aufhält. Seine Gattin Jesabel
aber weiß es und hütet ihr Geheimnis auch gegenüber dem Gatten: daß
Naboth (wie ihn die Bibel nennt) der physische Träger der geistigen
Individualität des Elias ist. Eine Hungersnot bricht aus und Elias-Naboth
erlebt sie als eine geistige Sendung, die zur Gotteserkenntnis führt. Ein
Zeichen entscheidet darüber, ob Ahabs Gott Baal oder der Gott des Elias
die Zukunft und Entwicklung trägt. Das Zeichen spricht deutlich genug:
Elias siegt über die Priester des Gottes Baal auf dem Berge Karmel.
Jesabel, die sein Geheimnis kennt, sinnt nun auf den Tod des Elias, der die
Gefahr erfassend, seine Nachfolge zu bestimmen unternimmt. Sein innerer
Blick wird auf einen Mann namens Elisäus gelenkt, den er nach Damaskus
einlädt, um ihn in sein Geheimnis einzuweihen. Jesabel aber beginnt ihr
Rachewerk: die Tötung des Naboth als des Trägers des Elias. Ahab und
Jesabel sterben bald darauf, im Kriege mit Jehu, eines gewaltsamen
Todes. Nach Naboths Tode aber geht die Kraft des Elias auf den Elisäus
über. Elias ging mit dem Elisäus aus dem Gilgal fort, womit keineswegs
etwa ein Ort, sondern ein Wanderzustand der Seele von Leib zu Leib
gemeint ist. Elisäus aber sieht den Elias »im Wetter gegen den Himmel
aufsteigen«; des Elias Mantel aber fällt zurück: die geistige Kraft, die den
Elisäus zu umhüllen hat, geht auf ihn über. Die Prophetenschüler, die den
Elisäus sehen, gehen nun auf diesen zu, verneigen sich vor ihm und
erkennen, daß der Geist des Elias auf Elisäus ruht. In die Sprache der
Mysterien übertragen, weist diese Schilderung auf nichts Geringeres als auf
neue Impulse, auf eine Erneuerung und Stützung des Jahveglaubens. Hier
setzt aber auch schon der Augenblick ein, der das Eliaserlebnis mit dem
Christentum verbindet. Elias ist der Vorläufer, ist der Prophet des Christus;
in Damaskus empfängt Elisäus die Erleuchtung durch Elias, in Damaskus
wird Saulus zum Paulus durch die Erleuchtung des Christus Jesus. Die
starke Stromkraft prophetischen Lebens reicht tief hinein in das neue

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 107


Testament und bis in die Offenbarung Johannis. Die jämmerliche
Gedankenleere der materialistischen Bibelforscher, die in den
Weissagungen der Propheten einen Betrug sehen, der nach der
»Erfüllung« verübt wurde, ist außerstande, zu bemerken, daß es auch
heute noch Prophezeiungen gibt, die in Erfüllung gehen; sie stehen nicht
an, in ihrer docta ignorantia so weit zu gehen, daß sie behaupten, Christus
wäre dort, wo er »Weissagungen« verspricht, eben bloß ein »Kind seiner
Zeit« gewesen. Die Leute, die den sterbenden Christus rufen hörten,
sprachen nicht ohne Grund die Meinung aus, der Sohn Gottes habe Elias
gerufen. Die Worte Christi »Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich
verlassen« stehen im 22. Psalm; sie sind ein alter Einweihungsspruch,
bezogen auf die große Loslösung des Seelisch-geistigen vom physischen
Leibe. Bleibt nicht das Groteske zurück, daß die materialistische Finsternis
in diesen Kreuzesworten des Gottessohnes einen Beweis dafür sieht, daß
der Christusjesus selbst nicht verstanden habe, warum ihn »Gott«
verließ? ...

XVII. Die Saat geht auf


Im Markusevangelium sind weitere mystische Einzelheiten zum Tode des
Christus Jesus zu finden: daß man ihm Myrrhenwein zu trinken gab, den er
aber nicht nahm; daß es die »dritte Stunde« war, da sie ihn kreuzigten; daß
über seinem Kreuze zu lesen stand »König der Juden«; daß die, die ihn
höhnten, an sein Versprechen erinnerten, den Tempel zu zerstören und ihn
in drei Tagen wieder aufzubauen, und ihn aufforderten, sich selbst zu retten
und vom Kreuze herabzusteigen. Im Lukasevangelium steht die Ansprache
an die Töchter Jerusalems mit dem wundervollen Ausklang vom grünen
und vom dürren Holze; bei der Kreuzigung rief der Gottessohn: »Vater,
vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun«; ferner: die Weissagung
an den Mitgekreuzigten: »Wahrlich, ich sage Dir! Heute noch wirst Du mit
mir im Paradiese sein.« Die letzten Worte des Gekreuzigten endlich:
»Vater, in Deine Hände empfehle ich meinen Geist.« Das
Johannesevangelium endlich gibt den Streit über die Inschrift auf dem
Kreuze mit dem echt römischen Worte des Pilatus wieder: »Was
geschrieben ist, bleibt geschrieben!«; die Ansprache an den Jünger:
»Siehe, Deine Mutter!«; die Worte Christi: »Es ist vollbracht«, die zum
letzten Male die Formel der Geheimeinweihungen wiedergibt und mit
neuem Sinn erfüllt; die Bestätigungen der Weissagungen im Buche Mosis,
in den Psalmen und im Zacharias. Drei Tage sind nach diesen
erschütternden Begebnissen verflossen. Gottes Sohn ist unter Qualen
gestorben wie ein armer sündiger Mensch. Gleich nach dem Tode am
Kreuz aber setzen die Erscheinungen ein. Matthäus erzählt, daß die Grüfte
sich öffneten und die Leichname der entschlafenen Heiligen aufstanden,
um in die heilige Stadt zu gehen, und dort vielen (nicht allen) erschienen.
Die Oberpriester und Pharisäer sind ihrer Sache nicht sicher. Josef von
Arimathäa hat den Leichnam in ein neues Grab geschafft, das er in Felsen

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 108


hauen ließ; sie erinnern sich nun, daß der Gekreuzigte gesagt hat, er werde
nach drei Tagen wieder auferstehen; sie bitten auch den Pilatus um
Grabwächter, damit kein »neuer Betrug« geschehe; Pilatus bewilligt die
Wache und diese versiegelt den Stein. Am ersten Wochentage nach dem
Sabbath kommen Maria von Magdala und die »andere Maria«, um nach
Christi Grab zu sehen. Da erschüttert ein Erdstoß den Boden; ein Engel
steigt vom Himmel; er wälzt den Stein von der Öffnung und setzt
sich darauf; sein Anblick war »wie ein Blitz, sein Kleid war glänzend weiß
wie Schnee«. Die Wächter fallen wie tot um. Der Engel aber spricht zu den
Frauen; er redet zu ihnen vom auferstandenen Heiland und weist ihnen den
Weg des Wiedersehens nach Galiläa. Da laufen nun die Frauen zu den
Jüngern, voll Furcht und großer Freude. Es geschieht nun (noch immer
nach dem Bericht des Matthäus) etwas Seltsames. Christus selbst
erscheint den Frauen und wiederholt die Botschaft des Engels. Die
Oberpriester, betrogene Betrüger, sehen das Spiel verloren und lassen für
Geld die Mär vom Diebstahl des Leichnams verbreiten, an die, bis zum
heutigen Tage, auch die materialistische Auslegung glaubt. Die elf Jünger
(ohne den Judas, der seine Tat gesühnt zu haben glaubt) gehen nach
Galiläa, auf den Berg. Dort sehen sie den Heiland und beten ihn an; einige
aber zweifeln, was das Johannesevangelium zur Erzählung vom
ungläubigen Thomas erweitert. Jesus aber tritt näher zu ihnen und spricht
die heiligen Worte von »aller Gewalt im Himmel und auf Erden«, die ihnen
gegeben ist; er trägt ihnen ihre Sendung vor, alle Völker zu lehren und sie
zu taufen im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes; ich
bin, schließt er zärtlich, »bei Euch alle Tage bis ans Ende der Welt!« Mit
diesen Worten hat der Erlöser ohne Zweifel eine Gemeinschaft gegründet;
sie enthalten sein feierliches Testament, gegeben vom Auferstandenen. Die
Sendungsreden im Matthäus und Lukas sind klar bis auf den Grund: Christi
Reich ist nicht von dieser Welt, um keine äußere Gewalt kann es sich
handeln, sondern alles soll im Geiste der dienenden Liebe geschehen; man
kann nicht Gott und dem Mammon zugleich dienen; kein Verlangen nach
irdischer Herrschaft soll die Jünger erfüllen, denn die Gewalt im Himmel
und auf Erden bleibt in des Christus Jesus Erlöserhänden. Markus läßt den
Heiland bei Tisch unter den Jüngern erscheinen; denen, die der Nachricht
von seiner Auferstehung Zweifel entgegensetzen, erteilt er Verweise
wegen ihres schwachen Glaubens und ihres harten Sinnes. Dann folgt
auch hier der Auftrag an die Jünger, aber nicht so allgemein wie bei
Matthäus; sie haben das Evangelium allen Völkern zu verkünden; auch
zählt der Herr die Wunder und Zeichen auf, die sie wirken werden. Erst
dann steigt der Erlöser zum Himmel und sitzt zur Rechten Gottes. Matthäus
und Markus endigen damit ihren Bericht von Christi Erlösungswerk. Lukas
aber läßt zwei Männer in glänzender Kleidung erscheinen. Am selben
Tage, da sich die Auferstehung ereignet hat, gehen zwei der Jünger nach
Emmaus bei Jerusalem; während sie über das Wunder sprechen, gesellt
sich Christus zu ihnen, aber sie erkennen ihn nicht. Kleophas, der eine von

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 109


ihnen, »gibt dem Fremdling« Bericht. Christus läßt ihn ruhig erzählen, dann
setzt er ihr Gespräch fort, beruft sich auf alle Schriftstellen, die von der
Auferstehung sprechen, begleitet sie bis ins Haus, setzt sich zu Tische,
nimmt wie beim Abendmahl das Brot, segnet und bricht es und teilt ihnen
zu. Jetzt gehen ihnen die Augen auf, er selbst aber entschwindet ihren
Blicken. Sie gehen nun hin und berichten den anderen Jüngern ihr Erlebnis,
und während sie erzählen, steht wiederum Jesus plötzlich in ihrer Mitte,
vollendet seine Rede, wiederholt den Auftrag an die Jünger, führt sie hinaus
nach Bethanien und segnet sie. Dann steigt er zum Vater auf. Mit dieser
bedeutsamen Erzählung schließt Lukas. Johannes aber wiederholt den
Bericht von den beiden Engeln. Maria klagt: »meinen Herrn hat man
genommen und ich weiß nicht, wohin man ihn gebracht hat.« Da sieht sie
Jesus selbst vor sich stehen und erkennt ihn nicht. Da ihr nun die Augen
aufgehen und sie den Lehrer begrüßen will, spricht er die mystischen
Worte: »rühre mich nicht an, denn noch bin ich nicht aufgefahren zu
meinem Vater!« Am ersten Abend des Wochentages nun sind die Jünger
hinter verschlossenen Türen beisammen. Jesus tritt mitten unter sie und
spricht die mystischen Sendungsworte. Thomas wird gläubig: acht Tage
später, da der Herr seine Wundmale aufzeigt; Johannes allein aber weiß
noch eine andere Begebenheit: die Szene am See Tiberias. Sie weist die
großen Wege des Petrus- und des Johanneschristentums. Die
Apostelgeschichte aber spricht davon, daß der Erlöser sich noch durch
vierzig Tage den Jüngern zeigte. Sie sehen mit ihren Augen die
Himmelfahrt des Herrn und erleben das Pfingstwunder. Eine letzte
Erscheinung, zu Damaskus, bringt die Verwandlung des Saulus in den
Paulus. Die Saat geht auf ...

XVIII. Die Apokalypse


Man kann eine Darstellung des Mysteriums von Golgatha nicht schließen,
ohne eines seltsamen Dokumentes zu gedenken, das in die kanonischen
Schriften Aufnahme gefunden hat: der Apokalypse des Johannes, »welcher
bezeugte das Wort Gottes und das Zeugnis Jesu Christi, so wie er es
gesehen«. Die Apokalypse steht nicht durch Zufall am Schlusse des neuen
Testamentes; sie stellt gleichsam »den höchsten Gipfel erhöhten
Bewußtseins« dar, als eine Inspiration, die klar und gewaltig von den
Daseinskreisen der geistigen Welt spricht. Durch vier große Kreise führt der
kühne Flug des Sehers Johannes zu den Höhen des »himmlischen
Jerusalem« empor. Zu jedem dieser vier Kreise gibt es sieben Stufen:
sieben Sendschreiben an sieben Gemeinden, sieben Siegel, sieben
Posaunen und sieben Zornesschalen. Die sieben Gemeinden sind irdische
Orte, in denen die Christussaat aufgegangen ist; die sieben Siegel
verschließen ein Buch, voll Schauungen der Bilder göttlichgeistiger Welt;
die sieben Posaunen, geblasen von sieben Engeln, gehen vom geistigen
Schauen zum geistigen Hören über; die Posaunen und die
Posaunenklänge sind keine irdischen Instrumente, keine irdische Musik; in

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 110


den sieben Zornesschalen aber ist die unmittelbare Berührung mit den
Wesen und Kräften der Geisteswelt gegeben.
Das fünfte der sieben Sendschreiben ist an unsere Zeit gerichtet; wir
selbst sind die Gemeinden von Sardes, denn wir haben den Namen, »daß
wir leben und sind tot«. Im Namen des Ichbin empfing unsere Zeit ihr Ich,
ihre Persönlichkeit, das Höchste, wozu unsere Zeit gelangen kann, doch ist
es so, wie unsere Zeit es empfängt, tot, nicht erfüllt von den Impulsen der
göttlichgeistigen Welt, sondern gebunden und verloren an das Sein im
Erdenstoffe, im Felde der sichtbaren Geschichte; auch hierin ist das fünfte
Siegel für unsere Zeit bedeutsam: in Verbindung mit den vier ersten Siegeln
erscheinen vier Reiter auf einem Pferde; unter dem fünften Siegel sah der
Seher »die Seelen derer, die erwürgt waren um des Wortes Gottes willen
und um des Zeugnisses willen, das sie hatten«; es ist die Höllenfahrt der
Menschheit im fünften Zeitraum, der der unsere ist, und der ein weißes
Kleid angetan wird, die reine Seelenhülle, die das Geistige erschaut. Da
nun der fünfte Engel posaunt, öffnet sich das Tor unseres niederen
Seelenlebens. »Erschauet!« ruft der sechste Engel, dessen Ton schon in
unseren fünften Zeitraum hinüberklingt, »des Himmels Buch! Erkennet die
Mysterien, denn es ist an der Zeit!« Unsere Erde hat bisher 171
Formenzustände durchgemacht, sie steht gegenwärtig im 172. Zählt man
die 171 durchlebten Formzustände zu den schon verflossenen hinzu, so
stehen wir mit 343 Abschnitten mitten im mittleren Abschnitt der
Weltentwicklung überhaupt, im 344. streng genommen, also ein Stück über
die Mitte hinaus. Man kann also wohl sagen: 344 ist die Zahl unserer
Entwicklung. In der Apokalypse taucht nun als Zahl der kommenden
Entwicklung die Zahl 666 auf, entstanden und gebildet dadurch, daß in
jenem Zeitpunkte kommender Entwicklung 6 Runden mit 6 Haupt- und 6
Unterrassen durchgemacht sind, der in der Apokalypse als der Kampf Aller
gegen Alle gekennzeichnet wird. Dreimal hat die Menschheit Gelegenheit,
der Verführung zum Bösen zu erliegen: die letzte wird in der Zahl 666
gegeben sein, die in den Mysterienzahlen 400, 200 und 660 verborgen
liegt. Verschiedene Deutungen der mysteriösen Zahl 666 sind von Leuten
gegeben worden, die den Schlüssel zum Geheimnis darin gefunden zu
haben glaubten, daß sie, für die Zahlen die hebräischen Buchstaben
einsetzend, glücklich den Namen Nero herausbekamen. In Wahrheit, und
Steiner war auch hier der Erste, der den Vorhang von diesem Geheimnis
(60, 6, 200 und 400) zog, ergibt diese Zahlreihe den Namen Soradt, des
Sonnendämons, der ein Gegner des Lammes ist. Darum sagt der
Apokalyptiker: »Hier ist Wahrheit; wer Verstand hat, überlege die Zahl des
Tieres, denn diese ist 666!« Es ist schon angedeutet worden, daß unserem
Erdenzustand drei weitere Zustände folgen: Jupiter, Venus und Vulkan, als
letzte Glieder des großen Schöpfungszyklus, darin die Menschheit
eingeschlossen ist. Am Ziele der Erdenentwicklung, da die Erde sich zu
vergeistigen anschickt, gibt es zwei große Gruppen: die einen, die das
Christusprinzip in sich aufnehmen, und die anderen, die sich ihm

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 111


verschlossen halten. Aus der ersteren Gruppe gehen die Menschen hervor,
die den Plan zur kommenden Jupiterentwicklung entwerfen, einen neuen
Himmel und eine neue Erde bewohnen, das neue Jerusalem, begleitet von
einem Trabanten, besiedelt von denen, die den zweiten Tod wohl erlebten,
aber keine Möglichkeit hatten, das Jupiterbewußtsein zu erlangen. Noch
auf diesem Jupiter aber gibt es Möglichkeiten, die Zurückgebliebenen und
Gesunkenen zu erheben. Erst die Venusentwicklung bringt die eigentliche
große Entscheidung. Die Apokalypse ist kein dunkles Dokument; es ist vor
allem möglich, Aussagen darüber zu machen, zu welchem Zwecke sie
geschrieben worden sein mag. Der Apokalyptiker beschreibt in gewaltigen
Imaginationen, Inspirationen und Intuitionen kommende Zeiten, in denen
der Mensch die Wesenheiten wiederschaut, die der Erde Entwicklung
leiten. In alten Zeiten besaßen die Menschen die Kraft des natürlichen
Hellsehens. Das alte Hellsehen verschwand und machte dem
Selbstbewußtsein Platz. Im Augenblick des Gottestodes auf Golgatha aber
verwandelte und veränderte sich die astralische Aura der Erde; die sich mit
der Christuskraft durchdrang. In dieser Kraft liegt die Waffe zur
Überwindung des zweiten Todes. Die Quellen der Apokalypse reichen
zurück in die alten Mysterien, deren Ergebnisse das Christentum als
mystische Tatsache in sich vereinigte und zusammenfaßte. Für Menschen,
die von den alten Mysterien nichts wissen, bleibt das Mysterium von
Golgatha nichts als ein simpler Vorgang: Tod eines politisch Verurteilten.
Es sind wahrhaftig Posaunen nötig, um die Menschen aus solchem
dogmatischen Schlafe zu reißen!

Viertes Kapitel
Die Geheimwissenschaften in den ersten vier Jahrhunderten

I. Die Urchristen
Die Tatsache, daß der Christus Jesus eine kirchliche Gemeinschaft
begründet hat, steht fest; im hohenpriesterlichen Gebet ringt der Erlöser um
die Einheit der Kirche; sie ist eine Voraussetzung für den Sieg seines
Werkes auf Erden. Das erste sichtbare Zeichen, das die urchristliche
Gemeinschaft nach dem Tode des Christus Jesus gibt, ist die
Pfingsterleuchtung. Im übrigen schildert die Apostelgeschichte selbst und
mit sehr lebendigen Worten das Leben der Urgemeinden: »Sie blieben
beständig in der Lehre der Apostel, in der Gemeinschaft, im Brotbrechen
und im Gebet.« Die Lehre der Apostel ist also die Grundlage der
christlichen Urgemeinschaft. Sie verkündigen das Evangelium, suchen es
auszubreiten und zu befestigen. Da Christus die Apostel als seine
Nachfolger auf Erden eingesetzt hat, ruhen bei ihnen, in ihre Lehre
eingebettet, die Worte Christi. Freilich ist mit diesen Bemühungen, die
Lehre Christi auszubreiten und zu befestigen, schon auch das Moment
gegeben, das zur unvermeidlichen Scheidung eines esoterischen von

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 112


einem exoterischen Christentum führt. Brotbrechen und Gebet deuten
schon ganz bestimmt auf das Vorhandensein eines christlichen Kultes mit
symbolisch bedeutsamen Handlungen. Der Kult der Urchristen besteht aus
einem Propagandagottesdienst, zu dem auch Nichtchristen aller
Bekenntnisse Zutritt haben, und aus einer nur für Christen bestimmten
Weihehandlung. Öffentlich waren die Gesänge und die Predigt, geheim
blieb die Eucharistie des Abendmahles, von der schon Paulus spricht. Nach
der Pfingstpredigt des Petrus sind allgemeine Taufen eingeführt worden;
mit dem Taufwasser verband sich die Einweihung in die christlichen
Geheimnisse, die auch schon mit der Welt der Verstorbenen in Verbindung
bringt. Die Taufe ist Reinigung und Erleuchtung zugleich; man schreitet in
ihr vom Tod zur Auferstehung. Wird die Ehe im Epheserbrief ein Mysterion
genannt, so wandelt die lateinische Übersetzung den Begriff des
Mysterions in ein Sakrament um. Allerdings steckt im griechischen Worte
»Mysterion« auch schon die menschliche Freiheit (die Ehe wird nur für die
ein Mysterion, die sie im Geiste des Mysterions eingingen), indes sich der
Begriff sacramentum alle Elemente jener Oberhoheit anmaßt, welche die
katholische Kirche über das Eheleben ausübt. Es ist allerdings ein Irrtum,
zu glauben, die Urchristengemeinschaft wäre etwa ein sozialer Organismus
gewesen, der unseren modernen Anschauungen von einem solchen
entspricht; ein Irrtum, der gern von denen wiedergekäut wird, die durchaus
Vorläufer für die brutale Mechanisierung, Vermassung und Gleichmacherei
unserer Zeit auch schon im Christentum suchen. Die Urgemeinschaft der
Christen war weit entfernt davon, eine Art bürokratisch geregelter
Lebensgemeinschaft zu sein. Niemand wurde gezwungen, sein Hab und
Gut herzugeben oder zu verteilen, alle Hilfe kam und konnte nur aus dem
freien Entschluß und aus der Begeisterung für die Sache selbst kommen.
Die Christen waren Brüder, die sich liebhatten und einander halfen,
keineswegs aber Genossen, denen man Organisationsbeiträge abpreßt. In
ihrer Art gab die freie Christengemeinschaft das ideale Bild eines
glücklichen Zeitalters, das einst auf der Liebe Aller zu Allen ruhen würde.
Sehr schön sagt Heinrich Rittelmeyer: »die erste Gestalt der christlichen
Kirche glich derjenigen eines kleinen Kindes, das auf seinem Antlitz den
Glanz des Himmels trägt, daraus es herabstieg, das aber noch nicht fest
auf der Erde stehen kann«.
Um aber klar zu durchschauen, wie sich dieser ideale Zustand später
entwickelt hat, darf niemand vergessen, daß das Urchristentum in eine Zeit
fällt, die nichts weniger als geeignet war, die Geheimnisse des Mysteriums
von Golgatha zu verstehen. Die alten Mysterien starben aus, der
Zusammenhang mit der übersinnlichen Welt war fast gänzlich verloren, die
Denkkraft schon hauptsächlich auf Begriffe abgedrängt und irregeleitet. Der
römische Rechtsgeist tat ein übriges; er eröffnete den neu gewonnenen
christlichen »Begriffen« ein reichliches Diskussionsgebiet für dialektische
Unterhaltungen und begriffliche Spitzfindigkeiten. Der Christ hatte ein
Bekenntnis, das Schattierungen zuließ und suchte. Kirchenparteien und

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 113


Konfessionen standen auf, gestützt auf »Wahrheiten«, die, glücklich oder
unglücklich »formuliert«, Anlaß zu Streit, Ausschließungen und
Sektenbildungen boten, so daß schließlich kein Torso dieser Art für sich in
Anspruch nehmen konnte, im Besitze der allein wahren Religion zu sein. Je
stärker die lebendige Christuskraft in den Urchristen abzuklingen begann,
desto wichtiger schien, nach vorchristlichen Offenbarungen zu suchen, die
das Christusereignis schon im Keime enthielten und voraussagten. Im alten
Testament, bei den griechischen Philosophen, fand sich eine Fülle
brauchbarer und ohne Zweifel beweiskräftiger Stellen, die mit Fug
bezeugten, daß die ganze menschliche Vergangenheit auf das Christentum
vorgerichtet war, so daß sich im Christentum nur erfüllte, was man lange
schon kannte und wußte. Das Tasten nach Offenbarungen solcher Art
nahm allerdings nach und nach auch die Sicherheit christlicher Erkenntnis.
Wer sich ein Bild von diesen Strömungen, Unter- und Gegenimpulsen zu
machen vermag, wird denn auch weit besser, als es die ersten Christen
selbst vermochten, begreifen, wie die Gnosis, unmittelbar im Anschluß an
das Urchristentum und dieses eine Zeitlang gleichsam repräsentierend,
entstand, worin ihr Wesen wurzelte und aus welchen Quellen sich ihre
Irrtümer zusammensetzen. Man muß von der Gnosis schon deshalb
sprechen, weil in mystischen Kreisen unserer Zeit viel von neuer Gnosis die
Rede ist, die sich für das kommende Wassermannzeitalter und die
Jupiterphase der Erde sehr angelegentlich empfiehlt ...

II. Die Gnosis als esoterisches Christentum


Unter Gnosis versteht man gewöhnlich eine Strömung, die, auf
Offenbarungen verschiedener Art ruhend, Erkenntnis der Welt, des
Menschen und Gottes im übersinnlichen Verstände verbindet und die,
obschon sie auch ältere Mysterienquellen anspricht, in einer esoterischen
Gesamtauffassung des Christentums als einer mystischen Tatsache
wurzelt. Als Gnostiker bezeichneten sich zunächst die Ophiten
(Schlangenbrüder), eine seit dem Anfang des zweiten nachchristlichen
Jahrhunderts hervortretende christliche Sekte, in deren Vorstellungswelt die
paradiesische, aber auch die von Moses aufs Kreuz erhöhte Schlange eine
mystische Rolle spielt. Die ältere, teilweise aber auch die neuere Forschung
haben versucht, die einzelnen gnostischen Bekenntnisgruppen nach
bestimmten Gesichtspunkten einzuteilen; Zusammenhänge mit dem
Judentum als einer Vorstufe des Christentums betont Karpokrates aus
Alexandrien (um 130), mit den vorchristlichen Religionen überhaupt
Basileides (Alexandrien, ungefähr um 125) und Valentinus (Alexandrien,
um 140), sowie die mit Valentinus vielfach übereinstimmende grundlegende
Schrift »Pistis Sophia«; das Christentum als allein göttliche Religion
betrachten Saturninos (Antiochia, um 125), Bardesanes (Edessa, um 170)
und der Pontier Markion (um 150). Elemente parsischer Natur, die sich
schon bei Bardesanes finden, faßt seit 240 der Parse Manes zu einem
System (Manichäismus) zusammen, das noch zur Zeit des Augustinus in

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 114


Blüte stand. Die Gnosis bekämpfend, entwickelt Clemens von Alexandrien
Grundgedanken zu einer kirchlichen Gnosis, Origines aber ein System der
christlichen Glaubenswissenschaft überhaupt. Die Gnosis ruhte ohne
Zweifel auf hellseherischen Kräften, bemühte sich um tiefschürfendes
Verständnis der spirituellen Hintergründe der Evangelien, den Christus als
Gott gegenüber dem Jesus als Menschen betonend, indem sie zum
Beispiel den am Kreuze hängenden Leib des Erlösers als einen Scheinleib
erklärt oder, wie Basileides, behauptet, Simon von Kyrene sei statt des
Christus am Kreuze gestorben. Leider trug der Eifer der Kirche, die alle
Gnostiker als Häretiker behandelt hat, viel dazu bei, die schriftlichen
Dokumente der Gnosis zu zerstören, die wohl einseitig genannt werden
darf, aber doch schon, ob ihres hohen Enthusiasmus für die Mystik des
Christentums, Beachtung verdient. Um die Mitte des zweiten Jahrhunderts
taucht der phrygische Kybelepriester Montanus auf, in grandiosen
Bußpredigten die physische Wiederkunft Christi und das »tausendjährige
Reich« lehrend, ein Reich des heiligen Geistes, dessen Verkünder sich
Montanus nannte. Trotz der heftigen Verfolgungen seitens der Kirche war
später doch möglich, daß einer der angesehensten Kirchenlehrer,
Tertullian, Montanist wurde und auf diese Weise am breiten Hineinströmen
materialistischer Gesichtspunkte in die Kirche regsten Anteil nahm. So
gerne man Montanus und die Gnostiker auch zusammenhält, wäre doch
nichts verfehlter, als die Gegensätze zu übersehen, die gerade zwischen
Montanus und den Gnostikern bestanden. Fußen die Gnostiker in
entscheidenden Punkten auf der dionysischen Seelenverfassung, die ins
Geisterreich erhebt, so verstrickt sich Montanus als strenger Asket völlig ins
Irdische, womit er das Mönchswesen und allen späteren materialistischen
Fanatismus begründet hat. Die Ursache dieses Mißverständnisses liegt vor
allem darin, daß es den meisten, die auf dieses Thema eingingen, an
Einsicht in das wahre Wesen der Gnosis vollkommen gebrach. Der Erste
und Einzige, der das grandiose Problem der Gnosis in aller ihrer
Einseitigkeit restlos erhellt und durchleuchtet hat, Rudolf Steiner, mußte
bald zu seinem Erstaunen hören, die von Steiner begründete
Anthroposophie wäre nichts als »aufgewärmte« und für das »moderne
Bewußtsein« bearbeitete Gnosis. Anderseits hat das breite Wort- und
Begriffsgerölle, das ins offizielle Christentum und namentlich in die
katholische Kirche eindrang, die reinen Elemente des Urchristentums fast
vollkommen verschüttet. Auch die sehr wichtige Tatsache, daß das
Lukasevangelium einen Pfad von der Pistis zur Gnosis vorzeichnet, ist erst
durch Steiner ans Licht gebracht worden. Das Lukasevangelium, das die
Gestalt des Apostels Petrus fast ganz beiseite schiebt, enthält dennoch die
eigenartige und merkwürdige Szene des Fischzuges Petri, die das Wesen
des Christusimpulses sonnenklar enthüllt. Petrus erlebt hier, in einer ersten
wesenhaften Begegnung mit Christus, das Wesen des Glaubens, der Pistis,
als einer Angelegenheit, die vom Herzen, nicht vom Kopfe kommen darf;
aus der Knospe der Pistis entfaltet sich die Blume der Gnosis. Geburt und

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 115


Krise der Gnosis im Petrus sind deutlich wahrnehmbar schon in das
Lukasevangelium eingezeichnet. Ist die Pistis im Herzen erwacht, so öffnet
sich auch das Organ der Gnosis: die Inspiration. Zwei Schwerter glauben
die Jünger zu sehen: die zweiblätterige Lotosblume öffnet sich, der
»Durchbrach der Jünger zur Gnosis hat sich vollzogen«. Wundervoll präzis
hat Rudolf Steiner einmal gesagt: »Die Juden bilden den Christus (bereiten
ihn vor), die Griechen verstehen den Christus, die Römer werden
Christen.« Die Gnostiker gehören zu der mittleren Gruppe; so einseitig sie
nur das Göttliche des Erlösers ausbilden, so sehr bemühen sie sich, den
Christus zu verstehen; ihre Quelle ist die griechische Urfassung der drei
großen Evangelien (Markus, Lukas und Johannes), die noch den
Kirchenlehrern der ersten drei Jahrhunderte maßgebend war. Clemens,
Ignatius, Origines und Irenäus schrieben griechisch, erst Tertullian und
nach ihm Augustinus bedienten sich der lateinischen Sprache. Ambrosius,
Hieronymus und Augustinus vermählen den Geist des Christentums mit
dem des römischen Staates: sie sind die wahren Begründer der römischen
Kirche gewesen, indes die Gnostiker am griechischen Original festhielten,
denn in ihnen lebte noch die beseligende Wärme des hellenischen Geistes.

III. Irrtümer der Gnosis


Es liegt nicht im Rahmen dieses Buches, ein vollständigeres Bild von dem
zu geben, was die Gnosis für das Urchristentum bedeutet hat, so
interessant eine Untersuchung trotz vorhandener respektabler Arbeiten
über das Thema auch wäre und so weitreichend die gnostischen
Gedankengänge (von den lichtesten Höhen bis in die tiefsten Finsternisse
des Satanismus und der Sexualität) das große Feld der
Christusentwicklung beeinflußten. Sicher ist, daß die Gnostiker ein richtiges
Gefühl dafür besaßen, um die kosmischen Hintergründe des
Christusereignisses zu verstehen, müsse man in sehr weit zurückliegende
Zeitläufte zurückblicken. Ohne Zweifel gibt es starke Berührungspunkte
zwischen der Gnosis und der Theologie des Paulus. Die Welt im Blickfelde
der Gnostiker hat nichts zu tun mit den Urgründen jenes Wesens, das
durch Gedanken und Begriffe nicht erreicht werden kann. Dem göttlichen
Urvater kann man nur durch unendliches Schweigen näherkommen, das
außer Zeit und Raum bleibt. Zu des Urvaters in ewiges Schweigen gehüllter
Welt blickt der Gnostiker stumm, wie diese selbst, auf. Aus der Hochzeit
des Urvaters mit dem ewigen Schweigen werden die Welten und Wesen.
Dreißig Stufen führen zu diesen Bereichen, die weit vor Zeit und Raum
liegen, Aeonen genannt. Für die abendländische Zivilisation und für alles,
was aus ihr hervorgegangen ist, umschließt der große Weltenzyklus, der
mit dem Saturnzustand beginnt und mit dem Vulkanzustand die siebente
Runde endet, bloß ein bestimmtes Stück Weltenentwicklung überhaupt, die
mit dem mosaischen Schöpfungsbericht, das ist mit dem Eingreifen des
Jahve (Jehova) einsetzt. Die Gnostiker tasten noch weit hinter diese Zeit
zurück, auf einen Augenblick, da, nach griechischer Namengebung, das

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 116


schöpferische Prinzip, der Demiurgos, zu wirken beginnt. Der Demiurgos
selbst war den Griechen und den Gnostikern ein Wesen aus den höchsten
Sphären der geistigen Welten, in denen noch nichts vom materiellen
Dasein zu finden ist. Das Wesen Demiurgos setzt zunächst,
selbstschöpferisches Prinzip, geistige Wesenheiten aus sich heraus, denen
Schöpferkräfte mitgegeben sind, stufenweise hervorgebracht und geordnet.
In ihnen hat man die Aeonen der Gnostiker zu sehen. Jahve (Jehova)
selbst erscheint bloß als eines dieser dem Demiurgos untergeordneten
Wesen, das sich zur Erschaffung des Menschen mit der Materie verband,
eine Verbindung, daraus der Mensch eben hervorging. Man hat Jahve auf
der dritten Stufe der Aeonen zu suchen, als Schöpfer einer Welt, die uns im
Erdenleben sinnlich umgibt und in ihrer Gesamtheit den Namen Pleroma
erhielt. Da gibt es nun wieder eine Wesenheit, in der die Erinnerung an die
Herkunft aus dem Pleroma und vom Demiurgos lebendig fortlebt, Achamoth
genannt, und ausgestaltet mit der Tendenz zur Rückkehr in den Demiurgos
und durch ihn zum Urvater. Der Demiurgos, dem Streben Achamoths nach
Rückkehr in die geistige Welt geneigt, entsendet einen sehr frühen Aeon in
die Welt, Christus, der sich mit dem Jesusmenschen vereinigt. So
umschwebt (worauf auch die Jakobsleiter deutet) den Christus Jesus ein
hohes Geheimnis, dessen Merkmale der Demiurgos, der erste und der
zweite Aeon mit dem Pleroma, Jehova als dritter Aeon, verbunden mit der
Materie und rückgestrahlt durch Achamoth, und endlich der Mensch im
Jesus sind. Die Vorstellung von den Aeonen, in Griechenland und
Kleinasien in bestimmten Mysterien in sehr verschiedener Art gepflegt,
verknüpft mit dem Pleroma das Grundgut des Gnostizismus, gewahrt und
gehütet durch nahezu vier Jahrhunderte, nach deren Ablauf die Möglichkeit
menschlicher Pleromaerkenntnis verschwindet und anderen
Bewußtseinsentwicklungen weicht. Solange die Kenntnis des Pleroma in
den Menschen der alten nachchristlichen vier Jahrhunderte vorhanden war,
gab es kein Denken in unserem Sinne. Die Erkenntnis des Pleroma war nur
durch Entwicklung des übersinnlichen Bewußtseins zu erlangen. Die
Gedanken, die in den Menschen dieser Art und dieser Zeit lebendig waren,
dürften mit vollem Recht als aus der Offenbarung empfangen bezeichnet
werden. Durch viele Jahrhunderte hindurch hat die Menschheit das
Bewußtsein einer geistigen und ewigen Lichtwelt gleichsam als vertrauliche
Mitteilung des Pleroma empfangen. In einem späteren Zeitpunkte könnte
die Rede davon sein, wie sich ein groteskes Widerspiel dieser
Pleromawelten und Offenbarungen (Verwandlungen in Satyre, Faune und
Bock- oder bärenartige Wesen um die Wende des vierten Jahrhunderts),
als Ausklang der Gnosis hinüberflüchtet nach dem Osten, im besonderen
nach den Gegenden am Ural, an der Wolga und im Kaukasus: teuflische
Vorboten und Wahrzeichen des Bolschewismus, einer Ausgeburt
ahrimanischer Magie, geröstet an dem Feuer luziferischer Triebe.
Zurückkehrend zu den Geheimnissen der Gnosis ist nun zu zeigen, wie auf
der untersten Stufe die göttliche Weisheit Sophia lebt, mit den übrigen 29

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 117


Aeonen verbunden, aber durch das Begierdenleben verschleiert und
verdunkelt. Sophia, um die Erkenntnis des Pleroma rein zu bewahren und
die Verbindung mit dem obersten Aeon lebendig zu erhalten, muß die
Begierde abgeben, die nun in der Raumeswelt umherirrt und alle Räume
durchdringt. Sieht das Menschenauge die Welt, ohne den Zusammenhang
mit der geistigen Welt zu bewahren, so erblickt es die begierdenerfüllte
Welt Achamoths, abgetrennt vom Vatergott, vom Sohn des Vatergottes und
vom reinen heiligen Geist. Die menschliche Seele, durch Achamoth in die
materielle Welt versetzt, lebt in der Sehnsucht nach der göttlichen Sophia.
So sind der Demiurgos der Griechen und der Gnostiker, als Schöpfer und
Erhalter dessen, was mit Achamoth lebt, vom Begierdenwesen und
materiellen Neigungen erfüllt. Die Sehnsucht auf Erden stammt eben daher,
daß Achamoth einen Augenblick das Gotteslicht der ewigen Weisheit und
unserer Vergangenheit sah, aber bald wieder aus dem Bewußtsein verlor.
Es ist überaus wichtig, diese Grundzüge der Gnosis so klar als möglich zu
erfassen, weil sie dann später in neuen Brechungen und Strahlungen im
Gral wiederkehren und in dem auftreten, was sich mit der Erscheinung des
Rosenkreuzertums verbindet.

IV. Licht- und Schattenseiten der Gnosis


Die christliche Gnosis hat ihre Licht- und Schattenseiten. Die Ideen
(obzwar dieses Wort nicht einmal entfernt ausdrückt, was davon in der
okkulten Wissenschaft als Erkenntnis lebt) der Gnostiker sind grandiose
Erleuchtungen von genialer Konzeption, bewunderungswürdig durch die
Art, wie der Gottessohn in das Weltbild der Gnosis eingestellt wird. Die
Gnosis sieht in Gottes Sohn »eine über alles hinausgehende, in den
geistigen Reichen wurzelnde Wesenheit«. Sie begreift, daß die
Christuswesenheit durch drei Jahre im Leibe des Jesus von Nazareth
wohnte, aber das Geheimnis des Jesusleibes selbst ging den Gnostikern
nicht auf; unbekannt blieb ihnen, daß die drei Leiber des Jesus von
Nazareth, in ihrer Zusammenfügung, eine Menschheitssubstanz darstellten,
die vorher und auf der Erde niemals im Fleische verkörpert war. Das
Mysterium der beiden Jesusknaben blieb ihnen verschlossen. So schwebte
denn über ihrer Christusvorstellung ein Dunkel, namentlich in bezug auf
den Durchgang durch die fleischliche Empfängnis. Die Übereinstimmungen
zwischen der Mutter des Jesus von Nazareth und der Geburt des Christus
bereiteten ihnen große Schwierigkeiten.
Um diesen Schwierigkeiten aus dem Wege zu gehen, durchhieben einige
der Gnostiker den gordischen Knoten mit dem Schwert einer kühnen und
phantastischen Annahme: daß nämlich der Leib, darin der Christus auf
Erden wandelte, bloß ein Scheinleib war, ein astralisches Körperwesen,
das da und dort, obgleich nicht physisch, erscheinen konnte. Die
Menschen, die behaupteten, Christus in einem wirklichen Körper gesehen
zu haben, hätten bloß Maya geschaut. Es ist schon angedeutet worden,
daß das Zeitalter, darein die kurze Wirksamkeit des Christus Jesus auf

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 118


Erden fiel, am allerwenigsten geeignet war, das Christusgeheimnis zu
verstehen und zu durchdringen. Die Menschen der altindischen Kultur, von
den Rishis erleuchtet, würden nicht die geringste Mühe damit gehabt
haben, den Christus zu erfassen, allein diese selbst war durchaus nicht
geeignet, einen Körper für die Christuswesenheit zu stellen. Die
Eingeweihten der Zarathustra-Kultur wiederum hätten nur geringe
Anstrengungen gebraucht, das Sonnengeisthafte des Christus zu
begreifen. Im Erscheinen der drei Könige aus dem Morgenlande, drei
idealen Vertretern der alten Magie und Sternenweisheit, drückt sich aus,
daß auch der chaldäisch-ägyptische Kulturkreis die Fähigkeit besaß, den
Christus Jesus zu verstehen. Die griechisch-lateinische Zeit aber, die
durchtränkt war von ägyptischen und jüdischen Erkenntniselementen,
eignete sich wohl zur Erstellung eines Leibes für die Christuswesenheit,
ließ es aber im übrigen an Einsicht in das Christusgeheimnis selbst fehlen.
Ist doch später, im Zeitpunkt der Heraufkunft der christlichen Theologie, das
Wissen um den Christus Jesus selbst vollkommen ausgeschaltet und vom
Glauben an den Christus abgetrennt worden! Um so eigenartiger berührt
das Auftreten der Sibyllen im vierten nachatlantischen Zeitraum, das bis in
die Zeiten des Mysteriums von Golgatha eindrang und in der
Requiemstrophe »Dies irae, dies illa« mit den Worten »teste David cum
Sibylla« zum Ausdrucke kommt. Hier beruft sich der Seher auf das Zeugnis
Davids und der Sibylle. In der sixtinischen Kapelle, auf dem Gemälde
Michelangelos sind, eingereiht unter die Propheten, die persische, die
delphische, die erythräische, die lybische und die cumäische Sibylle zu
schauen, in denen der Geist der Elemente und Naturgeister Gestalt
gesucht zu haben scheint, Reste atavistischer Vererbung, lebendige und
gespenstige Zeugen dafür, was aus der Menschheit geworden wäre, wenn
in die Entwicklung der Menschen weder die griechische Philosophie noch
die Christuswesenheit Eingang gefunden hätte: ein Chaos aus Elementen
und Naturgeistern, das, eine wilde Jagd von Dämonen, vom Menschen
restlos Besitz ergriffen haben würde. Der Christus Jesus zerstört die
sibyllinischen Kräfte. In der vierten nachatlantischen, der griechisch-
lateinischen, Zeit spiegelt sich ein geheimnisvoller Vorgang, dadurch
hervorgerufen, daß das hohe Wesen der Hierarchie, das mit dem Christus
durchsetzt war, die Planeten durchwandert und dort diese oder jene
bestimmt bezeichnete Wesenheit geworden ist, auf dem Jupiter: Zeus, auf
dem Mars: eben Mars, auf dem Merkur: Hermes, der von den Griechen
auch wirklich Merkur genannt wird. Der Christus beseelt endlich auch jenes
engelartige Wesen, das Denken, Fühlen und Wollen auf Erden in eine
gewisse Ordnung gebracht hat. Von allen diesen Dingen und
Erscheinungen ahnte die Gnosis nur dunkle Zusammenhänge; sie
bewahrte wohl reine und scharf ausgeprägte Vorstellungen vom göttlichen
Hintergrunde des Mysteriums von Golgatha, begründete aber zugleich auch
die größte Gefahr: daß das Christentum die klare Erfassung seiner
irdischen Aufgabe verlor. In der richtigen Empfindung, daß diese Gefahr nur

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 119


abgewendet werden konnte, wenn man ihm selbst Grenzen zog, kam man
dazu, einen Kanon der heiligen Schriften aufzustellen, von der
vorchristlichen Zeit bloß das alte Testament mithineinzunehmen, Unter den
christlichen Schriften (dem Instinkte folgend) aber bloß die als
Offenbarungsbücher auftretenden auszuwählen und die Zeit der
Offenbarungen damit für immer abzuschließen. Mit dieser Begrenzung des
Aufgabengebietes geschieht zugleich eine Verdunkelung des
Christuslichtes in den Kreisen jener, die berufen waren oder sich für
berufen hielten, Nachfolger Christi auf Erden zu sein. Der Christus Jesus,
das Erbe seines Erlösungswerkes den Aposteln und ihren Nachfolgern
anvertrauend, hat niemals an die Begründung irgend einer irdischen
Herrschaft gedacht, die, mit Machtmitteln versehen, dort Gewalt einsetzt,
wo sie einzig und allein durch die Kräfte der Liebe wirken sollte.
Ausdrücklich warnt der Erlöser vor der Anwendung von Gewalt: alles, was
geschieht, um das Wort Gottes in der Welt zu verwirklichen, muß aus Liebe
geschehen und im dienenden Geiste. Statt dessen atmen schon die
Auslassungen der Kirchenväter gegen die Gnosis und gegen Montanus den
Geist des Hasses, der Gewalt und des fanatischen Eifers, der so tief zu
sinken vermochte, daß im Namen Christi Tod und Verderben über
Unschuldige oder Übelberatene heraufbeschworen ward. Der Geist der
Gnosis verhüllte vor diesem Treiben sein Haupt.

V. Das Geheimnis der Kabbala


Es ist schon gesagt worden, daß das Mysterium von Golgatha die
Ergebnisse aller vorchristlichen Mysterien in sich birgt und einschließt, so
daß Leuten, denen es an tieferem Blick fehlt und die sich bloß an der Hand
greifbarer Tatsachen vorwärtszubewegen imstande sind, das Christentum
als ein Extrakt, eine Synthese des Judentums und der griechisch-
lateinischen Kultur erscheint, die, um moderner zu sprechen, sozusagen
die Spitzenleistung eines religiösen »Systems« darstellt. Eine ähnliche
Verwirrung herrscht ja auch in bezug auf die sogenannten hermetischen
Schriften, die, als Ereignis viel späterer Zeiten zu erweisen, viel
philologischen und auch philosophischen Scharfsinn gekostet hat. In der
Wissenschaftlichkeit der Neunziger jähre bis hinein ins 20. Jahrhundert tritt
die geradezu fanatische Tendenz auf, das ganze Altertum, namentlich das
sogenannte klassische, zu beschuldigen, es habe mit Vorliebe Verstecken
gespielt, Pseudoschriften suspektester Art hervorgebracht und überhaupt
seine Wonne darin gefunden, sich selbst, Gott und die Menschen zu
foppen. Die Sache beginnt mit dem Pseudo-Demokritos, geht von den
platonischen »Brieffälschungen« bis zu den pseudodionysischen Schriften
und feiert ihren Triumph darin, die Kabbala als ein Produkt des 12. und 13.
Jahrhunderts zu bezeichnen, weil der Sepher Jezirah und der Sohar erst
um diese Zeit bekannt geworden sind. Der Umstand, daß sich Gedanken
späterer okkulter Schriftsteller in der Kabbala finden, erscheint dieser Sorte
von Wissenschaftlern als schlagender Beweis dafür, daß das hohe Alter der

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 120


Kabbala keinesfalls stimmen könne. Der Fehler steckt da, handgreiflich
genug, im Unvermögen, die Zeit des Auftretens gewisser
Geheimüberlieferungen mit der Entstehung der Geheimlehre selbst als
identisch zu setzen. Aus ebendiesem Grunde wird der Leser dieses Buches
wahrscheinlich ein Haar darin finden, wenn schon an dieser Stelle, die von
den ersten drei bis vier Jahrhunderten vor Christus handelt, also in
unmittelbarem Zusammenhang mit der Gnosis, dem Urchristentum und der
areopagitischen Engellehre, auch von der Kabbala die Rede ist, obgleich
diese von der exakten Forschung in viel spätere Zeiten verlegt wird. Wohl
sind zum Grundstock dessen, was das kabbalistische Wissen ausmacht, in
späteren Zeiten auch spätere okkulte Bestände ohne Zweifel hinzugefügt
worden, aber der Kern der Kabbala ist uralt. Daß es endlich hervorragende
christliche Kabbalisten gibt, ist desgleichen nicht der geringste Beweis
gegen die Annahme, neben den exoterischen Schriften des alten
Testamentes habe es schon vor Beginn des Hebräervolkes eine
Geheimüberlieferung gegeben, die sich von Mund zu Mund und durch
geheimgehaltene Manuskripte fortpflanzte, unterirdisch durch die
nachchristlichen Jahrhunderte lief und endlich, im 12. und 13. Jahrhundert,
wieder zum Vorschein kam, als wunderlich gescholten, weil von mystischen
»Spielereien« und »Zahlentändeleien« erfüllt, die kein Mensch auch nur
einen Augenblick lang ernst nehmen dürfe. In der Tat sagt aber der Name
Kabbala nichts anderes als »Überlieferung«, und man hat, ebenso wie in
der Gnosis eine Geheimlehre des Christentums, so in der Kabbala eine
Geheimlehre des Judentums zu erblicken, was dem modernen, durchaus
bolschewisierenden und rationalisierenden Zionismus natürlich keineswegs
in den Kram paßt, obgleich gerade ein richtiger, nationaler Jude auf das
Wunderwerk der Kabbala mit vollem Recht stolz sein müßte. Diese
flüchtige Betrachtung vorangeschickt, kann man nunmehr an eine
Darstellung des Wesens der Kabbala schreiten, über die selbst unter
sogenannten Okkultisten die wunderlichsten Phantastereien im Umlauf
sind. Es gibt in den heiligen Schriften der Kabbala weder Träume noch
Hirngespinste, so wenig man andere Wirkungen erzielt, als daß man sich
lächerlich macht, wenn behauptet wird, die Pythagoräer, die der Kabbala
ein starkes Element beimischten, hätten sich bedauerlicherweise in
Zahlenspekulationen eingelassen, die kein vernünftiger Mensch
gutzuheißen vermöge. Soviel auch in der Kabbala von Buchstaben und
Zahlenwerten die Rede ist, es gibt nichts Exakteres als die Sepher Jezirah
und den Sohar. Was macht denn überhaupt das Wesen der vielbelächelten
und verspotteten Kabbala aus? Das Erdreich, aus dem die Kabbala
hervorwächst, ist die Bibel, bis hinauf zu den Propheten, deren erhabensten
Vertreter, Elias, die Kabbalisten gleichsam als einen Urgewährsmann im
Offenbarungssinne verehren. Die Kabbala ist bestenfalls eine Geheimlehre
für Wissenschaftler, aber sicherlich auch eine vollkommen ausgebaute und
wohlfundierte Wissenschaft für Okkultisten aller Zeiten und Völker. Mit den
Gnostikern hat sie die Setzung eines letzten, menschlichen und

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 121


überirdischen Wesens, eines geheimnisvollen, unbegreiflichen,
unaussprechlichen und in andächtigem Schweigen zu verehrenden
obersten Prinzips gemeinsam, das die Griechen to on (das Eine) nennen,
das jedoch, in der jüdischen Geheimüberlieferung, eine ganz bestimmte
große Zahl von Namen aufweist: den En-Soph, von dem die zehn Sephirot
als göttliche Urbilder ausstrahlen, den En-Soph spiegelnd und, in Stufen,
die vier Welten Aziluth, Beriach, Jezirah und Asiah durchdringend,
allgegenwärtig und doch determiniert, wie der schöpferische Gott selbst.
Jezirah (Welt der Formen und Gestalten) heißt ja auch das Buch der
Kabbala, das vorsichtigere Forscher in das neunte Jahrhundert verlegt
haben, im Unterbewußtsein wohl davon unterrichtet, daß es mit dem
neunten Jahrhundert in der Tat eine besondere Bewandtnis habe, wie man
später sehen wird. Schon im zehnten Jahrhundert aber gibt es Stimmen,
die ganz richtig behaupten, der Inhalt der Sepher Jezirah sei in Wahrheit
uraltes Weisheitsgut, wenn schon nicht auf den Erzvater Abraham, so doch
auf Rabbi ben Akkiba im zweiten Jahrhundert zurückführbar. In Mantua
1562 als hebräisches Original gedruckt, entwirft sie die Lehre von Gott und
der Welt der Wesen, eingebettet in ein Zwischenreich, geoffenbart in den
zehn reinen Sephirot und den 22 Buchstaben des hebräischen Alphabets.
Die Naturgeister sind darin ebenso eingeschlossen wie die niederen
Dämonen; sie alle beherrscht der ewige Herr und Gott von seiner ewigen
Wohnung aus. Die Lehre von den Sephirot findet aber im Sohar ihre
natürliche Fortsetzung, der »Glanz« bedeutet und, gleich Sepher Jezirah,
eine Wunderwelt für sich darstellt.

VI. Die »Spiegel der göttlichen Wahrheit«


Einen Grundgedanken der Kabbala bildet, wie schon erwähnt, die Lehre
von den zehn Sphären, denen die zehn Sephirot entsprechen; sie bilden
nach dem Buch Jezirah, zusammen mit den 22 Buchstaben des
hebräischen Alphabets, die zweiunddreißig geheimnisvollen Wege der
Weisheit, denen Jehova seinen Namen eingegraben hat. Die Ableitung der
Bezeichnung Sephirot steht nicht fest; jedenfalls erweist gerade das
Studium über die Herkunft des Wortes Sephirot die nahe Verwandtschaft
des Hebräischen mit dem Griechischen. Sephirot ist die Mehrzahl von
Sephirah. Die Klanggemeinschaft mit Sphaira, der griechischen Sphäre,
fällt ins Ohr. In der Tat werden die Sephirot als konzentrische Kreise
dargestellt und weisen auf die zehn Himmelsphären des pythagoräischen
Weltsystems hin. In der späteren Kabbala (Rabbi A. K. Jrira) sind die zehn
Sephirot: Spiegel der Wahrheit des göttlichen Wesens, ideale Geschöpfe
seiner Weisheit, Darstellungen seines Willens, Behältnisse seiner Macht,
Instrumente seiner Tätigkeit, Schatzkammern seiner Seligkeit, Verteiler
seiner Güte, Richter seines Reiches, Attribute seiner Majestät,
unzerstörbare Namen seiner Erhabenheit und Finger seiner Hände;
daneben: Ausstrahlungen, Gewänder, Gesichter, Formen, Heiligtümer,
Offenbarungen, in Stufen, die von ihm herab und zu ihm hinaufführen,

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 122


Felder, Grenzen, Lichter, Feuer, Arten der Herrlichkeit, geistige
Erscheinungsformen, Masse, Werte und Gewichte, Probiersteine und
Kategorien. Jede Sephirah hat ihren Gottesnamen, ihre Engelsordnung,
ihre Himmelssphäre, ihre Beziehung zum menschlichen Leib und ihren
Grundsatz der Erkenntnis, ausgedrückt durch die zehn Gebote. Sie heißen:
Kether, Chochmah, Binah, Ghesed, Geburäh, Tipheret, Nezach, Hod,
Jesod und Malkuth. Kether trägt den Gottesnamen Ejeheh, gehört zur
Engelordnung der Chajjoth (der himmlischen Tiere), zum Feuerhimmel und
entspricht dem Gebot: »Ich bin der Herr, Dein Gott!«; ferner bedeuten
Chochmah: Gottesnamen Jab, Engelordnung Ophanim (Räder),
Himmelssphäre der ersten Bewegung und Gebot: »Du sollst keine anderen
Götter haben neben mir!« Binah: Gottesname Jahve, Engelordnung Erellim
(Stärken), Himmelssphäre Tierkreis, Gebot: »Du sollst den Namen Gottes
nicht eitel nennen!«; Chesed: Gottesname El, Engelsordnung Chaschmalim
(Glanzwesen), Himmelssphäre Saturn, Gebot der Sabbathheiligung;
Geburah: Gottesname Eloah, Engelsordnung Seraphim, Himmelssphäre
Jupiter, Gebot: »Vater und Mutter zu ehren!«; Tipheret: Gottesname
Elohim, Engelsordnung Schinamenim (die Vielen), Himmelssphäre Mars
(Sonne), Gebot: »Du sollst nicht töten!«; Nezach: Gottesname Zebaoth,
Engelsordnung Tarschischim (die Gestrengen, Harten), Himmelssphäre
Sonne (Mars), Verbot des Ehebruchs; Hod: Gottesname Eloah Zebaoth,
Engelsordnung B'ne Elochim (Söhne Gottes), Himmelssphäre Venus,
Verbot des Diebstahls; Jesod: Gottesname Elshaj (Lebendiger Gott),
Engelsordnung Ischichim (Feuerflammen), Himmelssphäre Merkur, Verbot
falschen Zeugnisses; endlich Malkuth: Gottesname Adonai (Herr),
Engelsordnung Cherubim, Himmelssphäre Mond, Verbot: »fremdes Gut zu
begehren«. Kether ist das Gehirn, Chochmah die Lunge, Binach das Herz,
Chesed der Magen, Geburah die Leber, Tipheret die Galle, Nezach die
Milz, Hod die Niere, Jesod das männliche Glied und Malkuth die weibliche
Scham zugeordnet. Wie man sieht, ist also die Welt der Kabbala um des
Menschen willen da und auf diesen bezogen. Vor der unseren hat es nach
dem Sohar Welten gegeben, die bald nach ihrer Entstehung zugrunde
gingen; es waren Welten ohne Gestalt, die, gleich Funken unter dem
Hammer des Schmiedes, nach allen Seiten stieben und gleich wieder
verschwinden. Der Bestand dieser alten Welten war deshalb unmöglich,
weil Kether noch keine Gestalt angenommen hatte, weil Mann und Weib
sich noch nicht schauten, Gnade und Recht einander noch nicht anblickten
und der Demiurgos noch nicht an seinem Werke war. Der Mensch war noch
nicht geformt und die Welt, für ihn bestimmt, mußte vergehen, weil ihr
Zweck noch fehlte. Als das nun geschehen war, als der Funke Mensch (zur
Saturnzeit) im Chaos der Wärme aufleuchtete, entstanden nun die
zerstörten Welten neu, aber unter anderem Namen. So schließt denn die
Gestalt des Menschen alles in sich, was im Himmel und auf Erden ist, die
oberen und die unteren Welten; der Mensch umschließt auch alle Formen
und ist in Wahrheit die Krone der Schöpfung, aber doch nur ein Abbild des

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 123


himmlischen Menschen. Vom Himmlischen hat der irdische Mensch das
Geschenk der Sprache, deren Alphabet astralen Ursprunges ist. Die
Verbindung der 22 Buchstaben des hebräischen Alphabets mit den
sogenannten Mondstationen (obzwar es deren 28 gibt) liegt auf der Hand.
Die Buchstaben sind mit dem Finger Gottes geschrieben, und als Moses
die ersten Gesetzestafeln im Zorne über das Tanz um das goldene Kalb
zerbrach, flogen die Buchstaben der Schrift wieder zum Himmel zurück.
Bedeutet in der Zahlenlehre der Kabbala die Eins den Geist des lebendigen
Gottes, die Zwei den Geist aus dem Geist, die Drei das Wasser aus dem
Geist, die Vier das Feuer aus dem Wasser, die Fünf die Höhe, die Sechs
die Tiefe, die Sieben den Osten, die Acht den Westen, die Neun den Süden
und die Zehn den Norden, so enthalten die 22 Grundbuchstaben (gleich
den Zahlen mystische Wirklichkeiten von wesenhaftem Charakter) drei
Mütter, sieben doppelte und zwölf einfache; er »grub und meißelte sie ein«,
setzte sie in Beziehung, legte sie auf die Waage, maß ihnen Zahlen bei und
versetzte sie, die im Munde an fünf Stellen angeheftet sind, an die Kehle,
an den Gaumen, an die Zunge, an die Zähne und an die Lippen. Im Kreise
sich drehend, verband er alle mit A und A mit allen, B mit allen und alle mit
B, G mit allen und alle mit G, indem sie wieder an die alte Stelle
zurückkehren. In den drei Müttern (A, M, Sch), der Waagschale des
Verdienstes und der der Schuld, mit der Zunge, als vermittelnder Norm,
steckt ein tiefes (»großes, verborgenes, verhülltes, mit sechs Siegeln
verschlossenes«) Geheimnis. Es gibt drei Mütter in der Welt (Himmel, Erde
und Wind), drei im Jahre (Kälte, Wärme und Hauch), drei im Körper (Kopf,
Unterleib und Brust). Das A wurde König über die Luft, das M König über
das Wasser, das Sch aber König über das Feuer. Mit den sieben doppelten
Buchstaben (B, G, D, K, P, R und Th), die Leben, Friede, Weisheit,
Reichtum, Anmut, Fruchtbarkeit und Herrschaft anzeigen, wird zugleich
deren Gegenteil gesetzt: Tod, Bosheit, Torheit, Armut, Häßlichkeit,
Unfruchtbarkeit und Knechtschaft. Auch die sieben Doppelten grub und
meißelte Er ein, verband sie und bildete durch sie die Planeten, die Tage im
Jahr, die Dimensionen, die Pforten im Körper, die sieben Himmel und
Erden und Wochen, denn er liebte, in ihnen, die Siebenzahl!

VII. »Alles Wissen aller Zeiten« in der Kabbala


Das B unter den sieben Doppelten machte er zum König der Weisheit,
verband beide, den Saturn formend und den Sonntag im Jahr und das
rechte Auge im Kopfe; G wurde zum König des Reichtums (Jupiter,
Montag, linkes Auge); D zum König über die Fruchtbarkeit (Mars, Dienstag,
rechtes Ohr); K zum König des Lebens (Sonne, Mittwoch, linkes Ohr); P
zum König über die Herrschaft (Venus, Donnerstag, rechte Nasenöffnung);
R zum König des Friedens (Merkur, Freitag, linke Nasenöffnung); Th aber
zum König der Anmut (Mond, Sabbath und Mund). Die zwölf einfachen
Buchstaben sind H, W, S, Ch, T, J, L, N, Sz, die anderen, A, Z, O,
darstellend Sehkraft, Gehör, Geruch, Sprache, Geschmack, Beischlaf,

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 124


Wirken (Arbeit), Gang, Zorn, Lachen, Denken und Schlafen, entsprechend
den zwölf Sternbildern des Tierkreises, den zwölf Monaten des Jahres und
den zwölf leitenden Organen des Körpers. Von den zwölf Organen des
Körpers sind die beiden Hände zum Fassen (»Rauben«), die beiden Füße
zum Jagen, zwei sind Ratgeber (die Nieren), zwei sind fröhlich (Magen und
Milz), zwei grollen (Leber und Galle), zwei aber werden beraten
(Speiseröhre und Därme), obgleich angeordnet, im Widerstreit miteinander
zu stehen, Eines gegen das Andere, wie im Kriege. Das H wird zum König
der Sprache (Widder, März-April, rechte Hand); W zum König über das
Denken (Stier, April-Mai, linke Hand); S zum König über den Gang
(Zwillinge, Mai-Juni, rechter Fuß); Ch zum König über die Sehkraft (Krebs,
Juni-Juli, linker Fuß); T zum König über das Gehör (Löwe, Juli-August,
rechte Niere); J zum König über die Werktätigkeit (Jungfrau, August-
September, linke Niere); L zum König des Beischlafs (Waage, September-
Oktober, Leber); N zum König des Geruches (Skorpion, Oktober-
November, Milz); Sz (S) zum König des Schlafes (Schütze, November-
Dezember, Gott); das andere A zum König über den Zorn (Steinbock,
Dezember-Jänner, Speiseröhre); Z zum König über den Geschmack
(Wassermann, Jänner-Februar, Magen); O zum König über das Lachen
(Fische, Februar- März, Darm). Es gibt also also drei Mütter (A, M, Sch), die
zugleich Väter sind (als aus ihnen gebildete Elemente Luft, Wasser und
Feuer), sieben doppelte und zwölf einfache Buchstaben. Diese
sonderbaren Zuordnungen und Andeutungen sind ohne Zweifel der Grund
dafür gewesen, die Kabbala für ein Kompendium von Obstrusitäten,
Monstrositäten, sinnlosen Spielereien und Tüfteleien zu erklären, das
keinen vernünftigen Menschen beschäftigen dürfe, ohne daß er sich damit
dem allgemeinen Gelächter preisgäbe. Nichtsdestoweniger steckt im Sohar
wie in der Jezirah, eine Fülle von Wissen um die Welt, um das Göttliche
und um den Menschen. Wir sehen Mütter, die einfachen und die doppelten
Buchstaben, nur mehr als Zeichen unseres Alphabets, das bloß ein
Gerippe und Skelett alter Sprachherrlichkeit darstellt, und nehmen uns
kaum die Mühe, nachzuforschen, wie die einzelnen hebräischen
Buchstaben zu ihren Zuordnungen gekommen sein mögen. Unser B hat
gewiß nichts mit Weisheit und Sonntag zu tun, aber im hebräischen Worte
Be-reschith, das »im Anfang« bedeutet, ist es offenkundig der
Schöpfungsbuchstabe; unser G und der Reichtum sind gewiß weit
voneinander entfernt, aber das hebräische Gimel, das zutragen,
hinzufügen, häufen, werfen, vermehren und sammeln bedeutet, kann sich
schon im Zusammenhange mit Fülle und Reichtum sehen lassen. Im D des
Daleth, was Tür heißt, ist der Zusammenhang mit weiblicher Scheide und
Fruchtbarkeit gegeben. Hinter allen diesen Zuordnungen birgt sich uraltes
mystisches Gedanken- und Anschauungsgut des Orients. Die Kabbala, ein
köstliches Ergebnis alter orientalischer Mystik, gemischt mit den Elementen
des Christentums, das sich schon in der göttlichen Dreiheit und in der
erhabenen Prophetenvision des Menschensohnes offenbart, ist erfüllt mit

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 125


erhabenen Gedanken und tiefster Einsicht in die ersten und letzten Dinge.
Sie enthält wahrhafte Geheimnisse, die »den Kindern der Welt«
unverständlich bleiben. »Als der Verborgene«, so ist in einem Gespräch
des Rabbi Simeon mit dem Propheten Elias zu lesen, »als der Verborgene
der Verborgenen sich offenbarte, machte er zunächst einen Punkt (das J im
Hebräischen hat die Gestalt eines dicken Punktes, der überhaupt das
Grundelement der hebräischen Schrift darstellt), der zur Idee ward (zum M
in Machshabah); in dieser schuf er alle Formen, bildete alle Figuren und
gestaltete dann im verborgenen heiligen Lichte das Bild eines verborgenen,
allerheiligsten Wesens, den Grundstein Kether, der, aus der Idee
hervortretend, Anfang zum Bau der Schöpfung genannt wird. Er selbst, der
Verborgene aber, ist vorhanden und nicht vorhanden und heißt: »Wer?«.
Da er sich nun zu offenbaren wünschte, hieß er dann nicht mehr so, warf
ein herrliches Lichtgewand über und schuf El(e)h, genannt »Dieses«. Aus
El(e)h und dem Mi des »Wer?« ward Elohim, und wie sich Mi und El(e)h
verbinden und mit den tieferen Stufen vereinigen, auf diesem Geheimnis
ruht das ganze Weltall«. Man kann den tiefen Ernst und die hohe Schönheit
solcher Gedankengänge kaum verkennen, ohne zugleich das Exakte der
kabbalistischen Ontologie bis ins kleinste zu bewundern. Zu alledem
behandelt die Kabbala in ziemlich ausführlicher Weise das Grundgeheimnis
alles individuellen Seins in der Materie: die Wiedergeburt, in der Sprache
der Kabbala ungenau Seelenwanderung genannt. »Der Mensch muß so
lange auf die Erde kommen, bis sein Ichkern (alle Teile seiner Seele) von
den Mängeln früherer Daseinsperioden vollkommen gereinigt ist.« In den
Zusätzen zu dieser Lehre führt die Kabbala sogar Beispiele von
Wiederverkörperungen an; so wird Rabbi Hammuna als eine »von den
wiederholten Verkörperungen Mose« bezeichnet, und, weil der König
Salomo die Tochter des Pharao zum Weibe nahm, die ihn in der
Hochzeitsnacht zu Irrtum verführte, so daß er des Morgens nicht aufstand
und die Juden dank seiner Abwesenheit im Tempel am Morgengottesdienst
verhindert wurden, mußte er sich im Propheten Jeremias wiederverkörpern,
zu dessen Zeiten der Tempel zerstört ward. Mordechai war ein
wiederverkörperter Jakob, Haman aber Esau!

VIII. Zauber und Spuk der Kabbala


Die Kabbala hat aber auch eine praktische Seite. In die Tat umgesetzt,
stellt sie ein ungeheures System der Magie dar, das bis auf den heutigen
Tag geübt wird, mit scheinbar harmlosen Zahlenkombinationen und
Buchstabenversetzungen beginnend und von da vorwärtsschreitend zum
gespenstigen Golem, der, eine besondere kabbalistische Gestalt, in der
Volkssage auf den heutigen Tag weiterlebt. Die Kabbala ist ein riesiges,
weit abgezweigtes Labyrinth von okkulten Erkenntnissen. Aus den
Elementen der Jahvekultur, aus babylonisch-assyrisch-ägptischen
Geheimlehren gemischt, stellt sie zugleich eine Zusammenfassung
pythagoräischer Lehren, platonisch-aristotelischer Philosophie und

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 126


neupythagoräisch-neuplatonischer Mystik dar, umschließt aber doch auch
den Kern des Christus Jesus, der in ihr als lebendiger Urkeim ruht. Uridee
und Urwille sind ihre Ausgangspunkte, ihr Rahmen ist der göttliche
Weltenplan, der sich von Schöpfungszyklus zu Schöpfungszyklus ändert,
so daß die Pläne und Entwürfe zur nächsten Runde immer schon im
vorhergehenden Zyklus entworfen werden, der, in unserem Falle, mit der
Vulkanwelt seinen Abschluß findet. Wer in Berührung mit ihren letzten und
höchsten Geheimnissen tritt, wirkt auch schon auf höherer Ebene, und
seine Machtsphäre wächst mit seiner Erkenntnis. Durch Meditation dringt
der Kabbalist zum Mysterium des göttlichen Wortes vor, durch sein Gebet
ruft er höhere Mächte, durch sein irdisches Begehren, sofern es ihn noch
bewegt, die niedere Dämonenwelt zuhilfe, durch Selbstbeherrschung
gelangt er in den Besitz übersinnlicher, wenn auch keineswegs
übernatürlicher Kräfte (für den Kabbalisten erweitert sich die Sphäre der
Natur zu unerforschten Möglichkeiten und Unendlichkeiten). Es gibt in
gewissem Sinne weiße und schwarze Magie, auch in der Kabbala. Die
weiße setzt Befolgung der göttlichen Gebote, Enthaltsamkeit, Keuschheit,
Pflege und Läuterung der Rede, Schweigen und Einsamkeit voraus. Die
dunkle Färbung, bei den Chassiden des 18. Jahrhunderts schärfer
ausgeprägt, obgleich sicherlich schon zur Zeit des Apollonius von Thyana
und der Gnostiker vorhanden, steht dem irdischen Leben und Treiben weit
näher; sie birgt einen Fonds frischer und natürlicher Lebensbejahung,
erfreut sich an den Reizen der Erscheinungswelt und zieht ihre Kreise bis
ins Reich des Bösen, das aus der Notwendigkeit des Guten seine Satzung
empfängt. Die Freude, sagt Rabbi Beer, fließt aus der göttlichen Wonne.
Gleich dem Propheten Elias bückt sich der Kabbalist zur Erde und senkt
sein Haupt zwischen die Knie, gleich den Mönchen auf dem Berge Athos;
Psalmen und Hymnen bringen sein Ewiges in Harmonie mit dem All, sein
Atem beginnt sich zu verwandeln und sein Gebet steigert sich zu höchster
Brünstigkeit; er wird zum Baal Schem, dem Übermenschen der Kabbala,
beherrscht die heiligen Zahlen, Buchstaben und Gottesnamen, erlangt
Macht über die Menschen, sieht alles Kommende, ist Freund und Genosse
der Engel, Bändiger und Befehlshaber der Dämonen, und die belebte wie
die unbelebte Natur gehorchen seinem Wink; die Schlüssel Salomonis sind
ihm zur Obhut übergeben, sechsunddreißig Talismane offenbaren ihm ihren
höheren Sinn und auf seinen Siegeln, Charakteren und Amuletten erblüht
schon die mystische Rose des Rosenkreuzes. Wer den Talisman
Damabiach anzufertigen weiß, hat das Rätsel der Sphinx gelöst. Die
heiligen Buchstaben, im Tarot lebendig, offenbaren bestimmte Kräfte, in
den drei ersten, heiligen Zahlen sind Kether, Chochmah und Binah
(Michael, Gabriel und Anaël) vereinigt, vier, fünf und sechs fassen Chesed,
Geburah und Tipheret (Zadkiel, Samaël und Kassiel) zusammen, sieben,
acht und neun Nezah, Hod und Jesod zusammenfassend, ergeben für
Gabriel, Adonisam und Samathiel ein gemeinsames Feld, die Zehn aber
kehrt zur Einheit zurück. Als große magische Zahl bleibt neun, die Zahl der

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 127


Eingeweihten, ein hohes Symbol der Alchimie, an der Pforte zur Zehn als
deren Vorläufer und Wegbereiter. In der Zahl einundzwanzig liegt der
Schlüssel zum Tarot und die Zusammenfassung des ganzen universellen
Wissens. Nach Henoch hat Moses, nach Moses Elias regiert, nach Elias
der Christus Jesus. In diesem Bereiche spielt sich das Schicksal der Welt
ab. Jeder Talisman, jedes Siegel, jeder Charakter und jedes Zeichen sind
Symbole und Gefäße magischer Kräfte. Das Vollkommenste seiner
Leistung ist dem Kabbalisten das schöpferische Prinzip in seiner
Handhabung durch den mit Gott vereinten Weisen, der das Geheimnis der
Schem Ha Mephorasch kennt und hütet. Bedeutet das geheimnisvolle
Schem soviel wie Namen, so ergibt Schem Ha Mephorasch den
alleinstehenden, heiligen Namen (den erklärten, ausgelegten und
umschriebenen Gottesnamen). Das Tetragrammaton, die alte Formel
JHVH, wird im Tempel für die Profanen durch Adonai ersetzt. (»Nicht wie
ich geschrieben werde, werde ich gelesen, geschrieben werde ich Jahve
[JHVH], gelesen aber Adonai.«) Die Kabbala kennt vier-, zwölf-,
zweiundvierzig- und zweiundsiebzigbuchstabige Namen Gottes. In der
gewöhnlichen Praxis der älteren Kabbalisten spielt der Schem I, IH, IHV,
IHVH, pyramidenförmig mit IHVH als Grundlage und J als Spitze aufgebaut,
eine große Rolle. Der »Zauberer« auf kabbalistischer Grundlage übt seine
Kraft zu bestimmten Zeiten, die er astrologisch genau berechnet und denen
eine längere Vorbereitung vorangeht. Von den sieben Tagen der Woche
eignet sich jeder, unter einem bestimmten Planeten und unter dem Einfluß
bestimmter Intelligenzen stehend, zu besonderen hohen Operationen, die
zur Zeit des Wiedererwachens des Okkultismus (Papus, Ochorowicz,
Stanislas de Guaita, Eliphas Levy) zu neuen Ehren und oft sehr
mißbräuchlichen Anwendungen gelangt sind. Von kabbalistischem Geiste
war auch Sar Peladan beseelt, dessen hochstehende Romane von
kabbalistischer Magie aller Art erfüllt sind. Das Zeitalter der Entwicklung der
Bewußtseinsseele weiß mit diesem Wunderbasar von Zeichen, Symbolen,
Geräten und Handlungen nichts mehr anzufangen. Die »neue Gnosis«, die
durchaus vorgibt, dem »kommenden Wassermannzeitalter« als der
angeblichen Epoche der »mitleidlosen Liebe« zu dienen, dreht das Rad der
Entwicklung in eine sehr unfruchtbare Vergangenheit zurück, indem sie sich
von der Erneuerung der alten kabbalistischen Praxis besondere Wirkungen
auf die menschliche Entwicklung verspricht.

IX. Die Kabbala und das Zwischenreich


Um die praktische Anwendung kabbalistischer Erkenntnis auf magischem
Wege zu verstehen und um zu wissen, worum es sich dabei handelt, muß
man auf die Lehre von den verschiedenen Welten, die in Wahrheit nur
Bewußtseinszustände (mathematisch ausgedrückt: Dimensionen) sind,
zurückgreifen, eine Lehre, die von altersher allen Religionen und Mysterien
bekannt ist. Es gibt drei räumlich voneinander nicht getrennte Welten:
neben der physisch-materiellen, die Schauplatz und Tätigkeitsfeld aller

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 128


Menschen ist, eine astralische (seelische) und eine devachanische
(geistige) Welt. Der Mensch selbst ist ein Bürger dieser drei Welten; in der
physischen lebt er sein körperliches Leben, und die Stoffe, aus denen sie
gebildet ist, setzen auch seinen Leib zusammen; in die astralische tritt er
mit seinem Tode, der sich als ein radikaler Wechsel des Bewußtseins
darstellt, oder er lebt in ihr und ist mit ihr in Verbindung, als Eingeweihter
und Adept der astralischen Bewußtseinsstufe. So wie die physisch-
materielle Welt hat auch die astralische ihre Eigentümlichkeiten und
Bedingungen; die Dinge erscheinen hier wie ein Spiegel, auch die
moralischen, Zeit und Kausalität, ergeben ihre Umkehrungen; das Ende
steht vor dem Anfang, die Wirkung vor der Ursache, und die Gedanken
werden zu Wirklichkeit; aus Farben und Formen bestehend, wird sie von
Farben und Formen durchflutet, nicht mit Gegenständen, wohl aber mit
Wesenheiten verbunden. Die devachanische oder geistige Welt endlich ist
eine Welt der Töne, die zu den Farben und Formen hinzutreten; hier lebt
die Weltharmonie, hier erklingt die Sphärenmusik; sie birgt zugleich das
Negativ aller Dinge, sie ist eine Welt von Entsprechungen oder Polaritäten
und in Festländer, Meere und Luftkreis gegliedert. Die devachanischen
Kontinente entstehen durch die Negative der physischen und
irdischwesenhaften Dinge, die devachanischen Meere fluten als Leben und
Seelisches durch diese Dimensionen, im Luftkreis des Devachans waltet
die Welt der Empfindungen. So bilden die Dinge der irdischen Welt die
Kontinente, die lebenerfüllten Bereiche die Meere und Lust und Leid den
Luftkreis des Devachans.
Über dem Luftkreis gibt es eine (vierte) devachanische Welt, gleichsam
als Übergang zur Grenze der geistigen; hier ist der originelle, der
schöpferische und der impulsive Gedanke zu Hause, hier ist das »Neue«
zu finden, das stets in die Weltentwicklung eintritt. Die Grenze der geistigen
Welt aber wird vom Akasha gebildet, vom Erinnerungsäther, vom
Weltengedächtnis, für das es weder Vergangenheit noch Zukunft, sondern
bloß ewige Gegenwart gibt. Der Zwischen- und Übergangszone vom
devachanischen Luftkreis zur Grenze der geistigen Welten entspricht aber
auch eine Zwischen- und Übergangszone von der physischmateriellen zur
astralischen Welt, ein Zwischenreich (Kamaloka), das von den Geistern der
Abgeschiedenen und von Wesen, die auf gleicher Stufe stehen, erfüllt ist.
Dieses Zwischenreich gibt die eigentliche Sphäre und Zone aller Magie und
alles Spukes ab, als ein Ort der Begierden, aber auch der Läuterung, des
alle Schlacken hinwegfegenden Feuers. Dort durchlebt der Mensch,
nachdem er seine physische Gestalt abgelegt hat, die Zeit von der
Todesstunde an bis zur Geburt. Vom Zwischenreich steigt er, je nach
seinem Karma, zur astralischen Region und zu den Kontinenten, Meeren
und Luftbereichen und zur vierten Region, zur Region der geistigen Urbilder
auf, denn im Devachan bereitet er, vom getrübten Bewußtsein des
Zwischenreiches befreit, seine nächste Erdenwanderschaft und seinen
nächsten Körper vor; hier wirkt er, ein schöpferisches Wesen, an seiner und

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 129


der anderen Seligkeit. Alle diese Welten sind von Myriaden von
Wesenheiten und belebten Monaden erfüllt, vor allem die Bereiche, die
über der physischmateriellen Welt liegen. Hier sind die Elementargeister
der vier Naturreiche zu finden, an denen kein Adept, kein Magier
vorbeikann, ebenso wenig wie der Mensch das Zwischenreich betritt, ohne
dem großen und dem kleinen Hüter der Schwelle begegnet zu sein. Der
Kabbalist ruft diese Wesenheiten, er beschwört sie, macht sie sich
»dienstbar«, denn er kennt ihr Wesen, ihre Gestalt im Astralen,
ihre Charaktere und Sigel, ihre Zeichen, Zahlen und Buchstaben, und es
hängt nur von seiner Entwicklung ab, ob er im Zwischenreich und in der
Sphäre der Elementargeister stecken bleibt oder zu den Engeln und
Urbeginnen (Archei) aufsteigt, die die menschliche Stufe, von unten aus
nach oben, zu den beiden höheren Hierarchien, fortsetzen. Darum spielt in
der praktischen Kabbala das Dämonenwesen eine so große Rolle, die Welt
der Dämonen, jener »wohlbekannten Schar, die strömend sich im
Dunstkreis überbreitet, dem Menschen tausendfältige Gefahr von allen
Enden her bereitet«; die Dämonen bewohnen eben jenes Zwischenreich,
jenes Intermundium, jene sublunarische Welt, wie sie auch heißt, weil,
wenn es Zeit und Ort für sie gäbe, die Zone zwischen Erde und Mond von
ihnen bewohnt erschiene. Im Intermundium, im Zwischenreich, herrschen
die Schedim (Dämonen im engeren Sinne), Massikim (Poltergeister und
Kobolde im Spuksinne) und Ruchim (böse Geister) in ihrer eigentlichen
Bedeutung. Unter den Schedim versteht der Kabbalist gefallene Engel,
geflügelt, vergänglich und fortpflanzungsfähig, mit Phantomkörpern
behaftet, die keine Schatten werfen, eine Zwischenstufe zwischen Tier und
Mensch, untertänig dem Aschmedaj (Asmodäus, Asmodi), den sie als
König erkennen; einer der Gottesnamen und Kenntnis der
Eigentümlichkeiten eines solchen Dämons sind die besten Mittel im Kampfe
mit ihnen. Die Massikim sind in erster Reihe Krankheitsdämonen, aufruf-
und bannbar durch die magische Medizin. Die Ruchim endlich sind die
herumirrenden Astralleichname Verstorbener, die bei den spiritistischen
Sitzungen materialisiert werden können. Diese ungeheure Armee setzt sich
in alle Teile des schier unendlichen Raumes fort; ihre Wesen haben teils
die Natur der Tierkreiszeichen und Planetengeister, das heißt sie
entsprechen ihnen und sind mit ihnen verwandt. Zu ihnen gehören
bestimmte Metalle und Steine, Pflanzen und Blumen, Tiere und
Zwischenwesenheiten aller Art; sie »beherrschen«
Stunden, Schwingungen, Wochentage, Monate und Jahre. Sie umfassen,
wenn man will, das Geistigseelische der niederen Welten.

X. Das große Werk und die Helfer


Der Kabbalist beginnt sein Werk mit persönlichen Vorbereitungen; er
kennt bestimmte Gebote, besitzt ein magisches Laboratorium, hat seine
Steine, Essenzen, Kräuter, Öle, sein Zauberzimmer mit einem Altar, seine
Formeln zur Beschwörung der Undinen und des Wassers, des Salzes und

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 130


der Asche, der Gnomen, Sylphen und Salamander; er weiht seine Geräte,
seinen Zauberstab, sein Zauberbuch, das alle Formeln und Geniennamen
enthält, seinen magischen Spiegel, seine Talismane, seinen Stichel, sein
Federmesser, seinen Kompaß, seine Tabelle der Mondstationen und der
Planetenstunden, seine Anrufungen für jeden Tag der Woche, seine
Zeremonien und Gebräuche, seine Gehilfin, seinen magischen Kreis, den
er nach genauen Vorschriften zieht, und seine magischen Zahlenquadrate.
Sieben magische Operationen, den sieben Planeten und ihnen
entsprechenden Wochentagen Rechnung tragend, stehen in seinem
Belieben; Gott, Macht, sexuelle Liebe, geistige Erkenntnis, Politik und
Nation, Wetter und Katastrophe: es gibt nichts, was sich seiner Macht
entziehen könnte. Die Geister beherrschend, wird er freilich oft ihr
schreckliches Opfer, denn sie lauern nur auf den Augenblick, da er einen
Fehler begeht oder einer Schwäche verfällt. Dann stürzen sich die
Dämonen auf ihn und üben Rache an ihrem Meister. Noch heute gibt es
Vereinigungen von Menschen, die mehr oder weniger, je nach Maßgabe
der Macht und ihrer inneren Bosheit, auf kabbalistische und magische
Weise Ziele verfolgen und Wirkungen anstreben, die öffentlich nicht verfolgt
und angestrebt werden dürfen. Will man bei den ersten vier Jahrhunderten
nach Christus bleiben, so gibt die kabbalistische Anrufungsweise, die
Apollonius von Thyana zugeschrieben wird, interessante Aufschlüsse über
die Sphäre und über die Seltsamkeiten, die einer Beschwörung im
kabbalistischen Sinne eigentümlich sind. Das 19. Jahrhundert, das zugleich
die Wiedererweckung des Okkultismus gebracht hat, vermaß sich sogar,
den Geist des Apollonius von Thyana selbst heraufzubeschwören, damit er
über eine Angelegenheit, die Eliphas Lévi und eine diesem nahestehende
Dame interessierte, Auskunft gebe. Eliphas Lévi beschreibt den Gang der
Beschwörung genau; es erscheint nach einiger Zeit Apollonius von Thyana,
sieht aber anders aus, da ihn Eliphas Levy zwingen will, sich zu äußern,
und die Operation nimmt keineswegs den gewünschten Verlauf. Eliphas
Levi gibt in der »Geschichte der Magie« sogar das Bild des Apollonius
wieder. Im übrigen überliefert der »Nyktemeron«, der dem Apollonius von
Thyana zugeschrieben wird, ein genaues Verzeichnis der Genien und
Dämonen und ihrer Entsprechungen. Nyktemeron bedeutet die »vom Tag
erhellte Nacht (»taghell ist die Nacht gelichtet«, sagt Schiller in seiner
»Glocke«) oder, angeblich, das Licht, das von der Finsternis begriffen wird,
um mit dem Evangelisten Johannes zu sprechen. Die zwölf symbolischen
Stunden, die den Zeichen des Tierkreises und den Arbeiten des Herkules
entsprechen, sind Stufen der Einweihung. So lobsingen die Dämonen in der
ersten Stunde, in der Einheit, die Herrlichkeit Gottes, indem sie ihre Arglist
und ihren Zorn verlieren, durch die Zweiheit preisen die Fische des
Zodiakus den Schöpfer, und die Feuerschlangen umwinden den Stab des
Merkur; in der dritten Stunde singt das Feuer das Lob des Herrn, in der
vierten, der Stunde der Beschwörungen und der goëtischen Praktiken,
kehrt die Seele vom Besuch der Gräber zurück, in der fünften lobt das

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 131


Wasser den Schöpfer der himmlischen Sphären, in der sechsten beweist
der Geist seine Standhaftigkeit im Kampfe gegen die höllischen Ungetüme,
in der siebenten wird das Licht des Lebens vom Willen reiner Menschen
geleitet, in der achten offenbart sich die Übereinstimmung aller Wesen der
Natur, in der neunten darf nichts geoffenbart werden (es ist die Stunde des
Schweigens), in der zehnten liegt der Schlüssel zum Weltenzyklus, in der
elften tragen die Engel Gottes Botschaft von Welt zu Welt, in der zwölften
endlich erfüllen sich die Werke des ewigen Lichtes. Die Genien der ersten
Stunde sowie alle weiteren sind, je sieben, mit Namen bezeichnet, die dem
assyrisch-babylonischen Kulturkreise entstammen und die sich auch in der
Mischna finden. Auch hier gibt es zwölf Stunden, die dem Geheimnis der
Zahlen entsprechen. Nicht minder wichtig als diese Stundengenien sind die
Intelligenzen, die den 28 Mondstationen zukommen, und die Namen der
astrologischen Häuser, in denen sie wirken; Papus zählt sie schematisch
auf, gibt genau an, zu welchen Operationen sie zu gebrauchen sind und
wie die Talismane aussehen müssen, die mit ihnen in Verbindung stehen.
Das ungeheure Reich der planetarischen Geister, zusammen mit den
Genien und den Dämonen, das Reich der drei Engelshierarchien, eröffnen
dem Kabbalisten tiefen Einblick in die Struktur der Gotteswelt. Den reinsten
Ausdruck der Erkenntnis der Hierarchien aber findet man bei Dionysios,
dem Aeropagiten, den die Apostelgeschichte erwähnt, von dem aber
allgemein behauptet wird, daß er erst um 485 bis 515 gelebt habe.
Hierarchien sind nach dem Aeropagiten eine heilige Stufenordnung,
Erkenntnis und Wirksamkeit, begründet darin, daß sie den Weg zur Gottheit
zurückweisen. Vom Menschen herauf steigend umfassen sie je drei Chöre
von Wesenheiten: Engel, Erzengel und Urbeginne; Mächte, Gewalten und
Herrschaften; Throne, Cherubime und Seraphine. Das Wissen um die neun
geistigen Hierarchien ist ein wesenhafter Bestandteil des Christentums als
einer mystischen Tatsache. Von ihnen muß, ehe das Bild der ersten vier
nachchristlichen Jahrhunderte abgeschlossen wird, hier noch gehandelt
werden.

XI. Die Engelschöre


Die Engelchöre haben, nach Dionysios, in höherem Sinne als alle übrigen
Wesenheiten unmittelbar teil am göttlichen Sein; sie sind als solche die
ersten Instrumente und Organe der göttlichen Offenbarung; Engel
(Botschafter) im wahren Sinne des Wortes. Sie schließen die himmlischen
Ordnungen nach unten zu, gegen den Menschen hin, ab und bilden
anderseits die höheren Wesensstufen über dem Menschen. Zwischen
ihnen und den Fürstentümern stehen die Erzengel als Mittelstufe; gegen die
Fürstentümer zu sind die Erzengel dem Urquell der Herrschaft nahe, gegen
die Engel zu sind sie, mit diesen, erdennäher, aber in wohlgeordneter
Leitung verbunden. Die Fürstentümer (archai, Urbeginne, Zeitgeister)
endlich empfangen ihre Namen vom Fürsten der Himmel und alles
Geschaffenen. Über den Fürstentümern stehen als unterste Stufe der

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 132


zweiten Ordnung die Engelchöre der Gewalten (Exusiai); sie bilden eine
»unverwirrbare Ordnung« zur Aufnahme der göttlichen Impulse und wirken
auf die niederen Chöre im Sinne des göttlichen Prinzips; über ihnen
besitzen die Engelschöre (Mächte, Dynamis) eine unvergleichliche
Ausdauer und unerschöpfliche Aufnahmsfähigkeit für göttliche
Erleuchtungen, indes die diesen übergeordneten »Herrschaften«
(Kyriotetes) sich einer Herrschaft erfreuen, die keine Knechte kennt,
sondern teilhat am Urquell der Macht. Die oberste Hierarchie endlich, die
Triade der Reinigung, Erleuchtung und Vollendung, weht und lebt
unmittelbar in den Sphären des schöpferischen Gottes und umfaßt,
wiederum von unten nach oben, Throne, Cherubim und Seraphim; in
unablässigem Reigen bewegen sie sich um Gott, den sie in herrlichen
Lobgesängen preisen. Die Seraphine sind die Entflammer oder Erglüher,
die Cherubime aber deuten, schon ihrem Namen nach, auf Fülle der
Erkenntnis und Ergießung der »Weisheit«. Im Nachwort zu
seiner Engellehre läßt Dionysios durchblicken, daß er nicht alles gesagt
habe, »um die über uns hinausliegende Verborgenheit durch Schweigen zu
ehren«. Man könnte nun meinen, daß die gesamte Dämonologie sowie die
Lehre von den geistigen Hierarchien zu jenem mystischen Erkenntnisgute
gehören, das einer früheren Erkenntnis- und Bewußtseinsstufe entsprach,
daß aber »unsere Zeit« gerade dieses »wunderlichste und
unglaubwürdigste« Kapitel des Okkultismus wahrscheinlich radikal fallen
gelassen habe. Das gerade Gegenteil dieser Annahme trifft zu. Die Lehre
von den geistigen Hierarchien spielt im Rosenkreuzertum und in der
heutigen Anthroposophie eine zentrale Rolle. Der Ätherleib der Natur (das,
was die Kräfte der Natur zum Leben aufruft) stellt eine unendliche
Mannigfaltigkeit und Vielheit dar und birgt eine unübersehbare Legion
differenzierter Wesenheiten. Zum Reiche der elementarischen Geister
(Naturgeister) aufsteigend, kommt das forschende Bewußtsein mit einer
Klasse von Wesen in Berührung, die noch Form und Gestalt aufweisen und
als begrenztes Bild erscheinen, dann aber auch mit solchen Wesenheiten,
die sich ohne Unterlaß wandeln. Wer in das Innere der Erde geistforschend
eindringt, stößt auf die Geister der Erde, des elementarisch Irdischen; im
Element der Wolke, des Wasserfalles, des Nebels und Regens auf die
Naturgeister des Wasserartigen im Reiche der Pflanzen; im Elemente der
Luft auf blitzartig aufleuchtende Wesenheiten, die meteor- und irrlichtartig
über unsere Erde huschen, endlich auf die Feuergeister auch in Same und
Keim die Bewahrer alles Samens und Keimens. Wer die Kunst versteht, die
Zeit vom Einschlafen bis zum Aufwachen bewußt zu erleben, dem
verschwindet zunächst die physische Welt und auch die Sphäre der
Naturreiche; der spirituellen Welt genähert, schaut er die Befehlshaber der
Naturgeister, die den Gang der Jahreszeiten regeln und zugleich das
darstellen, was man Astralleib der Erde nennen möchte; sie sind über alles,
was Zeit und Raum betrifft, gesetzt, als Geister der Umlaufszeiten. Wer bis
zu ihnen vorgedrungen ist, ohne daß er sein Ich (seine Erinnerung und die

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 133


Stärke seines Gewissens) verlor, steigt zu den Planetengeistern auf; mit
der Sonne verbunden, leuchtet sie ihm, auch wenn sie selbst
untergegangen ist; der Geist der Erde endlich wird ihm offenbar! Die
gesteigerte Wahrnehmung des Leibes führt in die Sinneswelt, in das Reich
der Naturkräfte, die Imaginationen des Ätherleibes führen in das Reich der
Naturgesetze, die Inspirationen des Astralleibes zum Sinn der Natur, zu
den Geistern der Umlaufszeiten und die Intuition des Ichs zu den
Planetengeistern und dem Geist der Erde. Der moderne, aufgeklärte,
neusachliche Mensch läßt es mit unverhohlener Befriedigung geschehen,
daß die Kräfte und Tatsachen des Lichtes, der Wärme, des Magnetismus,
der Elektrizität, der Anziehung und Abstoßung, des Atomzerfalles und der
Schwerkraft mit Namen bezeichnet werden, obzwar damit für das Wesen
dieser Erscheinungen nicht das geringste erklärt ist, aber er sträubt sofort
sein Kopfhaar und wird widerborstig, wenn man ihm sagt, daß es sich in der
Geisterwelt nur um Namen für jene »Wesenheiten handelt, denen er
unbewußt seine gelehrten Termini beilegt. Die Quelle zu den Lehren von
den geistigen Wesenheiten und Hierarchien ist allerdings im Innenleben
des Menschen selbst zu suchen. So erscheinen der Steinerschen
Geisteswissenschaft die Hierarchien als Naturgeister, Geisterfüllung und
Offenbarung (Engel, Erzengel und Archai oder Zeitgeister); das Erlebnis
der Gruppenseelen, der Lebenserweckung ins Schöpferische als die
Geister der Form, der Weisheit und der Bewegung und endlich, als Geister
der Umlaufszeiten, die wesensschaffende Geistkraft und das
weltschöpferische Geheimnis: als Throne, Cherubime und Seraphime. Der
Mensch hat die »Gabe«, die Möglichkeit zur Lüge, er kann den Wahrheiten
der übersinnlichen Welten seine Unwahrheiten als Widerspruchsgeist
entgegensetzen. Diese Möglichkeit haben die Engel nicht; würden sie zu
lügen versuchen, so wäre ihr wesenhaftes Bewußtsein auch schon
verloren. Der Augenblick, da Wesenheiten der dritten Hierarchie das
Gelüste verspürten, ihre Natur zu verleugnen und ihr Wesen an einer Art
Außenwelt zu erleben, gekennzeichnet durch den Aufruhr der Engel und
die große Schlacht im Himmel, ist in der Bibel für das Gedächtnis der
Menschen auf immer bewahrt. Er brachte die Entstehung der luziferischen
und der ahrimanischen Geister, zusammengefaßt in die beiden
Hauptimpulse der Menschheit: Luzifer und Ahriman!

XII. Ein Blick auf die äußere Welt dieser Zeit


Den Blick zurückwendend auf Urchristentum, Gnosis, kabbalistische
Strömung und dionysische Engellehre, sie als Erscheinungen
zusammenfassend in das Blickfeld der ersten vier Jahrhunderte nach
Christus, mag nicht ohne Nutzen sein, auch das Äußerliche dieser Epoche
ins Auge zu fassen. Im Räume des letzten vorchristlichen Jahrhunderts
erlischt langsam die Philosophie der Stoiker (mit Poseidonios und Arios
Didymos), der Epikuräer (mit Lukretios und Philodemos), der Skeptiker (mit
Anesidemos), der Eklektiker (mit Potamon von Alexandrien), aber das Licht

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 134


der Neupythagoräer (Nigidius Figulus) scheint auf, das auch im Apollonius
von Thyana brennt, und noch Philo von Alexandrien, der hebräisierende
Platoniker, schöpft aus den alten Mysterienquellen. Die ersten zwei
Jahrhunderte nach Christus umfassen mit Seneca, Epiktet und Marc Aurel
die leisen Übergänge zum Neuplatonismus, die Ausläufer des Skeptizismus
(mit Sextus Empirius), die Neupythagoräer und Neuplatoniker (Nikomachos
von Gerasa) und Philostrates, Plutarch von Chaeronea, Numenios,
Apulejus, Galenus und Celsus (die man mit einiger Berechtigung
eklektische Platoniker nennt) und die alexandrisch-römische
Neuplatonikerschule mit Ammonias Sakkas, aber schon vom ersten ins
zweite Jahrhundert gibt es etwas ganz Neues im Geistesleben und parallel
mit den Neuplatonikern laufend: die Kirchenlehrer (Flavius Justinus,
Irenäus, Tertullian, Clemens von Alexandrien und Origines). Bis gegen den
Anfang des sechsten Jahrhunderts, bis zum staatlichen Schluß der
neuplatonischen Schule (529), wirken die großen Geister des
Neuplatonismus (Plotin, Porphyrios, Jamblichos, Theodoros von Asine,
Plutarch von Athen, Syrianos, Proklos, Simplikios und Damaskios) noch
neben den Philosophen der Kirche, Augustinus, Synesios, Nemesios, Marc.
Capeila u. Cl. Mamertinus, Aeneas von Gaza, Cassiodor, Johannes
Philoponos und Boethius. Im 6. Jahrhundert aber schließt der
Neuplatonismus seinen erhabenen Mund; die Kirche als Verdrängerin des
Geheimwissens behauptet das Feld, in den Raum des Geistes Isidor von
Sevilla, Maximus Confessor und Beda Venerabilis entsendend. Die
kirchliche Wissenschaft, die Kirchenlehrer mit Alcuin und Hrabanus Maurus,
mit Johannes Scotus Eriugena, Heiricus von Auxerre bis zu Sylvester II.
(Gerbert) und Berengar von Tours fortsetzend, mündet über das
schicksalsreiche neunte Jahrhundert in die Hauptscholastik, die gleich einer
geistigen Sintflut hereinbricht. Der Aufstieg der kirchlichen Wissenschaft vor
den Scholastikern wird nur von spärlich auftretenden griechischen und
arabischen Koryphäen begleitet, wie Johannes Damaskenos, Photios,
Arethas und Psellos, von Alkindi, Alfarabi, den »lauteren Brüdern«, von
Alhazen und Avicenna, von Algazel, Ibn Bajda, Ibn Tophail und Averrhoës,
aber auch von gewaltigen Juden, wie Sandja Pajjumi, Avicebron und Moses
Maimonides, im Anfang des XII. Jahrhunderts. Man muß in die Fülle des
Unbeachteten in den Evangelien zurückgreifen, um die Entwicklung des
petrinischen Christentums und der kirchlichen Wissenschaft zu verstehen
und richtig zu werten. Ich habe schon darauf hingedeutet, daß es zwei
charakteristische Merkmale des Petrus gibt: seine Johannesnähe und
seine Judasnähe. Auf dem Thema Petrus und Johannes einerseits und
Petrus-Judas anderseits ruht ein Geheimnis tiefster Art. Die Johannesnähe
des Petrus bleibt bis Ostern und Pfingsten verborgen, wo sie sich zu
entfalten beginnt: die Peripetie des Petrusdramas, der Absturz aus der
Johanneshöhe in die Judastiefe geschieht vor Cäsarea Philippi. Durch das
Erlebnis der Blindgeborenen-Heilung zur sechsten Stufe der Einweihung
gelangt, zerschellt er an der siebenten, an dem tieferen Verständnis für den

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 135


Opfertod Christi. Lazarus, der bis zur siebenten Stufe gelangte, ist der
Träger der christlichen Einweihung, Petrus, der bloß die sechste erreichte,
der Träger des Priestertums. Das kirchliche Christentum, seine »Realität«
bisher nur zu den drei ersten sakramentalen Stufen erhebend, besitzt wohl
auch die Kenntnis der vier anderen Mysterien, die über das Persönliche ins
Kosmische hinausführen (Abendmahl, Trauung, Priesterweihe und
Sterbesakrament), aber in der Art des Erlebens blieb selbst diese
Erkenntnis nur auf der dritten Stufe. Auch vom Mysterium der fünften Stufe
sinkt das kirchliche Christentum hanghaft auf die dritte Stufe zurück. Nur so
erklärt sich die irdische Einmischung und die vormundartige Stellung der
Kirche in Sachen der Ehe, nicht minder, wie die Übertragung des Begriffes
»Sünde« auf alles Geschlechtliche. Steht die Kirche den Gefahren der
fünften Stufe hilflos gegenüber, so hat sie wiederum das Mysterium der
sechsten Stufe (der Priesterweihe) nicht christusmäßig zu entwickeln
vermocht. Die Schlüsselgewalt des Petrus wird von ihr als Vollmacht zu
persönlicher Absolution gedeutet. Vor Cäsarea Philippi offenbart sich die
Größe und zugleich die Grenze der Petrusgestalt; man gewahrt seine
Relativität und damit zugleich die Relativität des petrinischen Christentums
überhaupt. Es ergibt sich die große Schicksalsfrage, warum nicht
Johannes, sondern Petrus den Auftrag des Erlösers empfing, warum, schon
im ersten Stadium des kirchlichen Christentums, Priester und Eingeweihte
zwei verschiedene Gestalten sind. Im Auftrag des Christus Jesus ist von
den »Pforten der Hölle« die Rede, welche die Kirche, auf den Petrusfelsen
gegründet, nicht überwältigen werden. Den Pforten des Himmels, zu denen
der goldene Schlüssel paßt, stehen die Pforten der Hölle gegenüber, die,
nach altem Geistgesetz, zugleich aufgehen, wenn das Tor des Himmels
geöffnet wird. Wem sich der Himmel öffnet, der muß mit den Dämonen des
Abgrundes ringen (»abgestiegen zu der Hölle«, heißt es im
christkatholischen Glaubensbekenntnis). Petrus ist der Erdenfels, er hat
den Schlüssel, aber er ist nicht der Mann der offenen Himmelstüre. Sein
Christusschauen lebt als Glaube fort, nicht als Christerkenntnis. Solange
Petrus die Kirche führt, hat das Christentum Zeit, seine Kräfte für die große
Dämonenschlacht, den Kampf aller gegen alle, zu sammeln. Das
tausendjährige Reich geht zu Ende, Satan wird entfesselt, seine Dämonen
werden frei, Petrus übergibt Johannes die Führung, die sechste und
siebente Stufe reichen sich die Hand, christliches Priestertum und
christliche Einweihung vereinigen sich in dieser großen Stunde. Die
Kirchenlehrer von heute stehen fast ohne Ausnahme zum Priester, nicht
zum Eingeweihten!

XIII. Die Kirche und ihre Sprache


Auf dem Kreuze, daran der Erlöser hing, war eine Tafel in drei Sprachen
angebracht: hebräisch, griechisch und lateinisch, zugleich symbolisch die
Wege weisend, die das Christentum ging: vom Judentum zum Griechentum
und Römertum. Die hebräische Kultur war die Geburtsstätte des

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 136


Christentums, dem Urchristentum gab die griechische Kultur Sprache, Form
und Ausdruck, und durch das Römertum, durch die lateinische Sprache,
schlug das Christentum als Weltreligion seine Wurzeln in die Kultur aller
Völker. Sind die Spuren der hebräischen Herkunft und des Durchganges
durch den römischen Geist auch heute noch vorhanden, so hat sich der
griechische Anteil am Christentum leider zur Gänze verloren. Mit
Ausnahme des Matthäusevangeliums war die Urschrift der Evangelien,
über die Paulusbriefe bis hinauf zur Apokalypse, in griechischer Sprache
verfaßt. Zur Zeit des Urchristentums, in der das Neue Testament entstand,
hat man auch das alte Testament nur in griechischer Sprache gekannt.
Tatsächlich sind die Septuaginta und die alte hebräische Bibel zwei sehr
verschiedene Dinge. Die Vertreibung des Griechischen und die Wahl des
Lateinischen als Sprache der Kirche gehört zu den tragischen Kapiteln, an
denen die äußerliche Geschichte des Christentums wahrhaftig nicht arm ist.
Aus der griechischen Sprache und dem griechischen Geist zog das
Urchristentum seine magische Kraft und Schönheit. Am Beginne des
vierten Jahrhunderts aber war das Christentum schon römische
Staatsreligion; ohne den Christus in sich zu erleben, wird der Römer
gezwungen, Christ zu werden, sich äußerlich taufen zu lassen. Die die
Taufe vollzogen, waren oft ebenso weit entfernt vom Christus wie der
Täufling in diesem Augenblick. Dem römischen Christentum zuliebe ward
die griechische Form und Schale zerbrochen. Mit der griechischen Sprache
verschwand aber auch der geistige Anteil am Christentum als einer
mystischen Tatsache. Die Kirchenlehrer der ersten drei Jahrhunderte
sprachen, lehrten und schrieben griechisch, erst Tertullian schrieb und
sprach lateinisch; er ist der wahre Urheber des Kirchenlatein geworden, das
nun Ambrosius, Hieronymus und Augustinus vollendet beherrschten und
schrieben. An die Stelle lebendiger Einsicht in das Mysterium von Golgatha,
trat das Dogma, eine Formel, die, starr und unbeweglich, den Geist
vorzeitig entweichen ließ. Das Licht der Offenbarung dunkelte ab, es war
fast gar nicht mehr vorhanden, als Luther seine Bibelübersetzung
unternahm, sprachlich ein Meisterwerk, als Übertragung im exoterischen
Sinne aber eine Quelle von Irrtümern und Fehlern, die, aus dem
lateinischen Geist hervorgegangen, durch ihn sanktioniert worden sind.
Tertullian, der den Kampf gegen Montanus damit schloß, daß er selbst
Montanist wurde, öffnete durch die Annahme der lateinischen Sprache dem
montanistisch-materialistischen Kirchengeiste Tür und Tor. Schritt für
Schritt ging der griechische Anteil am Christentum unter; mit dem
römischen Geiste verquickt und durch die Vulgata Staatsdokument
geworden, ward das Christentum der Kirche zu einer Angelegenheit dieser
Welt, interessiert an Machtfragen und Politik. Zwischen Corpus juris und
der lateinischen Bibel, zwischen diesen beiden Säulen innerer Verderbnis,
trat die Kirche Petri ihren Triumphzug in die Welt an. Noch Clemens von
Alexandrien, Lehrer des Origines, schöpfte aus dem klaren griechischen
Quell, auf seinen Reisen ohne Zweifel mit alten Mysterienstätten in

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 137


Berührung. In den Schriften des Clemens »waltet noch zwischen den Zeilen
ein heiliges Schweigen, das Abgründe ahnen läßt«, Origines aber, der,
noch immer, mehr weiß, als er sagt, bemüht sich schon, so klar und
deutlich und volkstümlich zu schreiben, wie nur möglich. Mit Recht verweist
ein Kapitel in den Bibelbetrachtungen der »freien Christengemeinschaft«
darauf, daß mit Origines, dem ersten Philologen in der menschlichen
Geschichte, auch der Geist des Kommentars auftaucht, als ein deutliches
Zeichen dafür, daß das lebendige Verständnis des Originals längst
verlorengegangen ist. Ohne Schonung seiner selbst, bemerkt Origines im
Anfange seiner Schrift über das Hohe Lied: »Apostel und Evangelisten
konnten ohne Schaden apokryphe Schriften verwenden, denn der heilige
Geist lehrte sie noch, was auszuwählen und was zu verwerfen war. Mit
großer Ehrfurcht und heiliger Scheu steht Origines den Evangelientexten
gegenüber. Er klagt aber über das abnehmende Verständnis des göttlichen
Sinnes bei denen, die sich der heiligen Schrift bedienen; immer größer wird
die Sucht, sich an den Buchstaben zu halten, immer geringer das
Bedürfnis, zu allem, was in der Bibel steht, die geistigen Gegenbilder zu
finden. Von Origines stammt die tiefsinnige Lehre über den dreifachen
Schriftsinn: der Einfältige mag sich am Fleische der Schrift ergötzen, der
Fortgeschrittene an ihrer Seele, der Vollkommene an ihrem Geiste, denn so
wie der Mensch aus Leib, Seele und Geist besteht, so auch die dem
Menschen zum Heil verliehene heilige Schrift. Viele Stellen der Bibel haben
überhaupt gar nichts Körperliches mehr, so daß man bloß nach der Seele
und dem Geist der Schrift suchen muß. Das alles stirbt mit dem Einzug des
römischen Geistes in das Christentum dahin, der die römisch-katholische
Universalmonarchie des Mittelalters vorbereitet. Der Zeitgeist der vierten
Epoche erreicht in Thomas von Aquino den Höhepunkt. Schon zu Christi
Zeiten aber sind die Germanen daran, in die Weltgeschichte einzutreten.
Der Strom der Völkerwanderung ergießt sich durch ganz Europa, und im
Vordergrunde der Entwicklung stehen die fränkischen Germanenstämme,
vom Christusimpulse ergriffen, obschon ursprünglich ein rohes und hartes
Volk. Im 9. Jahrhundert übernimmt es die Führung, im rauhen Schicksal
geglüht und geläutert, und aus seinem Geiste heraus wird der Parsifal
geboren, das Geheimnis des Grals gelüftet und der Same zu dem gelegt,
was als rosenkreuzerischer und johanneischer Impuls bis auf den heutigen
Tag in der Welt wirksam ist.

Fünftes Kapitel
Das neunte Jahrhundert, der Gral und die Rosenkreuzer

I. Kaleidoskop der Weltgeschichte


Das achte und neunte Jahrhundert nach Christus, namentlich aber das
neunte, sind für die Entwicklung der Menschheit und für das Christentum
als mystische Tatsache ein überaus bedeutsamer Zeitraum. Ein Meer von

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 138


Blut strömt über die Erde, eine Unruhe ohnegleichen erfüllt die Menschen,
neue Völker treten in die Weltgeschichte, Reiche werden gegründet und
zerstört, zur Gewalt der Gemeinschaften gesellt sich die rohe Willkür und
Schrankenlosigkeit des einzelnen, Dummheit und Niedertracht scheinen die
Welt zu beherrschen. Zwischen dem Auftreten der Hunnen (375) und dem
Vertrag von Verdun (843) liegt zunächst Alarichs Einfall in Italien und die
Eroberung und Plünderung Roms durch diesen merkwürdigen
Westgotenkönig; von Rom unabhängig, entsteht in Südgallien und Spanien
ein neues Westgotenreich mit Tolosa und später Toledo als Hauptstadt. In
Afrika hausen über ein Jahrhundert (vom 5. Bis 6.) die Vandalen, Attila
verliert die catalaunische Schlacht; Slawen dringen in die von den
Germanen verlassenen Gebiete bis zur Elbe, 476 ruft sich Odoaker zum
Beherrscher Italiens aus, Theoderich, der Große, gründet in Italien ein
Ostgotenreich (493); 534 zerstört Belisar, der Feldherr Justinians, das
Vandalenreich in Afrika und in einem Zuge das der Ostgoten; 568 bis 774
tritt in Italien ein Langobardenreich in Erscheinung, das Frankenreich
kommt im 6. Jahrhundert an die Merowinger; 622 flieht Mohammed und
gründet durch seine Flucht das Reich des Islam; in der Schlacht bei Xeres
de la Frontera (711) stürzt das stolze Westgotenreich in Trümmer; im 8.
Jahrhundert gerät das Frankenreich unter die Karolinger, gegen Ende
dieses Jahrhunderts wird das Langobardenreich zerstört und die
Sachsenkriege beginnen gleichzeitig mit den blutigen und langwierigen
Kämpfen gegen Slawen und Avaren. 843, im Vertrag von Verdun, zerfällt
das Frankenreich in drei Teile. Die Magyaren brechen in deutsches Land
unter fürchterlichen Verwüstungen ein, und vollends das 9. Jahrhundert
versinkt in Blut und Feuer, gleichsam als Vorspiel zum zehnten Säkulum,
das in der Geschichte als das dunkle Jahrhundert bekannt ist. Von dem
esoterischen Hintergrund der Rassen- und Völkerbewegung wird an einer
späteren Stelle die Rede sein. Hier mag kurz darauf hingewiesen werden,
daß die Geisteswissenschaft im Sinne Steiners zeigt, wie der lemurische
Erdteil dank der Umstülpung der ätherischen Sphären und der
neueindringenden Bildekräfte durch eine gewaltige Feuerkatastrophe
zugrunde ging. Nur ein ganz kleiner Teil der Bewohner dieses Erdteils kam
um. Die mosaische Genesis schildert diesen Zustand, hervorgerufen
dadurch, daß die Kräfte des chemischen Äthers das Ganze der Erde
durchdringen, den Lichtäther überwältigen und die Sphären der Erde sich
mit Wasser füllen. Der erste Schöpfungstag erzählt die Ereignisse beim
Übergang von der lemurischen zur atlantischen Periode. Wie aus den
Kräften der dritten ätherischen Woge die vierte und fünfte entsteht, das
zeigt die biblische Genesis in grandiosen Bildern. Die
Menschheitsüberreste der lemurischen Zeit zogen sich an einem Flecken
der Erde zusammen, der heute vom Atlantischen Ozean bedeckt wird,
Atlantis, der heute versunkene Erdteil zwischen Europa, Afrika und Amerika
wird von ihnen besiedelt. Um diese Zeit scheiden sich die Menschen nach
den Planetensphären in Saturn-, Sonnen-, Jupiter- und Marsmenschen. Die

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 139


Venus- und Merkurrassen (Malayen und Neger) strahlen nach Asien und
Afrika hinüber, indes die Saturn- (Indianer), Sonnen- (und Jupiter-) Rassen,
Arier genannt, und die Marsrassen (Mongolen) ihre Anlagen auf dem
atlantischen Kontinent entwickelten, bis sie durch die große atlantische
Katastrophe (Sintflut) auch von diesem Erdteil vertrieben wurden. Lemurier,
Atlantier und Arier sind die drei Wurzelrassen der Menschheit. Jedenfalls
hat man die großen Völkerwanderungen des 4. bis 9. Jahrhunderts nur als
Folge jener Wandlungen anzusehen, die sich zwischen dem 3. und 4. und
dem 4. und 5. Kulturabschnitt vollzogen. Ohne Sinn sind diese grandiosen
Platzsuchen und Platzwechsel der Völker keineswegs gewesen, schon
deshalb nicht, weil sie mit der Ätherverteilung auf der Erde
zusammenhingen, die ohne Zweifel mit geistigen Impulsen in Verbindung
stand. Kultur ist in diesen Zeiten ein haltloser Begriff geworden. Im 8.
Jahrhundert sind Alcuin und Hrabanus Maurus Wissensträger gewesen, im
9. haben die Griechen nur Photius und Arathas, die Araber Alkindi und
Alfarabi und die Juden den Sandju Fajjuni hervorgebracht, indes die Kirche
auf Scotus Eriugena, Heiricus und Remigius von Auxerre verweisen kann.
Das zehnte Jahrhundert vollends, das dunkle, tritt in den Tabellen der
Philosophie als ein weißer Fleck auf, als geistig unbeschriebenes Blatt,
darin die »lauteren Brüder«, Alhozen und Avicenna, später Gerbert
Sylvester, und Berengar von Tours als bescheidene Eintragungen ihr
Leben fristen. Alles geistige Leben scheint sich vom dritten Jahrhundert ab,
das als Entstehungsjahr der christlichen Kirche anzusehen ist, um dieses
große, seltsame und doch von Leben und Kräften reich durchpulste Wesen
Kirche zu gruppieren, das nach und nach die Herrschaft über einen großen
Teil der Menschheit an sich bringt. Die Anfänge und Keime der Kirche im
sizilischen Römerreich sind ungefähr in den Jahren 180 bis 190 zu suchen;
sie umfassen die Gründung von Einzelgemeinden mit monarchischem
Episkopat, von denen als die wichtigste und lebendigste Zelle der römische
Episkopat (um 150) angesehen werden muß.

II. Querschnitt durch die Kirchengeschichte


Ein Blick auf die Situation der christlichen Kirche bis zum 9. Jahrhundert
gibt den geeigneten Hintergrund für das Geheimnis des Grals. Die Anfänge
des Christentums reichen ungefähr bis 190, gerechnet von 64, dem Jahre
der neronischen Christenverfolgungen. Sechs Jahre später zerstört Titus
Jerusalem. Der Beginn des 2. Jahrhunderts (Trajan) bringt neue Prozesse
gegen die wunderlichen Schwärmer, die, wie Polykarp, Justin und die
lugdunensischen oder die szilitanischen Märtyrer für ihren Glauben sterben.
Erweisen sie durch die Tat die Wahrheit ihrer neuen Religion, so sorgen
Aristides, Justinus und Tatian dafür, daß es an apologetischen Verteidigern
der Christussache nicht fehle, namentlich dort, wo, wie bei Celsus, dem
neuplatonischen Eklektiker, eine Rechtfertigung der Vielgötterei versucht
wird. Im Mittelpunkte der Kämpfe stehen die Apostel, Propheten und Lehrer
aufrecht da, Häupter der ersten katholischen Gemeinden, die in Episcopi,

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 140


Presbyteri und Diaconi gegliedert, das Leben dieser Gemeinschaften
überwachen und regeln. Unter den Einzelgemeinden mit monarchischem
Episkopat ragt die römische Gemeinde, wie schon erwähnt, um 150
besonders hervor; sie bildet die Kernzelle des römischen Christentums. Die
Bischöfe haben es nicht schwer, als Nachfolger der Apostel aufzutreten,
denn sie sind unmittelbar aus dem persönlichen Verkehr mit den Aposteln
hervorgegangen. Die ersten Synoden erörtern Fragen des Glaubens als
Vorläufer der Konzilien, die zugleich Merksteine der allmählichen
Verdunkelung des Christusbewußtseins darstellen. Das Judenchristentum
hat mit dem mosaischen Gesetz, das Heidenchristentum mit den
orientalischen Mysterien zu kämpfen. Die Apostelzusammenkunft, in
Jerusalem (zwischen 44 und 50), die paulinischen Sendschreiben geben
ein erhebendes Bild jener bewegten Zeiten. Wie ein letztes Aufleuchten der
neuen Christuslehre wirkt die johanneische Literatur. Das Judenchristentum
tritt in den Hintergrund, der Gnostizismus (135) schließt die Urgeschichte
des Christentums im Römerreiche grandios ab. Auf den Trümmern des
Gnostizismus errichtet die Kirche ihren Bau, der anfangs des 4.
Jahrhunderts in seinen ersten Anfängen fertigsteht. Schritt für Schritt muß
den Mithras- und Osirismysterien der Boden abgerungen werden. Die
Kirche beginnt, die Welt zu erobern; noch einmal flackert die Flamme der
Christenverfolgungen unter Decius und Valerian auf, die nach 40jähriger
Duldung unter Diokletian und Galerius fortgesetzt werden. Den großen,
entscheidenden Schritt aber tut Konstantin, der (313) Religionsfreiheit
verkündet; er ändert mit einem Schlage die Situation des militanten
Christentums. Das Jahr der Religionsfreiheit ist zugleich das Jahr der
Heraufkunft des Priesters, der den Eingeweihten verdrängt. Der Chor der
Eingeweihten weicht dem Klerus, gegen den sich die Gruppe der Laien
deutlich abhebt. Die römische Gemeinde und ihr Bischof erstreiten sich den
Vorrang als einzige apostolische Gemeinde des Abendlandes. Die
Unordnung der Dinge führt zu Zank und Streit um allerhand Fragen des
christlichen Lebens: über das Osterfest, über Kirchenzucht und
novatianisches Schisma, und Kyprian prägt das stolze Wort: extra
ecclesiam nulla salus (kein Heil außerhalb der Kirche). Ist das Geheimnis
der Mysterien auch immer mehr abhanden gekommen und
verlorengegangen, so wirken diese doch auf die Erhaltung des christlichen
Kults. Theologische Schulen und Richtungen treten auf, Realisten wie
Irenäus, Hyppolytos, Tertullian und Kyprian stehen Idealisten wie Klemens
und Origines gegenüber; die alexandrinische Katechetenschule und die
monarchianischen Kämpfe kennzeichnen die Wehen des neuen Glaubens,
doch siegt, leider nur vorübergehend, noch (bis zur Kreuzigung des Mani),
die Logoschristologie, durch Namen, wie Sabellius und Paulus von
Samosata, und durch Neuplatoniker, wie Plotin und Porphyrius, seelisch
und geistig vertreten. Das vierte Jahrhundert (313 bis 381) bringt die
Entstehung der römischen Reichskirche von Konstantin bis Theodosius,
das fünfte, 381 bis gegen 500, ihren Höhepunkt und Verfall. Konstantin, der

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 141


das Christentum zur Staatsreligion erhob, nimmt selbst die Taufe an und
das Blatt wendet sich unter Konstantins Söhne gegen die Heiden, die bis
361 verfolgt werden, ohne daß der Vorstoß Julians des Apostaten etwas
daran ändern kann. Mit Theodosius dem Großen ist der Bau der römischen
Staatskirche fertig. Heidentum und Häresie sind entrechtet, der Klerus reißt
allenthalben die Macht an sich; Kirchenbauten schießen empor, Liturgie,
Heiligen- und Reliquiendienst nehmen ihren Anfang, gegenüber der Ehe,
die doch als christliches Sakrament gilt, kommt das Zölibat, zumeist aus
Machtrücksichten, zu Ehren. Einsiedler und Klosterbrüder treten in
Erscheinung. Das erste allgemeine Konzil zu Nicäa (320) stellt die Gottheit
Christi fest, verdammt die Arianer, und die Kirchenlehrer des Orients
(Eusebius von Cäsarea, Gregor von Nazianz, Gregor von Nyssa und
Ephraim der Syrier) vereinigen sich mit denen des Abendlandes (wie
Hilarius von Poitiers, Ambrosius von Mailand und Hieronymus, der
Schöpfer der Vulgata) zum Lehramt über die ganze Christenheit; auf dem
allgemeinen zweiten Konzil (zu Konstantinopel), gegen die Mazedonianer
gerichtet, wird die Lehre von der Trinität festgelegt. Es beginnt aber, mit
dem Höhepunkt der römischen Reichskirche, auch zugleich ihr Verfall,
eingeleitet von 481 bis ungefähr 500. In Südgallien, Spanien, Nordafrika
und Italien entstehen arianische Germanenkirchen. Der Ausbildung des
großen Patriarchats in Alexandria und Konstantinopel. steht die Heraufkunft
des Papsttums im Abendlande zur Seite; 484 bis 519 vollzieht sich die erste
Spaltung zwischen der lateinischen und der griechischen Kirche.
Augustinus eröffnet den Kampf gegen Donatisten und Pelagianer; der Streit
um den Gottmenschen im Orient beginnt, der mit den Namen Kyrill von
Alexandria und Nestorius von Konstantinopel verknüpft ist. Das dritte
allgemeine Konzil (zu Ephesus, 431) und das vierte (zu Chalzedon, 451)
tritt gegen Nestor auf und handelt von den monophysitischen Streitigkeiten,
dem chalzedonischen Glaubensbekenntnis und von Eutychos. Der
Zeitraum von 500 bis 700 umfaßt den Höhepunkt der oströmischen
Reichskirche unter Justinian, ihren Zerfall zur Zeit der Araberstürme,
Entstehung, Blüte und Verfall der abendländischen Universalkirche der
Karolingerzeit und die Zeit der Bilderstürmer im Osten.

III. Die römische Staatskirche


Die vollkommene Durchdringung der Kirche mit dem römischen Rechts-
und Staatsgeist geschieht unter Justinian, der leider der Abgott auch der
Juristen unserer Zeit geblieben ist; wohl gibt es Abschweifungen, wie die
nestorianische Kirche in Persien, die monophysitische in Syrien, Ägypten
und Armenien, aber was als römische Christusmisson zu den
Angelsachsen und Langobarden hinaufgebracht wird, ist stark durchsetzt
und durchtränkt mit dem Atem der römischen Staatskirche. Die Episode der
Arabereinbrüche des 7. Jahrhunderts nach Jerusalem, Antiochia,
Alexandria und Karthago und anfangs des 8. Jahrhunderts auch in das
spanische Westgotenreich bleibt ohne Rückwirkungen auf das Gesamtbild

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 142


der kirchenchristlichen Entwicklung. Die Glanzzeit der byzantinischen
Staatskirche bedeutet zugleich die Vollendung des Cäsaropapismus; das
Mönchtum erblüht im Orient, in Italien gründet (529) Benedikt von Nursia
Monte Cassino, in Irland (Columbe) und Frankreich: gibt es irische und
schottische Mönche in Menge. Gregor der Große, der die Brücke vom 6.
zum 7. Jahrhundert bildet, entwickelt die Messe und den Kirchengesang,
aber die Harmonie der inneren Erleuchtung ist längst den Disharmonien
heftiger Streitigkeiten gewichen; mit dem Patriarchen von Konstantinopel
hadert Gregor über den Titel eines ökumenischen Patriarchen; das fünfte
allgemeine Konzil zu Konstantinopel läuft Sturm gegen die anchenischen
Theologen und die »Sonderlehren« des Origines; mehr als ein halbes
Jahrhundert wird vom monotheletischen Streit erfüllt; mit dem Siege Karl
Martells über die Araber (732) fällt das letzte Hindernis für die
Verweltlichung der Kirche. 756 entsteht der Kirchenstaat auf Grund
pippinischer Schenkung, und 860 empfängt Karl der Große aus der Hand
Leos III. die Kaiserkrone. Wohl hat es mit dieser Überrumpelung des
Kaisers durch Leo III. seine eigene, fast humoristische Bewandtnis (Karl
selbst war erstaunt über diese Einlage und machte gute Miene zum bösen
Spiel), aber Kirche und Staat bleiben im Karolingerreiche von nun an auf
das Engste miteinander verbunden und 719 bis 754 vollendet Bonifatius als
Apostel der Deutschen die Romanisierung der deutschen Kirche. Karl der
Große, selbst ein tätiger Reformchrist, segelt vornehmlich im Fahrwasser
der Kirche. In der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts vollzieht Nikolaus I.
den Bruch mit Byzanz und 896 beginnt die Herrschaft der Pornokratie in
Rom. Der große Amalgamierungsprozeß Kirche und Staat ist im 9.
Jahrhundert vollzogen. Nichts kann die Verdunkelung des kirchlichen
Christentums durch die Verbindung mit Staat und jus romamim, die
Verweltlichung und Verzwecklichung des Christusmysteriums in jener Zeit
besser beleuchten, als die ökumenische Synode, abgehalten vom 5.
Oktober 869 bis 28. Februar 870, auf Befehl des Kaisers Basilius. In den
alten Kulturreligionen findet man, übereinstimmend, die Gliederung des
Menschenwesens in Leib, Seele und Geist, in den alten Mysterien gehört
der Geist zu den Grundbestandteilen der menschlichen Wesenheit. Das
römische Kulturvolk wußte mit diesem Bestandteil wenig anzufangen; es
hielt auf Vernunft und Verstand, aber das Wissen um den Geist ging dieser
Kultur verloren, weil das römische Menschheitsideal durchaus auf das
Irdischpraktische gerichtet war. Mit dem Römertum gab die Kirche den
Geist auf, der, noch bei den Gnostikern wohl gehütet und gepflegt ward.
Steiner hat gezeigt, daß auch die ersten Kirchenlehrer (Clemens
Alexandrius und dessen Schüler Origines, ja auch Irenäus und Tertullian
am Geiste festhielten, indes Epiphanias, Augustinus und die Späteren für
die lebendige Natur des Geistigen kein Verständnis mehr zeigen. Schon
darin, daß die römische Kirche den heiligen Geist vom Vater und vom
Sohne ausgehen läßt, während die orthodoxe den heiligen Geist nur vom
Vater herleitet, tritt die Verwirrung in der Geistfrage deutlich zutage (Vater =

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 143


Sohn und Geist, gegen Vater, Sohn: Geist). Im Streite mit Photius war das
Konzil dazu berufen, zu den Lehrsätzen eines Patriarchen Stellung zu
nehmen, insbesondere zu dem einen, daß nur die niedere Seele des
Menschen zu sündigen imstande sei, aber nicht seine Vernunft. Das
Geistige im Menschen sei göttlichen Ursprungs und darum keiner Sünde
fähig. Der Beschluß des Konzils, das diese Lehre verwirft, geht mit einer
bewußten Verzerrung des Tatbestandes einher; das Konzil erklärt, schon
das alte und das neue Testament lehre, daß der Mensch nur eine
verstehende und vernünftige Seele besitze, was alle gottesgelehrten Väter
und Lehrer der Kirche bestätigt hätten. Die Unwahrheit dieser Behauptung
liegt kraß zutage. Im Paulusbrief an die Korinther heißt es: »Ein seelischer
Mensch nimmt nicht an, was vom Geiste Gottes ist ... der geistige Mensch
ergründet alles, er selbst aber wird von niemandem ergründet«. An anderer
Stelle (1. Thessalonicher, 5, 23) unterscheidet derselbe Apostel ganz
deutlich Pneuma, Psyche und Soma, und im Hirtenbrief (4, 12) wird vom
Logos gesagt, er dringe, schärfer als ein zweischneidiges Schwert, bis in
die Fuge zwischen Seele und Geist (pertingens usque ad divisionem
animae ac spiritus). Wohl wird die Abschaffung des Geistes in der
menschlichen Trinität nicht offen ausgesprochen, aber in jenem Beschluß
tritt unzweideutig zutage, daß die alte Lehre Platons, der Gnostiker und der
Manichäer von der Dreigliederung in Leib, Seele und Geist, bis ins vierte
Jahrhundert hinein allgemein gültig, aus der Welt geschafft werden sollte.
Das genügte in der Theorie, die bloß die Lehre von den zwei Seelen zu
bekämpfen vorgab, vollkommen, um in der Praxis die Eliminierung des
geistigen Prinzips im Menschen zu bewirken. Die Kirche, des geistigen
Impulses glücklich ledig, geriet von da ab immer mehr und mehr ins
materialistische Fahrwasser, worin ihr später namentlich die Jesuiten
behilflich gewesen sind. Mit der Ausschaltung des Geistes war die Situation
geklärt: der Leib des Menschen gehörte der Wissenschaft, die Seele der
Kirche. Von der Kirche floß dieser materialistische Zug in die
Naturwissenschaft und Philosophie, wozu wiederum der Protestantismus
behilflich war. Die Abschaffung des Geistes ward zum Ausgangspunkt für
die Etablierung des egoistischen Christentums (Schwelgen in Gefühl und
Privathoffnungen auf das Jenseits), das heute sogar schon zur Ausladung
der Seele aus dem Wesen des Menschen geführt hat.

IV. Das Kreuz und der Gral


Der Leser sieht wohl ein, warum es nötig war, einen eiligen Rückblick auf
die ersten neun nachchristlichen Jahrhunderte zu werfen; nur an diesem
Hintergrund läßt sich die Idee des Grals und des johanneïschen
Christentums, wie es später in den Rosenkreuzern auflebte, rein und klar
erfassen. Aus der Darstellung des Entwicklungsprozesses, dem das
Christentum der herrschenden Staatsreligion in den Jahrhunderten V bis IX
verfiel, ergibt sich von selbst, daß, abseits von diesem offiziellen
Christentum in vielen Geistern jener Zeit das lebendige Bewußtsein vom

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 144


kosmischen Sinn des Mysteriums von Golgatha lebendig blieb. Die
ungeheure Szene der Kreuzigung mit allen ihren irdischen Episoden und
gleichzeitigen himmlischen Erscheinungen, wirkte in lebendigen, von
Christus durchpulsten Geistern weiter und bewahrte ihnen, dank der
Erschütterungen ihrer Seele, das lebendige Bewußtsein dafür, daß die
höchste Weisheit und die »kühnsten Gefühle« der Hingebung nicht
hinreichen, Tragweite und Bedeutung des Christusereignisses zu erfassen,
noch, daß auch die höchste Einsicht allein genügte, das Mysterium von
Golgatha in einem würdigen und angemessenen Kult zu Verewigen. Die
Leidensgeschichte Christi, vom heiligen Abendmahl beginnend, war
erleuchteten Geistern in gewaltigen Imaginationen gegenwärtig; es galt,
dieses höchste Geheimnisgut für alle Zeiten und für die Menschheit der
Zukunft fern vom Interessengetriebe der Kirche, rein und unverfälscht zu
bewahren. Barg das Mysterium des Abendmahles im Brot und im Wein den
tiefsten Sinn des Christusereignisses, so war damit zugleich etwas davon
berührt, was nicht mehr dem physischen Bereich angehört, sondern im
Überirdischen spielt. Der Leib und das Blut des Herrn: von diesen
Imaginationen strahlte eigenes Licht auf gewisse Seelen, deren Erinnerung
an das Mysterium von Golgatha lebendig geblieben war. Im Brot verbarg
sich das Spiel der himmlischen Kräfte, die zur Erde hinabsteigen und hier
die Vegetation hervorrufen, die aber zugleich auch einen Bestandteil des
körperlichen Menschen bilden, im Wein aber das Geheimnis des heiligen
Blutes des Erlösers, vergossen auf Golgatha, als der menschlichen
Wesenheit Ureigenstes und Geheimnisvollstes. Die Erkenntnis des
Abendmahlmysteriums, des Ölbergerlebnisses und die Kreuzigung bilden
die drei Grundbestandteile dessen, was unter dem erhabenen Namen des
Grals zu verstehen ist. Man erinnert sich, daß in den Evangelien, bei der
Passion des Herrn und bei der Auferstehung, neue Persönlichkeiten
auftauchen: Simon von Kyrene, Josef von Arimathea und Nikodemus. Das
größte und geheimnisvollste aller Dramen: der Tod Gottes auf der Bühne
der Erde, das Drama des Menschensohnes und Erlösers auf Golgatha,
führt in sieben Stufen zur Höhe: in Fußwaschung, Geißelung,
Dornenkrönung, Kreuzigung, Grablegung, Auferstehung und Himmelfahrt.
Aus der Mitte zwischen den drei mikro- und den drei makrokosmischen
Stufen ragt einsam das Kreuz empor, das Geheimnis des Menschen, der,
wenn er die Arme ausbreitet, selbst ein Kreuz darstellt, die Rune der
Menschengestalt, erhalten im Tao des ägyptischen Kulturkreises. Nach der
dritten Stufe erscheint Simon von Kyrene, der dem Christus das Kreuz
tragen hilft, nach der vierten Josef von Arimathea, der den Leib des toten
Erlösers vom Kreuze herabnimmt. Beide treten neu zum Christusdrama
hinzu. Sie sind zugleich Vermittler einer großen Botschaft an die ganze
Menschheit: Kreuztragen und Kreuzlösen sind in das Geheimnis der
Menschwerdung eingeflochten für alle Zeiten. In der Kreuztragung offenbart
der Mensch den heimlichen Willen, sein Karma zu tragen (nicht das eigene
Kreuz trägt Simon von Kyrene, sondern das des Christus Jesus), in der

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 145


Kreuzesabnahme aber, in der Lockerung vom Todesholze, bekundet er das
Wissen darum, was den Menschen vom Tode loslöst und freimacht für das
Einswerden mit der Welt im kosmischen Bewußtsein. Die Kreuztragung
birgt den tieferen Sinn des persönlichen religiösen Lebens, die
Kreuzabnahme aber den der Kommunion und des sakramental religiösen
Daseins. Josef empfängt den Leib und das Blut des Herrn: er wird zum
Urbild heiliger Empfängnis. Josef von Arimathea kommt in allen vier
Evangelien, Simon von Kyrene nur in den ersten drei Evangelien vor; das
Johannesevangelium aber nennt statt des Simon von Kyrene den
Nikodemus, der dem Josef von Arimathea bei der Kreuzesabnahme,
Balsamierung und Grablegung behilflich wird; es war Nikodemus, in dessen
Haus das heilige Abendmahl stattfand. Im Folgenden wird von diesen
Zusammenhängen mit dem Gral noch ausführlicher gesprochen.
Abendmahl, Kreuzigung und Kreuzabnahme sind wichtige und
grundlegende Elemente des Gralsgeheimnisses. Der Mensch muß
eindringen in das Geheimnis des Brotes, eindringen in das des Blutes.
Orientalische Weisheit und europäisches Fühlen sind darin vereinigt.
Vergeblich sucht man dieses Geheimnis auf Erden: »unnahbar Euren
Schritten steht eine Burg, die Montsalvat genannt«. Es ist kein Zufall, daß
man die irdische Gralsburg, ein Spiegel- und Abbild der himmlischen, in
Spanien zu suchen hat, das dem Arabismus, dem abstrakten Denken (auch
in der Medizin und in der Astronomie), so lange offenstand. Von den
Arabern und Mauren, deren Phantasie noch mit Verstand durchsetzt ist,
kann keiner die Gralsburg finden; man muß das Geheimnis des Brotes und
des Blutes kennen, um den Tempel zu erreichen, den Titurel auf dem
Montsalvat schuf, um eine würdige Stätte für die Schale zu finden, darin
Josef von Arimathea das Blut des Erlösers auffing; Engel hielten diese
Schale in jenen Sphären hoch, ehe der Tempel errichtet ward. Dieser
Tempel, er ist, zum Unterschiede von der offiziellen römischen Kirche, eine
unsichtbare, eine übersinnliche Kirche, niemandem zugänglich, der die
inneren Voraussetzungen, ihn zu finden und zu schauen, nicht in sich trägt.
Je schwächer die Menschheitsmusik erklang, die in das Mysterium von
Golgatha floß, je dunkler es um dieses Mysterium wurde, desto reiner und
heller, aber nur den Eingeweihten hörbar und sichtbar, strahlte der Gral
durch die Nacht der Zeiten. In einem Zeitpunkt, da die offizielle christliche
Kirche schon tief verstrickt war in die Händel und Streitigkeiten dieser Welt,
in einem Augenblick, da die Scholastik emsig dabei schien, das Mysterium
von Golgatha in Dogmen, Auslegungen und philosophischen
Betrachtungen gleichsam für den Verstand zurechtzumachen und den
Einklang des Christus mit der antiken Welt nachzuweisen, begann, was,
heute noch, als Gralssuche auf Erden bekannt ist!

V. Die Wege zum Gral


Der Gral, eine Blüte des 8. und 9. Jahrhunderts, einer trüben, blutigen,
äußerlich und innerlich gleich unheilvollen Zeit, wird bei Wolfram von

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 146


Eschenbach ein »Ding« genannt, »ird'schen Segens vollster Strahl«. Die
Königin, in arabische Stoffe gekleidet, trug ihn auf grüner Seide in den Saal.
Als sie ihn hereingetragen hatte, kamen noch sechs andere Lichter, in
denen Balsam brannte, von Jungfrauen getragen. Den Hergang der
Zeremonie schildert der Dichter so ausführlich und unter so genauen
Zahlenangaben, daß man wohl annehmen muß, besonderer Sinn läge auch
darin. Der Gral erscheint in einem von 24 Lichtern gebildeten Kreise,
entsprechend den 24 Büchern des alten Testaments und den 24 Ältesten
mit den Lilienkränzen, von denen auch Dantes »Fegefeuer« weiß. Steiner
erklärt sie als hohe Wesenheiten und Führer der menschlichen
Entwicklung, Lenker von 24 Stufen der Weltentwicklung, in der Sprache der
Hierarchien Throne genannt. Sie bilden einen Kreis um den Christus, um
die Christuskraft des Lammes, und genießen seines seligen Anblickes, ihr
Licht aber wird von dem Gral selbst überstrahlt. Es gibt kein Schauen, keine
Religion, die vor dem Gral bestehen könnte, denn der Gral faßt sie alle
zusammen, auch die vorchristlichen Mysterien. Das Wort selbst stammt,
nach Steiner, von gradus und gradalis (stufenweise) und deutet auf die
Stufen, welche die menschliche Individualität zwischen Tod und neuer
Geburt durchschreitet; dem Irdischen entrückt, kann er nie etwa erstritten
und mit Waffen in der Hand gewonnen werden, worin ein leiser Tadel
gegen die streitbare Kirche verborgen sein mag. Wolfram stützt sich in
seinem »Parsival« auf einen geheimnisvollen Gewährsmann, namens Kiot
(Flegetanis), der die Sternenweisheit besaß; nicht in Erden-, sondern in
Sternenschrift ist dieses Buch im Original geschrieben. Auch Josef von
Arimathea kennt die Sternenschrift und ist Hüter der Geheimnisse.
Zwischen den Menschenwegen und Geschlechterzusammenhängen
besteht Zusammenhang, der in der Sternenschrift zu erkennen ist, zumal,
wenn man in den Mond sieht, dessen Sichel, die heilige Schale des Grals,
den matten Glanz des übrigen Mondes trägt, wie eine Sonnenhostie. »Im
Gestirn geschrieben fand er den Namen wie er hieß« und im Gestirn
geschrieben steht der Name Parceval. Das Geistige des Lichtes dringt
durch (perre), indes das physische Licht vom Monde zurückgeworfen wird.
Flegetanis, bei Wolfram, spricht nur von den Sternen, er verkündet die
Geburt eines Wesens, darin der Sonnengeist Wohnung nimmt. Anders Kiot,
Wolframs geheimnisvoller Gewährsmann; er hat in Toledo jüdische
Geheimüberlieferungen kennengelernt: die Geschichte des Überganges
von der Mondenführung (der Jahvetradition) zur Sonnenführung (zum
Christus). Nicht Bileamweisheit war zu erneuern, sondern jene Weisheit,
die sich des Bileam als Werkzeug bediente. Man kann, sagt Steiner in
seiner »Geheimwissenschaft im Umriß«, das verborgene Wissen, das
durch das neuzeitliche übersinnliche Bewußtsein ergriffen wird, und das in
der Menschheit immer mehr und mehr, stärker und stärker auftreten muß,
die Erkenntnis vom Gral nennen. Die neuzeitlichen Eingeweihten können
dar her auch Eingeweihte des Garals genannt werden.« In der
Wissenschaft vom Gral führt der Weg in die übersinnlichen Welten, der von

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 147


Steiner (in jenem Buche) nach seinen ersten Stufen beschrieben worden
ist. Unter Gralschristentum versteht man, im Gegensatze zum römischen
Christentum, jenes Christentum, das Hugo von Tours, Waldo. v. Reichenau
und Graf Matfrid von Orleans pflegten; verband sich das römische
Christentum mit Staat, Politik und weltlicher Macht, so ist das
Gralschristentum eine rein menschliche Entwicklungssache; es wendet sich
an den Einzelnen! Die Pflege des Grals geschah zunächst in der Gralsburg.
Parsifal, der zur Gralsburg ritt, muß die Sternbilder des Tierkreises
durchschreiten, von den Zwillingen durch den Krebs zum Löwen, zu
Jungfrau, Waage und Skorpion, zu Schütze, Wassermann und den
Fischen; in die Burg selbst führen die Kräfte des Widders, ein Geheimnis,
das Parsif al anfangs noch nicht durchschaut; zwischen Fischerkönig und
Gralsburg gibt es Irrwege genug; lieberfüllt, vom Tale der Demut aus, muß
der Gralsucher um Einlaß werben; man kann mit Christian von Troyes in
das Blutgeheimnis des Christus, in das Geheimnis der menschlichen
Leiblichkeit eindringen und dabei ergibt sich ein merkwürdiger
physiologischer Symbolismus. Die feinsten Essenzen und Substanzen der
Speisen werden dem Gehirn zugeführt, das in der felsigen Kapsel des
Kopfes, eingeschlossen von den Schläfenwänden, ruht. Auch der Kopf mit
seinen Schläfenwänden ist eine Gralsburg im engsten Sinne. In der
Gralsburg selbst aber erlebt Parsifal zunächst eine große Enttäuschung;
der Hüter des Grals, am mittleren von drei Feuern sitzend, ist krank: er
kann den Prozeß seiner inneren Entwicklung nicht zu Ende führen. Mit dem
leuchtenden Rubin, der auf das Organ der höchsten, der intuitiven
Erkenntnis hindeutet, wird die Stufe (symbolisch durch die rote Farbe)
bezeichnet, die der kranke Amfortas nicht erreichen kann. Hier nun setzt
das Mysterium der blutigen Lanze ein; als Speer sichtbar, ist sie die
Ursache des Leidens der Gralsritter; sie deutet auf die Kräfte, die die
höhere Entwicklung des Menschen ertöten, und gemeint sind damit die
Kräfte des Saturn. Mit der Lanze hat es eine eigene Bewandtnis: bei
Wolfram eine Imagination, innerhalb der Schauungen Parsifals, ist sie
zugleich ein wirklicher, physischer und historischer Gegenstand: die Lanze,
mit der Hauptmann Longinus dem Christus am Kreuze die Seite
durchstach. Im Urbeginn des Gralsgeheimnisses steht also das
Gralserlebnis (wohl erst um 1180 exoterisch sichtbar gemacht, aber doch
schon im 8. und 9. Jahrhundert von einzelnen Seelen erlebt). In der
Lestoire del Saint Graal wird erzählt, daß 750 n. Chr. (717 nach der
Passion) in der Nacht vom Gründonnerstag auf den Karfreitag ein Eremit in
seiner Einöde, der am Geheimnis der Dreieinigkeit zweifelte, eine Vision
erlebte; es erschien ihm der Erlöser und brachte ihm ein großes Buch, darin
der Eremit zunächst seinen Stammbaum und dann die Geschichte des
heiligen Grals las. Gralserlebnis ist ferner auch die um das 8. und 9.
Jahrhundert entstandene Legende vom heiligen Blut zu Reichenau. Es gibt
aber späterhin noch viele andere Arten der Begegnung mit dem Gral.

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 148


VI. Der »aktuelle« Gral
Faßt man zusammen, was unsere Zeit zur Erkenntnis des Grals
zugebracht hat, so ergibt sich, daß es vor Steiners Geisteswissenschaft
keine wahre Einsicht in das Wesen des Grals gegeben hat und geben
konnte. Vergeblich haben sich gewissenhafte Forscher aus dem Lager der
Philologie, der Philosophie und der Religionswissenschaft bemüht, die
verschiedenen, allen Kulturkreisen zugehörigen Elemente des »Dinges, das
der Gral heißt«, zu einem Gesamtbild zu vereinigen. Das Ergebnis der
Forschungen des 19. und 20. Jahrhunderts, soweit sie von seiten einer
sogenannten exakten Wissenschaft unternommen worden sind, kann wohl,
bei aller Wertschätzung des aufgewendeten Fleißes, gleich Null gesetzt
werden. Mit Recht sagt Uehli in seiner »neuen Gralssuche«, zu den
Bildekräften der Sage vom Gral sei diese (die exakte Wissenschaft) nicht
vorgedrungen und weder über die Herkunft noch über das Wesen des
Grals habe sie sichere Aufschlüsse zu geben vermocht; die letzten
Dezennien der Gralsforschung hätten vielmehr chaotische Zustände
hervorgerufen, und um das Wunder des Grals kennenzulernen, müsse man
den Bau selbst betreten. Im Glanz des Grals entfaltet sich die volle Tragik
der Menschheit und ihrer bisherigen Entwicklung; seine Vorgeschichte
greift zurück auf die okkulte Schöpfungsgeschichte (was sich auch in den
starken alchimistischen Durchsetzungen des Gralsproblems offenbart) und
darin besonders auf die schauerlich erhabene Episode des Falles der
sündigen Engel, untergeordnet unter die dramatische Überschrift »Luzifers
Sturz«. Ein Engel aus hohen Sternenregionen, das feurige Schwert in der
Hand, steigt in einem bestimmten Augenblick der Schöpfung der Tiefe zu;
die in der Schlacht besiegten stürzenden Geister bringt Michael unter seine
Füße: Luzifer, den Lichtträger und eine ganze Corona ihn begleitender
Wesenheiten, die die Krone Luzifers bilden. Michael schlägt mit seinem
Flammenschwert einen Geist von erlösender Kraft, den Weltenlogos, den
Christusengel, aus der Krone Luzifers, ihren schönsten Edelstein, der auf
diese Art zu den Menschen kam, zum Gefäß geformt und bestimmt, Christi
Blut in sich aufzunehmen. Als Luzifer zur Hölle niedersauste, nahm der
Mensch seinen Anfang, mit dem gestürzten Lichtengel in seinem inneren
Wesen verbunden. Vom Sturz der dunklen Engel datiert der Kern des
Gralsimpulses; er wurzelt in der Vorstellung eines Sonnengeistes, der
herabsteigt, den Menschen beizustehen und sie zu erlösen. Der Keim des
Grals aber ruht zunächst in den alten Mysterien. Deutlicher als in der
indischen Epoche, deren Vorläufertum in bezug auf den Christus schwerer
zu durchschauen ist, tritt das Sonnenhafte des Grals im persischen
Kulturkreis zutage. Kein Volk, keine Kultur der Erde war so ausgezeichnet
geeignet, den Christus zu verstehen, wie das persische. Der Perser
erkannte das Wesen des Sonnenhelden in seinem Ormuzd, den die 12
Amshaspands umgaben, wie die 12 Apostel den Christus Jesus. Als
erneuert scheint später das persische Element im Christusimpuls durch
Manes, einem hohen Eingeweihten, der, als ein Sendbote des Christus,

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 149


»gewaltiger war als Zarathustra und Buddha«! Auf andere Art ist das
Gralsgeheimnis mit dem mystischen Judentum verbunden. Der geniale W.
J. Stein in seinem herrlichen Buche über das 9. Jahrhundert deckt diese
Zusammenhänge auf, indem er das Gedicht vom Wartburgkrieg heranzieht,
das einen hohen Eingeweihten zum Verfasser hat. 1200 Jahre vor dem
Christus weissagt (und da ist eigentlich die erste, greifbare Kunde vom Gral
zu suchen) König Hiram, »einer Witwe Sohn aus dem Hause Naphtali und
eines Mannes von Tyrus«, die »Geburt eines Kindes«, das »alle Juden von
den Ehren stieß«, womit keineswegs ein antisemitischer Ausfall, sondern
bloß eine mystische Formel gesetzt wird, nämlich die Feststellung, daß der
Christus Jesus das mosaische Gesetz aufhob und ein neues für alle
Menschen an dessen Stelle setzte. Daß mit diesem Kind das Jesuskind
gemeint ist, darüber kann kein Zweifel bestehen. Jesus selbst ist der Gral:
er ist das Gefäß, darin das Blut des Christus zu suchen ist. 1200 Jahre vor
Christus führt der Manetho Osarsiph (Moses) das jüdische Volk gegen
Kanaan, den Mondgott Jehovah verkündend, ohne zu wissen, daß ihm
Christus voranzieht, als Wolke bei Tag, als Feuersäule bei Nacht. Die
Führung Mosis dauert, solange das Manna reicht; dann übernimmt Josua
(Jehoschua) die Führung, ein Name, der soviel wie Jesus bedeutet. So
vollzieht sich der Übergang von Jehova zu Jesus und das alte Testament
geht in das neue über. In diese Zeit des Übergangs von der Monden- zur
Sonnenführung fällt nun auch die Christusprophezie des Bileam, dessen
Geschichte das 4. Buch Mosis erzählt: »Ich werde ihn sehen«, sagt Bileam,
»aber nicht jetzt; ich werde ihn schauen, aber nicht von nahe; es wird ein
Stern aus Jakob aufgehen und ein Szepter aus Israel aufkommen und wird
zerschmettern die Fürsten der Moabiter und verstören die Kinder Seths, du
aber, Kain, wirst verbrannt werden.« Bileam, dazu bestimmt, Jsraël zu
fluchen, segnet Jsraël, den Christus verkündend. Michael stellt sich ihm
entgegen; die Eselin erkennt ihn und beugt ihr Knie (auf einer Eselin reitend
zieht Jesus in Jerusalem ein) vor ihm; auch Bileam erkennt ihn zuletzt, er
ist aber ein Mensch, der für Geld weissagt, und darum tötet ihn Pinchas,
der, nach jüdischer Überlieferung, einst als Elias wiedergeboren wird, mit
der Lanze, aber durch Bileam spricht Hosea – Josua, der Namensträger
Jesu. Josua sendet dem jüdischen Volke seinen Segen, wie Hiram den
Gral durch die Königin von Saba an Salomon sendet. Jede Entwicklung, so
führt die Blavatsky in der »Entschleierten Isis« aus, geht durch zwölf
Verwandlungen: durch sechs zum Prozesse der Verdichtung
(Vererdlichung) und durch sechs zur Vergeistigung; das Zeichen der
Waage hält diesen beiden Verwandlungsgruppen das Gleichgewicht, worin
sich die besondere Stellung des Patriarchen Henoch ausdrückt. Dem
Propheten Henoch entspricht in der christlichen Ausdrucksweise der
Christus Jesus. So umschließt der Gral gleichsam das gesamte Geheimnis
der Schöpfung, die alten Kulturen, das Christentum und die Zukunft. Daß
der Gral keineswegs eine Sache verflossener Zeiten ist, sondern
»aktueller« denn je, weil gerade in diesem Augenblick der

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 150


Menschheitsentwicklung, das Gralserlebnis allen die Rettung aus der Nacht
und Finsternis unserer Zeit bringen kann, ist schon gesagt worden, und als
erhabenes Beispiel solcher Gralssuche sind die Rosenkreuzer
unumgänglich, von denen im folgenden gesprochen wird.

VII. Die Rosenkreuzer


Im Vorwort seines berühmten Romans »Zanoni« läßt Bulwer, der ohne
Zweifel ansehnliches Wissen um die alten Geheimnisse besaß, den
seltsamen Buchhändler in der Nähe von Covent Garden einen Lichtstrahl
auf jene »erhabene Bruderschaft« fallen, die ihre »wirklichen Lehren« der
Welt nur in dunklen Andeutungen und »mystischen Parabeln« mitgeteilt
hat. »Wer anders, als ein Rosenkreuzer«, so fährt der wunderliche
Schwärmer fort, »könnte die Geheimnisse der Rosenkreuzer erklären,
dieser »eifersüchtigsten unter allen geheimen Gesellschaften?!« Über das
Wesen dieser erhabenen Bruderschaft befragt, lüftet der Buchhändler einen
Zipfel des Schleiers; er spricht von ihrer strengen Befolgung der
moralischen Gesetze, von der brünstigen Glut ihres christlichen Glaubens
und nennt sie einen Zweig in ihrer Abkunft nach noch erlauchterer
Vorfahren; auf Pythagoras und den Platonikern fußend, zählen sie auch
Apollonius von Thyana zu ihren Ahnen. Damit erscheinen die Quellen, aus
denen die Rosenkreuzer schöpften, angedeutet, aber auch die Essäer,
Therapeuten und Manichäer berührt, ohne daß Bulwer deren Namen nennt.
In der Tat sind die Rosenkreuzer eine Erscheinung von altehrwürdigem
Ursprung, deren Spuren sich schon im alchimistischen Halbdunkel der
Dichtung Konrad Flecks, der Geschichte von »Flore und Blanscheflur«,
nachweisen lassen, obgleich, offiziell, erst im 16. und 17. Jahrhundert von
Rosenkreuzern gesprochen wird. Es ist schon bemerkt worden, daß
gleichwie in der Kabbala und in der Alchimie erst später von den
Geheimnissen dieser höchst dunklen Gebiete die Rede ist, auch die
Rosenkreuzer, geschichtlich erfaßt, in einen späteren Zeitpunkt verlegt
werden müssen, obgleich sie zumindest das Alter der Kabbala und der
ersten greifbaren Anfänge der Alchimie in Anspruch nehmen dürfen. Kein
Gebiet ist äußerlich verworrener, als dieser ungeheure
geistesgeschichtliche Komplex, der das Geheimnis des Grals, der
Tafelrunde des Königs Artus, der Alchimie und der Mysterien der großen
und kleinen Welt umfaßt. Peukert, der dem rührigen, verdienstvollen, aber
leider bloß auf »exakte« Erforscher der Mysterien angewiesenen Verleger
Diederichs wohl als ein Eingeweihter erschienen sein mag, gesteht ganz
offen, daß er, da die Geschichte des Rosenkreuzertums
bedauerlicherweise in fast undurchdringlichem Dunkel liegt, gezwungen
war, sich eine eigene Geschichte der Rosenkreuzer zu konstruieren, ein
infantiles, völlig nutzloses Beginnen, das von vornherein zum Scheitern
verurteilt sein mußte. White weiß einiges, Jennings ziemlich vieles,
Wittemans, ein sehr redseliger belgischer Advokat aber, nur mit größter
Vorsicht Verwendbares über die Rosenkreuzer. Maack und Kurtzahn

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 151


kommen für das Problem überhaupt nicht in Betracht; der erstere hat einen
unglaublich pornographisch aufgezäunten Romankohl
zusammengeschmiert und später durch Allomatik (eine von ihm erfundene
»Wissenschaft«) in Ordnung zu bringen gesucht, letzterer aber, in
verdächtiger Übereinstimmung mit Maack und Freudenberg, den Lesern
einer kleinen Informationsschrift über die Rosenkreuzer das Märchen
aufgebunden, der Name Rosenkreuzer entstamme der Vorstellungswelt der
Alchimie und nicht von einem sagenhaften Christian Rosenkreuz, der bloß
als bedeutender, an die Öffentlichkeit »getretener« Rosenkreuzer
anzusehen sei. Kurtzahn ist bald darauf in der Rolle eines Neugnostikers
aufgetaucht, der es, mit den »magischen Briefen« und Saturngnostikern in
Verbindung, glücklich bis zum Entwurf eines funkelnagelneuen,
halbsatanischen Meßrituales gebracht hat. Läßt Wittemans die
Rosenkreuzer um 1378 herum in Erscheinung treten, so unterscheidet
Kurtzahn Rosenkreuzer vom 1610 (»vielleicht« bis in das 12. Jahrhundert
»zurückzuverfolgen«), wahre Rosenkreuzer von 1610 aufwärts und
»neue«, oder »Gold- und Rosenkreuzer«, nach 1610, als »bekannte
einheitliche Gesellschaft, die sich »in und um« (!) das 19. Jahrhundert
verliert. Erwähnt man noch, daß Buhle und Katscher Zusammenhänge
zwischen Rosenkreuzern und Freimaurern aufgezeigt haben, die zum Teile
nicht unrichtig sind, daß Semler (1786) viel zur Verwandtschaft zwischen
Rosenkreuzern und Alchimie beitrug, so sind, wenn man, vorläufig, von
Valentin Andreae absieht, die Hauptschriften über Rosenkreuzertum
angeführt. In Wahrheit hat Rudolf Steiner, der selbst von den
Schwarzmagiern der neuen Gnosis als der »einzige wirkliche Rosenkreuzer
unserer Zeit« bezeichnet wird, volles Licht auch auf dieses grandiose
Kapitel menschlicher Geistesgeschichte verbreitet. Was hier über die
Rosenkreuzer gesagt wird, stützt sich auf Steiners verstreute Mitteilungen
über diesen ebenso erhabenen »als unerhört« tiefgreifenden Gegenstand,
doch kann aus bestimmten Gründen nur Allgemeines in Form von
Andeutungen gesagt werden, weil es nur in einer Nachschrift existiert, die
aus der Zeit der Gründung einer Schweizer Christian Rosenkreuz-Loge
stammt und die Frage der Verwendung dieser Mitteilungen Steiners noch
nicht geklärt ist. Festgestellt darf in diesem Augenblicke wohl nur werden,
daß der Anfang dessen, was man rosenkreuzerische Bewegung nennen
kann, in das XIII. Jahrhundert zu setzen ist und daß sich die geistigen
Ströme, die von ihr ausgehen, ungefähr alle hundert Jahre als wirksam
erweisen. Es ist schon erwähnt worden, wie bedeutsam das 8. und 9.
Jahrhundert für die Geistesgeschichte der Menschheit, als eine Zeit der
Gralsfindung, gewesen sind. Mit dem XIII. Jahrhundert, das als
Ausgangspunkt einer neuen Kultur anzusehen ist, war äußerlich ein
bestimmter Tiefpunkt des geistigen Lebens erreicht; selbst
Höchstentwickelten schien damals der Zugang zu den geistigen Welten
verschlossen. Man geht kaum fehl, wenn man, um alle Vorsicht walten zu
lassen, bloß davon spricht, daß damals über einem europäischen Orte eine

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 152


Art hochgeistiger Gemeinschaft zusammentrat, die man sich am besten
nach dem Bilde einer Tafel- und Abendmahlsrunde vorstellen darf: als zwölf
Männer, die das gesamte geistige Wissen ihrer Zeit darstellten, indem sie
die sieben Strömungen der alten Rishi-Kultur und die Impulse der fünf
großen nachatlantischen Kulturen vertraten, so daß in ihnen gleichsam das
gesamte atlantische und nachatlantische Wissen vereinigt war. Um einen
Ausgangspunkt für eine neue Kultur zu gewinnen, mußte ein Dreizehnter
unter diese zwölf Männer treten, so wie eine Kugel nur von zwölf
gleichgroßen Kugeln vollkommen verdeckt und nach außen unsichtbar
gemacht werden kann. Dieser Dreizehnte, der, ein tiefmystischer Mensch,
schon zur Zeit des Mysteriums von Golgatha lebte, war durch weitere von
Gott gleichsam gelenkte Wiederverkörperungen zu einer
Wiederverkörperung im XIII. Jahrhundert gelangt und wurde von jenen
zwölf Menschen erzogen.

VIII. Der »Dreizehnte« und die Nachfolge


Fern von äußeren. Einflüssen wuchs dieser Dreizehnte heran; die Zwölf
waren von der Überzeugung erfüllt, daß das Christentum ihrer Zeit bloß ein
Zerrbild des wahren Christentums darstelle, indes sie selbst den
Christenimpuls in seiner reinsten und erhabensten Form in sich trugen; so
erschienen sie denn äußerlich und vor allem in den Augen der offiziellen
und staatlich beglaubigten Katholiken bald als Gegner der »christlichen
Religion«, der jene gleichsam eine alle Religionen in ihrem Kern
vereinigenden Christusreligion entgegensetzten; der Dreizehnte, in dieser
Sphäre erzogen, sollte dazu helfen, die erhabenen Prinzipien des
Rosenkreuzes im geistigen Leben auszuwirken. Ohne auf die
erschütternden und zugleich wahrhaft erhebenden mystischen Vorgänge,
die sich damals vollzogen, näher einzugehen, muß abschließend doch
gesagt werden, daß jene hohe geistige Individualität, der Dreizehnte,
verhältnismäßig jung starb, nach dem er das Geheimnis der christlichen
Universalreligion in Form von Imaginationen geoffenbart hatte,
Imaginationen, die in den geheimen Figuren der Rosenkreuzer des 16. und
17. Jahrhunderts festgehalten sind. Die zwölf, auch nach dem Tode des
großen Führers mit diesem verbunden, indem sie von ihm Inspirationen
empfingen, sind als Urheber der rosenkreuzerischen Strömung anzusehen.
Schon um die Mitte des 14. Jahrhunderts inkarnierte sich jener dreizehnte
aufs neue und lebte mehr als 100 Jahre auf Erden; auch in dieser neuen
Inkarnation ward er durch die Nachfolger und Schüler jener zwölf, wenn
auch in anderer, auch weniger weltfremder Weise erzogen. Mit zwanzig
Jahren auf Reisen, kam er nach Damaskus, wo sich für ihn zum zweiten
Male das Erlebnis von Damaskus wiederholte. Dieses im 14. Jahrhundert
reinkarnierte Wesen (der Dreizehnte) war jener »sagenhafte« Christian
Rosenkreuz, der als esoterische Verkörperung des exotischen
»Dreizehnten« anzusehen ist. Die Schüler des Christian Rosenkreuz sind
allein »Rosenkreuzer« zu nennen, zunächst 12 an der Zahl, die mit der

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 153


rosenkreuzerischen Arbeit begannen. Worin ein Hauptteil dieser Arbeit
bestand, davon wird im nachfolgenden Kapitel über die Alchimie ausführlich
die Rede sein. Seit dem 14. Jahrhundert kehrt Christian Rosenkreuz, in
Zeiträumen von ungefähr 100 Jahren, immer wieder; man findet ihn zum
Beispiel im 18. Jahrhundert unter dem Namen eines Grafen von St.
Germain, einem Namen, den allerdings auch andere Personen trugen, so
daß es nur einen wahren und richtigen, daneben aber etliche falsche
Grafen St. Germain gibt. Starke Spuren rosenkreuzerischer Inspiration
finden sich auch bei Lessing und Goethe, gleichwie bei wenig bekannten
Schriftstellern, wie Wiedemann und Droßbach. Rosenkreuzerarbeit ist, die
ätherische Wiederkunft des Christus vorzubereiten und zu ermöglichen.
Das eigentliche Wirken des Christian Rosenkreuz beginnt mit dem XIII.
Jahrhundert, dauert noch heute an und wird in alle Ewigkeit dauern, nur von
zwölfen als solches erkannt, und die Menschen wären gewiß nicht wenig
erstaunt darüber, zu erfahren, daß, sofern sie auf besondere Erlebnisse
und Vorfälle mystischen Charakters zu achten verstünden, in diesen
Erlebnissen und Vorfällen kein Geringerer als Christian Rosenkreuz selbst
offenbar wurde. Im Menschheitswirken des Christian Rosenkreuz sind zwei
Epochen zu unterscheiden: ein natur- und ein geisteswissenschaftlicher
Zeitabschnitt. Der naturwissenschaftliche Unterricht ward in der Form und
Gestalt der Alchimie und Astrologie, der geisteswissenschaftliche
(Steinersche) wird heute in Form und Gestalt einer Erneuerung des
Christentums und alles Geheimwissens erteilt. Die Entwicklung der
nächsten 3000 Jahre geht auf die Durchdringung des gesamten religiösen
Lebens auf Erden mit dem Christusimpuls und auf das Erleben des
Pauluserlebnisses. Nach dieser Zeit soll das eintreten, was die esoterische
Tradition den Matreya Buddha nennt. Der westliche und östliche
Okkultismus unserer Zeit sind darin einig, daß der Christus Jesus nur
einmal im physischen Leben auf Erden erscheinen konnte und daß er im
XX. Jahrhundert ätherisch wiederkommt, indes, nach 3000 Jahren, Jehosu
ben Padiwa als Matreya Buddha auftritt. Die Entwicklung der menschlichen
Dinge tendiert von den Tagen des Kopernikus immer mehr in die
materialistische Sphäre. Die kopernikanische Weltanschauung mochte
praktisch und bequem sein, richtig und wahr ist sie niemals gewesen. Mit
Kopernikus rücken alle wissenschaftlichen Begriffe und das Denken des
Menschen ins Unwirkliche, Abstrakte vor, so daß die Frage auftauchte, was
mit dem sogenannten Okkultismus weiter zu geschehen habe; am Ende
des 18. Jahrhunderts waren die Rosenkreuzer so weit, daß sie zu der
Neuordnung der geistigen Dinge im materialistischen Sinne Stellung
nehmen mußten. Das geschah nun in jener schon erwähnten Konferenz, in
der auch Buddhas Anteil am Christentum wirksam zutage trat, sowie ja
Buddhas Geistigkeit in einer Geheimschule des 7. und 8. Jahrhunderts am
Schwarzen Meere fortwirkte, deren fortgeschrittenster Schüler als
Franziskus von Assissi zur Erde zurückkehrte. Die Zweiteilung der
Menschheit in eine Gruppe, die nur im praktischen, dinglichen

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 154


Fünfsinnensein aufgeht und die andere, die dem Geistesleben hingegeben
ist, datiert aus jener Zeit. Für die erstere Gruppe, die zwischen Geburt und
Tod steht, kann von der Erde aus nichts geschehen, um so wichtiger ist,
daß dem Menschen in der Zeit zwischen Tod und neuer Geburt Hilfe
werde; in dieser Zeit wird der Mensch ein Mondwesen, später ein Merkur-,
Venus-, Sonnen-, Mars-, Jupiter- und Saturnbürger, zuletzt ein Bewohner
des gesamten Himmelsraumes; hier lebt er in Vergeistigungen und bringt
die Erlebnisse seines Planetendaseins mit auf die Erde herunter. Was nun
die Marskultur angeht, die der Mensch zwischen Tod und neuer Geburt
durchlebt, so unterlag sie im XV. Jahrhundert einer großen Krise, die auf
dem Mars ungefähr von derselben Bedeutung war, wie das Mysterium von
Golgöjha für die Erdenkultur: eine Katastrophe, die sich auf der Erde fast
noch stärker auswirkte, als auf dem Mars selbst. In jener Konferenz, die
darum wußte, ward beschlossen, was zur Hebung der Marskultur dienen
konnte. Im Rahmen einer Darstellung des Eintrittes der neuen okkulten
Bewegung in das Geistesleben des Menschen wird von diesem Teil der
Rosenkreuzertätigkeit noch die Rede sein. Fürs Nächste aber ist von jener
merkwürdigen Episode zu sprechen, die an den Namen des Valentin
Andreae anknüpft und die zum großen Teil schuld daran gewesen ist, daß
das Rosenkreuzertum eine Zeitlang für eine Mystifikation und Düpierung
der ganzen Welt gehalten werden konnte. Wenn die großen
Mißverständnisse, an denen die Geistesgeschichte der Menschheit so reich
ist, überhaupt auftreten durften, so war das hur dadurch möglich, daß das
Rosenkreuzertum selbst solche Verwicklungen zuließ und in gewissem
Sinne sogar, zum Heil des Ganzen, in bestimmter Weise förderte.

IX. Das Rätsel des Valentin Andreae


Soweit auch die Geschichte der rosenkreuzerischen Impulse zurückreicht,
im exoterischen Sinne tritt die rosenkreuzerische Welle erst durch einen
seltsamen Mann, Joh. Val. Andreae, in Erscheinung. In Herrenberg 1586
geboren und in Stuttgart 1654 gestorben, war er protestantischer Theologe
von Beruf, bekleidete hohe Stellungen der Landeskirche und zählte zu den
»bedeutendsten und fruchtbarsten Männern des 17. Jahrhunderts«. Unter
den zahlreichen Schriften, die er hinterließ, findet man, außer der
»Chymischen Hochzeit« (schon 1602 verfaßt, aber erst 1616 gedruckt), zu
der er sich selbst bekannte, auch solche, die nicht äußerlich nachweisbar
von ihm sind, indes ohne Zweifel auf ihn als Autor deuten: vor allem die
»Allgemeine Reformation der ganzen Welt« (1614), dann die »Fama
fraternatis plus confessio« (1615), Schriften, die durchwegs ungeheures
Aufsehen machten und bis 1624 eine Flut von Streitschriften hervorriefen,
die sich sowohl auf die ernsten oder spielerisch-scherzhaften Absichten des
Autors bezogen, teils aber auch die Meinung vertraten, es habe von
altersher Rosenkreuzer oder es habe überhaupt niemals Rosenkreuzer
gegeben, die man dann etwa lediglich als eine Erfindung Andreaes
anzusehen hätte. Äußerungen, die Andreae selbst darüber machte (die

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 155


Generalreformation«, die »Fama« und die »Confessio« erwähnt er
überhaupt nicht, auch nicht in seiner eigenen Lebensbeschreibung),
scheinen diese Zweifel zu nähren und zu bestärken. Was nun die
»Chymische Hochzeit Christian Rosenkreuz anno 1459« anlangt, so findet
eine Betrachtung über dieses viel umstrittene »Phantasiegebilde« besser
dort Platz, wohin sie sich selbst stellt, beim Kapitel Alchimie. In der
»Generalreformation« aber wird die Frage nach einer Verbesserung und
Veredelung der Welt aufgeworfen; eine Reihe von abenteuerlichen und
lächerlichen Vorschlägen wird erörtert und das »kranke Jahrhundert« selbst
tritt auf, als alter Mann dargestellt; es erweist sich, daß alle
Weltverbesserungen leider zwecklos sind, »weil die Welt niemals frei von
Unvollkommenheiten sein wird und man am besten tut, sie so zu lassen,
wie man sie gefunden hat«. Es ist also eine Reformation, die sich selbst
aufzuheben unternimmt, indem sie die Nutzlosigkeit ihrer Bemühungen
einsieht, doch scheint dem Verfasser bei dieser Resignation gar nicht wohl
zu sein, denn er verweist, im Anschluß an die »Generalreformation« in der
»Fama« und »Confessio«, auf eine merkwürdige Gesellschaft, die allein die
Kraft besäße, die Welt zu bessern und in Ordnung zu bringen. Sein
Christian Rosenkreuz bereist, vom Orient mit Weisheit beladen, die ganze
Welt und kommt schließlich nach Deutschland zurück, das der Hilfe bedarf;
er verbindet sich mit drei Klosterbrüdern und legt damit den Grundstein zur
»Bruderschaft des Rosenkreuzes«; sie errichten dem heiligen Geist ein
»verborgenes Haus« und ziehen noch neue Brüder hinzu. Diese verteilen
nun ihre Tätigkeit auf die ganze Welt, kommen aber alljährlich einmal in
jenem Hause zusammen. Der Gründer Christian Rosenkreuz starb im Alter
von 106 Jahren, aber er hört darob nicht auf, von der geistigen Welt her auf
die Dinge in Deutschland zu wirken. 120 Jahre nach dem Tode des
Meisters wird (seiner eigenen Prophezeiung gemäß) sein Grab gefunden,
mit allerhand Inschriften und Zeichen bedeckt und durch eine Lampe mit
ewiger Leuchtkraft erhellt. Nun erwarten die Brüder, was die Welt zu ihrer
Offenbarung zu sagen hat, und fordern dazu auf, sich ihnen anzuschließen,
damit die notwendige Verbesserung der Welt nun doch zustande komme.
So die »Fama«! Die »Confessio« aber unterläßt nicht, über die Absichten
der Brüderschaft vom R. C. einiges weitere verlauten zu lassen; sie gibt an,
Christian Rosenkreuz sei 1378 geboren und daher (da er 106 Jahre lebte)
1484 gestorben; da sein Grab aber 120 Jahre nach seinem Tode zu öffnen
war, so fiele diese Episode in der Geschichte der Rosenkreuzer in das Jahr
1604. Die drei Reformationsschriften Andreaes sind rührende und
erhabene Dokumente eines ganz anderen Geistes, als jenes, der die
Philosophie und offizielle Religion jener Zeit erfüllt. Sie beweisen den hohen
Ernst der Brüder und die allgemeine menschliche Tendenz ihres Wirkens,
dem Jesus alles bedeutet. Vier Wahrworte kennzeichnen das Wesen dieser
Verbindung: es gibt keinen leeren Raum, wohl aber Strenge des Gesetzes,
Freiheit des Evangeliums, und die unversehrte Herrlichkeit Gottes! Am
Ende dieser Büchlein aber steht der Rosenkreuzerwahlspruch bis ans Ende

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 156


unserer Erdentage: E. D. N., J. Ch. M. u. P. S. S. R., was zu deutsch heißt:
»aus Gott werden wir geboren, in Christo sterben wir, durch den heiligen
Geist aber empfangen wir neues Leben«. In der »Bekenntnuß der löblichen
Bruderschaft deß hochgeehrten RosenCreuzes an die Gelehrten Europas
geschrieben«, wird aber schlicht und einfach gesagt: »was von unser
Fraternität oder Bruderschaft auß Hiebevor ausgefertigter Fama,
menniglich zu Ohren gekommen und offenbar gemacht worden, das soll
niemand für unvorbedächtlich, verwegentlich oder erdichtet achten, viel
weniger aber als auß unserm Gutdüncken hergeflossen unnd entstanden,
aufnehmen.« Es bedurfte dieser herzinniglichen, eindringlichen Ansprache
nicht erst, um sofort das Gegenteil dessen hervorzurufen, was die
hochlöbliche »Bruderschaft« wünschte: die Gelehrten Europas fuhren sich
in die Haare, die Jesuiten mischten sich in den Handel, und schließlich
ward Andreae bezichtigt, die ganze Welt »statt reformiert«, an der Nase
herumgezogen zu haben! Das, was die Gegner des Rosenkreuzertums
Andreaes Widerruf nennen, konnte nichts weniger, als eine Richtigstellung
seines Wirkens sein. Andreae war durch das Ansehen seiner evangelisch-
kirchlichen Stellung, durch den Hexensabbath eines die Rosenkreuzer als
Maske vornehmenden alchimistischen Goldmachertums und durch die
allgemeine Befürchtung, jene Enthüllungen könnten mißdeutet werden, in
die Enge getrieben. Es ist ganz klar, daß die rein äußerlich historischen
Betrachtungen aller dieser Dinge zu keiner verläßlichen Feststellung über
Valentin Andreae und sein Verhältnis zum Rosenkreuzertum führen
können. Der alte und der junge Andreae sind gleichsam zwei verschiedene
Gestalten; zwischen dem Jüngling, der, 17 Jahre alt, die »Chymische
Hochzeit« schrieb, und jenem Andreae, der 1619 in der Schrift vom
»babylonischen Turm« eine entschieden pietistische Physiognomie zeigte,
bestehen trotz der äußerlichen Verschiedenheiten doch unterirdische
Zusammenhänge. Andreae ist keineswegs der Begründer des
Rosenkreuzertums, sondern, wenn die Anwendung dieses Ausdruckes auf
so hohe Gebiete verstattet ist, bloß der bedeutendste und begabteste
Publizist jener Geistesströmung gewesen, die Andreaes Zeiten durch eine
andere Persönlichkeit geoffenbart wurde ...

X. Die Philosophie der Rosenkreuzer


Es ist nun an der Zeit, sich darum zu bekümmern, was als Philosophie
des Rosenkreuzertums zu gelten habe. Auch darüber gab Rudolf Steiner,
der große Erneuerer der Gralssuche und des Rosenkreuzertums,
Grundlegendes. Noch einmal: die bloße äußere historische Kenntnis vom
Rosenkreuzertum vermittelt in keinerlei Weise einen tieferen Einblick in ihr
Wesen, ihre Denkungsart und ihre Wirkungen. In Betracht kommt zunächst
ein für allemal die Tatsache, daß das Rosenkreuzertum auf das 14.
Jahrhundert zurückreicht und als solches von der Geschichte dieser
geistigen Strömung und ihrem allmählichen Auftreten gesondert verläuft.
Jene hohe spirituelle Persönlichkeit, die vor der Welt den Namen Christian

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 157


Rosenkreuz trug und 1459 einen zunächst kleinen Kreis von Eingeweihten
um sich versammelte, woraus die Fraternitas Roseae Crucis entstand, war
Ritter vom güldenen Stein. Welche Sendung dieser Strömung zukam, ist
aus den Schriften Valentin Andreaes einigermaßen ersichtlich. Im 18.
Jahrhundert war ihre Aufgabe, bestimmte Impulse einfließen zu lassen, die
in der Kultur Mitteleuropas wirksam werden sollten. Der Andrang zu diesem
seltsam starken Lichte, das da aus der Höhe des Himmels und aus den
Tiefen der menschlichen Natur zugleich kam, war kein geringer; selbst
einen exoterisch erleuchteten Geist wie Leibniz zog dieses Licht mit
magischer Gewalt an; gleichwohl gelang ihm nicht, in die Bruderschaft
einzudringen und in ihre Gemeinschaft aufgenommen zu werden. Deutliche
rosenkreuzerische Spuren trägt, wie schon erwähnt, Lessings Schrift über
die »Erziehung des Menschengeschlechtes«. In ganz anderer Weise
wieder spiegelte Goethes Genie die rosenkreuzerischen Impulse, soweit er
ihrer teilhaftig wurde und teilhaftig werden konnte. Goethes Berührung mit
dem Rosenkreuzertum fällt in eine verhältnismäßig frühe Epoche seines
Lebens; sie ist in der Zeit zwischen seinem Abgang von der Leipziger
Universität und Seinem Straßburger Aufenthalt zu suchen, einer Episode,
die durch eine schwere, um ein Haar tödliche Krankheit des jungen Goethe
eingeleitet wird. In diese Spanne seines Lebens fällt Goethes
Einweihungserlebnis, gekrönt durch das wirksame Gedichtfragment »die
Geheimnisse«, das als rosenkreuzerisches Dokument von hohem Rang
angesehen werden muß. Das »Märchen« Goethes und die ganze
Faustdichtung hingen desgleichen mit dieser Einweihung zusammen. Wenn
im Laufe der ersten Hälfte und in einem großen Teil der zweiten des XIX.
Jahrhunderts die rosenkreuzerische Weisheit merklich in den Hintergrund
trat, so war das im Gange der Dinge zweifach begründet, zunächst einmal
darin, daß eine Art Verrat an den rosenkreuzerischen Geheimnissen
stattfand (vorzeitige und unzeitgemäße Hinaustragung rosenkreuzerischen
Wissens in esoterischer Form) und das andere Mal darin, daß die Kultur
des Abendlandes durch einen gewissen Zeitraum (um sich ganz mit dem
materialistischen und rationalistischen Impuls zu durchtränken) von
rosenkreuzerischem und okkultem Wissen überhaupt freibleiben sollte. Erst
im 20. Jahrhundert wird der Bann gelöst. Rudolf Steiner nimmt mit dem
ersten Glockenschlage des 20. Jahrhunderts (1900) die Siegel von den
verschlossenen Büchern. Die rosenkreuzerische Weisheit unterscheidet
sich ganz wesentlich von den übrigen Betätigungen des Okkultismus und
hebt gewisse Eigentümlichkeiten ihr vorangehender Einweihungswege auf.
Sie stützt sich ausschließlich auf das durch spirituelles Schauen (ungenau
»Hellsehen« genannt) und Hören erworbene Wissen. Das
Rosenkreuzertum zeigt die Quelle rosenkreuzerischer Erkenntnis heute
ganz ohne jede Heimlichkeit und weist die Wege, die zu dieser Quelle
führen, in genauen, aus der Erfahrung geschöpften Weisungen. Anders
steht es um die Empfängnis dieser Weisheit bei Menschen, die nicht in der
Lage sind, an die Erkenntnisquelle selbst heranzukommen und sich zu

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 158


höherer Erkenntnis zu entwickeln. Das geschieht freilich innerhalb der
Rosenkreuzerei in ganz anderen Formen. Das Verhältnis von Lehrer und
Schüler entspricht in keiner Weise dem, was beispielsweise in der
indischen oder in der christlichen Einweihung geübt wird. Die indische
Einweihung macht den Schüler zum Werkzeug seines Führers (des Guru)
in die übersinnlichen Welten; in der christlichen Einweihung, die überaus
schwierig zu handhaben ist und ungeheure Opfer verlangt, ist Christus
selbst der Führer (die Exerzitien des Ignaz von Loyola geben ein klares Bild
davon); die rosenkreuzerische Einweihung aber, wie sie durch Rudolf
Steiner erneuert wird, schafft den Autoritätszwang vollkommen ab. Der
rosenkreuzerische Führer ist nur ein Helfer, ein Weggenosse im reinsten
Sinne des Wortes; er gibt dem Schüler nichts, was dessen gesunder
Menschenverstand nicht fassen oder einsehen könnte. An der Spitze der
rosenkreuzerischen Philosophie, am Eingang zum Tempel der
rosenkreuzerischen Weisheit, stehen zwei Grunderkenntnisse: die Lehre
von der Trinität und vom siebengliedrigen Wesen des Menschen, richtiger:
sie fußt auf dem Erlebnis der Trinität und des siebengliedrigen
Erdenmenschen. Das Wesen der Trinität ist, wie es Uehli sehr schön und
präzis ausdrückt, das »Urphänomen« aller Geschichtsgestaltung; wohl aber
wandelt sich dieses Erlebnis und wird vor Christus anders erlebt als nach
dem Ereignis von Golgatha. Die persische Epoche zum Beispiel ruht
scheinbar auf der schlichten Zweiteilung Ahura Mazdao und Ahriman, die
im Strom der Zeit wirken und in ihr wurzeln; ein Drittes, auch in der Zeit
Wurzelndes, blieb zunächst verborgen, als etwas außerhalb der Sphäre
des Lebens noch Ungestaltetes und Unbrauchbares, gleichwohl mit einem
bestimmten Namen genannt: Zaruana Akarana, die Ergänzung zur Trinität,
repräsentiert durch Mithra, den Gott, der als »Schützer der Zeit« oder
»Vermittler« gepriesen wird. Der Mithrasdienst, ausgeübt von den
römischen Legionären und von den römischen Kaisern begünstigt, barg
den Trinitätsimpuls als entwicklungsfähigen und gestaltgebenden
Gedanken; anders die Ägypter! Die ägyptische Trinität findet sich in zwei
zeitlich orientierten Wesen, Isis und Horus, und einem dritten Wesen,
Osiris, das nur im Tode erlebt werden kann, wenn man das »Zeitliche
gesegnet« hat, wie der ungeheuer prägnante Ausdruck für das
Todeserlebnis besagt. Das dritte Glied der ägyptischen Trinität wird nicht
mehr in der Zeit, sondern im Räume erlebt. Die gestaltbildende Kraft der
nachchristlichen Mysterien zerfällt allerdings und mit ihr die antike Kultur.
Das Mysterium von Golgatha aber bringt ein ganz neues Trinitätserlebnis.

XI. Die wahre Trinität


Vergleicht man, wie das Uehli versucht hat, die vorchristlichen Kulturen
mit Strahlen, die sich radienhaft um einen Mittelpunkt gruppieren, so stellt
diesen Mittelpunkt das Ereignis von Golgatha dar. Gegen dieses Ereignis
zu verblassen die Strahlen der vorchristlichen Kulturen immer mehr und
mehr, aber ihre Leuchtkraft hat sich in einen Mittel- und Brennpunkt

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 159


begeben, der nun aufleuchtet, wie die betroffene Stelle unter dem
Brennglas. Die vorchristlichen Kulturen und ihr in den Mysterien erhaltener
edler Kern empfingen ihre Signatur ausschließlich vom Volkstum. Das
Volkstum erwies sich als natürliche Grenze der Menschheitsempfindung. Im
Christus Jesus verkörpert sich der Menschen Sohn, der Repräsentant der
ganzen Menschheit. Ein Volksgott konnte sich nicht verkörpern, er empfing
bloß die Opfer der nationalen Kulte. Mit dem Herabstieg des
Menschensohnes geschah etwas vollkommen Neues, die Erde und das
Erdengeschlecht im tiefsten Wesen Berührendes: der Gott opfert sich
selbst! Die Sphinx, drei Tiere und den Menschen in ein Wesen fassend,
wird zum Lamm, das sein Blut vergießt. Die Sphinx wird zum Gral.
Versammelten sich die Teilnehmer der vorchristlichen Mysterien an
abgeschiedenen Orten und in geheimnisvoll gehüteten Tiefen, so spielt das
Mysterium von Golgatha vor den Augen der ganzen Welt, unverstanden
und von einem herabgeminderten Dämmerbewußtsein nicht erfaßt (die
Jünger auf dem Ölberg verfielen in Schlaf). Der erste Mensch, der das
Mysterium von Golgatha mit geistigen Organen erschaute: Johannes, in
Gesellschaft der Mutter Jesu, ist auch der einzige Zeuge des Mysteriums
von Golgatha gewesen. Auf dem Kreuze der Schädelstätte hing der
Erlöser, Luzifer und Ahriman zur Seite, die er beide in sich versöhnte. Das
Christentum der ersten Jahrhunderte ging die Seele an und umfaßte die
Gemütskräfte. Die Kirche, das Licht der ersten christlichen Jahrhunderte
verdunkelnd, verwandelt und verwischt das Erlebnis der hohen Trinität
(Vater, Sohn und heiliger Geist) in ein Dogma, das alsogleich Streitigkeiten
über das Wesen der Dreifaltigkeit entzündet. Von dem weittragenden
Beschlüsse des ökumenischen Konzils von Konstantinopel, vom Jahre 869,
war schon die Rede. Es ließ nur Leib und Seele bestehen, schuf den
dreigliedrigen Wesenskomplex (Leib, Seele und Geist) ab und setzte an
Stelle der richtigen eine falsche Trinität. Christus wird, dem Mithrasgotte
ähnlich, zum Vermittler. Durch den konstitutionellen Irrtum einer falschen
Trinität brach später, dank katastrophaler Zerstörernaturen wie Marx und
Engels, die materialistische Weltanschauung über die Menschheit herein,
die, aus der freien Geschichtsgestaltung herausgerissen, als ein
kümmerliches Ergebnis ökonomischer Prozesse der ganzen Dürftigkeit und
Trockenheit eines ungeistigen »Verstehens« anheimfällt. Wie man sieht,
mündet die zweite Trinität, zum Dogma erstarrt und unter gewaltsamer
Beseitigung des Geistes, in einen chaotischen Zustand, aus dem die dritte
Trinität hervorgehen muß, geschöpft aus dem Geiste der Evangelien. Der
Kern der neuen Trinität, ermittelt durch die Kräfte der Evangeliensynopsis
(Evangeliumzusammenschau) liegt in den beiden Versuchungen Jesu
durch den Teufel und den Satan, zwei Wesenheiten, die durchaus nicht
dasselbe sind. Luzifer, der Teufel, ist ein innerer, ein seelischer Versucher,
Ahriman (Satan) kommt von außen; er heißt, die Naturordnung durch Magie
unterbrechend, Christus, aus Steinen Brot zu machen. Die wahre Trinität,
so führt Uehli vorbildlich aus, ist der Luzifer und Ahriman überwindende

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 160


Christus. Die Geisteswissenschaft Steiners, indem sie zugleich die
himmlischen wie die irdischen Dinge in Einklang miteinander ordnet, setzt
an die Spitze ihrer rosenkreuzerischen Philosophie eine Trinität: Leib, Seele
und Geist! Sie bezeichnet mit Leib das Gefäß des Geistigseelischen, aus
Bestandteilen der vier Elemente und! der drei Reiche (Stein, Pflanze, Tier)
geformt; als Seele die Kraft, die Sphäre der Schöpfung mit dem Gemüt zu
erfassen; als Geist die Kraft, die Idee zu durchschauen, die den Dingen
ihren ewigen Kern gibt. Nicht weniger wichtig in der Philosophie des
Rosenkreuzertums ist die Erkenntnis von der siebengliedrigen Natur der
Menschenwesenheit, umfassend physischen Leib, Ätherleib, Astralleib, Ich,
Manas, Buddhi und Atman (um vorläufig bei den indischen Ausdrücken für
die drei höheren Wesensglieder zu bleiben). Um diese Gliederung zu
verstehen, ist allerdings notwendig, sich ein Bild von den höheren Welten
zu machen, die die unsere durchdringen und umgeben und für die, will man
sich überhaupt eine Vorstellung davon machen können, Öffnung der
höheren Sinne Voraussetzung bleibt. Die Rosenkreuzer kennen zunächst
eine imaginative (astralische oder elementarische) Welt. Eine noch höhere
Welt als diese eröffnet sich den erwachten Sinnen in dem, was der
Rosenkreuzer die himmlische (devachanische, mentale, inspirative) Welt,
die Welt der Sphärenharmonien nennt. Eine dritte, noch höhere Welt,
entspricht der Bewußtseinsstufe der Intuition, auch Vernunftwelt. Nach
dieser Vorbetrachtung ergibt sich für den physischen Leib: dessen
Gestaltung von außen, von einer höheren Welt, als Träger eines Ichs
bestimmt wird. Ihm, dem physischen Leib in der Form verwandt, ist der
Äther- oder Lebensleib, durchzogen von Kraftlinien, die gleichsam dem
Leibe das geben, was Leben genannt wird, was also den physischen Leib
zum Leben sozusagen aufruft; als eine Lichtgestalt (der Ätherleib des
Mannes ist weiblich, der des Weibes männlich) erscheinend, ragt der
Ätherleib über den physischen Leib hinaus und ist auch im Wesen der
Pflanze gemeinsam zu finden. Mensch und Pflanze haben den Ätherleib
gemeinsam; die Kräfte, die den Ätherleib als Leib erhalten, gehören der
inspirativen, der himmlischen Welt an. Das dritte Glied der menschlichen
Wesenheit hat den Titel Astralleib (auch Seelenleib genannt) und ist mit
den Tieren gemeinsam. Auch die Tiere haben, mit anderen Worten, einen
Astralleib, verankert in der Trieb-, Affekt-, Wunsch- und Begierdenwelt; er
gehört der astralen, der imaginativen Welt an, dem Astralleben, das die
Gruppenseelen der Tiere enthält. Vom Gruppen-Ich des Tieres scheidet
sich das individuelle Ich, das ewige Ich, Kern der Menschen.

XII. Der Ichkern als ewige Substanz


Das individuelle Menschen-Ich, der Ichkern, nimmt in der Philosophie des
Rosenkreuzers eine zentrale Stellung ein. Wohl erkennt heute schon auch
die vom Kantianismus noch immer nicht losgelöste Philosophie, daß hinter
dem geheimnisvollen Lichtpunkt, Bewußtsein genannt, und im Ich ruhend,
»vom undurchdringlichen Dunkel des Nichtwissens schlechtweg

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 161


eingeschlossen« mehr verborgen ist, als der forschende Menschengeist in
seiner gegenwärtigen Denklage zu erfassen vermag, daß aber noch ein
»letzter Schritt« zu tun übrigbleibt. Nun, die Rosenkreuzer haben ihn längst
getan! Ihr Ich ist der Schnittpunkt der beiden Balken des Kreuzes und um
ihn lagern sich die sieben Rosen als Sinnbilder der siebengliedrigen
Menschenwesenheit, vier dunkle und drei helle. Der Mensch trägt ein
individuelles Ich in seiner Brust. Der Löwe, der Adler, der Stier und der
noch nicht zum physischen Plan herabgestiegene Mensch, die vier Tiere
der Apokalypse also, sind nichts anderes als Gruppenseelen (Gruppen-
Iche), die dem Menschen auf dem Astralplan am nächsten stehen. Das
Ichbewußtsein des Menschen selbst aber wurzelt in der physischen Welt;
von seinem Ich aus zurückwirkend auf den Astralleib, Ätherleib und
physischen Leib kann er, und darin liegt seine Aufgabe für diesen
Weltenzyklus, die drei höheren Glieder seines Wesens entwickeln. Das Ich
muß nach und nach die Herrschaft über Astralleib, Ätherleib und
Erdenkörper ergreifen; erobert es den Astralleib, so hat er Manas
(Geistselbst) erreicht, hat er den Ätherleib verwandelt, gelangt er zu
Buddhi, dem »Lebensgeist«, hat er endlich den physischen Leib
verwandelt, so entsteht der Atman, der Geistmensch, als höchste Frucht.
Es ist für den Durchschnittsintellekt gar nicht leicht, sich eine Arbeit dieser
Art überhaupt vorzustellen, und am schwierigsten wird in der Regel, wenn
es darum geht, den physischen Leib zu verstehen; hier deutet aber auch
schon der Name, Atman, darauf, was gemeint ist. Sie wird durch Arbeit an
der Verwandlung des Atemprozesses begonnen, wodurch sich nach und
nach die Beschaffenheit des Blutes ändert. Die gegenwärtige Menschheit
arbeitet an der Umwandlung des Astralleibes, die Eingeweihten unserer
Zeit am Ätherleib; zwischen Geistselbst und Astralleib leuchten als 4., 5.
und 6. Glied der menschlichen Wesenheit Empfindungsseele,
Verstandesseele und Bewußtseinsseele auf, und zwar so, daß die
Bewußtseinsseele Astralleib und Manas, die Verstandesseele Ätherleib und
Buddhi, die Empfindungsseele aber physischen Leib und Atman
miteinander verbindet. In dieser Neunheit, die in der Siebenheit aufscheint,
steckt eines der Grundgeheimnisse des Rosenkreuzertums. Von hier aus
fortschreitend gelangt die Philosophie des Rosenkreuzers zu ihren
Betrachtungen über Schlaf, Traum und Tod. Der schlafende Mensch lebt
außerhalb seines physischen und seines Ätherleibes im astralischen Leib;
im Astralleib aber ist das Ich des Menschen mit seinem Denken und Wollen
verknüpft; der Astralleib empfängt seine Elemente aus dem Weltall, darin er
ruht, wie ein Tropfen in der Flüssigkeit. Im Wachzustande teilt er seine
Eindrücke mit denen der physischen Welt; als Aufbauer des Ätherleibes
und durch diesen als Aufbauer des physischen Leibes, ist er eben von
konstitutiver Bedeutung für das ganze Menschenwesen. Zwischen Wachen
und Schlafen aber steht der Traum als Kronzeuge für diese
geheimnisvollen Zusammenhänge; es ist ein Zwischenzustand,
herbeigeführt dadurch, daß der Astralleib seine Verbindung mit dem Körper

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 162


schon gelöst hat, aber mit dem Ätherleib noch verbunden ist; so entstehen
die Traumbilder. Der Schlaf, sagt die landläufige Sprichwortwelt, ist ein
Bruder des Todes. Vom schlafenden Menschen unterscheidet sich der Tod
bloß dadurch, daß der physische Leib allein zurückbleibt, indes der
Ätherleib und Astralleib vom Ich in die astralische Welt hinaufgezogen
werden. Da tauchen nun auch Bilder auf, die den Traumbildern gleichen,
aber im Wesen doch eine vollkommene Wirklichkeit darstellen: es sind
Erinnerungsbilder an das eben gelebte, verflossene Leben, die in einem
grandiosen Tableau am Ich vorbeigehen; sie sind erfüllt mit den freudigen
und den schmerzlichen Gefühlen, die sie im Leben selbst, als Erlebnisse,
verursacht haben. Ab und zu, in besonders schrecklichen Fällen, geschieht
es, daß physischer Leib und Ätherleib sich mit einem jähen Ruck
voneinander trennen: im Absturz, im plötzlichen Kampfe mit Wellen, im
jähen Schritt einer plötzlich auftauchenden Lebensgefahr; auch in diesen
Augenblicken beginnt das Tableau aufzutreten. Eine Art Essenz dieser
grandiosen Bilderrevue, die nach dem Ableben eintritt, bleibt aber als
Extrakt für die künftigen Verkörperungen zurück, den man in der Sprache
der Geisteswissenschaft den Kausalleib nennt, den Keim für die künftige
Verkörperung entfaltungsfähig bergend. Die Begierden des Körpers, die
den Lustbestand des irdischen Lebens, seine Genüsse, bilden, bleiben in
dieser Zone, die das Bewußtsein nach dem Abrollen des Tableaus betritt
und die den Namen Kamaloka, Zwischenreich oder Fegefeuer trägt,
bestehen. Ungefähr ein Drittel des Erdenlebens lang verharrt der Ichkern
der »Toten« in dieser Sphäre, wenn der Mensch ernstlich damit beginnt,
sein ganzes Leben noch einmal zu erleben. Mit dreifacher Schnelligkeit eilt
dieses Durchleben vom Tode zurück bis zum Eintritt in die physische Welt
durch die Geburt. In dem Augenblicke, da der Punkt der Geburt erreicht ist,
tritt der vom Ich bearbeitete Teil des Astralleibes zum Kausalleib,
gleichzeitig die »noch nicht bearbeiteten Teile« ausscheidend, die als
»astralische Leichname« des Menschen zurückbleiben. Mit der Ablegung
des astralischen Leichnams aber steigt der Ichkern auch schon vom
Kamaloka zum Devachan (zum geistigen Plan, dem Himmel der Kirche)
auf. Auch die devachanische Welt ist vielgestaltig und gegliedert. Hier gibt
es Festland, Meere und Luftozeane. Im Astralen schlagen die himmlischen
Menschen, gleichzeitig mit den irdischen, ihre Schlachten, die in Devachan
wie ein furchtbares Gewitter auftreten. Über den Kontinenten, Meeren und
Lufträumen des Devachans aber thronen die Urformer und Urgründer aller
Dinge.

XIII. Das Leben im Jenseits


Siebengliedrige Natur des Menschen, im Ich drei seelische Bewußtseins-
und Erfassungsphasen umschließend, und der Bestand übersinnlicher
Welten, vom Zwischenreich bis zur Religion der Urbilder, das »Erdige« des
Devachankontinents, das flüssige der Devachanmeere und das Luftige der
leidenschaftlich pulsierenden Geistregion feurig durchdringend, bilden also

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 163


die Grundlage der rosenkreuzerischen Philosophie, die, zugleich
Wissenschaft und Religion, eine grandiose Kosmogomie an die Stelle der
nebelhaften Weltentstehungsannahmen setzt. Wer den Weg der
rosenkreuzerischen Einweihung wandelt, lernt das Geheimnis der
Weltenschöpfung bis in die fernsten Ausläufer kennen. In der Vernunftwelt
des Devachans gerät er in den Bereich dessen, was mit den Worten der
rosenkreuzerischen Philosophie Akashachronik genannt wird. Für den
Rosenkreuzer ist es klar, daß nichts von alledem, was in diesem
Weltenzyklus geschehen ist, verlorengehen kann und in die Nacht des
Vergessens untersinkt. Gewisse feine Essenzen des Äthers nehmen den
Abdruck alles Geschehens in sich auf, so wie das menschliche Gedächtnis
die Erlebnisse des Einzelnen, der Gemeinschaft und der ganzen
Menschheit bewahrt. In dieser Akashachronik ist allerdings alles in Bildern
und nicht in toten Buchstaben niedergelegt, die der Eingeweihte suchen
und schauen lernt. Die Bilder der Akashachronik sind so lebhaft und
wirklich, daß sie bis in die astrale Welt hinunterstrahlen, obschon diesen
Abstrahlungen oft nicht mehr als der Wert einer Fata morgana zukommt, so
daß hier die Möglichkeit zu zahlreichen Irrtümern gegeben ist, die am
greifbarsten im Gebiete der spiritistischen Praxis zutage treten. Da handelt
es sich nur in seltenen Fällen um Berührungen mit dem Akasha, zumeist
aber mit den Akashaspiegelungen der astralen Welt. Nicht die Toten selbst,
sagt Steiner, ihre Akashabilder erscheinen den Medien, und man muß wohl
unterscheiden lernen, was als Akashabild eines Menschen zurückbleibt und
was sich aus ihm als Individualität im Devachan weiterentwickelt. Dem
Kamaloka (ich halte den Ausdruck Zwischenreich für besser und
inhaltsvoller) entstiegen, tritt der Mensch in eine höhere Welt, ins
Devachan, und erlebt hier alle Dinge, auch den eigenen Erdenleib im
Urbilde, über den er hinwegschreitet, so wie ein Wanderer über Berge und
Täler geht. In diesem Leibe, zu dem er im Zwischenreich sprechen durfte
»Das bin ich«, sagt er in Devachan mit vollem Bewußtsein: »Das bist du!«,
und im Devachan arbeitet der »Abgeschiedene erkenntnisvoll am nächsten
Erdenleib«, aber das ist keineswegs seine einzige Tätigkeit in der
devachanischen Welt. Das Antlitz der Erde verändert sich ohne Unterlaß,
und die Toten sind es, die ihr das Gesicht geben. Die geistige Welt des
Devachans ist überall, um uns, an uns, in uns. Ihr Körper, aus dem Licht
geschaffen, das uns umgibt, ist für den Hellseher zu schauen, als
»Abgeschiedene«, die am Äußeren der Erde und ihrem Reiche arbeiten.
Gesättigt mit den Erfahrungen und den Früchten seiner Arbeit im
Devachan, steigt der Tote, wenn seine karmische Stunde gekommen und
für ihn im Devachan nichts mehr zu tun ist, zur astralischen Welt, der
elementarischen Welt auf, um bei der Sprache der Rosenkreuzer zu
bleiben. Dort gliedert er dem mitgebrachten Keimleib einen neuen Astralleib
ein, der sich, magisch angezogen, um den Ichkern sammelt. Wie nach
unten geöffnete Glockenformen schießen diese Wesen, die daran sind, sich
wieder zu verkörpern, mit außerordentlich großer Schnelligkeit durch den

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 164


Astralplan. Sind Ich und der neue Astralleib beisammen, so bleibt übrig,
sich einen neuen Ätherleib und einen neuen physischen Körper zu bilden,
aber das hängt keineswegs mehr vom Abgeschiedenen, sondern von dem
Elternpaar ab, das er sucht und endlich findet. Die Volksgeister helfen ihm,
und im Augenblicke, da er in seinen neuen Ätherleib hineingeschlüpft, ohne
schon den physischen Leib zu sehen, hat er, ein unergründliches
Geheimnis, das Bild des kommenden Lebens vor sich, ein Tableau seines
neuen Daseins! Alle diese wundersamen Berichte erscheinen freilich bloß
als erfüllt mit dem Einzelschicksal, so daß die Frage auftaucht, wie es um
das Miteinandersein der Menschen in den übersinnlichen Welten stehen
mag. In Wahrheit sind alle diese Verbindungen, die hier geknüpft waren,
drüben noch weit inniger, im guten wie im bösen Sinne. Hier finden sich,
wenn auch oft nach langer und banger Wartezeit (ein übrigens ungenauer
Ausdruck für zeitlose Sphären) Mutter und Kind, Freunde,
Zusammengehörige durch das Band irdischer Liebe als seelisch Suchende
wieder, und auch neue Freundschaften bilden sich, die für das kommende
Leben wichtig werden. Viele glauben, daß, wenn man ihnen schon zumute,
diesen phantastischen Schilderungen widerspruchsloses Verständnis
entgegenzubringen, die Zustände in Devachan doch recht dämmerhafte
und unausgeprägte sein dürften. Sie irren, auch in diesem Punkte,
fundamental. In Wahrheit liegen die Dinge so, daß kein Mensch im
Devachan unter jenen Bewußtseinszustand sinken kann, den er während
seines letzten Erdenlebens erreicht hat. Nur bei gewissen Übergängen mag
vorübergehend eine solche Trübung eintreten: in Wahrheit erfaßt der
»Tote« alles, was bei uns auf Erden vorgeht, erfaßt es aber in einem
höheren Sinne. Die Zeit des Daseins im Devachan ist überhaupt eine
unendlich beseligende, von allen Schrecken der Physis befreite, die ein
Sichausleben des »Toten« in verschwenderischem Ausmaße gestattet.
Allerdings gibt es beim Abstieg zu neuem Leben eine Reihe von
Geheimnissen, über die Steiner seit seinem Zyklus über die
Rosenkreuzerphilosophie (1907) nur andeutungsweise gesprochen hat. In
diesem Zyklus selbst berührt er das Wesen der Sache immerhin
aufschlußreich genug.

XIV. Wiedergeburt
Das Leben im Jenseits, Devachan genannt, das leibfreie Dasein im
Reiche der gestaltenden, formenden und sinnenden Kräfte, verleiht ein
Gefühl der Beseligung, das im irdischen Bereiche kaum einen Vergleich
hat. Allerdings gibt es nun im Augenblicke, da die Stunde des neuen
Abstieges zur Erde geschlagen hat, große und geheimnisvolle Probleme zu
lösen. Durch den neuen Ätherleib, verliehen vom Volksgeist, zieht den
Wiederkommenden sein »Schicksal« in die Volks- und
Familiengemeinschaft, durch den Astralleib aber fühlt er sich zu Wesen
hingezogen, die seiner Art nahestehen, in erster Reihe zur künftigen Mutter,
mit der ihn Essenz, Substanz und Gliederung des Astralleibes verbinden;

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 165


das Ich hingegen gravitiert zum Vater, dem Schöße des Gottvaters vor
undenklichen Zeiten entstiegen. Durch alle die vielen Inkarnationen ist
dieses Ich, als Wesenskern ewig, geblieben. Zieht der Ätherleib zu Volk
und Gemeinschaft, so strebt der Astralleib zur Mutter, das Ich zum Vater,
und da entstehen, auf dem Wege zur Erde, oft schwere Konflikte, die darin
Ausdruck finden, daß das richtige Elternpaar gefunden werden muß. Es
gibt Kämpfe subtilster Art, aber doch notwendig, um das zu begründen, was
als Individualität in die Erscheinung treten soll. Oft dauert dieser Kampf bis
in die dritte Woche der irdischen Empfängnis fort. Vom Momente der
Empfängnis an ist der Mensch, aus Ätherleib, Astralleib und Ich bestehend,
der Mutter nahe, die den befruchteten Menschenkeim in sich trägt, doch
wirkt er noch immer von außen. Der physische Leib entwickelt sich
gleichsam ohne Einwirkung des Äther- und Astralleibes. Von der dritten
Woche der Empfängnis an ändert sich das: Astral- und Ätherleib fangen
den Menschenkeim ab und beginnen auch am neuen Menschen
mitzuarbeiten, den Keim zu entwickeln und auszugestalten. Hier liegt, was
die Individualpsychologie rein äußerlich ahnt und zu einer sehr
problematischen »Wissenschaft« mißbraucht: das Geheimnis, wie ein
Individuum entsteht und aus welchen Komponenten sich eine Individualität
zusammensetzt. Natürlich gilt diese Schilderung nur für den Durchschnitt
der Erdenbürger, und das Bild der Wiedergeburt gestaltet sich bei
hochentwickelten Geistern wesentlich anders. Sind in der
vorhergegangenen Inkarnation gewisse Grundlagen zu geistiger
Entwicklung geschaffen, so wird der Zeitpunkt, wo der Mensch beginnt,
seinen physischen Leib zu bearbeiten, davon bestimmt: je höher die
erreichte Stufe, desto früher dieser Augenblick! Oft geschieht das
»Abfangen« des Menschenkeimes durch das Ich schon im Augenblick der
Empfängnis; aus solchen Zusammenhängen kommen die geistigen Führer
der Menschheit. Ist nun aber das Wunder der neuen Geburt bewirkt, so
sind die Stoffe, die den physischen Leib zusammensetzen, fortschreitenden
Veränderungen in einem Zeitraum von ungefähr sieben Jahren
unterworfen. Jedes Atom erneuert sich innerhalb dieser Zeitspanne. Der
Stoff wechselt, die Form bleibt. Alles, was zwischen Geburt und Tod auf
Erden an höherer Entwicklung gewonnen wird, bleibt »drüben« erhalten
und wirkt am neuen Organismus mit. Der Eingeweihte arbeitet zwischen
Tod und neuer Geburt bewußt an seinem physischen Körper. Die Geburt ist
für ihn daher nur eine Art radikales Ereignis; nur einmal, aber da gründlich,
tauscht er die Stoffe aus. Daher die große Ähnlichkeit unter den
Individualitäten von einer Einkörperung zur anderen; je höher die
Entwicklung, desto ähnlicher wird die nächste Verkörperung. Der Meister
wird sozusagen im selben Körper geboren, der ihn durch die Jahrhunderte
und Jahrtausende begleitet. Für gewisse Eingeweihte höchsten Grades gibt
es überhaupt keinen physischen Tod; sie haben, als besondere Sendung,
den Übergang einer Rasse zu einer anderen zu bewerkstelligen. Was nun
die Zeiträume anlangt, innerhalb deren sich die Reinkarnation vollzieht, so

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 166


hat man ungefähr 1000 bis 1300 Jahre als solchen Zeitraum erhoben. Die
Welt soll im Zeitpunkt der neuer Geburt ein ganz anderes Gesicht tragen.
Diese Zeitbestimmung hängt übrigens damit zusammen, daß, wie hier
schon ausgeführt wurde, die Sonne ungefähr alle 2600 Jahre in ein neues
Sternbild tritt und die Zusammenfassung des Durchgangs durch alle zwölf
Tierkreisbilder ein Weltenjahr ergibt. Von der Zuteilung der alten Kulturen
zu den Tierkreiszeichen war schon die Rede. Die Zeit für die
Wiederverkörperungen stand im Einklang mit jenen Tierkreisepochen, und
da in der Regel in diese Zeit zwei Verkörperungen fallen, eine männliche
und eine weibliche, ergeben sich ungefähr 1300 Jahre. Nicht immer tritt
diese Zweiteilung ein, denn es kommt auch vor, daß drei bis fünf
Inkarnationen im selben Geschlecht verlaufen. Diese Verhältnisse führen
übrigens zu einem anderen Angelpunkt der rosenkreuzerischen Lehre: zur
Betrachtung des menschlichen Karma. Es gibt im höheren Sinne auch ein
gemeinschaftliches Karma, herbeigeführt durch die Inkarnation innerhalb
einer Rassen- und Nationalgemeinschaft. Unter Karma versteht man das
Schicksalsgesetz des Menschen; es ist ein kosmisches Gesetz und seine
Geltung im menschlichen Leben ein Spezialfall, beruhend auf Ursache und
Wirkung. Was der Mensch hienieden denkt, fühlt und litt, übt seine
bestimmten Wirkungen in der Außenwelt. Lügen, gemeine Unwahrheiten,
falsche und böse Gedankenformen sind im Zwischenreich, wie im
Astralleib, Explosionen gleich, von zerstörender Wirkung. Gleich einem
Morde, verübt auf dem physischen Plan, hemmen, unterbinden und töten
sie einen Teil der Entwicklung; die Lüge ist zu gleicher Zeit auch eine Art
Selbstmord, weil sie den eigenen Organismus störend beeinflußt. Die vier
Gebiete der devachanischen Welt (Kontinente, Ozeane, Luftkreise und
Region der Urbilder) werden ohne Unterlaß von den Gedanken, Gefühlen
und Willensimpulsen der Menschen durchzogen; Taten, hier unten gesetzt,
wirken sogar bis in das Gebiet der Akashachronik, bis in die Vernunft weit,
und nach den Eindrücken, die alle diese Dinge in der geistigen Welt
hinterlassen, formt sich der neue Äther- und der neue Astralleib. Auch
gesunde und kranke Anlagen kommen durch diese Wirkungen zustande.
Gestalt, Ausdruck und Widerstandskraft des Körpers hängen von ihnen ab.

XV. Der Rosenkreuzerweg


Wer in einem Erdenleben schlechte Neigungen und starke niedere
Leidenschaften hochkommen läßt, der empfängt für sein nächstes Dasein
einen ungesunden und unschönen physischen Körper; je radikaler der
Kampf mit den niederen Neigungen und Trieben, desto gesünder und
wohlgestalteter der nächste Erdenleib. Geizhälse, die mit gierigen,
egoistischen Fingern Reichtümer zusammenscharrten, neigen im nächsten
Leben zu ansteckenden Krankheiten. Wer viel Leid, Kummer und Schmerz
mit heldenhaftem Mute ertrug, der kommt als schöner, wohlgestalteter
Mensch in sein nächstes Dasein. Durch Krankheit der Muschel entsteht die
Perle. (Fabre d'Olivet spricht diesen Gedanken aus). Das gilt auch für das

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 167


Leben des Menschen. Was im Astralleib lebt, erscheint wieder im nächsten
Ätherleib, was im Ätherleibe an Trieben und Leidenschaften wurzelt, tritt im
Körper als Disposition (Grundstimmung, Grundverhalten) auf, was am
physischen Leibe geschah, wird im nächsten Dasein äußeres Schicksal.
Was im Astralleib geschah, wird Schicksal des Ätherleibes, der Ätherleib
Schicksal des nächsten Körpers, der Körper die nächste physische
Wirklichkeit. Träger des Schicksals werden die Knochen und Gliedmaßen:
sie tragen den Erdgeborenen dorthin, wo sich sein Schicksal erfüllen muß,
und das Schicksal erfüllt sich in neuer Gemeinschaft mit jenen, die im
früheren Erdendasein mit dem Erdgeborenen verknüpft waren. So wird die
Akashachronik zur Kraftquelle für alles, was zwischen einem Menschen
und den anderen als karmische Schuld schwebt. Jeder Mensch schreibt
seine Taten und Gesinnungen in den Erinnerungsäther; die Kunst des
Lebens besteht darin, immer freier und freier zu werden von den Dämonen,
die sich der Mensch durch sein Tun und Sinnen zuzog. Der Astralleib ist
ohne Unterlaß von solchen Dämonen durchzogen; es gibt, in Wahrheit,
gute und böse Geister, Spektren, Gespenster und Phantome, die dem
Menschen Verhängnis werden können; sie würden nicht existieren, wenn
ihnen der Mensch nicht selbst die Lebensmaterie und Seinssubstanz aus
dem eigenen Begierdenstoffe lieferte: die Heilung Besessener, die
Austreibung von Dämonen sind vollkommen reale Wirklichkeiten. So ist
Mephisto, der »Geist aller Hindernisse«, geschaffen und zur Wirksamkeit
berufen durch den Lügengeist im Menschen. Was wir als Bazillen»,
Mikroben und Krankheitserreger kennen, sind verkörperte Dämonen der
Lüge. Alles niedere Ungeziefer und Getier dient dem Geist der Lüge und
der Hindernisse. Materialistisches Denken erzeugt im nächsten Leben
einen nervenkranken Körper, Wissen um Höheres, Glaube an das Göttliche
einen ruhigen, vom Zentrum aus beherrschten Leib. Unser ganzes
nervöses Zeitalter ist durch die vorangegangenen materialistisch
eingestellten Vorfahren zu erklären. Dem Materialismus, als dem wahren
Lügengeiste der Wissenschaft, ging der Materialismus der Religion voraus,
der nach und nach das ganze religiöse Leben durchseuchte und die
wunderliche Tatsache gezeitigt hat, daß die großen Wissenschaftler des
Jesuitenordens Weg- und Schrittmacher der materialistischen Wissenschaft
sind, die Schulter an Schulter gegen den »Aberglauben« kämpfen. Im
Rosenkreuzertum blieb die große Synthese zwischen Religion,
Wissenschaft und Philosophie im reinsten und idealsten Sinne erhalten. Die
rosenkreuzerische Philosophie ist ein gigantisches System, das, die Welt-
und Menschenentwicklung im spirituellen Sinne in sich bergend,
Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft umfaßt. Aus ihm heraus entstand
die köstliche Frucht der rosenkreuzerischen Einweihung, gegeben durch
den Begründer der rosenkreuzerischen Geistbewegung, ein Weg, der
zwischen der christlichen Einweihung und der Yogaschulung liegt und
heute einzig und allein der modernen Bewußtseinslage entspricht. Schon
lange, vor dem Ereignis auf Golgatha vorbereitet, wurzelt dieser Weg in der

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 168


esoterischen Schule des Paulus von Athen und darf als seinen Ahnherrn
Dionysios den Areopagiten ansehen. So trivial das klingen mag: die
rosenkreuzerische Einweihung von heute ist der einzige gangbare Weg
ohne Berufsstörung. Er führt den Novizen nicht aus dem Leben fort, er
macht keinen Sonderling und Frömmler, keinen Eremiten und wunderlichen
Heiligen aus ihm, sondern einen hohen Menschen, der um die
Geheimnisse weiß und mit seinen erworbenen und erlebten Einsichten an
der Menschheitsentwicklung im Sinne des großen göttlichen
Entwicklungsplanes arbeitet. Grundlagen der christlichen Einweihung sind
das Johannesevangelium und die Offenbarung Johannis. Die christliche
Einweihung erlebt das Leiden Christi und feiert dessen Auferstehung in den
geistigen Reichen. Die rosenkreuzerische Initiation umfaßt sieben Stufen:
das Studium höherer Einsichten, die Erwerbung der imaginativen
Erkenntnis, die Ausbildung der inspirativen Erkenntnis (Lesen der okkulten
Schrift), Bereitung des Steines der Weisen, Erlebnis der Entsprechungen
zwischen Mikro- und Makrokosmos, die Entwicklung der intuitiven
Erkenntnis und die Erlangung dessen, was die christliche Ausdrucksweise
Gottseligkeit nennt. Steiners »Wie erlangt man Erkenntnis der höheren
Welten« bleibt das klassische Buch der rosenkreuzerisch gralhaften
Menschenentwicklung, das Standardwerk für alle Erdenzeiten, enthaltend
die Institutionen esoterischer Einweihung, empfangen aus dem Geiste und
den Notwendigkeiten unserer Zeit. Wie man auch äußerlich feststellen
kann, führt diese Stufenskala der Einweihung nach rosenkreuzerisch
gralhaften Erfahrungssätzen, auf der mittleren Stufe einen seltsam
klingenden Titel: »Bereitung des Steines der Weisen«, Arbeit am Stein, wie
es die rosenkreuzerische und ältere freimaurerische Terminologie nennt.
So steht das alchimistische Geheimnis im Mittelpunkt (als vierte der sieben
Stufen) der rosenkreuzerischen Einweihung und bildet den Kern des
Rosenkreuzertums auch in seiner heutigen Gestalt, der Steinerschen
Geisteswissenschaft. Vom Stein der Weisen wird also im nachfolgenden
Kapitel die Rede sein, doch soll zunächst in einem Schlußabsatz etwas
über das Äußerliche, Geschichtliche, des Rosenkreuzertums gesagt
werden.

XVI. Allerhand Rosenkreuzer


In der Geschichte der Rosenkreuzer spielt Theophrastus Bombastus
Paracelsus eine gewisse Rolle. Geboren 1493, also ein Jahr nach der
»Entdeckung« Amerikas, war er schon dadurch gleichsam der erste Geist
der neuen Zeit. Vater der Chirurgie und Luther der Medizin genannt, hat
Paracelsus, ein unerhörtes und noch zu wenig gewürdigtes Genie,
ungeordnet in seinem Leben und doch von wundervoller Ruhe und
Gelassenheit, wie sie nur der Besitz der Geheimnisse zu geben vermag,
große Reisen gemacht; ein Revolutionär, der mit unerhörter Innigkeit der
Jungfrau Maria eine tiefgehende Schrift zu Füßen legte, stand er im
schroffen Gegensatz zu der offiziellen Medizin seiner Zeit, schob die

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 169


lateinische Sprache mit nonchalanter Geste beiseite und lehrte in deutscher
Sprache, die er trotz ihrer großen, knorrigen Verwahrlosung als ein starkes
und mächtiges Instrument zu handhaben verstand. Musterhaft und
beispielgebend hat Franz Spunda alle Seiten dieses großen Geistes, der
zugleich ein Mann von unbeugsamem Charakter und
bewunderungswürdiger Gesinnung war, als Wissender beleuchtet. Es ist
keineswegs nachweisbar, daß Paracelsus ein aktiver und militanter
Rosenkreuzer gewesen ist. Daß er vollkommen auf dem Boden ihrer
Lehren steht, daß die Ideen des Paracelsus später in das Rosenkreuzertum
vor und nach 1610 mit eingeflossen sind, bedarf keines Beweises; ihn
einen Organisator dieses Ordens zu nennen, wie es Wittemans tut, ist
jedenfalls riskant, wenn man bedenkt, daß die in Paris unter dem Namen
»Sodalitium Agrippae« 1507 gegründete Gesellschaft ganz gewiß keine
rosenkreuzerische Gründung war. Weit eher darf man die Zugehörigkeit
Agrippas von Nettesheim, der sechs Jahre vor Paracelsus zur Welt kam
und gleich Paracelsus in verhältnismäßig kräftigstem Mannesalter starb, zu
den Rosenkreuzern annehmen, obschon seine Anweisungen und Rezepte
zur schwarzen Magie nichts weniger als rosenkreuzerisch anmuten.
Trotzdem ist auch Agrippa, gleich Paracelsus ein Schüler des Trithemius
von Sponheim, ein prachtvoller Kerl von ansehnlicher Größe; sein stolzes
und kühnes Wort: »nehmt den Schleier von Eueren Augen, stoßet den
Becher des Todes von Euch und ermahnet die Welt zum wahren Licht in
der Reinheit des Geistes und Herzens« macht ihm alle Ehre. Man darf
überhaupt nicht mit der Laterne nach echten Rosenkreuzern, das heißt
wirklichen Brüdern der hochedlen Bruderschaft vom Rosenkreuze suchen.
War einer ein echter Rosenkreuzer, so ließ er nichts davon laut werden,
und ein sicheres Kennzeichen für Nichtzugehörigkeit zum Orden war
sicherlich der zumindest verdächtige Selbsthinweis, man sei ein
Rosenkreuzer, wie das ja von manchem »Schwärmer und Schwindler« des
öfteren geschehen sein mag. Mit demselben Rechte kann man allerdings
schon bei Albertus Magnus, dem Franz Strunz als dem »herrlichen
Menschen des Mittelalters« ein sehr schönes Denkmal gesetzt hat,
mächtige Züge rosenkreuzerischer Art nachsagen, die auch bei Thritemius,
dem Erfinder der Steganographia, reichlich vorhanden sind. Wie sich im
nächsten Kapitel vom Stein der Weisen zeigt, sind so ziemlich alle großen
Alchimisten Rosenkreuzer genannt worden, denn mit Recht bildet, wie
schon angedeutet worden ist, die Alchimie, richtiger die Arbeit am Stein,
den zentralen Komplex der rosenkreuzerischen Philosophie. Barnaud, ein
französischer Alchimist des sechzehnten Jahrhunderts, soll zwar 1559 auch
in Deutschland Reisen unternommen haben, um die verstreuten
alchimistischen Rosenkreuzer zu sammeln, aber schon die Vereinigung der
magischen Brüder, wie sie aus dem Jahre 1570 gemeldet wird, trug den
verwirrenden Zusatz »Gold- und Rosenkreuzer«, die, später wirklich
auftauchend, weit mehr freimaurerischen als rosenkreuzerischen Charakter
annahmen. Sichere rosenkreuzerische Zusammenhänge lassen sich bei

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 170


dem christlichen Kabbalisten Heinrich Khunrath nachweisen, der aber
schon dem sechzehnten Jahrhundert angehört. Zur rosenkreuzerischen
Welt sind ohne Zweifel Robertus de Fluctibus (Robert Fludd) und Bacon zu
zählen, dessen Mitanteil am Shakesspearegeheimnis heute wohl schon als
gesichert angenommen werden darf. Das Rosenkreuzertum ist seit dem 17.
Jahrhundert in der ganzen Welt aufgetaucht und hat überall seine
Verfinsterungen erfahren; auch die Theosophen scheuten sich nicht,
rosenkreuzerische Impulse vor ihren Triumphwagen zu spannen. Eine
Karikatur des Rosenkreuzertums ließ nicht lange auf sich warten; der
Impuls des Amerikanertums bemächtigte sich bald der erhabenen Lehren
der Rosenkreuzer, die der Deutsche Max Heindel, ein Eklektiker von
ziemlich harmloser Natur, zu billigem Gebrauch, auch als Frage- und
Antwortspiel, zusammengestellt hat. Alle diese Episoden verschwinden im
Lichte und Glänze der Steinerschen Umwälzung des menschlichen
Wissens durch Erneuerung der rosenkreuzerischen Impulse im
Michaelsgeist, im Zeichen des johanneischen Christentums und des Grals.
Eine merkwürdige Spielart entstand in den Neunzigerjahren des vorigen
Jahrhunderts in Frankreich unter der Führung des ebenso genialen wie
wunderlichen Sar Peladan, der neben den bisher, in ein unmögliches
Deutsch, übertragenen Romanen stark erotischen Charakters ein ganz
interessantes Lehrbüchlein, wie man Magier wird, hinterließ.
Rosenkreuzerisch wird Eliphas Lévi ebenso genannt wie Stanislas de
Guaita, der einen kabbalistischen Orden der Rosenkreuzer um 1888 in
Frankreich begründete. Mit Bulver Lytton hat es eine eigene Bewandtnis:
sein »Zanoni«, seine »seltsame Geschichte«, die dem Märtyrer Mesmer
Gerechtigkeit widerfahren läßt, und sein »Geschlecht der Zukunft« verraten
ohne Zweifel ein starkes Wissen um das Rosenkreuzertum und seine
historischen Wurzeln, sowie um den Kern ihrer Lehre. Als pikantes Detail
mag noch erwähnt werden, daß Van Helmont (wie Leibniz) vergebliche
Mühe aufwendete, dem Orden der Rosenkreuzer anzugehören; sie fanden
verschlossene Türen. Man kann daraus wohl einen Schluß ziehen, was
davon zu halten ist, wenn weit geringere Geister als diese beiden, sich für
Rosenkreuzer ausgeben!

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 171


 

Sechstes Kapitel
Der Stein der Weisen

I. Mißverständnisse und Tragödien


Die Suche nach dem Stein der Weisen und die Arbeit am Stein bind das
Zentralgeheimnis aller Geheimnisse. Sie umfassen die gesamte Tatsache
des Lebens, die Welt der Erscheinungen wie die der ewigen Wirklichkeit,
sie stellen die Wissenschaft aller Wissenschaften, die Philosophie aller
Philosophien dar, sie sind der Gegenstand aller Gegenstände, die
Kategorie aller Kategorien, und ihr allein dient die erhabene Kunst der
Alchimie, die jahrhundertelang den Geist aller außerordentlichen und
»wahren Philosophen« beschäftigt hat. Als Kernpunkt der
rosenkreuzerischen und der christlichen Einweihung bildet die Arbeit am
Stein der Weisen den vierten, zentralen Grad der okkulten Entwicklung, der
alle Vorbedingungen für die drei nächsten höheren Grade in sich birgt.
Schon in diesen ersten Feststellungen liegt aber der Grund dafür, warum
gerade die Alchimie von den Abkömmlingen und Nachzüglern der
»Aufklärungsepoche« und von allen Teilnehmern an der Walpurgisnacht
des Materialismus und reinen Verstandeswesens übereinstimmend für den
größten Unsinn erklärt, der Stein der Weisen selbst aber für einen plumpen
Schwindel abgefeimter Schwärmer gehalten wird. Leute wie Kopp,
Schmieder und in neuerer Zeit Lippmann, die ihr Karma dazu trieb, mit
halbem Herzen an der Sache hängend (gleich Kiesewetter, dem fleißigen
Historiker des Okkultismus), der erhabenen Idee der Alchimie auf ihre
Weise (als Kärrner und Materialsammler) zu dienen, selbst diese Forscher
wagen, vor sich hinstammelnd, es handle sich hier um einen der
»merkwürdigsten Irrtümer der gesamten menschlichen Kulturentwicklung«
keineswegs, das Geheimnisvolle, Anziehende und Spannende der
metachemischen Erfahrungswissenschaft in Abrede zu stellen; sie bleiben
nur, um sich nicht selbst zu verlieren, fest dabei, daß dieser Wahn, einer
der »phantastischesten« überhaupt, »niemals, im Verlaufe von zwanzig
Jahrhunderten« auch nur zu dem »geringsten, nachweisbaren Ergebnis«
geführt hat, womit sie allerdings feierlich eine Lüge aussprechen, die
jederzeit durch verläßliche geschichtliche Dokumente entkräftet werden
kann. Nur wer im Punkte Alchimie so absolut ahnungslos ist, wie Lippmann,
kann nach altem deutschen Brauch ein so dickes zweibändiges Buch
darüber schreiben, das von falschen Deutungen und unwissenschaftlichen
Deduktionen geradezu strotzt. Da aber die Wissenschaft so wenig und vor
allem so wenig Richtiges über Alchimie weiß, braucht der Laie und
Durchschnittsgebildete durchaus nicht betrübt darüber zu sein, wenn seine
Vorstellungen von Alchimie noch um einige Grade primitiver sind und wenn
ihn mit jener Wissenschaft nur die Dreistigkeit verbindet, die zum Unwissen
noch den Spott gesellt und aus einer ganzen Reihe der erhabensten
Geister Idioten macht, die sich nicht scheuten, ihre bedauerliche »Torheit«
öffentlich vorzutragen und für das Geheimnis, das sie im Herzen trugen,

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 172


unter Qualen zu sterben. In der Tat weiß der Durchschnittsmensch von
heute über Alchimie nicht mehr, als daß sie ein Verfahren darstelle, aus
niederen Metallen, wie Kupfer, Blei oder Zink, Gold zu machen. Dem
gewöhnlichen Gehirn genügt in der Regel die Annahme, die Alchimisten
hätten ein geheimnisvolles rotes Pulver besessen, zu dem sie auf
verschiedene Art und Weise kamen, das sie aber selbst und aus Eigenem
niemals hätten darstellen können. Allerdings sind die Wissenschaft, ebenso
wie der Laie, der diese anbetet, ein wenig stutzig geworden, seit die
modernen Strahlen- und Atomspezialisten gewisse Erfolge in der
Zertrümmerung der Atome erreicht haben, die beweisen, daß es mit der
Unzerlegbarkeit der Elemente schlecht steht, und seit das Rätsel des
Radiums und Heliums den Lehrstühlen arge Verlegenheiten bereitet. In der
Tat wird denn auch heute zugegeben, die Überführung von Metallen in
Gold und Silber sei praktisch wohl durchaus möglich, aber die Kosten eines
solchen Verfahrens wären so hohe und das Quantum des erzielbaren
Edelmetalls sei so gering, daß es sich absolut nicht »lohnen würde«, Gold
auf künstliche Weise herzustellen. Treibt man diese klugen
Nützlichkeitsschwätzer aber durch die Feststellung in Verlegenheit, daß es
sich gar nicht darum handle, sondern daß die alten Alchimisten ganze
Stangen Goldes mit zwei oder drei Körnchen der Tinktur, auf
geschmolzenes Blei oder Kupfer geworfen, zuwege brachten, so lächeln
jene Klugschwätzer sehr verbindlich, lassen aber doch merken, daß man
eben »naiv« genug sein müsse, solchen Erzählungen zu glauben.
Anderseits sind die zahllosen Schriften der Alchimisten so dunkel und
absichtlich irreführend, daß die meisten, von einem Strohfeuer des
Interesses gepackt, bald davon ablassen und sich lieber vernünftigeren
Dingen zuwenden. Am ehesten sind noch Dichter für glimpflichere
Behandlung der Alchimie zu haben, sofern sie sich dazu herablassen, die
Geschichte der Alchimie bei Lenglet oder, meinetwegen, auch bei
Schmieder zu studieren, bei dieser Gelegenheit aber zu der
überraschenden Erkenntnis kommen, daß die Geschichte einzelner
Alchimisten an erschütternder Tragik überaus reich ist und daß nur ganz
wenige Adepten der Kunst, denen die Arbeit am Stein gelang, ihr Leben auf
angenehme und natürliche Weise beschlossen, indes die meisten, die, in
Verbindung mit bösen Kräften, zu Teilerfolgen auf dem Gebiete der
»Goldmacherkunst« gelangten, in katastrophaler Weise zugrunde gingen.
Fiel doch Lenglet, der die Geschichte der Alchimie oft wegwerfend und
ironisch behandelte und sich an spöttischen Bemerkungen über die
Rosenkreuzer nicht genug tun konnte, eines Tages, am Kamin seines
Studierzimmers eingeschlafen, in das Feuer des Ofens und verbrannte
jämmerlich ...!

II. Die tabula smaragdina


Alchimie, oder die geheime Kunst der Verwandlung, gekrönt durch den
Stein der Weisen, deutet schon durch ihren Namen auf Zusammenhänge

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 173


mit ägyptischer Herkunft, womit natürlich gar nichts über ihr Alter und den
Zeitpunkt ihrer Entstehung überhaupt gesagt wird. Es gibt Leute, die mit
einiger Berechtigung darauf hinweisen, daß die Erschaffung der Welt durch
den Demiurgos, geschildert im Mosaischen Schöpfungsbericht, einen
grandiosen alchimistischen Prozeß darstellt, den der Adept im kleinen
wiederholt, sich die Rolle eines Schöpfers anmaßend. Wie dem immer sei,
zu einer zureichenden Einsicht in das Wesen der Alchimie kann nur
gelangen, wer seine Vorurteile und sein Vorwissen, schon in der Schule
gesammelt, ablegt, um sich für ein Ding von solcher Erhabenheit frei und
empfänglich zu machen. Daß die Silbe AI in Alchimie den arabischen
Artikel bedeutet, indes Chemie (chemet) die ursprüngliche Benennung des
alten Ägypten war, als eines Landes der »schwarzen Erde«, daß Hermes,
der Initiator der altägyptischen Kultur, mit seiner Tabula smaragdina, der
Urkunde der Alchimie, zugleich den Stammvater der hohen und
geheimnisvollen Verwandlungskunst darstellt, läßt sich selbst dem
befangenen Intellekt ohne Schwierigkeiten begreif lieh machen; gewohnt,
ethymologischen Spielen ein geeignetes Ohr zu schenken, findet auch der
skeptischeste Beobachter okkulter Zusammenhänge ohne Mühe wohl
merkwürdig, aber doch durchaus glaubhaft, daß Noahs Sohn Cham hieß,
welcher Name im Worte Alchimie genügend Platz hat, schon da er dem
ägyptischen Ausdruck für Erde sicherlich verwandt ist. Das Zeitalter der
Tabula smaragdina läßt sich nicht bestimmen. Nach Zosimos schrieb
Hermes die durch Dämonen übermittelten Grundsätze der Alchimie als
Erster nieder, und zwar in einem umfangreichen Werke, das auch andere
Handfertigkeiten und Kunstgriffe behandelte; Hermes schrieb auf Tafeln,
die verlorengingen oder absichtlich verborgen wurden, bis sie der
ägyptische König Nechepso wieder fand, dem die Götter zugleich die Gabe
der Einsicht in den Sinn dieser geheimnisvollen Dokumente verliehen. Der
König selbst gilt als eine mythische Erscheinung der ptolemäischen
Frühzeit, das kommt aber gar nicht in Frage, denn über diesen Umstand
liegen keine weiteren Berichte vor. In der Tat sind später zwei Tafeln dieser
Art bekannt worden: die Tafel von Memphis und jene Tabula smaragdina,
von der hier die Rede ist. Die Tafel von Memphis, angeblich an einem
Felsen bei Memphis gefunden, soll in griechischer und koptischer Sprache
die folgende kurze Weisung enthalten haben: »Himmel oben, Himmel
unten, Sterne oben, Sterne unten; alles, was Oben ist, ist auch Unten.
Nimm es hin und es bringe dir Glück.« Näheres darüber ist nicht bekannt
geworden, jedenfalls liest sich der Text dieser Tafel gleichsam wie ein
fragmentarisches Konzept zu jener anderen Urkunde, der
»smaragdinischen Tafel«, die, nach der Sage, Alexander der Große im
Grabe des Hermes fand, die den Untertitel »de operatione solis« trug und
dem Abendlande gegen 1200 n. Chr. in lateinischen, übrigens nicht
durchwegs gleichlautenden Texten bekannt war. Sie hat einen
unverkennbar feierlichen Ton und hieratischen Offenbarungscharakter; es
existiert eine ganz kurze Fassung nach Doradaeus, die, frei übersetzt,

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 174


ungefähr so lautet: »Es ist wahr, sicher und das Wahrste überhaupt: das
Obere trägt die Natur in ihrem Innern und steigt von der Natur wieder nach
Oben; es gibt einen Weg, beides zu verbinden! Die rote Sonne ist in dieser
Verbindung der Vater, die weiße Luna (der Mond) die Mutter, das dritte, als
feuriger Herrscher, tritt hinzu. Das Dichte mach dünn und führe es ins
Dichte zurück! So hast du den Ruhm der Welt.« Eine schöne Version gibt
Graf Bernhard vom Jahre 1453: »Wahr ist, ohne Lüge und gewiß und von
allem das Wahrhaftigste: was unten ist, ist auch oben, was oben auch
unten, zu vollbringen die Wunder eines einigen (einzigen) Dinges, und
gleichwie alle Dinge von und aus dem Einem geschaffen sind durch den
Ratschluß, den Willen und das Gebot des Einigen: also entspringen und
kommen alle Dinge von diesem einzigen Dinge durch sonderbare
Zuneigung und Fügung (Dispositione). Die Sonne ist sein Vater, der Mond
seine Mutter, der Wind hat es an seinem Bauche getragen, seine
Ernährerin und Säugamme die Erde; es ist der Urheber aller
Vollkommenheit in der ganzen Welt. Wenn seine Kraft in Erde verwandelt
wird, ist sie vollkommen. Du mußt das Grobe (Erdige) vom Feinen
scheiden, das Feine vom Groben, ganz lieblich und durch eine große
Geschicklichkeit! Es steiget von der Erde in den Himmel und vom Himmel
wieder zur Erde und nimmt in sich auf die Kraft des Oberen, wie des
Unteren. Also hast du die Herrlichkeit der ganzen Welt in Händen und
derohalben werden Dunkles, Armut und Verachtung von dir ablassen, denn
dieses Eine ist aller Stärke stärkste Stärke: es überwindet alles Subtile und
durchdringet doch auch alle dichten und festen Körper. Also ward die Welt
erschaffen, und von ihm werden seltsame Wunder gewirket, deren dieses
ein Muster und Beispiel ist. Darum bin ich Hermes Trismegistos (der
dreimal Größte) genannt, weil ich habe die drei Teile der Weisheit der
ganzen Welt. Also hat sich erfüllet, was ich zu sagen hatte von dem Werk
und der Wirkung der Sonne (des Goldes).« Als das Interessanteste an
dieser geheimnisvollen Urkunde, die der Ausgangspunkt eines
»Jahrhunderte alten Wahnes« geworden ist, erschien etlichen Forschern
die Frage, ob es jemals einen Smaragd von solcher Größe gegeben hat,
der imstande gewesen wäre, einen verhältnismäßig so umfangreichen Text
zu fassen. Die Erklärung, es habe schon in alten Zeiten etwas wie ein
grünes Pflaster gegeben, beruhigte sie nur sehr unvollkommen ...

III. Erläuterungen des Textes


Der unbefangene Leser der smaragdischen Tafel kann, wenn er bloß
seinen natürlichen Verstand daran wendet, manches finden, was des
Nachdenkens wert ist. Zunächst erscheint als ganz klar, daß der Verfasser
des mystischen Textes eine Absicht damit verfolgte, Weisungen solcher Art
zu hinterlassen, und es ist wenig wahrscheinlich, daß sein Text für die
Öffentlichkeit bestimmt war; vermutlich sollte diese Unterweisung Adepten
dienen, die einer Mysterienschule angehörten und zu denen man im
übrigen durch bestimmte Symbole sprach, die in der Alchimie, wie später

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 175


zu zeigen sein wird, eine so große Rolle spielen. Die Feierlichkeit des
Textes gemahnt an die berühmte Stelle in Platons »Timaios«, wo, nach
scherzhaftem Geplänkel in pythagoräischer Art, mit einem Glockenschlage
gleichsam, der Vorhang vom Geheimnis der Atlantis gezogen wird. Zu einer
der beliebtesten Beschäftigungen der exakten Philologen gehört
bekanntlich das niedliche Spiel der Echtheitsriecherei, das der Erkenntnis
alter Tatbestände der Geistesgeschichte manchen Schaden zufügt. So
haben die platonischen Briefe lange daran glauben müssen, daß Platon sie
niemals geschrieben hat, wie ja überhaupt die Vermutung, alte Denker
hätten mit Vorliebe die Welt gefoppt, zu den Kennzeichen exakter
Philologie gehört. Nichtsdestoweniger ist die smaragdinische Tafel vor dem
Schicksal, für einen Aprilscherz oder einen antiken Grubenhund gehalten
zu werden, auf den die gescheitesten Köpfe des Mittelalters und der
Anfänge der Neuzeit glatt hereinfielen, bewahrt geblieben. Die hohen und
ernsten Schwingungen, die von der grünen Tafel ausgingen, scheinen
selbst ausgepichten Zynikern und Spöttern in die Augen gestochen zu
haben, denn auch Lippmann, der emsige Erforscher der Alchimie, die er
gleichwohl ausnahmslos für einen »Betrug« hielt, gibt zu, daß der
hermetische Text, »bei aller Absonderlichkeit«, nichts enthalte, was »mit
dem Geiste einer Zeit, die unbedenklich die bunten Elemente zu vereinigen
pflegte«, weder nach der Form noch nach dem Inhalte »unverträglich«
wäre. Die Formel: »es ist wahr, gewiß und über allen Zweifel erhaben« wird
mit solchem Nachdruck und solchem Ernst ausgesprochen, daß sich
diesem Ton wohl niemand entziehen kann. Auch scheint es, daß der Text
der smaragdinischen Tafel nicht etwa ein Fragment aus einer größeren
Abhandlung darstellt, sondern vielmehr, daß sie als ein Versuch zu werten
ist, das hermetische Geheimnis auf die kürzeste, prägnanteste und zugleich
deutlichste Formel zu bringen. Ohne Zweifel waren freilich gewichtige
Gründe vorhanden, die den Schreiber bewogen, von seinem
außerordentlichen Geheimnis nur in Andeutungen zu sprechen; das »eine
Ding«, dessen Wunder zu schauen sind, wenn man beachtet was Oben sei,
sei auch Unten und umgekehrt, beim Namen zu nennen, verbot er sich
selbst, oder es war, von den Göttern verboten, davon zu sprechen. Damit
ist schon ein wichtiger Gesichtspunkt für das Verständnis der Alchimie als
einer im edelsten Sinne magischen Kunst gewonnen. Das Arcanum des
einigen Dinges war für die profane Welt, am allerwenigsten aber für den
profanen vulgus geeignet, und der Grund dafür liegt auf der Hand: war es
möglich, durch gewissenhafte und wohlverstandene Ausführung des
hermetischen Generalrezeptes für die Bereitung des Steines der Weisen
den Ruhm der ganzen Welt zu erlangen, wandelte die Anwendung des
Geheimnisses alles Dunkel in Licht, alle Armut in Reichtum und Überfluß
und alle Verachtung in die grenzenloseste Hochachtung, so mußte die Jagd
nach dem Geheimnis unvermittelt beginnen. Verlieh der Besitz des
Arcanums die stärksten Kräfte unter den stärksten Kräften dieser Welt,
dann konnte, wer sie errang, seine Macht schrankenlos nützen und

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 176


mühelos eine Geißel der Menschheit werden. Man wird, und diesen
Einwand habe ich aus dem Munde ernster Menschen nicht selten gehört,
wohl darauf hinweisen, daß selbst der Besitz des einen Dinges keineswegs
hinreiche, den Stein der Weisen selbst zu finden, daß also das Geheimnis
in der Hand eines Unverständigen und Einsichtslosen wertlos wird. In der
Tat könne das Geheimnis scheinbar ohne Bedenken verraten werden, da
der alchimistische Prozeß selbst noch so viele Voraussetzungen,
Fußangeln und geheime Tücken enthalte, daß der glückliche Finder des
Schatzes nicht das geringste damit anzufangen wüßte. Dennoch: die
Gefahr ist eben von anderer Art! Behauptet die Sage, die davon spricht,
Hermes sei »durch Dämonen« in den Besitz des Geheimnisses gekommen,
so wird damit ohne Zweifel ein Gefahrenkoeffizient angedeutet, der die
Verantwortung der Verräter am Geheimnis ins Ungemessene steigert.
Niemand, der um die Gesetze der okkulten Welten Bescheid weiß, Wird
das Odium auf sich nehmen wollen, einen Mitmenschen Dämonen
ausgeliefert zu haben. Darum bleibt, bei geheim vollzogener Todesstrafe
und unter Androhung ewiger Verdammnis, dem Inhaber des Geheimnisses
nichts übrig, als reinen Mund zu halten. Keine Folter darf es ihm entreißen,
und der äußerste Grenzfall, den die alchimistische Justiz gelten läßt,
erscheint als gegeben, wenn der Meister, sobald er den Schüler für würdig
befand, dem Schüler das Geheimnis selbst in einsamer und feierlicher
Stunde ins Ohr flüsterte oder ihn auf andere Weise, durch Andeutungen
und Hinweis auf gewisse Symbole hinleitete. Wenn aber Gott wollte, gab er
es den Seinen im Schlafe!

IV. Voraussetzung und Dispens


Es scheint sich aber, schon beim bloßen Anblick der smaragdinischen
Tafel nicht nur um ein einziges Geheimnis, sondern um eine ganze Reihe
von Geheimnissen zu handeln, die von den Hermetikern hermetisch
verschlossen wurden, damit sie kein Unberufener in seinen Besitz bringe.
Neben dem »Einen«, das als prima materia des alchimistischen Prozesses
in Betracht kam, bestanden offensichtlich Geheimnisse des Prozesses
selbst und endlich solche, die mit der Anwendung des Steines der Weisen
verknüpft waren. Trügt der Buchstabe nicht, so ist schon die dreifache
Betonung der Wahrheit und Sicherheit dessen, was die smaragdinische
Tafel feierlich enthüllt, dreifach zu deuten: das erste »wahr« auf das
Prinzip, das »ohne Lüge« auf die Theorie und die neuerliche Bekräftigung
der Wahrheit auf die Anwendung. Geringere Schwierigkeiten macht die
Gegenüberstellung von Unten und Oben: von der sichtbaren Welt in Zeit
und Raum und den höheren Welten, die ohne Zeit und Raum sind. Indem
Hermes die absolute Gleichartigkeit dieser Welten in der Struktur und ihre
Unterstellung unter den obersten Willen hervorhebt, will er zeigen, daß die
Einzigkeit des ewigen Dinges, das Wunder wirkt, aus der Gleichartigkeit
und Gegenseitigkeit des Oben und des Unten entspringt, da sonst weder
die Einzigkeit jenes Dinges noch die Entfaltung seiner Wunderkraft möglich

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 177


wäre. Die Dinge, sagt Hermes, sind alle aus jenem einzigen Prinzip und
durch Vermittlung eines einzigen Agens entstanden und der gegenseitigen
Einwirkungen von Prinzip und Agens entsprossen. Ist dem Hermetiker der
Kern des Problems in Form einer Erleuchtung aufgegangen, so wird ihm
nun einiges über die Anwendung dieser Erkenntnis verraten. Unschwer
erkennt er, daß der Stein der Weisen unter Zuziehung dreier Substanzen
zustande kommt: die Sonne ist der Vater, der Mond die Mutter, der Wind
trägt es im Leibe, und von der Erde wird es genährt. An die Stelle der
Sonne setzt der erfahrene, auch in der Materie arbeitende Alchimist, das
Gold, an die Stelle des Mondes das Silber, in der Gebärmutter des
Quecksilbers vereinigt, das ihm zum Symbol der bewegten ätherischen
Atmosphäre (des Windes) wird, und alle drei Substanzen, entsprechend
vereinigt, tut er in seine jungfräuliche Erde. Der Leser weiß wohl, daß in
bezug auf Sonne und Mond in den verschiedenen Sprachen Gegensätze
herrschen. Im Deutschen sind die Sonne und der Mond ein Beweis für die
uralte, hermaphrodisische Gestalt alles Lebendigen, indes der Römer Sol
und Luna, der hermetischen Formel entsprechend, an die scheinbar richtige
Stelle setzt: als Vater und Mutter! Aus den beiden Substanzen Sonne und
Mond zieht der Alchimist in seiner jungfräulichen Erde das Kraftwesen, das
ihnen innewohnt; er sondert das Erdige vom Feuer, das Wässerige vom
Luftigen (das Dichte vom Feinen) langsam und mit größter Sorgfalt, denn
der Prozeß selbst erfordert eine bestimmte Zeit, und Geduld ist eine Sache,
die der Alchimist reichlich vorrätig haben muß, will er zum Ziele kommen.
Was erlebt nun der Hermetiker, an diesem Punkte angelangt? Aus dem
Chaos, darin er sein Werk verborgen hält, steigt, nun in zurückkehrender
Strömung, das Es (das Geistverwandte und Heilige) von der Erde wieder
zum Himmel hinauf und noch einmal zur Erde hinunter, wodurch es die
Kräfte beider Sphären (der himmlischen wie der irdischen) in sich aufnimmt.
Ist der Prozeß so weit gediehen und ohne Fährlichkeit erreicht, so hält der
Hermetiker den Schatz in Händen, er hat den Ruhm der ganzen Welt
erlangt und alles Dunkel, das seine Wohnschaft auf Erden mit sich bringt,
überwunden. Den Stein der Weisen in der Hand, hat er Macht über alle
Dinge, die er nach Belieben mischen und auflösen, festmachen und
verbinden, flüssig und luftig machen kann. Um dieses Geheimnisses willen
und in Verbindung mit dem köstlichen Besitz dieses höchsten Gutes, ward
Hermes Trismegistos der dreimal Größte genannt. Leib, Seele und Geist,
leibliche, seelische und geistige Welt sind ihm Untertan, denn das hohe
Werk der Sonne wird auf diese Weise vollendet. Es möchte nun zunächst
scheinen, als wäre für das nähere Verständnis der Alchimie mit allen diesen
Feststellungen nur ein sehr geringer und nicht gerade wesentlicher Schritt
nach vorwärts getan. Nichtsdestoweniger darf der Wißbegierige diesen
ersten Schritt zur Einsicht nicht unterschätzen, ohne daß er sich, selbst bei
seiner Skepsis verharrend, den Weg zur Erkenntnis der übrigen des
Geheimnisses verlegte. Das Wunder der Alchimie muß von allen Seiten
aus betrachtet, der Kern dieses erhabenen Geheimnisses auf

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 178


verschiedenen Wegen verarbeitet werden, soll, im gegebenen Augenblicke,
ein Schimmer jenes seligen Lichtes aufgehen, das vom Stein der Weisen
ausstrahlt. Ist schon die Inanspruchnahme und gar die Vollendung des
Werkes an eine ganze Reihe von geistigen, seelischen und körperlichen
Voraussetzungen geknüpft, von denen es unter keinen Umständen Dispens
gibt, so kann auch der gewöhnliche, praktische und auf den oft trügerischen
Sinnenschein gerichtete Verstand ohne Flügel und gewisse Erleichterungen
im natürlichen Gewicht nicht zu Rande kommen. Das Instrument der
Einsicht in dieses heilige Geheimnis muß fein geschliffen und durchlässig
gemacht werden, soll sie nicht an Hindernissen scheitern, die eben nur für
den hausbackenen Verstand vorhanden sind. Meine Darstellung kann
nichts Besseres tun, als langsam, mit Sorgfalt und von allen Seiten zu
hellerer Einsicht in das Wesen der Alchimie zu gelangen.

V. Die Ahnengalerie der Meister


Lenglet, Kiesewetter, Kopp, Schmieder und Lippmann haben sich, jeder
auf seine Art und nach seinen Möglichkeiten, gewisse Verdienste um die
Erkenntnis dieses höchst dunklen Gegenstandes erworben. Man verdankt
ihnen zunächst eine Sammlung wichtiger historischer Umstände, die,
zusammen, die Geschichte der Alchimie ausmachen, und, ohne daß sie es
wollen, oft sogar unter ihrem lebhaften Protest, zeigt sich ihnen, von
ungefähr und leichthin, ein Zipfel der heiligen Geheimnisse; sie sprechen
Worte und Zusammenhänge aus, die, ihnen selbst unklar, für den
Wahrheitssucher doch von großem Werte sind und, oft genug, wenn man
ihrem harmlosen und ein wenig indignierten Geplauder zuhört, hat man das
Gefühl eines Kindes, das, am Versteckenspiel beteiligt, im Augenblicke, da
der Sucher dem versteckten Gegenstande schon sehr nahe ist, lebhaft
ausruft: es brennt! Ich kenne eine bloß handschriftlich verbreitete
Einführungs- und Schlüsselschrift in das alchimistische Geheimnis, die,
statt einzuführen, die Sache scheinbar überflüssigerweise kompliziert, aber
doch plötzlich innehält, um die Bemerkung fallen zu lassen: im Worte uni-
ver-sal sei das ganze Geheimnis enthalten. Kopfschüttelnd bleibt der Leser
solcher Schlüsselschriften vor dem Tore des Tempels stehen, das ihm vor
der Nase zugeschlagen wird. Sondert man aus der schier unübersehbaren
Reihe der Alchimisten, deren Namen bekannt geworden sind (noch höher
ist ja die Zahl der ungenannten und verborgen gebliebenen), so bleiben,
von den Alten abgesehen, aus dem XIII. Jahrhundert: Albertus Magnus,
Thomas von Aquin, Scotus, Roger Baco, Peter von Abano, Arnoldus von
Villanova und John Duns; aus dem XIV: Raimundus Lullus, Johannes
Rupescissa und Nikolaus Flamel; aus der ersten Hälfte des XV.: Basilius
Valentinus und Nikolaus Cusanus; aus der zweiten Hälfte des XV.:
Trevisanus, Ficinus, Trithemius und Georg Ripley; aus dem XVI.: Picus von
Mirandola, Agrippa von Nettesheim, Parazelsus, Georg Agricola, Kaiser
Rudolf II., Eduard Kelley und John Dee; mit dem XVII., dem Jahrhundert
der Rosenkreuzer in der Geschichte der Alchimie aber: Michael Mayer,

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 179


Robertus Fludd, Michael Sendivogius, van Helmont, Irenaeus Philaletha,
Starkey, Schröder und Kunkel von Löwenstein; aus dem XVIII.: Laskaris,
Bötticher, Geoffroy, Danninger, Kurt Sehfeld, Reussing Figduld, Lenglet (in
gewissem Sinne), Philander, James Price und Semler, als Alchimisten
hervorzuheben, die teils selbst und mit Erfolg am Stein gearbeitet, teils in
sein Wesen eindrangen oder auf äußerliche Weise in den Besitz der roten
Tinktur gelangten. Vom XVIII. Jahrhundert ab verschwindet die Alchimie,
wie der Mond in einer finsteren und stürmischen Wetternacht hinter
schweren und unheilgefüllten Wolken verschwindet. Das XIX. Jahrhundert,
der Gipfelpunkt des materialistischen und rationalistischen Karnevals, hat
nur mehr Spott und Hohn für die Geheimnisse überhaupt und die der
Alchimie im besonderen übrig. Es vollendet, als Höhepunkt des finsteren
Zeitalters, den Taumel des Unglaubens, des Lebensdurstes und der
Abgetrenntheit vom Göttlichen, stellt aber doch, gegen seinen Willen, selbst
nur ein Chaos dar, aus dem sich, noch im XIX. Jahrhundert selbst, aber
vollends mit dem Beginn des XX., auch die anderen Geheimnisse und
damit das der »Königlichen Kunst« gleich dem Vogel Phönix aus seiner
Asche erheben. Der Okkultismus, angeregt durch den neu auflebenden
Spiritismus und Mediumismus, taucht zu jener Zeit in den verschiedensten
Formen und Gestalten auf und stellt dem Schwall des irdischen
Philosophen- und Religionsgezänkes den uralten Besitz seiner Mysterien
entgegen, schicksalmäßig dazu bestimmt, seinen Platz an Steiner
abzutreten, der mit vollem Bewußtsein und ganzem Akkord, das Thema der
Geisteswissenschaft anschlägt und als wahrhafter Weltenlehrer auch den
Vorhang hebt, so die heiligen Geheimnisse des Christentums als der
erhabensten, ordnungsgemäßesten Alchimie verdeckt. Inzwischen ist ja die
sogenannte exakte Wissenschaft auf ihren Wegen und nach unsäglichen
inneren Schwierigkeiten in die Nähe der Geheimnisse und der Alchimie im
besonderen gelangt: ihre Atomerforschung, die Entdeckung der
strahlenden Materie, der Hormone und Vitamine führen immer weiter und
weiter, und es ist ein tragisches Schauspiel, zu sehen, wie ihr Erstaunen
und ihre Überraschung doch keineswegs die Kraft haben und groß genug
sind, um die Ahnung göttlicher Geheimnisse in ihr aufkommen zu lassen.
Die vielgehöhnte Alchimie ist eben dabei, ihren Triumphzug, im
Triumphwagen des Antimonii, anzutreten, und im Troß ihrer Auffahrt ist
auch die Wissenschaft zu sehen, die sich niemals hätte träumen lassen,
daß es ihr einmal gelingen würde, sich aus den mörderischen Klammern
des Darwinismus und des Maschinengedankens zu befreien. Um so stärker
gemahnt die Stunde alle geistigen Menschen, an der großen Erneuerung
und am Wandel des menschlichen Bewußtseins mit größter Sauberkeit,
Demut und innerlicher Hartnäckigkeit zu arbeiten, sich, anders ausgedrückt,
wiederum an das große Werk zu begeben, das ihnen der Christus Jesus für
alle Zeiten weist. Nichts kann ihnen dabei bessere Dienste leisten als das
Verständnis für Alchimie im weitesten und erhabensten Sinne des Wortes,
als eine Erkenntnis der Stoffwelt, empfangen aus dem Geiste!

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 180


VI. Die Pfuscher in Gottes Handwerk
Es wäre sicherlich eine ebenso lohnende und verlockende Aufgabe, hier
fürs erste von den merkwürdigen, fast immer eigentümlichen, zumeist aber
recht traurigen Schicksalen der einzelnen Alchimisten zu sprechen, aber
weder der Umfang des Buches noch sein Ziel, einen Überblick über den
Stand der Geheimwissenschaften in der Gegenwart des zwanzigsten
Jahrhunderts zu geben, gestatten solche Umschweife. In den Büchern und
bei den Autoren, die ich schon genannt habe, findet man spannende
Lektüre dieser Art genug, die es getrost mit jedem aufregenden Roman
unserer Zeit aufnehmen könnte. Diese Erzählungen, oft in Wahrheit bloß
nüchterne Berichte, aber vielleicht gerade darum doppelt erschütternd, sind
keineswegs deshalb tragisch, weil sie den Helden etwa im Kampf mit
äußeren Verhältnissen zeigen, in den er zwangsweise durch die Lage der
Dinge getrieben ward, sondern: das bittere Los der meisten Alchimisten fiel
ihnen bloß deshalb zu, weil die unselige Leidenschaft von ihnen Besitz
nahm, es dem lieben Gott, dem Demiurgos, gleichzutun und als Schöpfer
aufzutreten, eine gigantische Anmaßung, die von Seite der höheren
geistigen Gewalten nicht unwidersprochen bleiben konnte. Ein uraltes
okkultes Gesetz sagt (davon war schon die Rede), daß niemand die
Himmelstüre aufmacht, ohne daß im selben Augenblick die Pforten der
Hölle aufgehen; heißt es doch selbst vom Christus Jesus im apostolischen
Glaubensbekenntnis: »abgestiegen zu der Hölle«, und kopfschüttelnd
nimmt der Uneingeweihte zur Kenntnis, daß der Erlöser der Welt, Christus
Jesus, in der Wüste mit zwei Versuchern rang. Alchimie ist im wahrsten und
richtigsten Worte Magie, und alle Magie hat ihre Entsprechungen im Guten
wie im Bösen. Alchimist sein, setzt immer ein Schicksal voraus; wo
Alchimie als Beruf und Erwerb betrieben wird, führt sie zur Sudelküche,
darin groteske und komische Gerichte zubereitet werden. Wer von seinem
reinen und selbstlosen Herzen aus dazukommt, läßt das Werk oft im
kritischen Augenblicke (dort, wo ein Eingreifen der Dämonen zu erwarten
ist) im Stich, er wittert die Gefahr und kehrt schaudernd um. Wer aber aus
satanischen Gründen an den Athanor, den geheimnisvollen Ofen, darin das
große Werk bereitet wird, herantritt, der muß sich auf die romantischesten
und ausgesucht bösartigsten Abenteuer gefaßt machen; dem einen wie
dem anderen bleibt der Weg zu den Naturgeistern und zu den höheren
Wesenheiten nicht erspart, aber wehe dem, der die Kunst nicht meistert, in
einem Falle ihr Herr zu bleiben, im anderen aber nach ihrem Sinne zu
verfahren. Gesetzt den Fall, zwei Adepten der hermetischen Kunst
begännen zur selben Zeit, äußerlich an Temperament und im Grade der
Entwicklung gar nicht sonderlich verschieden, das opus magnum; verläuft
ihre Arbeit am Stein auch noch so gleichartig, erreichen sie auch zur selben
Zeit ein und dasselbe Zwischenstadium, so sind damit noch lange keine
Sicherheiten dafür gegeben, daß sie überhaupt und ob sie gleichzeitig ans
Ziel kommen. Der geringste Diätfehler (um es vulgär
medizinisch auszudrücken) kann alles Errungene aufs Spiel setzen. Die

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 181


Dämonen, gefühllos als Zustand, sind in den Händen des Adepten »rohe
Kräfte«, die »sinnlos« walten; wie Glut und Wasser, Sturm und
Erderschütterung, so warten sie nur auf den Mißgriff dessen, dem sie
widerwillig genug gehorchen. Von dem Ernst, der Tragweite, den
Wirkungen Und Folgen solchen Tuns, als so erhaben es auch bezeichnet
werden mag, macht sich der Laie, der über den ganzen »Alchimistenspuk«
nur kopfschüttelnd urteilt, keinen Begriff. Annähernde Vorstellungen von
den Gewalten, die hier entbunden und losgelassen werden, kann man sich
aber ungefähr verschaffen, denkt man, zum Exempel, im Zusammenhang
mit der Atomzertrümmerung daran, daß das Gewicht und die
zusammenhaltenden Kräfte eines ungeheuren Felsengebirges plötzlich auf
geheimnisvolle Art aufgehoben und frei würden. In Zeit und Raum, mit den
Hilfsmitteln der dreidimensionalen Anschauung gesehen, müßte eine
solche Katastrophe von gigantischen, fast unvorstellbaren Dimensionen die
fürchterlichsten Ereignisse heraufbeschwören. Im Reiche der vierten
Dimension sind sie, wie sich bei spiritistischen Unternehmungen mit großen
Medien zeigt, eine niedliche Spielerei: eine goldene Dose wandert durch
feste Tische und verschlossene Türen bei vollem Licht. Im Augenblick ist
der Bann, der die Materie zusammenhält und festmacht, aufgehoben, im
nächsten Moment aber restlos wieder hergestellt, so daß die naive
Vorstellungsart der »Exakten« hartnäckig daran festhält, hier müsse ein
»Betrug« obwalten. Was aber in der Sphäre des Spiritismus die Kraft des
Mediums, das bewirkt gleichsam (auf dem Worte gleichsam ruht hier der
Ton) die seelische und geistige Entwicklung des Adepten im Verlaufe des
»großen Werkes«; er erhält die Gewalt, zu binden und zu lösen, er
verbindet die Gesetze und Gültigkeiten der dreidimensionalen Welt mit dem
Zwischenreich und dessen Normen. Er pfuscht in Gottes Handwerk!

VII. Das Geheimnis der Materie


Im vorangehenden Abschnitt war auffallenderweise, wie der aufmerksame
und geneigte Leser wohl beachtet haben wird, von Materie die Rede. Das
Mysterium der Materie ist denn auch in der Tat das Grundgeheimnis der
hohen Verwandlungskunst, genannt Alchimie. Das Mysterium der
Stofflichkeit überhaupt wird hier berührt. Schon sieben Jahrhunderte v. Chr.
beginnt die vorsokratische Philosophie mit der Frage nach dem Urstoff, den
Thales im »Wasser«, Anaximandros im Apeiron (dem Unbegrenzten),
Anaximenes in der Luft und Heraklit im Feuer erblickt habe, was an der
Hand unserer landläufigen und bei größter Gelehrsamkeit überaus naiven
Philosophiegeschichten ungefähr darauf hinausläuft, die alten jonischen
Naturphilosophen hätten eben ihr Steckenpferd gehabt, das sie nach Art
unserer gegenwärtigen Universitätsphilosophie ritten. Spricht Anaxagoras
noch von Ur-Teil-Wesen, die lebendigen Keimen gleichen, so erstarren
diese Vorläufer der Monade bei Demokrit schon zu toten und unteilbaren
Stoffteilchen, von denen alle Dinge der Außenwelt durch verschiedene
Mischungen und Kombinationen gebildet werden. Ordnet bei Anaxagoras

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 182


das Voneinander, Zueinander und Durcheinander dieser Teilchen noch die
(göttliche) Vernunft, der Weltverstand, Nus benamset, so stapft Demokritos,
einer der ersten Vorläufer des modernen exakten Materialismus, scheinbar
schon vollends im Fahrwasser einer toten Naturwissenschaft, indem er die
Dinge durch bewußtlose, zufällige Naturgesetzmäßigkeit und
-notwendigkeit geschehen läßt: Ananke ordnet die Welt; eine entseelte
Natur bleibt in des Demokritos Philosophenhänden. Diese Gesamtsituation
hat sich in ihrer heutigen Grundgestalt, trotz des großartigsten
Aufschwunges, den die Materienforschung seither genommen hat, wenig
geändert. Die alten Griechen verstanden unter Äther zunächst den Sohn
des Erebos und der Nyx, ein dunkles Elternpaar, das die Schauer des
Hades (der Unterwelt) mit den Geheimnissen der Nacht verband. Aus dem
Dunkel und der Nacht entstand Aither, der zur oberen, reinen Himmelsluft,
dem Wohnsitz der Götter wurde. In der griechischen Philosophie trat er wie
eine Art fünftes Element auf, das den Himmelsraum mit seinem göttlichen
Feuer erfüllt und daraus alles Sein und Leben hervorgeht. Eine feine, den
ganzen Weltraum erfüllende Substanz, die als Lichtträger gilt, spielte der
Äther lange Zeit auch in der Physik eine führende Rolle. Einstein hat ihm
die Türe der Physik wohl vor der Nase zugeschlagen, aber das
Vorhandensein von Molekeln, das Einstein, Smoluchowsky und Soedberg
als erwiesen annahmen, macht den Leuten, die den Äther aus der Physik
hinauswarfen, wenigstens, soweit ihr logisches Denken in Frage kommt,
wenig Ehre. Am Grabe des Äthers pflanzen sie die Fahne des Moleküls und
des Atoms auf, die unter der Führung einer geheimnisvollen
Kommandantin, der Energie, stehen; sind die Molekel »kleinste Mengen
eines Elementes oder einer chemischen Verbindung, die entweder in freiem
Zustand auftreten oder an chemischen Prozessen teilnehmen, so verstehen
jene unter »Atomen« die »kleinste unsichtbare Menge eines einfachen
Stoffes, die in eine chemische Verbindung eintritt oder gar zur Bildung
eines Molekels beiträgt«. Die moderne Materienforschung ist auf ihren
langen Irr- und Wanderfahrten einer ganzen Reihe von Wundern begegnet,
die es mit jedem noch so romantischen Märchen getrost aufnehmen
können. Als Brown, ein englischer Botaniker, der also gar nicht zur
physikalischen Gilde zählte, 1827 die merkwürdigen, sehr lebhaften und
völlig ungeordneten Bewegungen kleiner in Wasser gebrachter Teilchen
beobachtete, wodurch er zum Vater der »Brownschen Bewegung« wurde,
eröffnete er damit den Reigen der spannendsten Abenteuer, welche die
Welt jemals gesehen hat. Die Brownsche Bewegung kommt niemals zum
Stillstand, hört niemals auf; noch in den Flüssigkeitseinschüssen beim
Quarz ist sie, sicherlich, seit vielen Jahrtausenden tätig, ein veritables
Perpetuum mobile. Das andere große Abenteuer war die Entdeckung der
strahlenden Materie und des Atomzerfalles. Die Atome altern nicht, sie
besitzen das Geheimnis der ewigen Jugend; dabei sind sie keineswegs
etwa die ewigen und unteilbaren Elemente, für die man sie hielt; sie lassen
vielmehr ein unendliches Gewimmel von Welten ahnen. Ein drittes

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 183


Abenteuer endlich war die Entdeckung der Quantentheorie. Mit dem
periodischen System der Elemente schloß die erste Phase in der
Entwicklung der Atomistik glänzend ab. Die zweite, aus den Überlegungen
von Niels Bohr entstanden, krönt das Stadium der Erkenntnis vom Bau der
Atome. Die Atomzertrümmerung endlich schien, so war allgemein auch in
den eingefleischtesten materialistischen Zeitungen zu lesen, ein Mirakel zu
werden, das den »Traum der Alchimisten« wahrmachte und einen
Vorgeschmack jener Blamage gab, die das jahrzehntelange, dröhnende
Gelächter der hohen Wissenschaft über die Schwärmer und Schwindler der
Goldmacherkunst jäh verstummen ließ; wohl wagt es sich auch noch heute,
dort und da, hervor, aber es wird doch kaum mehr beachtet und ernst
genommen. Das Gesamtbild der Entwicklungsgeschichte kulminiert
ungefähr darin, daß in der Stofflichkeit, in der Welt der Materie, tatsächlich
etwas wie ein »einiges Ding« vorhanden sein muß, aus dem alles
geworden ist, daß also die scheinbar so dunklen, mythischen und auf
Irreführung berechneten Angaben der smaragdinischen Tafel, nichts
Geringeres als einen ganz exakten, wissenschaftlichen Bericht darstellen ...

VIII. Das allmächtige Gold


In der Tat wurzelt Alchimie oder Arbeit am Stein im Aspekt der göttlichen
Schöpfungsgeschichte. Der Adept wird Demiurgos; er wiederholt die
Schöpfung der sichtbaren und unsichtbaren Welten aus dem Chaos; er
vermißt sich, den Schöpfer zu spielen. Gleich dem Schöpfer der Welten,
der, aus seinem Urschlaf erwachend, die »Erde« schafft, treibt den Adepten
sein Karma zum »großen Werk«. Der im Geist entworfene Plan birgt in sich
zugleich die Urmaterie, das große Geheimnis aller Schöpfungs- und
Verwandlungskunst. Ohne das göttliche Vorbild sinkt die Alchimie der
»Schwärmer und Schwindler« zur Sudelkunst auf magischer Grundlage
herab, von vornherein zum Mißlingen bestimmt, indem sie, scheinbar
außerhalb der ewigen Gesetze des Karmas, sich selbst in den Bereich
dunkler Verirrung begibt. Kein echter Alchimist kann sein Werk ohne
genaue Einsicht in das eigene Horoskop in Angriff nehmen. Die Stunde, an
die Bereitung des Steines der Weisen zu schreiten, muß für ihn geschlagen
haben; sie steht buchstäblich in den Sternen geschrieben. Seine Lebensuhr
zeigt an, ob die Zeit dafür gekommen ist. Gewisse Planetenstellungen
innerhalb seines Grundhoroskops weisen ihn mit klaren Zeigern auf das
Werk, das nur ein Mensch, gesund an Körper, Seele und Geist, beginnen
darf. Wer ohne Rücksicht auf solche Bedingungen, einfach eine Schürze
vornimmt und sich in die Küche verfügt, um das philosophische Ei
garzukochen, weckt mit Recht das Gelächter und die Verachtung aller
Wesen, in deren Sphäre das magnum opus reift. Es gibt nicht einen
alchimistischen Prozeß, sondern gleichzeitig zwei, die miteinander parallel
gehen, und zwar so, daß sich die Bereitung des Steines im Geistigen
abspielt, vom Prozeß in der Materie begleitet. Auch darüber, ob das Werk
nur im Geistigen bleibt oder gleichzeitig auf dem physischen Plan

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 184


einherschreitet, entscheidet der Blick auf die Lebensuhr des Adepten. So
durchdringen sich die beiden Arbeiten zu einer. Als ein grandioses, nur
einmal in der Entwicklung auftretendes Beispiel entrollt sich das Leben,
Sterben und Auferstehen des Gottessohnes auf Erden. Darum hat die
Alchimie, vom Sternengeheimnis des Ägypters empfangen und tatsächlich
in Hermes wurzelnd, ihren wahren Sinn für die Erde und den Erdenweisen
durch den Christus Jesus bekommen und erst vom Augenblick auf
Golgatha an beginnt die wahre Alchimie mit ihrem Passionsweg, ihren
Leidenstationen und mit der Krönung des Werkes im Vater, der das Wort
des Sohnes hört: »es ist vollbracht«! Der Mensch, in seiner
Rückverwandlung zum Gott, ist selbst der Stein der Weisen; sein Erdenleib
ist der chemische Ofen, Athanor genannt, das Chaos der Unstimmigkeiten
zwischen Leib, Seele und Geist die prima materia des Werkes, seine
Verklärung des Endglied der Entwicklung. Die große Neun, die in der Arbeit
am Stein eine so wichtige Rolle spielt, steht in inniger Verbindung mit dem
neungliedrigen Menschenwesen, das im Ich des Menschen, als dessen
ewigem Kern, wurzelt und, von hier aus, den Astralleib durch die Arbeit zur
Manasstufe, den Ätherleib durch die Arbeit zur Buddhistufe und endlich den
physischen Leib durch die Arbeit zur Atmanstufe verwandelt. Das wären
allerdings, vom Ich aus betrachtet, erst sechs Phasen, aber der Leser
erinnert sich vielleicht daran, daß im Ich die drei Seelenglieder des
Menschen verbunden sind: die Empfindungs-, die Verstandes- und die
Bewußtseinsseele. Daraus ergibt sich auch ganz von selbst, daß ein Ich,
das nicht zugleich auch schon das Dritte, die Bewußtseinsseele, entwickelt
hat, zum Prozesse selbst nicht vordringen kann. Darum blieb die Arbeit am
Stein bei Adepten aus dem Zeitalter der Empfindungs- und der
Verstandesseele gewissermaßen Stückwerk, wie die Geschichte der
Alchimie sinnfällig erweist, und sie beginnt mit der Vollendung der
Bewußtseinsseele, die eine Aufgabe unseres Zeitalters ist, ihre eigentliche,
große und befreiende Sendung. Gelang das Werk nur jenen Eingeweihten,
die, »die Entwicklung vorausnehmend«, die volle Stufe der
Bewußtseinsseele erreichten, was allerdings erst in der nachchristlichen
Epoche geschehen konnte, so versteht man, aus einer meditativen
Betrachtung des alchimistischen Sachverhaltes heraus, einerseits, warum
gerade die Rosenkreuzer als die wahren Vollender der Arbeit am Stein
erschienen, anderseits aber warum gerade in unsere Tage die
Wiederbelebung der alchimistischen Geheimnisse fällt. Die erwachende,
wenn man es vulgär so aussprechen darf, die rumorende
Bewußtseinsseele hat den Stein (der Weisen) buchstäblich wieder ins
Rollen gebracht. Im Räderwerk der großen Geheimnisse greift ein Rad ins
andere, und nicht die geringste und unscheinbarste Arbeit kann etwa
außerhalb oder gar gegen das Gesetz der Entwicklung geschehen. Nur die
geistige Entfaltung, nur die geistige Alchimie darf reinen Herzens an die
Materie heran, um ihre hohen Erlebnisse gleichsam auch in dieser
auszudrücken und sinnfällig zu machen. Warum sie, in der Materie, just auf

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 185


die Bereitung des Goldes geht, das in der Sphäre des Sündenfalles ein
luziferisches Mineral geworden ist, wird dem Leser denn auch sehr bald
hinreichend klar werden; in diesem Stadium der Darstellung mag genügen,
festzustellen, daß das Gold der Alchimisten und das Gold der physischen
Sphäre, wie es die Erde in ihrem Schoße bereitet, keineswegs ein und
dieselbe Sache sind, daß vielmehr zwischen dem Aurum der Alchimisten
und dem Münzgold dieser Erde, das als Gradmesser der Währung dient
und zum allmächtigen Symbol des Reichtums und der Macht geworden ist,
tiefgehende, mystische Unterschiede bestehen, Unterschiede, deren
Bedeutung sehr wohl erahnen kann, wer sich an das Rheingold, als den
Tand und das Spielzeug der Töchter des Rheines, erinnert und es mit
jenem Nibelungenschatze vergleicht, den Alberich mit Hilfe Mimes aus ihm
gemacht hat ...

IX. Die vier Elemente und ihre Zustände


Aus dem Chaos, aus dem Tohuwabohu, aus dem Nichts, schuf Gott die
Welt; an ein Chaos tritt auch der alchimistische Magier heran, wenn seine
Nacht um ist und der Augenblick der Schöpfung gekommen. Das Chaos
bedeutet auch für ihn, wie für den Demiurgos, die »ungeordnete
Urstofflichkeit«, die alle Möglichkeiten in sich birgt. Die Materie, das sind die
»kosmischen Mutterkräfte«, in die der schöpferische Strahl eindringt,
Sternenwesen, von Sternenkräften befruchtet. In den Figuren der
Rosenkreuzer begegnet man dem Chaos und den Gestirnen auf Schritt und
Tritt; immer wieder wird hier das Symbol gezeigt, wie die Natur an einem
Punkte aufgehört hat, tätig zu sein, indem sie, bildlich gesprochen, die
Hände in den Schoß legt. Chaos! Ist das nicht aber zugleich der Zustand
der Verwesung und Auflösung und ist nicht in den zahllosen alchimistischen
Schriften von dem »köstlichen Ding die Rede, das so unscheinbar und
gering aussieht, so übel riecht und so schmutzig auftritt, daß es die Kinder
achtlos von sich werfen, die Knechte und Mägde von den Stiefelsohlen
abstreifen? Vom Strahl des Sternengeheimnisses getroffen (über jeder
Geburt, über jedem »auf die Welt kommen« schwebt ein Stern), setzt sich
diese materia, prima genannt, weil sie der Anfang ist und alles in sich
schließt, in Bewegung. Das Grobe scheidet sich vom Feinen, das Dicke
vom Dünnen, und die Elemente beginnen darin zu »wirken«. Das Chaos ist
also der Punkt, wo der Geist in die Materie einzieht, wo sich die mystische
Hochzeit von Geist, Seele und Materienleib vollzieht. In der Retorte, im
Ofen ist nichts, es wäre denn, der Alchimist hätte sie vorher im Geist
geschaut: eine Materie, die das ganze Werk schon in sich birgt und aus
»eigener Kraft« differenziert. Die Wissenschaft war, zur Zeit der Herzschen
Versuche, ganz nahe am Geheimnis, aber ihr Karma erlaubte ihr nicht, in
das Innere des Tempels einzudringen; sie bog plötzlich ab, schloß aus den
Wirkungen in einem bewegten Medium zu voreilig auf die Natur dieses
Etwas und rannte sich schließlich an dem. Universalirrtum fest, der einem
einzigen Äther alle Wirkungen zuschrieb. Die Alchimisten wußten und

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 186


wissen es besser. Sie kannten sieben ätherische Urkräfte, vier davon, die in
Raum und Zeit schwingen, drei aber, die künftigen Bewußtseinszustände
und Erdentwicklungen eigentümlich sind. Die Geisteswissenschaft gibt
ihnen einfache und schlichte Namen: Wärmeäther, Lichtäther, chemischer
Äther (Klangäther) und Lebensäther, deren jeder eine höhere
Entwicklungsstufe des vorhergehenden darstellt. Der Wärmeäther ging aus
rein geistigen, unzeitlichen Zuständen hervor, er gab der ersten Form
unserer Erde die Signatur: dem Saturn; aus dem Wärmeäther ward der
Lichtäther, so daß die alte Sonne zwei Ätherarten vereinigte; aus dem
Lichtäther auf dem alten Mond in Vereinigung mit dem Wärmeäther: der
chemische oder Klangäther; aus dem Klangäther, vermischt mit Wärme-
und Lichtäther auf unserer Erde, der Lebensäther. In ihrer Mischung wirkt
jede Ätherart mit der unteren zusammen, doch auch jede in ihrer ganz
besonderen Eigenschaft. Haben die ersten beiden Ätherarten (Wärme und
Lichtäther) das Bestreben, in den Raum hinaus (zentrifugal) zu wirken, so
kennzeichnet Zusammenziehung und Saugwirkung (zentripetal) den Klang-
und den Lebensäther. Jede der vier irdischen Ätherarten weist außerdem,
neben der raumbildenden Tätigkeit auch eine formbildende Tendenz auf,
die, alle zusammen, besondere Wirkungen und Zustände hervorrufen. So
ist der Wärmeäther: ausdehnend, in der Grundform kreisförmig (sphärisch)
und erzeugt Wärme; der Lichtäther: zentrifugal, in der Form dreieckig, und
erzeugt die Welt der Gase; der chemische oder Klangäther in der
raumbildenden Tendenz saugend und zusammenziehend, in der Form
halbmondförmig und erzeugt das Flüssige; der Lebensäther aber, endlich,
ist zentripetal, in der Form viereckig, und bewirkt das Feste. An dieser
Aufstellung gemessen, erscheint nun auch die Weltentwicklung in einem
bedeutend schärferen Lichte. Nennt man den gasförmigen, den flüssigen
und den festen Zustand Aggregatzustände, so ergibt sich
dem Geistesforscher ein sehr eigenartiges Bild; keiner dieser
Aggregatzustände geht ohne weiteres in den anderen über; beim Wechsel
des einen Zustandes in den anderen treten vielmehr zunächst alle
vorhergehenden Zustandsarten noch einmal als Begleiterscheinungen auf,
und beim Wechsel selbst zeigen sich (nicht wörtlich gesprochen, denn sie
sind ja nicht sichtbar) Kräfte aus dem nichträumlichen Zustand, die im
raumzeitlichen Prozeß mitaufgehen und in diesen verschwinden. So ergibt
sich das folgende Bild: Entstehung der Welt aus einem reingeistig
wesenhaften nichträumlichen Zustand: erster Zustand (Saturnzeit)
wärmeätherisch; im Übergang ein nichträumlicher Zustand, dem eine
Wiederholung des Wärmeätherzustandes folgt; sodann: der
Lichtätherzustand (alte Sonne), dann wieder ein nichträumlicher Zustand,
worauf Lichtätherzustand und Wärmeätherzustand wiederholt werden;
sodann: der Klangätherzustand (oder chemischer Äther), Mondenzeit (alter
Mond); darauf, wiederum nach einem nichträumlichen Zustand,
Wiederholung des chemischen, Licht- und Wärmeätherzustandes; endlich
der Lebensätherzustand unserer heutigen Erde, in dem die heutige

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 187


Menschheit lebt. Auf ihn folgt eine nichträumliche Epoche der Wärmetod
der Erde, aber im anderen Sinne, als es sich die exakte Wissenschaft
vorstellt), eine Wiederholung der vier Ätherarten und Übergang zum
nächsten Zustand, der als Jupiterzeit bezeichnet wird. Diese Prozesse
umfassen und umfaßten Jahrmillionen, aber sie sind ein makrokosmisches
Vorbild der Wandlungen, die sich im Werke des Alchimisten vollziehen. Er
arbeitet mit den vier Elementen, als den durch den Äther bewirkten
Zuständen.

X. Raum und Zeit in der Alchimie


Zum Parallelismus der geistigen und materiellen Alchimie zurückkehrend,
die, zusammen und gleichzeitig geübt, die Bereitung des Steines der
Weisen zum Ziel haben, soll nun, ehe die näheren Umstände des
Prozesses zur Erörterung gelangen, doch noch ein Wort über den Ausdruck
»nichträumlicher Zustand« verloren werden, der in der Genesis (wie in
ihrem Abbild, der Alchimie) eine entscheidende Rolle spielt. Ein nicht
räumlicher und daher auch zeitloser Zustand ist natürlich ein geistiger
Zustand. Es wird überhaupt bald klar, daß Raum und Zeit erst unter dem
Eintreten der ätherischen Bildekräfte in die Entwicklung und durch diese
zustande kommen, woraus sich wiederum die Frage ergibt, wie das
Unräumliche zum Auftreten des Räumlichen führen kann, mit anderen
Worten, wie die räumliche Welt aus dem Geistigen überhaupt entstehen
konnte, oder, um es noch anders und philosophisch deutlicher zu sagen:
wie sich der Übergang vom Wesen zur Erscheinung vollzieht. So abstrakt
diese Formulierung klingen mag, so rasch leuchtet sie ein, vergegenwärtigt
man sich zum Exempel den Übergang des Wesens Rose (wenn man den
nicht ungefährlichen Ausdruck gebrauchen will, der Idee der Rose) in die
Erscheinung Rose, Das Wesen Rose, im Rosensamen verborgen, ist
räumlich nirgends, es tritt aber im Augenblick der Erscheinung Rose in den
Raum. Erscheinung setzt den Raum voraus und bringt sich ihn gleichzeitig
mit. Der exakte Wissenschafter, der über solche Dinge lächelt, weil er sie
für Verstiegenheiten metaphysischer Gemüter ansieht, würde aber
wahrscheinlich erbleichen, wenn man ihm sagte, daß auch der exakteste
Forscher sehr oft, ohne es zu wissen und ohne sich Rechenschaft davon
abzulegen, genau so verwegene Metaphysik treibt, zum Exempel, wenn er
von latenter Wärme und vom Freiwerden latenter (verborgener) Wärme
spricht. Geht nicht auch das Wesen Wärme hier einfach in die Erscheinung
Wärme über, teilt anderen Worten: ein nicht räumlicher Zustand in einen
räumlichen? Was bewirkt nun aber den Übergang selbst? Es ist
einleuchtend, daß die ätherische »Bildekraft« den Übergang vom
Nichträumlichen ins Räumliche, vom Geistigen ins Dreidimensionale,
vollzieht, daß sie aus dem Chaos als dem Wesentlichen in die Erscheinung
des Differenzierten übergeht, und in diesem Augenblick gehen nun auch
Wesen und Erscheinung, die geistige Alchimie des Mystikers und die
»praktische« Alchimie des Adepten der Goldmacherkunst, ineinander über.

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 188


Der Prozeß der geistigen Alchimie ist nicht räumlich, der der praktischen
dreidimensional aber räumlich, und, als hätte er eine vorüberhuschende
Ahnung vom metaphysischen Stand dieser Dinge, sagt Einstein, gegen die
Objektivierung des Raumes durch Newton polemisierend, der den
»absoluten Raum« wie ein wirkliches und reales Ding behandle, bemerkt
also Einstein, oder läßt sich nun die Bemerkung entschlüpfen, mit
demselben Rechte hätte Newton seinen absoluten Raum ebensogut ruhig
Äther nennen können. Wo es Raum gibt, sind Dinge, die nebeneinander
und nacheinander bestehen, vorhanden. Nun geschieht aber etwas ganz
Merkwürdiges: der Raum sondert die Dinge, stellt sie aus dem
Zusammenhang heraus; der Verstand, der menschliche Geist faßt, in
seinem Denken, die gesonderten Dinge wieder in eine Einheit zusammen.
Das Denken hebt somit die Tätigkeit der ätherischen Bildekräfte auf, führt
die Erscheinung wieder in das Wesen zurück, tauscht das Räumliche
gegen das Unräumliche um. In ganz ähnlicher Weise hat Rudolf Steiner
schlagend die Irrtümer gezeigt, die mit dem Begriff der Zeit verknüpft
worden sind. Einer verfehlten Auffassung des Zeitbegriffes ist, wie er
nachweist, die Entstehung des Begriffes Materie überhaupt zu verdanken.
Die Zeit ist nichts anderes als der sinnenfällige Ausdruck für die
Abhängigkeit der Tatsachen vom Inhalt. Auch Zeit ist nur dort, wo Wesen in
Erscheinung tritt; hat sie mit dem Wesen selbst auch nichts zu tun, so
gehört sie doch zur Erscheinungswelt. Wer nun den Rückgang der
Erscheinung in das Wesen in seinem Denken nicht vollziehen kann, sieht
die Zeit als etwas den Tatsachen Vorangehendes an; er meint, die Zeit
müsse von Ewigkeit an »dagewesen« sein. Um nun ein Dasein zu finden,
das die Veränderungen überdauert, stellt er die »unzerstörbare Materie«
als ein wirkliches Ding hin, dem die Zeit nichts anzuhaben vermochte. Vom
Wesen einer Sache kann niemand aussagen, daß es entsteht oder vergeht.
Das Wesen ist ewig Und raumlos. Hat man diesen Gedankengang in sich
aufgenommen, so ändert sich auch sofort die Formel des Einwandes, den
Einstein gegen Newton erhebt. Newton hätte, statt seinen absoluten Raum
gleich Äther zu nennen, anschauen können, wie der Raum entsteht und
vergeht, gleichwie ätherische Bildekräfte aus der ruhenden Lage in
Wirksamkeit oder aus der Wirksamkeit wieder in die ruhende Lage
übergehen. Zurücknahme in den nichträumlichen Zustand ist also
Rückgang von der Erscheinung ins Wesen, vollzogen im Denken des
erhabenen schöpferischen Wesens. Der Alchimist und der Mystiker oder
der praktische Adept und seine geistige Entsprechung, der Mystiker, sind
nahe Verwandte; gemeinsam ist ihnen das Streben nach Erkenntnis, die
nicht auf das gewöhnliche Erkennen gerichtet ist, aber ihre Methoden
weichen voneinander ab. Der echte Alchimist, der den wahren Mystiker und
den Adepten der »königlichen Kunst« in sich vereinigt, sucht, indem er in
die hehren Geheimnisse des Spieles zwischen Wesen und Erscheinung
eindringt, ein Licht, darin das Gold wohnt, ein reines Licht, dessen
räumlicher Niederschlag nur unser gewöhnliches Tageslicht ist. In diesem

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 189


Lichte schaut er, sobald er sich dazu entwickelt hat, das Geheimnis des
großen Werkes selbst und die Aufeinanderfolge der spagyrischen
Prozesse.

XI. Die drei Prinzipien der »königlichen Kunst«


Die geistige Alchimie ist ein geistig seelischer Umwandlungsprozeß an
der prima materia Mensch, entzündet und erlebt an der Beobachtung der
Natur, wie sie die Rosenkreuzer des Mittelalters unternahmen. Sie
schauten auf diesem Wege drei Prinzipien: Sulphur, Sal und Merkur. Unter
Sulphur, dem Prinzip der Verbrennung, erschien ihnen alles, was in der
Flamme aufgeht (das Schwefelartige), als ein Prozeß der allmählichen
Läuterung durch das Feuer, als eine Form des Opfers; unter Sal, dem
Prinzip der Salzbildung, alles, was sich aus einer Lösung als fester Stoff
niedersetzt, zurückbleibt und aus dem Prozeß herausfällt. Der wahre
Alchimist schaute die Salzbildung; die menschliche Natur vernichtet sich
ohne Unterlaß durch ihre Triebe und Leidenschaften; gäbe sie sich nur
ihren Trieben hin, würde das Dasein zum fortlaufenden Fäulnisprozeß;
Überwindung der verwesenden Kräfte durch spirituelles Denken, das war
die mikrokosmische Salzbildung der alten Rosenkreuzer, in die göttliche
Sphäre gehoben. Im Merkur, dem Prinzip der Auflösung endlich, sah der
wahre geistige Alchimist alles, was als Substanz die Kraft hat, andere
Substanzen aufzulösen, nach Art des Quecksilbers, das als flüssiges Metall
eine ganz eigenartige Rolle unter den Erdenstoffen spielt; es gibt eine
Seelengemeinschaft, die so wirkt, wie Merkur draußen im Reiche der Natur;
seelisch erlebte er in diesen Prinzipien alle Formen und Gestalten der
Liebe, als einer radikalen Tinktur, die alles Harte, Feste, Grobe, allzu
Materielle auflöst, und alle niederen wie höheren Auflösungsprozesse
einleitet. So dienten die wahren Adepten der Gottheit in dreifacher Weise:
mit reinen Gedanken, mit dem Geiste der Liebe und der Gesinnung des
Opfers. Ihre Aura verwandelte sich dabei; anfangs gemischt und
verunreinigt, nahm sie später drei Farben an: die des Kupfers, des Silbers
und endlich die des Goldes. Hellsehend erfaßten sie in dieser Weise das
Gesetz der Entwicklung und des Verfalles, und was sie dabei erlebten,
drückten sie in imaginierten Bildern aus, wie die berühmten und überaus
aufschlußreichen zwölf Schlüssel des Basilius Valentinus zeigen. Über
diese Geheimnisse gibt es schlankweg so gut wie nichts Gedrucktes;
dieses Weisheitsgut ist fast ausschließlich in Bildern und Symbolen
erhalten, deren Sinn aufgeht, wenn die innere Kraft dazu entwickelt ist. Die
Mehrzahl der alchimistischen Bücher ist so gehalten, daß ihre
Darstellungen den Anschein erwecken, als genügte es, sich eine Küche
einzurichten und die vermeintlich richtigen oder falschen Prozesse zu
versuchen. Wohl kamen auch die wahren Alchimisten mit dem Stofflichen in
Berührung, aber entscheidend war ihnen ganz allein das seelisch-geistige
Erlebnis, das in einem geheimnisvollen Punkte gipfelte; in dem
Seelendrama bei der Herstellung des sogenannten wahren Antimon. So

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 190


kamen auch sie zu einer hohen Deutung der prima materia: sie erlebten die
Leiblichkeit der Throne, durchsetzt und durchwirkt mit der Tätigkeit der
Geister der Form, mit anderen Worten: die Geister, die das formende
Element des Daseins sind, in ihrer Wärmetätigkeit; sie erlebten den
ungeheuren Prozeß des Gestaltlosen (Amorphen), hervorgerufen dadurch,
daß alles Dasein nach Form drängt und wieder zersprengt und zermalmt
wird; aller Staub dieser Erde war für ihr inneres Auge zermürbtes Dasein. In
den Wolken schauten sie die Cherubime, in Blitz und Donner die
Seraphime; sie schauten die Äonen als Wesenheiten, die einander ablösen;
im Jom den ersten der Zeitgeister (Archai); hinter allem Festen die Geister
des Willens (Throne), im Wässerigen die Geister der Weisheit (Kyriotetes),
im Luftigen die Geister der Bewegung (Mächte, Dynameis), im Warmen die
Geister der Form (Elohim, Exusiai); die Finsternis, einen Zustand, den die
Elohim vorfanden, sahen sie als den Ausdruck der auf der alten Saturnstufe
zurückgebliebenen Wesenheiten, im webenden Licht den Ausdruck jener
Wesen, welche die alte Sonne in irregulärer Weise erreichten, ersonnen
von denen, die die Finsternis vorgefunden hatten; in Jom die
fortgeschrittenen, in Liith die zurückgebliebenen Archai. Dazu kommen
feste astrologische Zuordnungen: der Wärme zum Saturn, des Lichtes (der
Wärme und Luft) zur Sonne, des Schalles (Licht, Wärme, Luft und Wasser)
zum Monde, des Lebens (Schall, Licht, Wärme, Luft, Wasser und Erde),
zum Prinzip des Lebens, das ihnen gleichsam wie ein viertes, mit der Erde
verbundenes Element erschien. Ihren Ausgang nahmen sie mit dem
Eindringen in den Ätherleib der Erde, einem Übergang von der gröberen
zur feineren Substanz; hier begegneten sie der Urmaterie (wie ich schon
oben angedeutet habe und wie es sich als Analogen im Übergang von
Radium zu Helium ausdrückt), die in Allem enthalten ist, so daß ihnen alle
anderen Substanzen bloß als Modifikation der einen erschienen, welche die
Essenz von Allen darstellt; diese Substanz zu erfassen, darauf war
zunächst das ganze Streben der rosenkreuzerischen Alchimisten gerichtet;
so erschien ihnen darin, was die Mönche des Ostens das Athoslicht
nennen, und die Kraft, diese Substanz zu erfassen, schöpften sie aus der
Entwicklung ihrer geistigen Seelenkraft; sie fanden sie draußen in der Natur
wie im Menschen selbst: im Makrokosmos als Einheitskleid der Natur, im
Menschen aber in der Wechselwirkung zwischen Denken, Fühlen und
Wollen; das Wollen: als Donner und Blitz, das Denken: im Regenbogen und
die Morgenröte, das Fühlen: in der großen, feierlichen Stille der erhabenen
Natur. Der Ätherleib des Christian Rosenkreuz enthielt diese Kraft. Alle
diese Entdeckungen sollten durch hundert Jahre nach dem Erscheinen des
Christian Rosenkreuz verborgen und geheim bleiben, doch konnte, als die
Zeit um war, unter dem Drucke des hereinbrechenden Materialismus das
Wissen um das magnum opus bloß gebrochen und verschleiert gegeben
werden.

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 191


XII. Die Geisterwelt der Alchimie
Der Ätherleib der Natur ist eine Vielheit, eine unendliche Mannigfaltigkeit
mit einer unübersehbaren Heerschar von Wesenheiten. Die alchimistischen
Rosenkreuzer sahen im Blau des Himmels die Farbe der vollständigen
Hingabe, mit der sie in den Himmel eintauchten; ganz in derselben Weise
wirkte das Grün der Natur, das Weiße der Schneedecke, alles gleichsam
als Erlebnis des Zusammenklingens von Gedanke und Begierde, Wunsch
und Erfüllung. Sie erlebten auf ihrem Wege Wesenheiten, die in Form und
Gestalt, in Bild und Grenze gebannt, sich scheinbar gleichbleiben, dann
wieder Wesenheiten, die sich beständig wandeln. In das Innere der Erde
hellseherisch eindringend, begegneten sie den Wesenheiten des Gesteins
und der Metalle, dem Gestein der Erde, dem Element Erde, in den Raum
sich erhebend den Wesen des Wässerigen, der Wolkenbildung, des
Wasserfalls, des Nebels und Regens; den Geistern des Blühens und
Sprießens der Pflanzen im Element der Luft; den Geistern des Feuers in
allen Keimen und Samen. Sie erlebten den Wechsel der Jahreszeiten in
den Wesenheiten, die damit zu tun haben, die mit dem Blühen und
Früchtetragen, mit dem Welken und Absterben beschäftigt bind, blitzartig
dahinhuschenden Wesen. Nach und nach, bei beendigter Wanderschaft
durch diese Naturreiche mit ihren Wesenheiten, verschwindet das Reich
des Ätherleibes der Erde. Die Wanderschaft geht nun durch den Astralleib
der Erde in die spirituelle Welt. Da kommt nun eine ganz neue und andere
Art von Wesenheiten zum Vorschein: Geister: die sozusagen Befehlshaber,
Übergeordnete, Vorgesetzte der Naturgeister sind; zu ihnen, als dem
Zugehör zum Astralleib, kann nur der Astralleib des Menschen (zur
Nachtzeit, im Schlafe) vordringen; es sind, mit Zeit und Raum als Idee
verbunden: die Geister der Umlaufszeiten, der Tag- und Nachtgleiche, der
Drehung der Erde. Zwei Schleier also hat der Alchimist zu heben: den des
Reiches der Elemente (des Ätherleibes) und den des Reiches der
Umlaufszeitgeister (des Astralleibes der Erde). Da taucht nun allerdings die
Frage auf, was mit dem Ichkern des Alchimisten werden mag. Das Ich des
esoterischen Menschen, der als richtiger Alchimist anzusehen ist, läuft im
Augenblicke dieser zweiten Wanderschaft in Gefahr, einzuschlafen und
sich zu verlieren. Da der Ätherleib des Menschen eine Einheit, der Ätherleib
der Natur aber eine Vielheit ist, ein Verhältnis, das auch für den Astralleib
des Menschen und den Astralleib der Erde besteht, so wächst hier die
Gefahr der Zerstückelung (eines okkulten Erlebnisses, das im zerstückelten
Osiris, im zerstückelten Dionysos sein erhabenes Vorbild hat); darum gibt
der Meister dem Adepten für diesen Punkt der Reise genaue Weisungen,
die verhüten helfen, daß das Ich, um es so vulgär als möglich
auszudrücken, bei sich bleibe, sich nicht verliere, nicht der Welt abhanden
komme; zwei Dinge dürfen dem Ichbewußtsein nicht verlorengehen: die
Erinnerung an alle Erlebnisse der gegenwärtigen Inkarnation und die Stärke
des moralischen Gewissens. Geht nun die Wanderschaft auf diese Weise
in Ordnung vor sich, so steigt der Adept zu dem einheitlichen Geiste der

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 192


Planeten selbst auf; er bleibt mit der Sonne verbunden, wenn diese selbst
auch untergegangen ist, denn die geistige Sonne leuchtet ihm. Der
Planetengeist, der Geist der Erde, regelt die Wechselbeziehungen
zwischen der Erde und den anderen Planeten. Ist der physische Leib durch
die Wahrnehmung mit der Sinnenwelt (den Naturkräften) verbunden, so
steigt der Ätherleib durch die Imagination zum Reiche der Naturgesetze,
der Welt der Naturgeister auf, der Astralleib aber, durch die Inspiration, zum
Sinn der Natur, den Geistern der Umlaufszeiten, und das Ich, durch die
Intuition, zu den Planetengeistern. Die Naturkräfte, von denen das
gewöhnliche Bewußtsein der Menschen spricht, als da sind: Licht, Wärme,
Magnetismus, Elektrizität, Anziehung, Abstoßung, Schwerkraft, Gravitation
usw., sind nichts anderes als Wesenheiten der Maya (der Erscheinung),
denen in Wirklichkeit die Welt der Naturgeister entspricht, so den Ätherleib
der Seele ausmachen. Die Naturgesetze wiederum sind Maya, hinter der
die Welt der Geister der Umlaufszeiten liegt; zum Planetengeist aber
vermag die Mayawissenschaft überhaupt nicht vorzudringen; nur die
Künstler, die Dichter, die Musiker, die Maler und die esoterischen
(metaphysischen) Denker sind das imstande, indem sie den Sinn hinter den
Dingen, die wahre Wirklichkeit, den Ewigkeitszug der Dinge wittern und
suchen. Die Quelle aller dieser Erkenntnis ruht im Innern, im Innenleben
des Menschen, in ihr liegt auch das große Geheimnis der
Bewußtseinszustände und ihrer Entwicklung, Durch ihr Innenleben sind die
Menschen, ohne daß sie sich Rechenschaft darüber ablegen, mit den
höheren Welten verbunden; sie sind mit ihrem Innenleben entweder im
Einklang oder im Widerspruch zu den höheren Welten: durch die Pflege
wahrer Gedanken und richtiger Wirklichkeitserkenntnis gelangt der Adept
zum Tor, das in die geistigen Welten führt; mit dem Gefühl einer starken,
opfermutigen und selbstlosen Liebe kommt man den Engeln nahe, der
nächst höheren Wesenstufe, vom Menschen aus gesehen und gefühlt. Auf
diesem Wege gelangt der Mensch auch zu jenen Wesen der dritten
Hierarchie, die, in der Sprache der Dichter, der Engel, der jedem Menschen
zur Seite ist, der Schutzengel des Menschen genannt wird. Über den
Engeln stehen die Erzengel (Archangeloi), die Engel der Menschengruppen
und Völker, über den Erzengeln aber die Zeitgeister, die Leiter des
Zeitgeistes und der Zeitalter (Archai). Die Zeitgeister endlich bringen
unausgesetzt neue Geister aus sich hervor!

XIII. Die Planetengeister


Die Wanderschaft des geistigen Alchimisten geht nun folgerichtig weiter
zu den Höhen der geistigen Hierarchien zweiten und ersten Grades. Nicht
alle kommen freilich so weit, denn die Sphäre der Zeitgeister, Erzengel und
Engel ist so vielgestaltig und wundersam, daß es den Adepten mit
ungefestigtem Ichkern schwer wird, sich von ihnen loszumachen; erscheint
ihnen doch schon alles, was sie auf diesem Punkt ihrer Entwicklung
erleben, schauen und gleichzeitig in der Materie auszudrücken vermögen

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 193


(und gerade das lockt ja am stärksten), als so viel und so wertvoll, daß es
sie nach weiterer Wanderschaft nicht gelüstet! Den Wesenheiten der dritten
Hierarchie stehen die Naturdämonen zu Diensten: die Geister der Erde, des
Wassers, der Luft und zuletzt auch des Feuers. Es sind Dämonen und sie
üben auf das Menschenwesen einen unbeschreiblichen Zauber aus. Die
Geschichte der Alchimie ist reich an Adepten, die den Dämonen verfielen
und mit Hilfe unlauterer, ungeordneter und zu Mißbrauch stets einladender
Kräfte und Wesenheiten, denen sie selbst Gestalt gaben, indem sie ihnen
ihre Wunsch- und Begierdensubstanz zur Verfügung stellten, zum großen
Werke zu gelangen hofften. Der wahre Adept bleibt bei dieser Zauber- und
Dämonenwelt nicht stehen; er steigt in seiner Bewußtseinsentwicklung zu
den Wesenheiten der zweiten Hierarchie auf; sie schauen, sie erleben,
heißt, sich selbst in einer bestimmten Art und bis zu einem gewissen Grade
von Bildhaftigkeit objektivieren; die zweite Hierarchie ist die Hierarchie der
Töne, der Sphärenmusik; hier leben und weben, im geistigen Sinne, die
Geister der Form (Exusiai), der Bewegung (der Veränderung und des
Werdens, Dynameis) und die der Weisheit, gesetzt über die
Gesamtphysiognomie, den Gesamtgestus, die führende Weisheit der Welt,
die die Gruppenseelen der Tiere und Pflanzen birgt. Von den Geistern der
Form erhält der Planet seine Gestalt, von denen der Bewegung seine
innere Wandelbarkeit, von den Geistern der Weisheit das Bewußtsein des
astralischen Leibes. Die dritte, die höchste Hierarchie, in. der
allbeseligenden Nähe Gottes verharrend, umfaßt die Geister des Willens
oder Trone (von denen die Impulse zur Bewegung der Planeten im Baume
ausgehen) oder Geister des Willens; die Cherubime (die die
Einzelbewegung des Planeten im Verhältnis zu den anderen Planeten
regeln) und endlich die Seraphime (denen das seelische Leben eines
Planeten in Verbindung mit der Sprache anvertraut ist). Mit ihnen, den
höchsten Wesenheiten, ist auch das große Geheimnis des Falles der Engel
verknüpft, das im Komplex der Alchimisten eine besondere Rolle spielt. Die
Wahrheiten der obersten, höchsten Hierarchie, bekommen in einem
bestimmten Augenblicke der Weltentwicklung das »Gelüste«, ihre Natur zu
verleugnen; als oberste Hierarchien Gottes können sie von Natur aus keine
Selbständigkeit, keine Individualität, wenn man es so nennen will, haben,
wie sie etwa der Erdenmensch entwickelte; eine Gruppe dieser
Wesenheiten empfand nun den brennenden Wunsch, ihr Wesen im Spiegel
einer Art Außenwelt zu erleben; damit verleugneten sie zugleich ihr
eigenes, von Gott unmittelbar verliehenes Wesen, womit die Unwahrheit,
der Geist der Lüge, in ihre Reihen drang. Diese Geister nennt Rudolf
Steiner in seinem wundervollen Vortragszyklus ȟber die geistigen
Wesenheiten in den Himmelskörpern und Naturreichen« luziferische
Geister, Wesenheiten, die ein selbständiges, inneres Leben entwickeln
wollen, indem sie die höhere Substanz der dritten Hierarchien wie deren
Auftriebskraft für sich abzuspalten suchen. (Etwas Ähnliches spielte ja auch
bei anderen höheren Wesenheiten in die Entwicklung hinein, denn und nur

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 194


so läßt sich das Eigenleben der Planeten erklären. Die Substanz der
Planeten Saturn, Jupiter und Mars, die vom okkulten Gesichtspunkte aus,
raumerfüllend ist, stammt von den Geistern der Form; diese besitzen aber
in der Sonne einen gemeinsamen Mittelpunkt. Von den abgespaltenen
Geistern der Form stammen die zersplitterten Weltformen, die den Namen
Planeten tragen, die Erde miteingeschlossen; es ist auch grundfalsch, daß
die Planeten ihr Licht von der Sonne borgen müssen: jeder Planet hat sein
eigenes Licht, das er in sich verborgen hält; es gibt in Wahrheit keine
materielle Welt, denn diese ist, in Wahrheit, nichts anderes als ein
Zusammenspiel geistiger Kräfte, und unsere gewöhnliche Astronomie
beschreibt nichts als die Maya, dahinter die Wahrheit der geistigen Welt
liegt. Jeder Planet hat seine eigenen Geister der Bewegung und der Form,
und aus dieser Einsicht bezieht die Astrologie ihre genauen
Beschreibungen der Grundtendenzen, die jedem Planeten eigen sind. Ganz
anders steht es um die Fixsterne, vor allem um die Sonne, für die nur die
dritte Hierarchie Bedeutung hat. Die Einflußsphäre der Fixsterne reicht
hinaus bis zu den Geistern der Weisheit, die der Planeten bis zu den
Geistern der Form. Die Sphäre des Mondes aber reicht bis in das Gebiet
der Erzengel hinab, denn der Mond (wo es weder Menschen noch Tiere,
gibt es auch keine Engel) ist weder ein Planet noch ein Fixstern. Alle
Monde eines Planetensystems sind bloß Leichname verstorbener Welten,
Leichname des Planetensystems; in der Zusammenfassung der Fixsterne
aber ist der ätherische Leib des Planetensystems zu suchen; die Kometen
und Meteore endlich sammeln alles, was an schädlichen Substanzen vom
Planetensystem ausgestrahlt wird, an sich und reinigen damit das System
selbst. Die Kometen sind die reinigenden Gewitter im Planetensystems;
ihre Sphäre reicht bis zu den Cherubimen. Das Gold aber ist ein
luziferisches Mineral!

XIV. Die Arbeit am Stein und das Karma


Das Gold ist ein luziferisches Mineral. Hier liegt die Tragödie der Alchimie
als einer Kunst, die Materie verwandelt. Man kann sie mit Gott, seinen
Heerscharen und in Gemeinschaft mit den Heiligen aller Zeiten, man kann
sie aber auch mit Hilfe der Dämonen betreiben und mit den Kräften der
Hölle. Betrachtet man die zwölf seltsamen Bilder zu den zwölf Schlüsseln
des Basilius Valentinus, ordinis Benedicti, so stellen sie,
symbolisch, göttliche und erhabene Vorgänge dar, denen die beigegebenen
Beschreibungen offenkundig auch die zugehörige materielle Deutung
geben. Der Stein der Weisen ist ein herrliches Produkt, das Krankheit heilt,
Jugend wiedergibt und alle Macht der Erde in die Hände gibt, denn er ist
von »subtiler, spiritualischer und durchdringender Eigenschaft«. Der
niedere Alchimist aber, ganz auf das Irdische und Begehrliche gerichtet,
denkt nur an die Stangen Goldes, die sich aus geringfügigem Samen
mittels des roten Pulvers gewinnen lassen und die ihm Macht über
Menschen verschaffen und den Schlüssel zu aller vergänglichen Lust

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 195


liefern. Gold ist zugleich Schöpfung des Lichtes. Die Natur erzeugt es mit
den Kräften der Sonne in gelindem Feuer und nicht weit von der Oberfläche
der Erde. Der Alchimist behauptet, daß überall, wo Gold gefunden wird,
auch eine bescheidene Pflanze wachse, die Homer Moly nennt, ein
rätselhaftes Ding, das die Jugend wiedergibt. Margrave in Bulwers
»Seltsamer Geschichte« sucht nach dem Kraut und kommt dabei durch
Präriebrand um, nur in der Retorte des Alchimisten wächst dieses Kraut,
das den bekannten Spruch, gegen den Tod sei kein Kraut gewachsen, ad
absurdum zu führen scheint, nicht. Sein rotes Pulver, zu trinkbarem Gold
bereitet, enthält in sich selbst das Geschenk der ewigen Jugend. Es ist nun
aber an der Zeit, einen Blick in das Laboratorium des in der Materie
arbeitenden Adepten selbst zu werfen. Stehen die Gestirne günstig, ist der
Aszedent mit guten Aspekten beglückt, der Hyleg in Ordnung und das
Medium coeli klar, so geht der Adept zunächst daran, die erste Materie, die
jungfräuliche Erde, zu suchen, die des großen Werkes Grundlage bildet.
Sie muß im Frühjahr gesucht werden, denn da ist sie am wärmsten und
frischesten zu finden, da ist sie vom Himmel selbst mit Kräften der
Verwandlung gesegnet. Die Adepten verbreiten über diesen Punkt mehr
oder weniger vollkommenes Dunkel; just, wo sie am deutlichsten zu
sprechen scheinen, sind sie am zweideutigsten, indes, wenn man ihnen
nicht auf die Finger sieht, ihrem Mund, unbeachtet, wie ein Mäuslein,
plötzlich ein Wort entschlüpft, das des Geheimnisses ganzen Sinn enthüllt.
»Weißt du jetzt noch immer nicht«, sagt auch Basilius Valentinus, »worum
es sich handelt, so ist dir nicht zu helfen, aber der Grund dafür liegt an dir,
nicht an mir, da ich aufrichtig, offen und ohne Hinterhalt rede«. Kein
Wunder, daß bei solchem Stande der Dinge Alchimisten, denen es an der
wahren Erleuchtung fehlt, im Kreise gehen, bald nach dieser, bald nach
jener Materie greifen und Schiffbruch leiden. Am traurigsten ergeht es den
Sterkowisten, die bald Guanit, bald Struwit nach Hause bringen, in
jahrhundertealten aufgelassenen Kloaken gesammelt, als schmiegsames,
goldgelbes Steingebilde, das die Natur verwandelt hat, das aber seine
übelriechende Wesenheit sofort wieder offenbart, wenn der Prozeß im
Athanor, im Ofen des Alchimisten, beginnt. Wohl verwendet man bei
späteren Arbeiten in der Tat Pferdemist, der einen besonderen Grad von
Wärme darstellt, aber als prima materia selbst kommt er ebensowenig in
Betracht, wie jedes andere Exkrement. Weit näher schienen jene Adepten
dem Zentrum der Arbeit, die das Geheimnis der ersten Materie im Atem
des Menschen, im Tau, Schnee und Regen des Himmels vermuteten,
besonders in solchem Wasser, das aus Frühlingsgewittern stammt,
obgleich ihnen nicht klar war, wie diese Dinge zu Erde werden sollten. Sie
gingen im Frühjahr, vor Sonnenaufgang, ins Freie und atmeten in ein Gefäß
so lange, bis der Niederschlag sich sammelte; das blieb dann an
wohlverwahrtem Orte stehen und schlug, so wird berichtet, eine Form Erde
ab, die dem gesuchten köstlichen Ding sehr nahekam. Gewisse
Experimente werden beschrieben, die zunächst zu beweisen scheinen, daß

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 196


die Natur in ihrer Werkstatt die Mischung ihrer Gebilde nach den
Gradunterschieden der Subtilität vollzieht; eine feine, sorgfältig
ausgewählte Erde wird in Wasser getan und zerrieben, worauf Erde und
Wasser durch eine bestimmte Zeit auf einander wirken, ein Prozeß, der,
wechselnd in der Einwirkung, immer wiederholt wird, bis ein bestimmter
Grad erreicht ist. Andere wieder lassen Tau, Reif, Schnee oder Eis einen
vollen Monat lang an geschütztem Orte filtriert stehen; es wird behauptet,
daß bei diesem Experiment nicht weniger zustande kommt als ein feines,
durch die Strahlen der Sonne bereitetes Pulver, das die vier Elemente in
sich enthält. Endlich wieder werden Versuche beschrieben, eine sichtbare
Form der Weltseele darzustellen, soweit sie auf der physischen Ebene
auftritt.

XV. Die Quintessenz


Nimmt man nun an, dem Adepten wäre gelungen, durch die Scylla und
Charybdis solcher Experimente durchzukommen, so beginnt für ihn eine
sehr schwierige Arbeit, darin bestehend, die sogenannte Quintessenz des
Goldes, Silbers und Quecksilbers zu bereiten. Der durchschnittlich mit
chemischen Manipulationen vertraute Leser hat wohl eine Ahnung davon,
wie Drogisten die Essenz, das Parfüm, den Esprit einer Substanz
herstellen. Jede Drogenhandlung ist bis zu einem gewissen Grade eine
Stätte, wo man Ergebnisse alchimistischer Prozesse bekommen kann.
Ähnlich, wenngleich ungeheuer gesteigert, sind die Versuche zu werten, die
zur Darstellung der Quintessenzen des Goldes, des Silbers und des
Quecksilbers dienen. Aus dem Golde gewannen die Adepten auf ihre
Weise das Prinzip Sulfur, aus dem Silber den Merkur, aus dem Quecksilber
das Sal. In einer Beschreibung dieser Arbeit wird darüber von alten und
neueren Alchimisten gesprochen. Man findet Rezepte dazu bei Parazelsus
so gut wie bei anderen, als verläßlich und erfolgreich bezeichneten
Alchimisten. Am besten scheint mir Philalethes, der wahre Philalethes
genannt, beschlagen zu sein; nicht mit Unrecht nennt ihn Lenglet einen
Adepten des 17. Jahrhunderts, der »keine Märchen« erzählt und der in
seinen Mitteilungen am weitesten gegangen sei. Es ist falsch, anzunehmen,
daß die Arbeit der Alchimisten ein Vergnügen darstellt (Goethes Faustwort
»zwar ist es leicht, doch ist das Leichte schwer« scheint hier eine höchst
passende Anwendung zu finden); seine Arbeit ist kein Spiel, und just die
Vorbereitungen gehören zu den schwierigsten Kapiteln des ganzen
Werkes; so langweilig sie auch aussehen, sie müssen mit Geduld in Angriff
genommen werden. Darum, so fügt Philalethes schalkhaft hinzu, sei eine
Frau ungeeignet, das magnum opus anzugehen; sie würde ein Amüsement
erwarten, wo nur Arbeit zu finden ist. Worin besteht diese nun? In einer
Reihe von Prozessen, die bestimmte Zeiten in Anspruch nehmen. Waren
die Quintessenzen der drei Metalle, Gold, Silber und Quecksilber, im
Athanor und in die präparierte Erde eingenistet, so dauerte die erste Arbeit
vierzig, die Kochung aber neunzig Tage und Nächte. Der eine Weg, den

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 197


Philalethes beschreibt, nimmt sieben Monate, der andere anderthalb Jahre
in Anspruch; drei Stadien müssen durchschritten werden, die durch Farben
gekennzeichnet sind: die schwarze, die weiße und die rote, woraus sich
ergibt, daß die heiligen Farben des ersten deutschen Reiches Schwarz-
Weiß-Rot auf Grund höherer Eingebung entstanden sind. Die Arbeit
durchschreitet sieben Planetensphären und die zwölf Tierkreiszeichen, die
Planeten in der nachstehenden Ordnung: Merkur, Saturn, Jupiter, Mond,
Venus, Mars und Sonne. Philalethes gibt, wenn das siebente Regime, das
der Sonne, erreicht ist, weitere Aufschlüsse über die Fermentation,
Imbibition und Multiplikation des Steines, drei sehr wichtige Schlußarbeiten,
die, oft schlecht verrichtet, die Vernichtung der Früchte der ganzen Arbeit
herbeiführen. Nichtsdestoweniger ist das Problem damit, noch lange nicht
erschöpft: die Art der Anwendung des Steines, seine verschiedenen
Verwendungen überhaupt, geben manche harte Nuß aufzuknacken. Als
sicher nimmt Philalethes an, daß das Aurum potabile ein tausendjähriges,
unerschöpflich reiches Leben verbürgt, daß man alle Edelsteine der Welt,
schöner und edler damit herstellen kann, als die Natur sie hervorzubringen
vermag, und daß es endlich eine Art Universalmedizin für alle Leiden dieser
Erde darstellt. Die Verwandlung der niederen Metalle in Gold geschieht
vorläufig in derselben Weise. Der Adept läßt auf die Masse aus Blei, Kupfer
oder Zink ein Körnchen seines roten Pulvers fallen, das eine erstaunliche
Multiplikation Goldes als Resultat ergibt. Kam er auf unrechtmäßige Weise
in den Besitz des Pulvers, so war seine Herrlichkeit zu Ende, wußte er das
Geheimnis der Tinktur, so war er so hochentwickelt, daß ihn nach der
Herstellung des luziferischen Minerals nicht mehr verlangte. Die Macht
haben und sie gerade deshalb nicht gebrauchen, darin lag wohl der tiefste
Sinn alchimistischer Erfüllung. In der Anwendung des Steines bei tödlichen
Krankheiten ergab sich übrigens, worüber zahlreiche übereinstimmende
Berichte vorliegen, eine merkwürdige Erfahrung. Nicht immer wirkte der
Lapis in dem Sinn, den man erwartete; es gab sogar Fälle, in denen der
Kranke nach Behandlung mit dem trinkbaren Gold in schweren Krämpfen
zusammenbrach und starb, indes andere, in gleicher Lage, durch das Elixir
sofort gesund wurden, wie durch ein leibhaftiges Wunder. Die Ursachen
solcher verschiedener Wirkungen ist nicht schwer zu erraten: sie liegt im
Gesetz des Karma! Das Karma, insbesonders das Karma des Todes, ist
kein starres Muß, sondern dehnbar in gewissem Umfang, zeitlich wie
räumlich. Oft scheint die Uhr eines Lebens abgelaufen, in der Buchführung
Ahrimans, der das Sterben regelt, beschlossen und besiegelt, und
dennoch, in letzter Stunde, geschieht, wie durch ein Wunder, eine
Wendung zum Besseren, oder: ein Mensch, in unmittelbarer Todesgefahr,
wird gerettet, obzwar ihn jedermann für verloren hielt. Es scheint, daß der
Engel, der den Menschen begleitet, in kritischen Augenblicken die Macht
hat, dem Sensenmann in den Arm zu fallen und gleichsam von den
Mächten, die Leben und Sterben verwalten, einen Aufschub, wenn man
will, eine Begnadigung zu erwirken. In solchen Fällen ist das Elixir der

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 198


Weisen ein sicheres und unfehlbares Mittel. In anderen hilft es, Karma zu
vollziehen und die Stunde des Todes zu erleichtern.

XVI. Die Alchimie und unsere Zeit


Man kann das große Kapitel über die Alchimie und die Arbeit am Stein
kaum schließen, ohne an dieser Stelle noch einmal daran zu erinnern, daß
die Rosenkreuzer jahrhundertelang zugleich die einzigen wahren
Alchimisten gewesen sind. In diesem Zusammenhang mag denn auch ein
Wort über die Freimaurerei gesagt werden, die heute, allerdings streng
genommen, in einer Darstellung der alchimistischen Geheimnisse keinen
Platz mehr hat. Sowenig von der Erkenntnis der Geheimschulen in der
Freimaurerei von heute auch lebt, ihre unterirdische Verbindung mit den
Rosenkreuzern, deren Sitten und Gebräuche die alte Maurerei zum Teile
übernahm, obschon sie an die Bauhütten und Symbole der
Baumeisterinnungen anknüpft, ist unbestreitbar. Es liegt nicht im Rahmen
dieser Schrift, die Geschichte der Freimaurerei auch nur in kurzen Zügen
zu entwerfen, die Hieramlegende und ihre höchst sonderbar und wunderlich
verschnörkelten Gedankengänge zu deuten und zu kritisieren, noch sich
mit der gar nicht so wichtigen Frage zu befassen, ob die zahllosen Angriffe
auf das Wesen und Wirken der Freimaurerei und bis zu welchem Grade sie
auf Tatsachen und einwandfreien Grundlagen ruhen. Als sicher gilt, daß der
Grundgedanke der Freimaurerschaft (Dienst an der Menschheit) ein edler
ist und daß eine ganze Schar einwandfreier und erleuchteter Geister
Freimaurer waren und noch heute sind. Indes liegt wohl in der Natur der
Sache, anzunehmen, unlautere Elemente hätten sich, im Interesse dieser
oder jener Ziele, zu allen Zeiten bis auf den heutigen Tag, ihres Einflusses
und der stets reichen freimaurerischen Mittel skrupellos bedient, um im
Trüben zu fischen und die Angelegenheiten der seßhaften Nationen von
Grund auf zu verwirren. Drei Mächte dieser Welt haben zur Zeit des
Weltkrieges vollkommen versagt: die Kirche, die Freimaurer und der
Sozialismus, der vergeblich mit der Solidarität der »Proletarier aller Länder«
flunkerte, in Deutschland das nationale Bewußtsein systematisch untergrub
und mit den Feinden der Mittelmächte unter einer Decke steckte. Kein
Schuß wäre abgegeben worden und das furchtbare Elend des allgemeinen
Menschenschlachtens erspart geblieben, wenn die Kirche die Macht gehabt
hätte, Christen davon abzuhalten, Christen zu töten, wenn die Freimaurer
den festen Willen aufgebracht haben würden, ihren Einfluß und ihr Geld für
die Sache der ganzen Menschheit einzusetzen und ihr Hauptinstrument,
den Sozialismus, von seinem törichten Beginnen abzuhalten, das Heil der
Menschheit im Umsturz der materiellen Grundlagen zugunsten irgend einer
Klasse zu erblicken. Wohl weiß ich, daß der Ausgang eines so finsteren
Zeitalters, wie des Jahrhunderts der »Aufklärung«, der materialistischen
Geschichtslüge und der entseelten und entgeisteten Naturwissenschaften,
unmöglich eine andere Wirkung als die einer großen Katastrophe mit sich
bringen konnte. Die niedrigen, elenden und auf die gemeinsten Instinkte

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 199


gegründeten Gedanken der Menschen, beschützt, begünstigt und auf alle
Weise gefördert durch eine auf den Aberglauben an den Affenursprung
basierte Afterwissenschaft, die Flammen des Hasses, der Habgier und des
Neides, zusammen mit allen zerstörenden Kräften in den Weltraum
entsendet, konnten unmöglich eine andere Antwort aus dem All erwarten.
Die ganze Magie der Hölle konnte ihren Apparat nur deshalb so schamlos
und verhängnisvoll entfalten, weil die Gegenmagie der Kirche ihre Kraft
ebenso eingebüßt hat wie die der Freimaurerei, die, der Kirche gleich, in die
Händel dieser Welt verstrickt, das Bewußtsein ihrer Sendung außerhalb der
religiösen Impulse verlor und, bei aller Einsicht in die hohen Dinge, gegen
die alten Alchimistenfarben Schwarz-weiß-rot Front machte, obgleich sie
die alchimistische Deutung dieser erhabenen Dreifaltigkeit wohl kennen
sollte. Der Verlust der alten, heiligen Geheimnisse hat die Kirche ebenso
sicher ihrer magischen Gewalt beraubt, wie die Freimaurerei, die das
»sozialistische Freidenkertum« auf alle Weise nährt und durch positivitische
»Philosophie«, Psychoanalyse, Charakteriologie und ähnliche von der
Presse systematisch aufzüchtete und beweihrauchte Geschäftigkeiten und
Humbugweistümer in achtbare Betätigungen umfälscht. Wen wundert es
noch, daß, als letzte Blüte auf dem Giftbaum einer bis ins Innere vergifteten
amusischen Kultur, das Hakenkreuz, einst ein geheimnisvolles, feierliches
und überaus bedeutsames okkultes Wahrzeichen, nun als Geschäftsmarke
der neuesten Teufelei aufscheint, die das edle Schwarzweißrot, die hohe
Trias der wahren Weisen und Philosophen, mit dem Sozialismus verbindet.
Der Hexensabbath ist in vollem Gang und Satan lebt herrlich in der Welt!

Siebentes Kapitel
Die Wiederkunft des Okkultismus im neunzehnten Jahrhundert

I. Die »stille Zeit« und ihr Erlebnis


Das neunzehnte Jahrhundert bedeutete wohl Triumph der Technik und
Hochkonjunktur des Sports, aber der Geist des Materialismus war um diese
Zeit vollkommen in Fleisch und Blut übergegangen; er beherrschte die
Naturwissenschaften, die Soziologie, die Kunst, die Philosophie und die
Politik. In das erste Viertel des neunzehnten Jahrhunderts fallen wohl noch
Fichtes »Bestimmung des Menschen« und »Reden an die deutsche
Nation«, Schellings Schriften, Hegels »Phänomenologie des Geistes« und
»Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften«, Schopenhauers
»Welt als Wille und Vorstellung«, Onkens »Lehrbuch der
Naturphilosophie«, aber schon Feuerbachs »Gedanken über Tod und
Unsterblichkeit« und »Wesen des Christentums«, David Strauß' »Leben
Jesu«, Büchners »Kraft und Stoff«, Karl Marx' »Kapital« und die Schriften
Machs, Erzeugnisse der achtziger Jahre, lassen den Fortschritt in der
Verdunkelung des »aufgeklärten« Menschengeistes in offenkundigen
Verfallssymptomen erkennen. Über die Periode von 1800 bis 1825 urteilt

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 200


ein linksgerichteter Synoptiker ziemlich offenherzig, »das hochgespannte
Gefühl der Romantiker, den Stachel Kantscher Problematik im Leibe und
die Enttäuschungen der französischen Revolution im Herzen«, habe in
Schopenhauer zur Resignation, in Kleist zur Verzweiflung, in E. Th. A.
Hoffmann zur Satire geführt und in Hegel »sogar« in »Reaktion«
umgeschlagen; die Kunst sei den Menschen jener Zeit zum Narkotikum
geworden, dazu bestimmt, die »Wirklichkeit zu vergessen«. Gleichzeitig
rühmt er den »Aufschwung der Gelehrsamkeit«. Während St. Simon seinen
»Utopischen Sozialismus« in alle Winde schreit, von der Befreiung und
Assoziation der durch die Wissenschaft geleiteten menschlichen Arbeit
phantasiert und das Christentum zur undogmatischen Religion der sozialen
Gleichheit degradiert, Fourier sein »300 Familien-Glück« mit dem Griffel in
der Hand errechnet, schreitet Deutschland, durch Symptome
aufgeschreckt, zu Reformen, kehrt Franz v. Baader, der Mystiker, ganz
schlicht zu Gott zurück, erneuert Novalis die gottbewußte Romantik, erobert
Beethoven die Welt mit seiner unsterblichen Kunst, schreibt der »alternde«
Goethe seinen »Faust«, erster Teil, seine »Wahlverwandtschaften«, seinen
»Wilhelm Meister«, zweiter Teil, stellen sich die »Nazarener« unter
Overbecks Führung, malt Delacroix seinen »Dante und Vergil im Kreise der
Zornigen«, vollendet seine Lithographien zum »Faust«, zum »Götz« und zu
Shakespeares »Hamlet«, vollzieht sich, 1825 bis 1850, der ungeheure
Aufschwung der exakten Wissenschaften bei »steigendem wirtschaftlichen
Wohlstand und spekulativer Philosophie«, baut August Comte dem
Positivismus ein unwohnliches und reizloses Zweckgebäude, erscheint,
ziemlich unbeachtet, das kommunistische Manifest und wiegt sich das
Bürgertum, durch die bis 1848 herrschende Stille getäuscht, im Genüsse
einer, wie es schien, ziemlich mühelos errungenen Herrschaft. Da
geschieht, just zur Zeit dieser »stillen Zeit«, etwas, was die Welt, obwohl sie
alle Hände voll zu tun hat und obwohl Goethes Licht bis zu einem gewissen
Grade in ihr Bewußtsein eindringt, etwas Merkwürdiges, vor einer Welt, die
mit blindem Auge auf Swedenborgs Gesichte blickte: ein Mann im Staate
Maine der Vereinigten Staaten, zu Hydesville, wird durch ein Klopfen an der
Tür geweckt, und mit diesem Klopfen beginnt nun die Welle des Spiritismus
von der Welt Besitz zu ergreifen. Im Herbst des Jahres 1847 tritt dieses
Wunder auf, und vierzig Jahre später gibt der internationale
Spiritistenkongreß die Zahl seiner Anhänger schon mit 15 Millionen an. Ich
muß mir das Vergnügen, die Wirkungen des Spukhauses auf den
Menschengeist des XIX. Jahrhunderts zu schildern, leider versagen; das
Spukhaus von Hydesville kam nicht gänzlich unvorbereitet. 1829 war
Justinus Kerners »Seherin von Prevorst« (Friederike Hauffe) erschienen,
1840 ward im »Magikon« das Herüberragen der Geisteswelt in die irdische
Sphäre ernstlich erörtert, und Jung Stillings »Szenen aus der Geisterwelt«,
»Theorie der Geisterkunde« und »Apologie« fehlte es keineswegs an
Lesern. (1803 bis 1809.) Ein Jahr vor dem Geburtsjahr des neuen
Spiritismus schrieb Andreas Jackson Davis, der »Täufer des doktrinären

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 201


Spiritismus«, kurz und bündig: »es werden Beziehungen angeknüpft
werden zwischen der geistigen Welt und der Erde«, und einige Zeit später
prophezeite, mit derselben Sicherheit und Präzision, ein anderer Franzose:
»Die redenden Tische werden alle Menschenphilosophie über den Haufen
werfen!« Geister, wie G. E. Lessing, erlebten, geraume Zeit vor Hydesville,
das Kloppeding von Dibbelsdorf in Braunschweig, das den braven
Eheleuten Kettelhut Gefängnis einbrachte, weil man sie für »Betrüger«
hielt. Da schrieb G. E. Lessing, der Schutzheilige aller »Aufgeklärten«: »Wir
glauben an keine Gespenster mehr? Wer sagt das?« Die Wissenschaft
sagte es, damals, und sagt es noch heute, aber in welchem wichtigen
Punkte hätte die Wissenschaft jemals recht behalten?!

II. Kampf um die Geheimnisse


Im großen und ganzen recht ungebildet und von der Schule aus nicht
gerade zu selbständigem Denken erzogen, ließ die Welt, die in der Regel
ein sehr kurzes Gedächtnis besitzt, die neuen Phänomene und den lauten
Streit zwischen Spiritisten und »Exakten« auf sich einstürmen. Sie wußte
nicht, daß es, schon lange vor dem Spiritismus, spiritistische Phänomene
gab, sie ahnte nicht, daß es bei den alten Alchimisten nicht mit richtigen
Dingen zuging und daß es mediale Personen waren, die ihr unglückliches
Leben als Hexen auf Scheiterhaufen beendigten, denn die Erinnerung an
diese Komplexe war bewußt und unbewußt ausgelöscht; sie blieb ohne
Kenntnis darüber, daß, schon in der ersten Hälfte des XIX. Jahrhunderts,
das Erlöschen des alten Hellsehens (geübt und gepflegt von zahllosen
mystischen Schulen) ein vollkommenes war, und es fiel ihr nicht ein, in
diesem Wiederaufleben der Phänomene des Mediumismus entweder Reste
des alten oder Keime eines neuen Hellsehens zu vermuten. In der Tat, den
Charakter einer Offenbarung konnte kein Unbefangener den Tatsachen des
Spiritismus absprechen. Der tiefste Schritt der Menschheit in die Finsternis
war um die Mitte des XIX. Jahrhunderts getan, aber die Seher und Medien
starben nicht aus, und es gab zu allen Zeiten, auch in diesem Augenblicke
tiefster Finsternis, Okkultisten, Überzeugte, die weder Hellseher noch
Eingeweihte zu sein brauchten, sondern das Bewußtsein einer geistigen
Welt als lebendiges und unzerstörbares Gut in sich bewahrten. In den
Ansammlungen solcher Geister, konnte man überhaupt schon frühzeitig
zwei Gruppen beobachten, die in der Taktik durchaus nicht
übereinstimmten. Waren die Esoteriker der eifersüchtig und leidenschaftlich
geäußerten Meinung, daß die Geheimnisse ängstlich gehütet und zu keiner
Zeit profaniert, sondern als heiliger Besitz vor jedem Zugriff gehütet werden
müßten, so wünschten die Exoteriker, um den Gang der menschlichen
Einsicht und Bewußtseinsentwicklung ehrlich besorgt, leidenschaftlich und
mit treffenden Argumenten ausgerüstet, ein Teil der Geheimnisse sei
unbedingt zu veröffentlichen, denn die Menschheit drohe, der
materialistischen, rein auf die Sinneswahrnehmungen gerichteten
Erkenntnis rettungslos zu verfallen. Schwärmten die Esoteriker nach wie

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 202


vor für geheime Gesellschaften mit strenger Schweigepflicht, so stampften
die Streitrosse der Exoteriker ungeduldig in ihren Ställen und witterten
Morgenluft. Man darf nicht etwa glauben, daß sich diese Kämpfe vor der
Mitte des XIX. Jahrhunderts einzig und allein in der irdischen Sphäre
abspielten. Alles, was auf Erden getan wird, entscheidet sich vorher oder
gleichzeitig in der geistigen Welt. Zunächst siegten, im geistigen und
irdischen Bereiche, die Esoteriker, aber ihr Sieg glich bald einer verlorenen
Schlacht. Zur Tat gedrängt, waren sie später nicht mehr imstande, ihren
Standpunkt restlos zu behaupten. Es geschah, was bei solchen Händeln in
der Regel geschieht: ein Kompromiß kam zustande, das die höheren
Geheimnisse vorläufig zurückbehielt, aber einen Teil der niederen
Mysterien der Veröffentlichung preisgab. Es kam, wie Steiner treffend
bemerkte, im Laufe der Kämpfe um eine Methode, zur Popularisierung
gewisser Geheimnisse, zur »Inszenierung des Mediumismus«, als eines
Hilfsmittels, die Aufmerksamkeit der Laienwelt auf Phänomene zu lenken,
die das Bestehen einer geistigen Welt zu beweisen schienen, Goethes
Wort von der Geisterwelt, die nicht verschlossen bleibt, sofern nur das Herz
nicht tot und die Sinne nicht »zu« sind, kam in einem bestimmten Grade zur
Erfüllung. Esoteriker und Exoteriker schlössen sich nun zusammen, jedes
in seiner Weise, zur Verbreitung und Sicherung des okkulten Wissens
beizutragen, und man braucht nur an Namen wie Zöllner, Wallace, Du Prel,
Crookes, Butlerof, Rochas, Oliver Lodge, Flammarion, Morselli, Schiaparelli
und Ochorowicz zu erinnern, um dem Leser einen Begriff dieses
Entwicklungsstadiums in der alten Streitfrage zu verschaffen. Mediumismus
und Spiritismus wurden, in diesem Augenblicke, gleichsam eine Probe aufs
Exempel, wie weit die Menschheit des XIX. Jahrhunderts zur Aufnahme
spirituellen Wissens reif wäre. Vom Wissen um das Zwischenreich, fiel,
theoretisch wie praktisch, zunächst der Schleier. Wenn nun, bei diesem
Stand der Dinge, beide Gruppen, Exoteriker und Esoteriker, nicht auf ihre
Rechnung kamen, so lag das mehr an der Sache selbst als an den
Personen, die sie vertraten. Der weitaus größere Teil der Medien des XIX.
Jahrhunderts behauptete, mit den Verstorbenen, mit den Geistern der
Verstorbenen selbst in Verbindung zu sein. Um das zu verstehen, muß man
das Wesen des Mediumismus ins Auge fassen. Schon während des
Schlafes, in der Zeit vom Einschlafen bis zum Erwachen am Morgen, ist der
normale Mensch ein Pilger im Reiche der Abgeschiedenen, darin sein
Ichkern und sein Astralleib weilen. Ein Medium ist kein normales Wesen im
üblichen Sinne. Sein Ichbewußtsein wie sein Astralleib sind gleichsam
herabgesetzt und abgedämpft, während physischer und Ätherleib ihre
Regsamkeit frisch bewahren. In diesem Zustande steht das Medium der
Beeinflussung durch andere Menschen offen; so hat also das Medium an
sich nicht die richtige Möglichkeit, in die Sphäre der Toten einzudringen,
weil es ja einen Teil dessen auslöscht, was im Reiche der Toten wandeln
kann. Aus diesem Umstände ergeben sich die zahlreichen Irrtümer, denen
viele Medien verfallen, sobald sie nach dem »Diktat« der geistigen Welten

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 203


schreiben (Beispiele bei Jakob Lorbeer, bei der Blavatsky und bei jener
Engländerin, die Oskar Wildes Ansichten aus dem Jenseits
niederzuschreiben vermeinte); sie geraten in die Sphären der luziferischen
und ahrimanischen Einflüsse, was dadurch möglich wird, daß sich sogar
der Mediumismus, ein Kind der materialistischen Zeit, der materialistischen
Denkweise anpaßt.

III. H. P. Blavatsky
Es empfiehlt sich überhaupt, drei Arten des Mediumismus nach ihren
phänomenalen Gesichtspunkten begrifflich zu unterscheiden. Ein Medium
ist ein Mittel-, ein Zwischen-, ein Durchgangswesen für hypnotische,
mesmerische und spiritistische Einflüsse. Bei hypnotischen Medien wird der
Ichkern des Mediums durch den Willen (also durch Verpflanzung des
Ichkerns) des Hypnotiseurs ersetzt, bei mesmerischen Medien »treten«
Ichkern und Astralleib durch Einwirkung typischer magnetischer Striche
»aus«; Astralleib und Ichkern wandern ins Zwischenreich, abgelähmt und
Einflüssen zugänglich. Das spiritistische Medium endlich tritt die oben
geschilderte Wanderschaft in luziferische und ahrimanische Zonen in einem
Bewußtseinszustand ein, der die Reste des alten Hellsehens, gemischt mit
den Keimen kommender Lockerungen in sich bringt. Im großen und ganzen
blieb aber die Sache des Spiritismus bei der allgemeinen Meinung, daß er
Botschaft aus dem Jenseits bringe, von den Verstorbenen selbst, richtiger
von den Astralleichnamen, die diese im Zwischenreich zurückgelassen
hatten. So entstand ein regelrechter Verkehr mit den Toten und zugleich mit
toten und lebenden »Meistern«, Mahatmas, die sich einfach der Medien als
Mittelwesen bedienten, um ihren Einfluß durch sie auszuüben, dabei aber
die eigenen Meinungen zu verbreiten und die eigenen Zwecke zu fördern.
Es entstand, indes, bald eine Front gegen weibliche Medien, und da ist nun
die beste Gelegenheit, von Helena Petrowna Blavatsky zu sprechen, die als
Begründerin und Patronin der okkulten Bewegung des XIX. Jahrhunderts
auftrat.
H. P. Blavatsky, geborene Hahn, war 1831 in Jekaterinoslaw als Tochter
eines Generals geboren. Schon um ihre Geburt schlingt sich ein Kranz von
Legenden: Menschen, die dabei waren, sollen kurze Zeit darauf durch
besondere Glücksfälle überrascht worden sein; ein Major erhielt eine
besondere dienstliche Auszeichnung, ein Anderer gewann in den Karten,
und die weise Frau, die bei der Geburt assistierte, fand bald darauf eine
vollgefüllte Geldbörse. Wie dem immer wäre, H. P. Hahn wuchs wie ein
richtiges tolles Mädel heran; sie trug am liebsten Knabenkleider, ritt die
Kosakenpferde ihres Vaters zuschanden, tollte mit Bauernkindern herum
und zeigte wenig Lust zu lernen. Augenblicke wildester Hingegebenheit
wechselten aber, namentlich in den ersten Mädchenjahren, oft mit Anfällen
wildester Zerrissenheit und tiefster Andacht. Mitten im tollsten Treiben
brach sie ab und hörte plötzlich stundenlang dem Gesänge
vorüberziehender Wallfahrer zu. Bei den Bauern und wohl auch bei den

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 204


Eltern galt sie bald als ein wenig verrückt und unberechenbar. Mit 17
Jahren heiratete sie Herrn Blavatsky, einen alten Mann, der die Ehe nie
vollzog und den sie nur nahm, um die in Rußland sehr weitreichenden
Rechte einer verheirateten Frau zu genießen. Nach etlichen Monaten lief
sie ihrem Gatten davon und stürzte sich in ein tolles, abenteuerliches
Leben; sie entfloh zunächst in Matrosenkleidern auf ein russisches Schiff,
allen Schmutz, alle Brutalität, alle Gefahren eines solchen Daseins mit
ungebrochenem Mut ertragend; wo sie sich seither überall herumtrieb, hat
sie niemals erzählt; man nimmt an, daß sie wiederholt auch in den
Balkanländern auftauchte, aber der Sturzbach ihrer Biographie beginnt erst
in Konstantinopel wieder ans Licht zu treten. In der türkischen Hauptstadt
stieß Helena Petrowna auf einen wunderlichen Kreis von okkulten
Schwärmern und Abenteurern, die ihr eine Gräfin vorstellte, darunter Dr.
Gérard Encausse, mit seinem nomme de guerre Papus genannt, Zentrum
eines Kreises von Magiern und solcher, die es werden wollten. Auch
Papus, der schon seit einer Reihe von Jahren tot ist, war eine fast
legendäre Persönlichkeit, Freund des genialen und geheimwissenschaftlich
reich erfahrenen Romanciers Sar Peladan, dessen zum Teile prachtvolle
Erzählungen leider noch nicht in brauchbarer Übersetzung vorliegen. (Die
Scheringsche Übertragung wimmelt von Mängeln, die sich überall
einstellen, wo es mit tieferer Kenntnis des Französischen ebenso happert
wie mit dem Gebrauche der deutschen Schriftsprache.) Sar Peladan neigte
mehr zum Rosenkreuzertum, Papus zu den Martinisten; er war ein ziemlich
ausgebildeter Magier, der allerhand schwarze Künste trieb, am russischen
Hofe als Propagandist für die spiritistische Sache wirkte und bald in den
Verdacht geriet, als Balkanspion tätig zu sein. In der Tat ward sein Name
mit der Ermordung eines Karageorgewitsch insofern verknüpft, als Papus,
nach einem Bericht der Blavatsky, ein Bauernmädchen in Trance versenkte
und mit Hilfe dieses Mediums, durch Fernwirkung, den Mörder jenes
Karageorgewitsch »im Vollzug rächender Vergeltung« zum Tode
beförderte; in der Tat soll der Mörder auf rätselhafte Weise gestorben sein.
Zuzutrauen war eine solche Handlung dem Dr. Gerard Encausse, genannt
Papus, ohne Zweifel, denn er beweist in seinem »Lehrbuch der praktischen
Magie« sein Wissen um Beschwörungen und magische Operationen
ziemlich unzweideutig. Helene Petrowna wurde jedenfalls seine getreue
Schülerin, deren mediale Begabung dieser merkwürdige Mann sofort erriet,
doch scheint die Schülerin vor ihrem Meister bald Angst bekommen zu
haben, denn sie reiste mit einer Balkangräfin (oder war es noch die
gräfliche Freundin aus Konstantinopel?) bald darauf nach Griechenland und
Ägypten, wo es zum Bruche mit der Gönnerin kam; welcher Art dieser
Bruch war, ist nicht recht klar; man behauptet, daß die H. P. plötzlich an
einer jungen Engländerin Interesse fand. Ob es sich dabei um ein
erotisches Verhältnis handelte, ist nicht klar. Die H. P. war geschlechtlich so
gut wie unempfindlich, namentlich Männern gegenüber, weit eher mag es
sich also, in diesem Falle, um andere Interessen gehandelt haben. Die

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 205


neue englische Freundin war sehr wohlhabend und H. P. sehr tüchtig in der
Kunst, jeden Menschen für den eigenen Vorteil auszunützen; sie ging mit
ihrer englischen Freundin ebenso rasch, wie sie Herrn Papus entflohen
war, auf Reisen, nach Paris, nach Amerika und schließlich nach Indien,
das, als geistiges Vaterland des Okkultismus, ihre besondere
Aufmerksamkeit weckte.
Da geschieht nun etwas Seltsames: Indien weckt, ähnlich wie der Verkehr
mit Papus, Angstgefühle in ihrer Seele. H. P. flieht dieses Land, als drückte
es mit hundert Atmosphären auf ihr Bewußtsein, und brennt nach Rußland
durch, wo sie, als Veranstalterin spiritistischer Seancen und magischer
Zirkel, die Früchte ihrer bei Papus erworbenen Kenntnisse verwertet. Bei
diesem Anlaß möchte ich darauf verweisen, daß es sich beim indischen
Okkultismus um eine Sache handelt, die von den Adepten als Geheimnis
streng gehütet wird. Einem Europäer ist es noch heute nahezu unmöglich,
hinter die Schleier der wahren und echten Geheimlehre zu dringen; das gilt
insbesondere vom tibetanischen Geheimwissen und von gewissen
Hindulehren. Der eingeweihte Inder verachtet die westliche Wissenschaft
und keine Neugier vermag sein undurchdringliches Schweigen zu
durchbrechen; ein verstorbener Okkultist, der Indien bereiste und dort seine
Erfahrungen sammelte, hat mir oft von diesen Sachverhalten erzählt und
bei dieser Gelegenheit boshaft (doch, wie ich glaube, wohl der Wahrheit
gemäß) hinzugefügt, Frau Besant, die Erbin der H. P. Blavatskyschen
Wissenschaft, sei mit ihrer Geheimlehre oft dem Spott der wahren
indischen Adepten ausgesetzt gewesen, die sie bei ihrem Glauben
beließen, den richtigen indischen Okkultismus zu betreiben. Auf ähnliche
Zusammenhänge scheinen sich die Angstzustände der H. P. zu beziehen.
Wie dem auch wäre, in Rußland ging es der H. P. B. nicht gut. Sie hatte
wohl Erfolge in der russischen Gesellschaft, es überfiel sie aber eine
schwere und rätselhafte Krankheit, die zugleich seelische Änderungen mit
sich brachte. Auch dazu mag eine abschweifende Bemerkung gestattet
sein: schwere und rätselhafte Krankheiten sind in gewissen okkulten
Entwicklungsstadien, namentlich dann, wenn es sich um eine ungeordnete
und wilde Entwicklung handelt, nichts Seltenes. Sie bilden vielmehr eine
unvermeidliche Gefolgschaft der notwendig eintretenden Lockerungen des
Astralleibes, ja auch des ätherischen und physischen Leibes, verbunden
mit Trübungen des Ichs; auch in Goethes Leben (vor der geplanten Pariser
Reise) spielte eine solche Krankheit eine entscheidende Rolle: sie bewirkte,
daß Goethe über einen gewissen Grad rosenkreuzerischer Einweihung
nicht hinauskam. H. P. wurde endlich wieder gesund, behauptete aber, gar
nicht krank gewesen zu sein, was vielleicht stimmt, wenn man sich das
eben Gesagte vor Augen hält. Was die Menschen für Krankheit hielten,
war, nach ihrer Aussage, nichts als eine Entrückung in die verschiedenen
Ebenen, die der Adept im Wege dieser Wandlung zu betreten gezwungen
ist. In ihren Entrückungen will die Blavatsky Rückspräche mit den
»Meistern« gepflogen haben, die diesen Weg wählten, um ihr die Rolle, die

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 206


sie auf Erden zu spielen berufen sei und ihre Sendung klar zu machen. Um
so merkwürdiger war nun die vorübergehende Wandlung im Wesen der H.
P. B., die wahrscheinlich auf medialem Wege auch den Rat erhalten mag,
in ihrer okkulten Tätigkeit eine Zeitlang auszusetzen. Tatsächlich schien die
B. nun eine Zeitlang ernüchtert zu sein; sie kümmerte sich plötzlich nur um
Geschäfte, zeigte sich als betriebsame Handelsfrau, rief eine Werkstätte für
Kunstblumen ins Leben, erzeugte eine neue Art Tinte und lag einem
regelrechten Holzhandel ob, der ziemlich einträglich gewesen sein mag,
denn H. P. schwamm plötzlich in Geld. Weniger kaufmännisch war aber,
einige Zeit später, H. P. B.s plötzliche Begeisterung für die
Garibaldibewegung in Italien. Sie taucht plötzlich als Garibaldilegionär auf,
kämpft und wird verwundet. Im Wundfieber scheint sich eine neue
Wandlung zu vollziehen. H. P. bricht ihr italienisches Zelt ab, hat eine neue
Freundin, Frau Sabina, gefunden und fährt mit ihr nach Kairo, wo sie eine
spiritistische Gesellschaft gründet. Bei Gelegenheit einer Séance, bei der
es ein wenig Nachhilfe gegeben haben mag, entsteht ein großer Skandal.
Hier sei neuerlich eine, diesmal aber letzte, abschweifende Notiz gestattet.
Medien, die bei spiritistischen Sitzungen verwendet werden, sind manchmal
nicht so stark wie sonst (sie neigen überhaupt zu Indispositionen, wie eine
Konzertsängerin) oder sie sind, in der Entwicklung begriffen, noch bei den
niederen Graden der Ausbildung, was sie, und das ist menschlich
verständlich, mitunter, wenn sich Gelegenheit dazu bietet, dazu verführt,
bei den Phänomenen »nachzuhelfen«. Die üblichen Betrugsriecher, wie
Herr Klinkowström, die ihre bemerkenswerte Unkenntnis übersinnlicher
Zustände, mit großer Dreistigkeit und Wichtigkeit, als »Entlarver«
auftretend, verbinden, wissen wenig davon; sie glauben vielmehr, daß alle
Medien Betrüger sind, und ein merkwürdiges Karma zwingt sie doch immer
wieder, sich in die spiritistischen Angelegenheiten zu mischen, obgleich sie
mit weit größerer Berechtigung beim Kartentisch oder auf dem Poloplatz
oder beim Fünfuhrtee zu erscheinen hätten. H. P. läßt ihre Freundin, die als
Schwindlerin dasteht, im Dreck sitzen und verschwindet, allen Affären
abhold, auf sieben Jahre, ohne daß man weiß, was sie während dieser Zeit
trieb. Sie kehrt Rußland den Rücken, fährt über Paris nach Amerika und da
beginnt nun der dritte Teil ihres abenteuerreichen Lebens; ihre
amerikanische Tätigkeit und die Gründung der theosophischen
Gesellschaft.

IV. Miracle-Club und Theosophie


In Amerika angekommen, fand die Blavatsky den Boden weit besser
vorbereitet, als bei ihrem ersten Besuch. Die okkulte Welle stieg ständig
und fand in den Obersten Oleott (Steel) den geeigneten Mann, einen
Reporter und Journalisten (er vertrat den »Daily Graphic« in den
Vereinigten Staaten), der sein Werkzeug wohl zu üben verstand, für die
Sache selbst auch wirklich begeistert war und in der Blavatsky sofort die
entscheidende Persönlichkeit erkannte. Rasch entschlossen gründete

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 207


Helena Petrowna den »Miracle-Club«, ein Titel, der für
amerikanische Begriffe ganz ausgezeichnet gewählt war. Oleott setzte nun
alle Hebel in Bewegung. Es dauerte nur ganz kurze Zeit, denn Oleott
überschwemmte alle Zeitungen mit Berichten, und die Blavatsky war bald
die Primadonna der öffentlichen Meinung. Von weit und breit kamen Leute,
um die große Frau kennenzulernen, die in so naher Verbindung mit den
Geistern stand, daß sie nur zu winken brauchte, um sich ihrer für
Dienstleistungen zu bedienen. Es war verhältnismäßig leicht, bei ihr
vorzukommen: ihre Wohnung glich einem Wohltätigkeitsbasar: mit indischer
Seide belegte Ruhebetten, Totenköpfe, ausgestopfte Nachtvögel standen
wahllos neben Statuen des Gottes Buddha, und in diesen Räumen, die ein
merkwürdiger Parfüm erfüllte, empfing H. P. im roten Garibaldihemd, die
Pfeife im Munde, ihre Gäste und nützte ihre ausgezeichnete
Redebegabung, namentlich aber den Zauber ihrer »hohlen Stimme«, die
klang, als ob sie von »weither käme« und die die Zuhörer oft »frösteln
machte«. Da gab es nun zunächst eine neue Überraschung: H. P. nahm,
zum zweitenmal, einen Mann, den Armenier Betanelly, der, im krassen
Gegensatz zum ersten Gatten, um ein Beträchtliches jünger war. als sie. Es
wird erzählt, daß ihn H. P. sofort verließ, als er daranging, seine ehelichen
Rechte auszuüben; sie verließ auch diesen Gatten noch in der selbigen
Nacht und zog wohlgemut zu Oleott, mit dem sie nun lebte. Der Leser wird,
da er solches vernimmt, wohl ungläubig den Kopf schütteln. Er hat gehört,
wie gefährlich es ist, in Amerika von heute, Geschichten mit Frauen zu
haben oder gar, als Frau, einen »ungeordneten« Lebenswandel zu führen.
Der arme, dicke Fatty hat daran glauben müssen und so manche
Künstlerin, deren Privatleben, nach amerikanischen Begriffen, nicht ganz
einwandfrei war, mußte dieses merkwürdige Land fluchtartig verlassen. Zur
Zeit, da die Blavatsky drüben war, anfangs der Siebzigerjahre des vorigen
Jahrhunderts, scheint das alles nicht so schlimm gewesen zu sein. Der
Helena Petrowna zumindest nahm man nichts übel; sie blieb unbehelligt,
wohl auch schon deshalb, weil man zu wissen glaubte, daß H.P. eine
unerotische Natur war, die sich, obschon man ihr häufig das Gegenteil
vorwarf, auch aus Freundschaften mit Frauen wenig machte. Die H. P. B.
gründete zunächst, den Miracle-Club auflösend, 1875 die erste
theosophische Gesellschaft (Th. S. = »Theosophical Society«), deren erster
Präsident Oleott und deren erster Sekretär W. O. Judge wurde. Die
Blavatsky selbst stand außerhalb; ihr Verkehr mit den »Meistern«, die sich
ihrer als Werkzeug bedienten, sicherte ihr gleichsam eine transzendente
Stellung und machte sie exterritorial, aber mit weitgehenden Vollmachten
ausgestattet. Die »Meister« der H. P. scheinen nun aber mit der
amerikanischen Loge nicht sonderlich zufrieden gewesen zu sein, denn sie
trugen ihrem Werkzeug auf, mit Oleott nach Indien zu gehen, damit beide
dort die Weisheit des Ostens kennenlernten. 1878 trafen die Blavatsky und
Oleott denn auch tatsächlich in Indien ein, wurden enthusiastisch
empfangen und begründeten dort, unabhängig von New York, eine »neue

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 208


theosophische Gesellschaft« (zu Weihnachten 1879) mit neuen Satzungen
und Regeln und mit dem Wirkungsort Benares, deren Präsident wiederum
Oleott wurde und die ihr Hauptquartier zuerst in Bombay, später aber in
Adyar (bei Madras) aufschlug, wo man ein großes Landgut angekauft hatte.
Im selben Jahre kam auch der Blavatsky erstes großes Werk »Die
entschleierte Isis« heraus, das unter anderem dadurch bemerkenswert ist,
daß sie vom Kernpunkt der indischen Geheimlehre, von der Reinkarnation
und den wiederholten Erdenleben, noch nichts wußte. Im Hauptquartier traf
die H. P. B. auch mit Dr. Franz Hartmann zusammen, einem sonderbaren
deutschen Schwärmer, der »seine Meinungen täglich mehrmals wechselte«
und der deutschen theosophischen Gesellschaft (von der noch gesondert
zu sprechen ist) viel Kummer bereitete. Man darf aber durchaus nicht etwa
glauben, daß die Blavatsky in Indien etwa ohne Konflikte arbeitete. Um
Menschen, die von Dämonen umgeben sind und die ohne Zweifel eine
Sendung auf Erden haben, geht es nie ruhig zu. Die ersten Hindernisse
ernster Natur kamen von englischer Seite. Die Engländer, die Römer von
heute, mit ihrer Realpolitik im Leibe, sind in allen Fragen, die ihre
Einflußsphäre im außereuropäischen Großbritannien betreffen, mit Recht
überaus empfindlich. Die Blavatsky erschien ihnen, da sie das Erwachen
des indischen Nationalgeistes offenkundig förderte, als eine »deutsche«
Spionin, ohne daß sich dieser Verdacht, bei einer gebürtigen Russin ganz
ungewöhnlich und widersinnig, durch Material stützen ließ. Eine Frau
Colombi rettete die große H. P. B. vor dem Schlimmsten. Da sich aber die
Hoffnungen auf Dankbarkeit nicht erfüllen wollten und Frau Colombi sehr
ehrgeizig war, schlug diese Freundschaft bald in Haß um. Die Colombi
stellte sich an die Spitze der Intriganten, erhob den von den Engländern
ausgesprengten Spionageverdacht nun auf eigene Faust, hetzte die
christlichen Elemente Indiens gegen die ehemalige Freundin, mobilisierte
namentlich die Katholiken und brachte durch diese Treibereien die
körperlich (übrigens wenig widerstandsfähige Frau in eine überaus
bedrängte Lage; die Prophetin der indischen Theosophie erkrankte
neuerlich schwer und reiste, kaum recht genesen, nach Nizza, wo die
Fürstin Ketweos, eine treue und anhängliche Freundin, der Genesenden
ihre Villa als Zufluchtsstätte anbot. Die theosophische Bewegung litt nicht
wenig darunter und sank, namentlich in London, bald auf den
Aussterbeetat. Vergeblich baten die Theosophen ihre schwerkranke
Führerin, die in Nizza zu Bette lag, um Hilfe. Wie schon einmal, in schwerer
Krankheit, verlor H. P. alle Lust, ihr Werk zu stützen; es war ihr scheinbar
gleichgültig geworden. In einem Brief an ihre Londoner Freunde schrieb sie
lakonisch: »Ich bin sehr krank und müde; laßt mich sterben!« Kaum gesund
aber, eilte die wundersame Frau nach London, ergriff die Zügel und machte
die englische theosophische Gesellschaft bald zu einer der stärksten und
einflußreichsten in der Welt. In London erlebte sie auch noch einen anderen
Triumph: die englische Regierung ließ sich überzeugen und erlaubte dem
berühmten Gast die neuerliche Einreise nach Indien. Wohl empfing man die

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 209


Blavatsky dort aufs neue überaus feierlich und enthusiastisch, aber die
Krankheit, eine schwere Nervenkrise, wollte nicht mehr weichen. Man trug
die Prophetin auf einer Bahre an Bord. Sie kehrte nach Italien zurück und
verbrachte ihre letzten Lebensjahre in London, wo sie denn auch 1891
starb. Bald nach ihrem Tode gab es nicht weniger als drei voneinander
unabhängige Gesellschaften theosophischer Natur: die Adyargesellschaft,
deren Führung 1907, als Oleott abtrat, Annie Besant übernahm, früher als
Leiterin der englischen Sektion tätig; die »theosophische Gesellschaft« in
Amerika mit dem Präsidenten Judge, in offenem Gegensatz zur indischen
Gesellschaft, und die 1897 von Hübbe-Schleiden und Franz Hartmann
begründete »internationale theosophische Brüderschaft«, die im engen
Anschluß an die theosophische Gesellschaft ins Leben trat. Besondere
Bedeutung erlangte die theosophische Gesellschaft in Adyar dadurch, daß
Dr. Rudolf Steiner, der Schöpfer und Begründer der Geisteswissenschaft
Anthroposophie, in den Jahren 1902-1912 ihr deutscher Sekretär wurde.
Wer Steiner und sein schier unüberschaubares Lebenswerk kennt, weiß,
daß er durch seinen Entwicklungsgang dazukam, die Theosophie zu
durchschreiten, so wie die Erde durch Kometenschwärme geht, ihre Bahn
kreuzend. Das Medium indische Theosophie lagerte wie eine Dornenhecke
vor der Lichtquelle der Menschenweisheit, die der Westen und
insbesondere die deutsche Volksseele so nötig haben. Steiners Weg führte,
an dieser Episode vorbei und durch sie, zum Geiste des Christentums, den
er für alle Zeiten erneuerte. Es ist aber nicht unwichtig, sich mit den
Schicksalen der deutschen Adyartheosophie an dieser Stelle ein wenig zu
befassen. Wenn ich mich dabei zunächst streng an die Adyarquellen selbst
halte, so wird man das bei meiner grundsätzlichen Gegnerschaft gegen die
Besant, Leadbeather und Genossen wohl verstehen; glücklicherweise steht
ein Bericht zur Verfügung, den Doktor Hübbe-Schleiden, zwei Jahre nach
dem Bruche mit Steiner (am Pfingstsonntag 1914), in Dresden unter dem
Titel (»Die Geschichte der theosophischen Bewegung in Deutschland in
den letzten 30 Jahren«) erstattete. Dieser Bericht, ein geradezu klassisches
Dokument für den Geist, der in der theosophischen Gesellschaft herrschte,
gibt eine plastische und in ihrer Naivität überaus aufschlußreiche
Schilderung der Zustände. »Wir können«, sagte Hübbe-Schleiden
treuherzig, »unseren Meister erkennen, wie ein Pudel seinen Herrn
erkennt.« Die Bewegung in Deutschland setzte 1884, neun Jähre nach der
Gründung der T. G., ein; »ihr Keim war der Spiritismus«. Die Gründung
selbst fand am Abend des 27. Jänner 1884 im Palais des Fabrikanten
Gebhardt in Elberfeld statt. Am Starnberger See wird diese Gründung, im
August desselben Jahres, in Gegenwart Du Preis und Gabriel Max'
erneuert. Über seine eigenen Erlebnisse erzählt Hübbe-Schleiden in seiner
kurzen, schlagwortartigen und salopp humoristischen Art: »Die Bewegung
fing 1875 in Indien damit an, daß einer der Meister mit unserem
Präsidenten Oleott eine Begegnung hatte. Oleott erschrak nicht, sondern
dachte: »es ist ein Geist, ein Spirit«; auf die Frage Oleotts, was der Geist

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 210


wolle, sagte dieser: »Ich komme, um dir zu sägen, was du wissen mußt.«
Er blieb nun »zwei Stunden« bei Oleott und verschwand dann. »Eine
solche Erscheinung«, fährt Hübbe-Schleiden fort, »ist mir 1895 in Indien, in
tropischer Sonnenglut selbst geschehen.« Er berichtet dann über ein
seltsames Erlebnis (ein Schaffner brachte ihm plötzlich die Antwort der
Geister auf einen über Oleotts Rat geschriebenen Brief) und erzählt weiter:
»Frau Blavatsky kam nach Deutschland. Sie ging zunächst nach Würzburg,
wo wir ein Zimmer mieteten. Dort entstand ihr Werk ›The secret doctrin‹.
Wie dieses Werk entstanden ist, das habe ich miterlebt. In diesem Zimmer
schlief ich, in eine Decke eingewickelt, auf einer Chaiselongue. Unmittelbar
dabei stand das Pult, daran sie (die H. P. B.) schrieb. Sie guckte ins Blaue.
Ich fragte: »was siehst du denn da?« »Es ist ein selbstleuchtendes Bild
(erwiderte die H. P. B.) von Buchstaben, die ich nicht kenne, Sanskrit oder
so etwas ähnliches! In der Nacht aber (so fügt Hübbe-Schleiden hinzu),
wurden ihre Schriften von ihrem eigentlichen Meister durchgesehen und
das fand ich dann am Morgen.« Dann streift H. S. die »Durchstechereien in
Adyar und die Machinationen der Frau Colombi«. »Die Geschichte unserer
Bewegung«, bemerkt er seufzend, »zerfällt immer in siebenjährige
Abschnitte, 84-91, 91-98, 98 bis 1905, 1906-1913, vier ganz getrennte
Perioden.« Mit Ernst Haeckel ergab sich folgende Episode: H.-S. versuchte
im Verein mit Du Prel eine nach Haeckelscher Art diagrammatisch
aufgezeichnete Darstellung der theosophischen Wahrheiten. Haeckel, dem
H. S. das erste Exemplar schickte, sagte: »Ja, so muß man reinen
Monismus in die Welt bringen!« »Haeckel war für uns unerläßlich; wenn er
nicht gewesen wäre, hätten wir einen solchen Kerl geradezu erfinden
müssen; er ist eine Persönlichkeit von großer Notwendigkeit, ebenso wie
der Naturalismus, den wir erfinden müßten, wenn es ihn nicht gäbe.« Im
Laufe der zweiten Periode (ungefähr bis 1894) begannen die deutschen
Theosophen ihr Werk in Berlin. In der Wilhelmstraße 18 hielten Hübbe-
Schleiden und Andere glänzend besuchte Vorträge. Es war eine
merkwürdige Gesellschaft: an einem Tisch die hohe Aristokratie, an den
anderen die Sozialdemokraten, zwischendurch Studenten. 1894 ging
Hübbe-Schleiden nach Indien. Inzwischen verfiel der Präsident der
Londoner Gesellschaft Judge einem betrügerischen, späterhin auch als
Kupplerin qualifizierten Medium, einer Frau Tingley, die sich als legitime
Nachfolgerin der Blavatsky ausgab. und durchaus einen wundervollen Ring
mit einem Stein, den Frau Besant am Finger trug, an sieh bringen wollte. In
der Wirrnis dieser Geschichten, die in ihrer Art einzig dastehen (Frau
Tingley verfügte über unbegrenzte Geldmittel), taucht auch Franz Hartmann
auf, der sich der Frau Tingley annahm und lange von ihr an der Nase
herumziehen ließ. Es gab nun plötzlich drei deutsche Theosophische
Gesellschaften: die Raatz'sche, die Hartmannsche und die Hellersche.
»Keine«, so ruft Hübbe-Schleiden in seinem Bericht aus, der noch immer
als Hauptquelle dieser Geschichte dient, »keine hat die Meister hinter
sich.« In den Räumen des Grafen Brockdorf und seiner Frau in der

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 211


Wilhelmstraße sah man Damaschke, Egydi, Leixner, Dr. Johannes Müller
und Dr. Rudolf Steiner, der dort seine Vorträge über das »Christentum als
mystische Tatsache« hielt. Auch Dr. Franz Hartmann tauchte dort auf, der
öfters »entgleiste«. Dr. Steiner sagte einmal: »Die Theosophen sind doch
meist ungebildete Menschen.« Auch in Hannover, wo Dr. Steiner 1898
»immer nur Gast war«, wiederholte Steiner: »Wie ist denn das nur möglich,
daß ein gebildeter Mensch, wie Sie, Mitglied der Theosophischen
Gesellschaft ist?« Endlich schildert Hübbe-Schleiden die Gründung des
»Sterns im Osten« mit dem famosen Krishnamurti als Weltenlehrer im
Hintergrunde, und den dadurch herbeigeführten offenen Bruch mit Steiner,
der all diesen Unsinn nicht mitmachen wollte und keine Stiftungsurkunde
mehr ausstellte.« Soweit der Bericht des Herrn Hübbe-Schleiden, zu dem
die »Theosophische Rundschau« trocken bemerkt: »der Vortrag entspricht
nicht immer den theosophischen Tatsachen, einige Darstellungen sind
erfunden ...« Dennoch unterließ die »Theosophische Rundschau«
auszuführen, wie es sich wirklich verhielt. Auch die »Wahrheit« muß in
diesem Falle schlimm genug gewesen sein!

V. Links und Rechts im Mediumismus


Die Geheimlehre der Blavatsky (drei Bände) ist ein merkwürdiges Buch,
angefüllt mit Wahrheiten und Irrtümern, gemischt aus dem, was Helena
Petrowna von »drüben« empfing und dem, was in ihr selbst vorging und
wesenhaft lebte. Ihre beständig in Abenteuer verstrickte Persönlichkeit
strotzte von Möglichkeiten, ihre unterbewußten Fähigkeiten reichten hin, die
mannigfaltigsten Dinge herauszuholen, wo sie zu holen waren, aus der
geistigen Welt; ihre körperliche Organisation schuf die Grundlage ihres
Schaffens; der rechtsstehende Okkultismus, der keinerlei Nebenzwecke
verfolgte, hoffte von ihr Bedeutsames zu bekommen, indes der linke in ihr
bloß ein brauchbares Werkzeug für seine Absichten und Zwecke erblickte.
Die H. P. B. selbst neigte bald genug zur Linken; die H. P. B. war ein
durchaus passives Medium, das sich immer wieder auf die Mahatmas
(Geister und Meister) berief; sie selbst, im Innersten grundehrlich, suchte
bald Anschluß an eine europäische Bruderschaft; »Frechdachs«, der sie
war, wenn sie auf dem irdischen Plane zu arbeiten hatte, stellte sie aber
jetzt dieser Bruderschaft unannehmbare Bedingungen, gestützt auf ihre
Bedeutung, von der sie ganz erfüllt war. Mit ihren Forderungen in Europa
abgeblitzt, trat sie bald, von Feindschaft gegen die europäische
Bruderschaft bewegt, mit amerikanischen Brüdern in Unterhandlung, die
zwischen rechts und links schwankten. Der Linksokkultismus verfolgte
durch sie politische Interessen; die amerikanische Loge durchschaute
dieses Treiben früh genug, um der Blavatsky die Türe zu weisen, worauf
diese mit Enthüllungen drohte. Aus diesen Tatbeständen entwickelte sich in
der Folge eine Art okkulter Gefangenschaft, darin die H. P. Blavatsky
gehalten ward. Versucht man den Begriff okkulte Gefangenschaft zu
erläutern, so ergibt sich ungefähr ein Zustand folgenden Inhalts: gewisse

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 212


Dinge, die nur auf magischen Wegen und durch bestimmte Brüder gemacht
werden können, wurden unter Zuhilfenahme gewisser Kräfte und
Machenschaften ins Werk gesetzt, so daß das Wissen der Blavatsky (es
gibt keinen passenderen Ausdruck dafür) gleichsam nach innen schlug;
ihr Okkultismus, eingekreist und bewacht, geriet in Abhängigkeit, die
Gefangenschaft genannt werden kann. Die indischen Okkultisten bekamen
die Blavatsky in ihre Hand und sie ließen nur jenen Teil ihrer Mitteilungen
durch, der ihnen paßte; in diesem Stadium trat die Blavatsky mit Oleott in
Verbindung, dessen starkes organisatorisches Talent von niemand
bestritten werden kann, und mit dem sie schon zur Zeit, da sie noch einer
amerikanischen Loge angehörte, verbunden war. Jedenfalls entstammte
dieser Verbindung die merkwürdige Rolle, die ein gewisser Kut Humi, ein
»Mahatma«, in ihrem und Oleotts Leben gespielt hat. 1874 gab dieser Kut
Humi bekannt, er habe eigentlich John King geheißen und sei im 17.
Jahrhundert ein sehr geachteter Seeräuber gewesen, wozu Oleott, der Kut
Humi aufs Wort glaubte, allerhand Details hinzufügte, wie Dokumente aus
dem Sarge des verstorbenen Vaters der Blavatsky; er ließ übrigens
durchblicken, daß der Hinweis auf den »Seeräuber« doch nicht ganz seine
Richtigkeit habe, sondern daß man in Kut Humi das Geschöpf eines
Ordens erblicken dürfe, das in seinen Wirkungen von unsichtbaren
Wesenheiten abhing, aber auf Erden eben als sichtbarer Orden auftrat. In
der Hauptsache lag diesem Orden die Verbreitung der indischen
Geheimlehre am Herzen. So standen die Dinge in den Siebziger Jahren
des 19. Jahrhunderts. Von jenem John King waren übrigens auch Sinnets
»Briefe über die okkulte Welt« und »Esoterischer Buddhismus« empfangen,
welch letzteres Buch den offenkundigen Versuch unternahm, dem
spirituellen Wissen ein materialistisches Mäntelchen umzuwerfen; in der Tat
stellt das vielgelesene Werk, wie Steiner hervorhebt, eine der schlimmsten
Formen des Materialismus dar und macht die stärksten Zugeständnisse an
den materiellen Zeitgeist; in demselben Sinne wie Sinnets »Esoterischer
Buddhismus« war jedenfalls Ende der Achtzigerjahre des 19. Jahrhunderts
die »Geheimlehre« der Blavatsky geschrieben, worin sie einen
Kardinalfehler Sinnets übernahm: nämlich eine falsche Lehre über die
sogenannte »achte Mondensphäre«. Der Materialismus in der Gestalt, die
ihm das 19. Jahrhundert gab, war in der geistigen Entwicklung der
Menschheit etwas ganz Neues. Demokritos, der gern als Vater des
Materialismus angesehen wird, war vom Geiste eines Materialismus, wie
ihn das 19. Jahrhundert lehrte, sphärenweit entfernt. Der Materialismus
entstand durch das Denken; schrieb er doch dem Atom Denkfähigkeit zu,
obzwar er die Materie selbst vollkommen entgeistigte. Die Atome des
Materialismus jener Zeit sind etwas durchaus Unwirkliches: reine Gebilde
des Denkens, dürre Gedankenwesen, ein Geheimnis, um das schon die
Physiker der Achtzigerjahre wußten. (»Dissipez vos tenèbres«, sagt St.
Martin, »et vous trouverez l'homme!«) Gegen diesen Tiefstand der
Denkverderbnis war der Spiritismus ohne Zweifel ein glänzendes und nach

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 213


vielen Richtungen sehr beweiskräftiges Mittel, aber es gab bald einen
Augenblick, da er bis zu einem gewissen Grade in die Gefangenschaft des
materialistischen Zeitalters, des Geistes des 19. Jahrhundert im
besonderen, geriet. Der Mediumismus führte auf Abwege und zeigte bald,
hauptsächlich in der Frage des Fortlebens nach dem Tode, eine
tendenziöse Färbung.

VI. Wenn die »Meister« schreiben


Das Tendenziöse der auf spiritistischem Wege gewonnenen
Kundgebungen trat vor allem darin hervor, daß sich die hinter solchen
Kundgebungen verbergenden Wesenheiten bemühten, Einsicht in das
große Geheimnis der wiederholten Erdenleben (der Reinkarnation) nicht ins
Bewußtsein hineinzulassen. Es lag bald klar zutage, daß die Erkenntnis
dieses Schlüsselmysteriums sorgfältig ferngehalten werden sollte. »Die
entschleierte Isis« wußte nichts von wiederholten Erdenleben und noch, da
die Blavatsky schon tot war, mühte sich ein Herr Suba Row, darzutun, die
H. P. Blavatsky habe sich nach ihrem Tode spiritistischen Zirkeln
geoffenbart und das Bedauern darüber ausgesprochen, daß sie in ihrer
»Geheimlehre« die Reinkarnation verkündigt hätte. Diese Tatsache erfüllte
alle rechtsstehenden Okkultisten mit tiefster Besorgnis. Eine andere üble
Folge solcher tendenziöser Machenschaften, deren sich die Inspiratoren
des Mediums bedienten, trat darin auf, daß das Unterscheidungsvermögen
für luziferische und ahrimanische Einflüsse vollkommen getrübt wurde, ein
Kapitel, das bei der Darstellung der Anthroposophie noch zur Sprache
kommen soll. Das 19. Jahrhundert mit seinem starken materialistischen
Grundzug neigte sehr leicht zu solchen Trübungen und Täuschungen.
Ahrimanische Naturen, deren Weltbild stark mit luziferischen Elementen
durchsetzt war, suchten auf dem Friedhof des Materialismus nach einer
spirituellen Weltanschauung. Der Journalist Sinnet stand gänzlich im Banne
materialistischer Vorstellungen; so kam er zu einer Lehre über die »achte
Sphäre«, die gänzlich falsch und verwirrend ist; schon die richtige
Auffassung dieses kompliziertesten aller okkulten Kapitel erfordert
angestrengteste Tätigkeit des Denk- und Vorstellungsvermögens; dieses
Kapitel entspricht ungefähr dem Schematismus der reinen
Verstandesbegriffe in Kants »Kritik der reinen Vernunft« und muß, schon
aus diesem Grunde, von den Ausführungen dieser Schrift, die nur ganz
allgemein über den gegenwärtigen Stand der Dinge zu unterrichten hat,
ausgeschlossen bleiben. Hier sei nur bemerkt, daß um die Zeit, da Sinnet
diesen Trug beging, die Blavatsky just in das Fahrwasser des einseitigen
indischen Okkultismus einlenkte. Die Blavatsky stand damals mit
amerikanischen Spiritualisten in Verbindung, die ein Interesse daran hatten,
die Lehre von der Reinkarnation zum Verschwinden zu bringen; die andere
Strömung, die Entgegengesetztes anstrebte, trug gleichzeitig den
materialistischen Tendenzen des 19. Jahrhunderts Rechnung, wozu sich
just die Verfälschung der Lehre von der »achten Sphäre« am besten

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 214


eignete. Die Blavatsky wußte genau, daß Sinnets Lehre über diesen
Gegenstand falsch war, anderseits aber befand sie sich in den Händen
jener Elemente, die sich an der Verbreitung einer falschen Doktrin
interessiert zeigten; sie zwangen die Blavatsky, eine Art Mittelstellung
einzunehmen, gaben aber diesem Unternehmen damit eine Färbung, die
den Wirrwarr über die »achte Sphäre« nur noch vermehrte und steigerte,
denn die Blavatsky, die dem Christentum feindselig gegenüberstand, erhob
nun ein wüstes Geschimpfe auf die Jahvegottheit, von der sie sich eine
spezielle Vorstellung machte, ein Lärm, dessen Echo in der christlichen
Welt bald darauf laut zu hören war. Im Besitze der Wahrheit über die
»achte Sphäre« (über die Steiners »Geheimwissenschaft im Umriß« genau
unterrichtet) verbreitete die Hochkirche bald eine andere falsche Doktrin:
sie behauptete plötzlich, daß die Erde niemals mit anderen Planeten des
Sonnensystems in Verbindung gestanden habe, womit die an diese
Verbindung anknüpfende und diese miteinschließende Lehre von der
Reinkarnation aus der Welt geschafft werden sollte. So gab es nun zwei
Gruppen, die sich in die Hände arbeiteten: die eine (mit Sinnet an der
Spitze), deren Mission war, die Lehre von der »achten Sphäre« zu
entstellen, und die andere, die den Zusammenhang der Erdentwicklung mit
den anderen Planeten aus der Welt der Erkenntnis zu schaffen hatte. Auf
der einen Seite war beschlossen, die Erkenntnis von den wiederholten
Erdenleben auf Erden neu zu beleben, auf der anderen sollte eine gewisse
Form des Katholizismus gegen den Ansturm der indischen Richtung
geschützt werden. Der Versuch, Jahve und Christus aus der Geheimlehre
zu entfernen, gelang vollkommen, was auf das materialistische Konto des
19. Jahrhunderts gebucht werden darf. Trotz alledem bleibt der Blavatsky
das große Verdienst, die spirituelle Welle in gewissem, wenn auch
durchaus einseitigem Sinne in Gang gesetzt zu haben. Jener Teil des
Mediumismus, der im automatischen Schreiben wurzelt, hat sich allerdings
bald als eine Quelle neuer schwerer Irrtümer erwiesen. Das interessante
Medium Jakob Lorber hat umfangreiche Bücher auf solchem Wege
geschrieben, die heute noch von einer fanatischen Gemeinde gehütet
werden. Bei Lorber findet man grandiose Schilderungen außerirdischer
Zustände und nicht weniger als ein ganz neues Evangelium, das im Kreise
des großen »Sehers« für ein Heiligtum gehalten wird. Nichtsdestoweniger
ist alle auf diese Art erworbene Kenntnis der übersinnlichen Welten stark
durchsetzt von Fehlleistungen, unrichtigen Deutungen und subjektivem
Dafürhalten, und, so interessant an sich es erscheinen mag, als Quelle zu
wahrer Erkenntnis nicht zu brauchen, eine schmerzliche Enthüllung, die
gleichwohl gemacht werden muß, um die Menschen unserer Zeit vor
Schaden zu bewahren. In der Tat zeigte sich, als die okkulte Welle im 19.
Jahrhundert auftauchte, eine ganze Reihe von skandalösen und
affärenreichen Zwischenfällen im Gefolge, die ein übles Licht auf die ganze
Bewegung warfen. Der Name Leo Taxil-Vaughan beleuchtet das Terrain
zur Genüge. Die Menschen, aufgeweckt aus dem dogmatischen

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 215


materialistischen Schlummer, greifen nach der Magie. Sie suchen
Erkenntnis, weil sie die Macht wollen ...

VII. Die Bedeutung des Spiritismus


Es ist notwendig, hier ein abschließendes Wort über den Spiritismus
selbst zu sagen und den Stand der Dinge im gegenwärtigen Augenblicke
festzustellen. Der Spiritismus war bisher eine starke, ja fast die einzige
Waffe gegen die Materialisierung des menschlichen Denkens; er hat die
breiten Massen aus ihrem freidenkerlichen Dunkel aufgescheucht, die
Aufmerksamkeit der Gebildeten wieder auf die spirituellen Welten gelenkt
und die unerträgliche Atmosphäre des wissenschaftlichen Dünkels wie
durch ein Gewitter gereinigt. Die Kirche, die aus ihm wohl Nutzen zog, hat
sich allerdings wenig bereit gezeigt, ihm zu danken; sie verfolgt ihn
vielmehr auf alle Weise, obwohl sie selbst nicht mehr die Kraft hat,
aufklärende und überzeugende Arbeit zu leisten. Ein wahrheitsgetreues
Protokoll über die Sitzungen mit Mirabelli, dem berühmten portugiesischen
Medium, vermag mehr für den religiösen Geist der Menschen, als hundert
Andachts- und Erbauungsbücher, die eine den Menschen unserer Zeit fast
unverständliche Sprache führen. Ich will durchaus nichts gegen die Kräfte
des Glaubens sagen, obschon sie, und das liegt ja in der Entwicklung der
Menschen, immer geringer werden und immer seltener auftreten. Der
Glaube und die Möglichkeit, aus dem Glauben zu empfangen, was anderen
erst unermüdliche Beschäftigung mit den geistigen Welten und Erforschung
des Übersinnlichen eröffnet, sind nach wie vor an die Gnade geknüpft, aber
selbst dann noch unnütz, wenn sie nicht in klare, dem Bedürfnisse der
Bewußtseinsseele entsprechende Einsicht in die ewigen Wahrheiten und
Erkenntnisse münden. Der Einsiedler und Asket kommen ohne Zweifel zu
wundersamen Visionen; der Jesuit in seiner Zelle, der die Exerzitien seines
Chefs und Ahnherrn Ignazius von Loyola gewissenhaft in Erlebnis umsetzt,
er schreitet auf Wegen, die für die Entwicklung der Menschheit ohne
Bedeutung sind, obschon sie dem sakralen Egoismus sehr wohltun und die
höchste Art Selbstsucht reichlich füttern. Allen diesen Dingen haftet ein
Krankengeruch an, der auch durch den tadellosesten Lebenswandel nicht
weggebracht wird. Jesuiten und Mystiker ähnlichen Schlages sind
immerfort auf der Jagd nach Gott; sie lauern ihm auf, umschleichen und
umstellen ihn von allen Seiten, oder, zeitgemäßer ausgedrückt, sie
belagern ihn in seiner himmlischen Festung, machen, wenn sie die günstige
Gelegenheit erspäht zu haben glauben, einen Ausfall, der oft viele Tote und
Verwundete kostet, und möchten Gott am liebsten mattsetzen, wie ein
Schachpartner den anderen. Wohl gibt es edle und hohe Menschen, die im
Spiegel dieser Zeit als reine Toren erscheinen mögen, aber gerade die
haben keinen Feldzug nötig, in Gottes Reich einzudringen und das
Gottesbewußtsein gleichsam als Skalp am Gürtel heimzubringen. Der arme
Mann, dem sie als Ehrentitel den Namen Proletarier gegeben haben, wie
man einem Haustier einen Namen gibt, auf den es hören soll, der arme

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 216


Mann hat seine Heiligen längst verloren und seinen Glauben an Gott im
»Kampf ums Dasein« eingebüßt. »Wozu«, denkt er, »Gott, wenn er mir
nicht hilft?«, und seine Proletarierzeitung, die ihm das Opium des
Sozialismus reicht, nachdem sie ihm das »Opium« der Religion genommen
hat, wird nicht müde, auf ihn einzureden und ihn um das Letzte zu bringen:
um das Ich, das den Menschen zum Menschen macht und das sein
einziger, wahrer, durch alle Ewigkeit bleibender Besitz ist. Verlangt doch
der Verführer, der sein Gewerbe im Namen der Komintern übt, nichts
geringeres, als daß der arme Teufel dieses sein letztes Kleinod auf dem
Molochaltar der Masse Mensch opfere, daß er im Namen des arbeitenden
Volkes die Macht ergreife, den Bürger erschlage, die Klöster und Kirchen
beraube und schände und die freie Aussicht auf das ewige Leben für immer
verliere! Nun, die Kirche hat gut dagegen reden! Der arme Teufel glaubt
nicht mehr an Gott, er glaubt lieber an den Teufel Lenin; er bildet sich ein,
daß der Mensch verreckt (wie ein räudiger Hund) und daß sein Leben
nichts ist als Trieb, als eine jämmerliche, sinnlose Komödie, die er oft durch
einen Sprung aus dem Fenster oder von der Brücke endigt. Nun, es kann,
seit die Menschheit dank dem Spiritismus wieder um okkulte Dinge weiß,
doch wohl sein, daß solch ein armer, durch seinen Zwangsbeitrag an die
Genossenkassa, an den Bolschewismus gefesselter Proletarier, eines
Tages in seiner elenden Stube klopfen hört und es zunächst nicht beachtet.
Ein neuer Mieter oder eine neue Mieterin ist ins Volkswohnhaus
eingezogen, und, so fest er oder sie im richtigen Freidenkertum erzogen
sein mögen, der Zufall hat ihnen plötzlich okkulte Kräfte geschickt, die sich
bemerkbar machen. Das Klopfen an der Wand des armen Mannes will seit
jenem Tage nicht aufhören. Es wird sogar immer schlimmer und dadurch
ganz besonders unheimlich, daß es, wenn man den Klopfgeist etwas fragt,
ganz präzise mit Ja oder Nein antwortet oder sogar durch
zusammenhängende Klopflaute weitere Antworten gibt. Es sind oft
seltsame Antworten. Bei hellichtem Tage zupft es am Ärmel, kneift am Ohr
oder wirft plötzlich Gegenstände scharf vorbei; ein Tisch schwebt in der
Luft, allen Behauptungen der Wissenschaft zum Trotze, die von
Schwerkraft spricht; ein Buch blättert sich von selbst auf, ein Lichtschein
wird sichtbar, die Schritte eines Unsichtbaren schlürfen durch die Stube,
eine Tür geht ganz von selbst auf, und es scharrt an der Schwelle, als ob
ein Pudel Einlaß suchte. Fragt der Genosse heimlich die Madame oder die
Kartenaufschlägerin oder gar den Herrn Kooperator, so bekommt er meist
eine Antwort, die er nicht versteht, aber der Herr Kooperator wird gleich
sehr böse und verbietet den Umgang mit Geistern. Der Herr Betriebsrat
aber lacht laut auf; er lacht allerdings nicht lange, denn schließlich kann
auch der freisinnigste Herr Betriebsrat, der die höchsten Freidenkergrade
mühelos erreicht hat, nicht anders, als zugeben, daß hier, wahrhaftig, bei
vollem Licht und voller Besinnung, etwas wie ein Spuk am Werke ist. Ich
habe Arbeiter kennengelernt, die, obzwar parteigetreue Sozialisten,
heimlich spiritistische Zirkel besuchten und sich nicht davon abbringen

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 217


ließen, mich zu benachrichtigen, wenn neue Phänomene und
Kundgebungen zu verzeichnen waren. In der Tat braucht man durchaus
kein Vorwissen dazu, um sich zu den reinen Erscheinungen des Spiritismus
vernünftiger zu verhalten, als die exakte Wissenschaft, die sich mit Dünkel
zu Tische setzt und mit Dünkel erhebt, um unbekehrt weiterzuleben.
Allerdings ist es weit besser, den Spiritismus a linea abzuweisen, als ihn
auf parapsychische Art zu betreiben, das heißt: die Mittel,
Anschauungsformen und Denkweisen der sogenannten exakten
Wissenschaft auf Gebiete anzuwenden, die aller Wissenschaft im
gewöhnlichen Sinne zu spotten scheinen. Aus diesem Mißverhältnisse sind
alle Zweideutigkeiten und Halblösungen entstanden, an denen das große
Gebiet der parapsychischen Forschung so reich ist. Am heitersten berührt
Dessoirs Versuch, sich mit Dingen auseinanderzusetzen, zu denen ihm
jeder Zugang fehlt. Das vollkommen Unkritische seiner »kritischen
Betrachtung« der Geheimwissenschaften springt so klar und eindeutig ins
Auge, daß es Steiners Entlarvung kaum mehr bedurfte, so gründlich diese
auch ausfiel. Die armseligen Ergebnisse, die Dessoir von seinem Ausflug in
das »Jenseits der Seele« mitbringt, überall »Fußangeln des Betruges«
witternd, gipfeln darin, daß es »freilich äußerst spärliche Beobachtungen«
gibt, die auch einen »kundigen und kritischen Beurteiler stutzig machen
können« (Herrn Dessoir machen solche Beobachtungen eher stutzig), und
daß der »Scharfsinn«, den »betrügerische Medien« anzuwenden pflegen,
den Psychologen ebenso »feßle«, wie die »damit zusammenhängende
allgemeine menschliche Illusionsmöglichkeit«; endlich »nötige« die große
Ausbreitung der spiritistischen Lehren die »Vertreter der Wissenschaft,
durch unablässige Prüfung nicht nur sich selbst Klarheit zu verschaffen,
sondern auch nach bester Überzeugung andere aufzuklären«. »Es gibt«,
ruft er mit Emphase aus, »kein ›Jenseits der Seele‹ im Sinne einer
unsichtbaren Wirklichkeit, weil geistige Sachverhalte des dinghaften wie
des personenhaften Daseins überhoben sind.« Es wäre aber sicherlich
nicht ohne Reiz, Herrn Dessoir darüber zu befragen, wieso er überhaupt
dazukomme, Aussagen wie diese über die geistigen Sachverhalte zu
machen, da sie doch weder dinghaft, noch persönlich existieren. Den
kleinen Schritt zur Erkenntnis der Gewißheit, daß jede Bewußtseinslage
ihre Wirklichkeiten in sich schließt, zu machen, war Herr Dessoir leider
außerstande.

VIII. Die Stimme des Zwischenreiches


Lassen wir doch einmal die Sachverhalte des Spiritismus, wie sie sind
und jederzeit und durch jedermann überprüft werden können, am Auge
vorüberziehen! Vier oder fünf Personen von ganz verschiedener
Geistesrichtung, zumeist verschiedenen Geschlechtes, setzen sich,
unbekannt mit der Materie dieser geheimnisvollen Phänomenologie, an
einen Tisch und legen die Hände in einer bestimmten Weise, die mit der
Vorstellung von Strömen eines Kreislaufes übereinstimmt, an den Rand, so

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 218


daß die Finger diesen berühren. Nach einiger Zeit zeigt sich, daß der Tisch
unruhig wird, daß er »zieht« und daß er sich anschickt, kreisförmige
Bewegungen zu machen, sich nach der Seite zu neigen oder überhaupt zu
schweben, je nach der medialen Stärke der Teilnehmer und nach ihrer
Fähigkeit, sich zu konzentrieren. Sehr oft bleibt es bei diesen
Erscheinungen, ohne daß sie weiterentwickelt werden können, und es steht
dem Belieben frei, Erklärungen für diesen Tatverhalt zu suchen, was um so
leichter ist, als in den Büchern über und gegen den Spiritismus gleich ein
ganzes Dutzend solcher »Erklärungen« zu finden ist, allerdings eine oft
törichter als die andere. Menschen, die ohne Weltanschauung an den
redenden Tisch herankommen, sind außerstande, mehr aus dem Erlebnis
herauszuholen, als »Verwirrung«, die freilich meist nicht lange vorhält. Im
Augenblicke aber, da eine mit dem »Ritual« des Spiritismus vertraute
Person die Führung des Kreises übernimmt und ein stärkeres Medium an
der »Seance« beteiligt ist, ändert sich der Tatinhalt sofort und gründlich.
Der Tisch überwindet das Schwergewicht und den Widerstand der Hände,
erhebt sich und schwebt wie ein Vogel oder Falter zur Decke; keine Hand
hält ihn mehr; er schwebt aus eigener Kraft, eine Zeitlang; oder: er fängt zu
wandern an und die Teilnehmer können ihm kaum folgen. Manchmal läßt er
den Scherz geschehen, sich so schwer zu machen, daß ihn die stärksten
Männer nicht um einen Zoll vom Boden zu bewegen imstande sind, dann
wieder wird er so federleicht und unbeschwert wie ein Flaum. Etlichemale
öffnet sich eine Lade des Tisches ganz von selbst und schnellt nach einer
Weile rasch und plötzlich wieder zurück. Es gibt Zirkel, die gar nicht die
Hände aufzulegen brauchen, sondern durch ihr bloßes Sitzen um den Tisch
jene Kräfte und Erscheinungen auslösen. Die Teilnehmer sind zunächst
verwundert und meist auch ein bißchen geängstigt; sie stellen törichte
Fragen und rümpfen, sobald der erste Schrecken überwunden ist,
gelegentlich auch die Nase: sie haben mehr erwartet und sind enttäuscht,
weil sie hofften, sofort mit Dante, Shakespeare oder Johann Wolfgang
Goethe »verbunden« zu werden. Wie oft habe ich bei Sitzungen, die nur
dürftige und rein physikalische Erscheinungen lieferten, »Bedauern«
darüber gehört, daß die Geister so »kindisch« sind, so läppische Dinge
machen und nicht mehr zu erzählen haben! Da verlohne sich's ja gar nicht,
mit ihnen zu verkehren! Vergeblich wendet man ein, daß das Zwischenreich
der Erde eng benachbart ist, daß es von »Elementeln« strotzt, die noch
beinahe menschliche Fehler und Schwächen haben und daß sich gerade
die niedrigeren »Elementel« zu Sitzungen drängen, weil sie darauf
brennen, sich, und wäre es auch in noch so primitiver Weise, auf dem
irdischen Plane zu betätigen, um so mehr, da sie auch die richtigen
derberen Kräfte dazu entwickeln können, durch die sie andere, höhere
Wesenheiten vom Erscheinungsbereich der Sitzung abdrängen. Das
okkulte Licht, das von einer spiritistischen Séance entwickelt wird, ist im
Zwischenreich wohl wie ein Signal zu sehen, darauf sich nun die Wesen
stürzen, so wie Wasser sich wirbelnd zur Öffnung eines Gefäßes drängt.

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 219


Nur Wenige sehen ein, daß schon das bloße Schweben eines Tisches
mehr sagt und bedeutet, als die schönste Predigt eines geistreichen
Jesuiten; der Tisch, indem er sich frei erhebt, versetzt der Wissenschaft
einen Schlag mitten ins Gesicht, er hebt das Gesetz der Schwerkraft mit
einem Ruck aus ihren hypothetischen Angeln. Erfahrungen, die in
unzähligen Seancen gemacht worden sind, und Weisungen, die von drüben
kamen, haben nach und nach eine feste spiritistische Praxis gezeitigt, die
den Zirkel der Notwendigkeit überhebt, durch eigenen Schaden klug zu
werden. So gibt es eine spiritische Erfahrungswissenschaft, die den Titel
exakt in jedem Sinne verdient, und die, sowohl was die Form des Tisches,
die Zahl der Teilnehmer, den Gang und die Inbetriebsetzung eines Zirkels
und einer Sitzung betrifft, auch die verschiedenen Gefahren und
Zwischenfälle einer Seance ins Auge faßt; sie sind jedem ernsten
Zirkelleiter voll bewußt, der zum Beispiel auch darauf achten mußt, daß die
Teilhaber eines Zirkels gesund sind, kein Gebrechen haben und mit keiner
offenen Wunde behaftet sind. Eine wichtige Frage, die viel Anlaß zu
Mißverständnissen und törichten Annahmen gegeben hat, ist die der
Verdunkelung des Raumes. Derselbe Teilnehmer, der als geschätzter
Amateurphotograph den Sinn und die Notwendigkeit einer Dunkelkammer
für Photographen kennt, wird oft erstaunt fragen, warum denn die Geister
so zäh auf Finsternis des Raumes erpicht sind. Sie sind gar nicht so erpicht
darauf, aber die Erfahrung, die doch nach Kant und noch heute der
Ausgangspunkt alles Wissens ist, sie lehrt, daß spiritistische Phänomene
durch Verdunkelung des Raumes außerordentlich gefördert werden,
obwohl das Medium Mirabelli schon um neun Uhr vormittags, im
Laboratorium, in Gegenwart zahlreicher Personen und bei hellem
Tageslicht die Astralleichname verstorbener Personen zur Erscheinung
bringt, und, bei Maria Silben in Graz, der größere Teil der Phänomene, wie
Berührungen, Materialisationen von Händen und Hantierungen an
Gegenständen, bei ausgiebigem Lichte einwandfrei zutage tritt. Die Brüder
Schneider, die ich mehrmals bei Sitzungen »arbeiten« sah, sind ans Dunkel
gebunden. Bei Maria Silbert ordnet »Nell«, der als Kontrollgeist fungiert
(auch davon wird gleich die Rede sein), manchmal Dunkel an, da
Lichterscheinungen angekündigt werden; die Erfahrung, daß blaues Licht
geistige, rotes Licht aber physikalische Erscheinungen begünstigt, fand ich
wiederholt selbst bestätigt. Die gewöhnlichen physikalischen
Erscheinungen stellen übrigens, einschließlich der Bemühungen durch
materialisierte Hände, gleichsam nur das Anfangsstadium des
spiritistischen Phänomenalismus dar. Sind stärker mediale Personen im
Zirkel, so entfällt gewöhnlich die Berührung des Tisches, der sich von selbst
bewegt, und an die Stelle der Bewegung treten Klopflaute, deren Wesen
schon geistiger Natur ist, da sie oft vollkommen geordnete und noch öfter
sehr überraschende Mitteilungen enthalten und auch tiefere Aufschlüsse
geben. Klopflaute standen ja, wie schon erwähnt wurde, gleichsam an der
Wiege des neueren Okkultismus überhaupt, sie schreckten die Leute von

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 220


Hydesville und, darüber hinaus, die Welt aus ihrem dogmatischen
Schlummer. Auch darüber, wie Klopflaute entstehen, sind Mitteilungen von
drüben vorhanden. Kennzeichnend für sie ist, daß sie sich von allen Lauten
ähnlicher Art (wie Knistern im Holze) scharf unterscheiden. Vor erfahrenen
Spiritisten kann es kein noch so schlauer Betrüger mit »natürlichen
Klopflauten« versuchen, ohne sofort ertappt und entlarvt zu werden. Jedes
Wesen hat, so primitiv das klingen mag, seinen eigenen »Klopfer«, weithin
von allen anderen unterscheidbar; das Merkwürdigste aber ist, daß die
Klopflaute ganz unglaubliche Stärkegrade erreichen können und daß sie
gleichsam eine Art akustischer Perspektive besitzen, ganz von ferne
kommen und wieder verschwinden, mit gesungenen Melodien und
gespielter Musik taktstreng mitgehen, wie ja überhaupt Gesang und
Musik jeder Art auf die Entwicklung von spiritistischen Phänomenen
erstaunlich einwirken. In einer Sitzung bei Maria Silbert erlebte ich nach
Mitternacht und nach starken Phänomenen verschiedenster Art ein
rhythmisch marschmäßiges Klopfen, das zunächst ein von ferne
anrückendes Regiment von Soldaten anzukündigen schien, dann aber so
gigantische Dimensionen annahm, wie wir sie weder vorher noch nachher
jemals in gleicher Intensität erlebten; es war, als ritten schwer gepanzerte
Pappenheimer mit gewichtigen Pferdehufen über den massiven Tisch, der
sich nicht rührte und in keiner Weise auf die scheinbar ungeheure
Einwirkung und Belastung reagierte; gleichzeitig brauste draußen eine Art
wilder Jagd ums Haus; das Zimmer füllte sich mit fahlem Licht, kalte Luft
wehte aus unbekannten Winkeln, und gegen die geschlossenen
Fensterläden hieben unsichtbare Wesen wie mit schweren Ruten, das Holz
peitschend und von zuckenden Blitzen begleitet. Kalte Luft und kaltes Licht
sind die regelmäßigen Begleiterscheinungen stärkerer Phänomene, zu
denen sich frei in der Luft schwebende und fliegende Gegenstände,
läutende Glocken, flammende Schriften gesellen. Nicht selten treten diese
Erscheinungen auf, ohne daß das Medium in Trance fällt, was allemal den
Auftakt zu größeren und merkwürdigeren Begebenheiten, wie
Verschwinden und Wiederkommen von Gegenständen, Lichtkugeln,
Knallerscheinungen, Auftauchen gravierter Initialen (mit dem untrüglichen
Zeichen »Nells« im Falle Maria Silbert) bedeutet, die dann prompt
auftreten. Daß es an hervorragenden geistigen Kundgebungen über die
verschiedensten Dinge, so zwischen Himmel und Erde sind, nicht fehlt,
wissen alle, die das Glück gehabt haben, mit Maria Silbert zu arbeiten,
einer gütigen, einfachen und wirklich wertvollen alten Frau, die ihre
Mediumschaft, ergeben in den Willen der höheren Mächte, mit wahrhaft
christlicher Demut und Ergebenheit trägt und, was wohl entscheidend ist, in
einer Armut, die Geschenke und Geldzuwendungen ablehnt und ihren Lohn
einzig darin findet, Menschen, die des Rates und Trostes bedürfen,
beizustehen. Der »Kontrollgeist«, der so vielen unbefangenen Geistern so
arge Schwierigkeiten macht, hat an sich gar nichts Gespenstiges; er
schwebt über einem Zirkel als korrespondierendes Element aus der

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 221


geistigen Welt, bleibt mit den Personen dieses Zirkels auch darüber hinaus
verbunden und hat im Falle »Nell« oft die wundersamsten Dinge bewirkt,
namentlich für Leute, die er in sein Herz schloß.
So steht es um den Spiritismus von heute; er ist ein wichtiger Faktor im
Kampfe gegen den materialistischen und verstandesmäßigen Ungeist
unserer Kultur, und ist im Augenblicke noch, um seiner starken Beweiskraft
für die Massen willen, vollkommen unentbehrlich, so wünschenswert es
wäre, ihn entbehren und schon durch geisteswissenschaftliche Erkenntnis
ersetzen zu können.

IX. Okkulte »Lehrer« und »Führer«


Gipfelt die Sache des Spiritismus heute in den großen Medien, wie Maria
Silbert und Mirabelli, so hat das Erwachen des Okkultismus aus dem Geiste
des Mediumismus (den Allan Kardee am klarsten erschaut und dargestellt
hat) vielfach zu phantastischen Formen geführt, die wohl schon als
Auswüchse angesehen werden können. Der Okkultismus des 19.
Jahrhunderts hält noch immer an den Schriften von Papus, Stanislas de
Guaita, Eliphas Levy und anderen fest, anderseits gibt es auch eine
konsequent, an Swedenborg anknüpfende Mystik, die heute ihren reinsten
Ausdruck in den Schriften von A. M. O. (die Initialen des Namens A. M.
Opelt sind hier zum Worte amo zusammengefaßt) findet. Opelt steht hoch
über den Mitläufern im Mystischen, die sich ziemlich unzweideutig als
»Meister« zu erkennen geben, unter denen Herr Bo-Yin-Ra einigermaßen,
als eine Art Courths-Mahler des Okkultismus, bekannt geworden ist. Bo-
Yin-Ra, der in seinem Privatberuf Ingenieur sein soll, schildert in einer
autobiographischen Skizze (in der Vollrathschen Zeitschrift, »Ihrem
Unternehmen allezeit zugetan«), die nach dem Erscheinen eines Buches
»licht vom Himavat« herauskam, allerhand Erlebnisse, die ihn »mit jener
Bruderschaft« zusammenbrachten, deren »Bruder« er 1915 war: vor allem
die Erscheinung eines alten Herrn, den er im Alter von sieben Jahren
gesehen haben will, der sich aber schon »durch seine Kleidung als inneren
Hochasiaten« legitimierte. Diesem »Herrn« will er später wieder begegnet
sein, allerdings in einer anderen Weise. Seine Chelaschaft (Schülerzeit im
okkulten Sinn) soll im Ägäischen Meer, auf einer weltabgeschiedenen Insel,
ihr »Ziel erreicht haben«; jedenfalls könne er »dafür einstehen«, daß die
Mysterien jenes Alten noch nicht erloschen sind, sondern daß sie in einer
Bruderschaft, die der »Ausgangspunkt für alle wirklichen Mystiker« auf
Erden geworden sei, weitergepflegt werden. »Wir sind«, setzt er mit
geheimnisvollem Zwinkern hinzu, »sehr Wenige« und »durch ein
kosmisches Gesetz zu ewigem Schweigen verpflichtet«, eine Verpflichtung,
die B. Y. R. nicht daran hinderte, ein paar Dutzend Bücher zu schreiben,
die im Tone zwischen Johannes Müller und Mabel Collins schwankend,
salbungsvolle Tiraden mit Geheimtuerei verbinden. Nicht so unklar, wie
Herr Krishnamurti, der seiner Meisterin Annie Besant den mit bunten
theosophischen Eiern gefüllten Korb umwarf, indem er, gleichzeitig, den

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 222


»Stern des Ostens« zwischen den Fingern zerdrückte, verzopft Herr Bo-
Yin-Ra billige Weisheit aller Sorten zu mäßigen Preisen. Für seine Art sind
die Ratschläge bezeichnend, die er seinen Lesern unablässig verabreicht.
Er predigt zum Beispiel in gesperrter Schrift: »Nach mir hast Du gerufen,
ohne mich zu kennen, mein Wort erreicht Dich, ohne daß ich von Dir weiß.
Doch siehe: ich erwarte ja nichts Anderes von Dir, als daß Du, stetig Deines
Weges achtend, der Leuchte folgst, die ich vor Dir entzünde; schon nach
den ersten Schritten wirst Du entdecken, daß Dir auf meinem Wege nie der
Trug begegnen kann; heute bist Du diesem Menschen begegnet, der,
wissend um den Weg zur Wahrheit, bereit ist, Dich diesen Weg zu führen;
erfülle Dein Herz mit wahrer, echter, lauterer Frömmigkeit!« Seine Bücher
tragen über einzelnen Kapiteln Überschriften, wie zum Beispiel: »Im Osten
wohnt das Licht«, »die weiße Loge«, »übersinnliche Erfahrung«, »der
verborgene Tempel«, »von Heiligkeit und Sünde«, und er verschleißt auch
deutsche Mantrams unter dem Titel »Funken«, »nach geistigen
Lautgesetzen geformte Spruchweisheit zur Förderung des Bewußtwerdens
im Geiste«. Herr Krishnamurti ist nicht halb so kostbar und manikürt in
seinen Äußerungen wie Bo-Yin-Ra, sondern singt in seiner Zeitschrift ganz
keck, ein richtiges modernes Massenatheistchen: »Ich kenne keinen Gott,
noch den Glauben an ihn, ich kenne kein Dogma, noch seinen Zwang, ich
kenne keine Religion, noch die Furcht davor, ich kenne kein Königtum,
noch seinen Pomp.« Das muntere Bürschchen hat das richtige Zeug zum
Lehrer an einer Sowjetschule, indes Herr Bo-Yin-Ra, in seinen Mantel
östlicher Weisheit gehüllt, für Sonntagspredigten an einer reformierten
Kirche leidlich taugen würde. Weniger harmlos als diese sanften Verbreiter
von wiedergekäuten Binsenlügen, treten die Brüder der »Pansophia« auf,
die eine regelrechte Geheimschule betreiben, Grade verleihen, von
»Meistern« sprechen, magische Briefe von schwankendem Wert in den
Handel bringen, mit Symbolen arbeiten und das kommende Uranuszeitalter
vorbereiten helfen, dabei aber doch auch das Verdienst erworben haben,
einiger wertvoller älterer Bücher und Schriften Erneuerer und Herausgeber
geworden zu sein. Im Zusammenhange damit mag erwähnt werden, daß in
Deutschland derzeit neue Gnostiker ihr Unwesen treiben, die sogar ein
eigenes Messeritual, entworfen auf überaus pikant erotischer Grundlage,
besitzen. An Geheimgesellschaften mit erotischen Neigungen fehlt es
dieser aus den Angeln gehobenen Welt keineswegs. Man kann sie,
anmutig an eine Kette gereiht, bei P. Ch. Martens, zum Teil auch in
Lennhoffs aufschlußreichem Buch über Geheimbünde, am geistigen Auge
vorbeiziehen lassen. Dem Hexensabbath des geheimen Treibens hat
Rudolf Steiners Geisteswissenschaft (Anthroposophie) ein für allemal ein
Ende gemacht; die Geheimtuer sind ein sehr überflüssiger Artikel geworden
und auch das Plätschern in allen okkulten Gewässern scheint kein richtiges
Geschäft mehr zu sein, so materiell ergiebig es sich auch noch in einzelnen
Fällen erweisen mag.

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 223


 

Achtes Kapitel
Rudolf Steiner und die neue Geisteswissenschaft

Zwischenspiel
Mit großer Rührung und im Gefühle unbegrenzter Dankbarkeit gehe ich
daran, dem Leser ein leider nur in den Umrissen gezeichnetes Bild des
Lebens und Wirkens Rudolf Steiners zu geben, eines Mannes, auf den die
deutsche Nation, wenn sie nicht längst schon verlernt haben würde, ihre
wahrhaft Großen zu ehren, alle Ursache hätte, stolz zu sein. Was ich hier
darlegen will, hat den Zweck, auf das außerordentliche, für die ganze
Menschheit gleich bedeutsame Geschenk hinzuweisen, das diese im
Augenblicke tiefster materieller, seelischer und geistiger Not aus Rudolf
Steiners Händen empfing, ein Licht, das in die Finsternis scheint und das
die Finsternis wieder einmal nicht begreifen kann, das aber eines Tages, so
die Vorsehung es will, dem Erdengeschlecht den Weg aus der Nacht
weisen wird. Mit Rudolf Steiners Geisteswissenschaft, einer idealen
Zusammenfassung aller religiösen, künstlerischen, philosophischen und
wissenschaftlichen Kräfte im Menschen, erneuert aus dem Geiste der
Mysterien sowie einer umwälzenden Einsicht in das Wesen des Christus
Jesus und seiner göttlichen Sendung, beginnt eine neue Epoche im Leben
der Erde, stark genug, in die nächsten Kulturen hinüberzuleiten und
zugleich das Konzept der kommenden Phase des Planeten zu entwerfen.
Den Plan der Welt, im Rahmen des Schöpfungszyklus, der sieben große
Runden umfaßt, lenken die höchsten Wesenheiten, unterstützt von großen
Eingeweihten, deren Wirken jedesmal durch bedeutsame Wendepunkte in
der Entwicklung der Menschheit gekennzeichnet ist. Ein Eingeweihter von
solchem Rang war Rudolf Steiner; sein großes Erbe, verwaltet von Marie
Steiner und von einer Gesellschaft geistiger Menschen, die den Ruf des
Augenblickes vernommen hat, geht jetzt als blühende Saat auf, betreut von
liebevollen Händen, die im Zusammenhange mit ihm, von seiner
schöpferischen Kraft beschattet und gesegnet sind. Von der Unsumme
seines Tuns und seiner Konzentrationsgabe, von der Unermüdlichkeit
seiner hohen Führerschaft, von der Großzügigkeit seines Wesens, von
seinem stupenden Wissen, das alle Gebiete umfaßte und zugleich neue,
ganz unbekannte erschloß, können sich die Menschen unserer Zeit nur
schwer einen auch nur annähernden Begriff machen. War schon sein
Leben hienieden wie ein Wunder, so vermehrte er die Wunder seines
Wirkens täglich, bis zum letzten Augenblicke seines Erdenlebens, schrieb
Bücher, hielt Vorträge, arbeitete persönlich am Goetheanum in Dornach,
war Arzt, Denker, Priester, Künstler in einer Person und übte geraume Zeit
ein Amt aus, das zu den heikelsten und verantwortungsvollsten der Erde
gehört: das Amt eines Lehrers und Arztes der Menschen. Ich will hier, um
ein anschauliches Bild vom Einfluß zu geben, den seine Persönlichkeit
ausübte, schlicht erzählen, wie ich zu Rudolf Steiner kam. Gleich ihm im
Februar, nur elf Jahre später geboren (vier Tage vor Steiners Geburtstag,

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 224


dem 27. Februar 1861), wuchs ich als Student in denselben Zeitumständen
auf, schritt wie er durch das Fegefeuer einer Epoche, die, obwohl äußerlich
nicht gerade überbewegt, in ihrer unheimlichen Starrheit der Begriffe und
Anschauungen doch nur Ruhe vor dem Sturm bedeutete. Die
Hochschulgeneration jener Tage war fast gänzlich mit dem Kampf um die
nationale Existenz erfüllt, ging doch, in diesen unglücklichen Jahren nach
1866, die Vorherrschaft des Deutschtums im alten Österreich verloren und
war damit obendrein der Zusammenhang mit Deutschland und dem neuen
Reich für unabsehbare Zeit zerschnitten! Gleichzeitig kam der
internationale Marxismus auf, ein Unglück sondergleichen, besonders für
uns Deutsche, die ihn in unserer angestammten Gründlichkeit ernster und
bereitwilliger aufnahmen, als irgend ein großes Volk der Erde. Gegen den
Marxismus bot Dührings knorrige und temperamentvolle Denkweise
hinreichende Erfrischung, auch tat uns »Wirklichkeitsphilosophie« bei allem
Idealismus und in der drangvollen Enge des Kampfes wohl, ganz
abgesehen von Friedrich Nietzsche, dessen glutvolle, leidenschaftliche
Sprache und unerhört unbarmherziger Freimut unsere jungen Herzen rasch
entzündete, so wenig entzückt wir von seinem Mißtrauen gegen den
Reichswurm (Rhinoxera) waren. In diesem Zwiespalt empfingen wir
allerdings geheime Kräfte von den großen Dichtern der Nation, unter denen
Goethe, für unser Gemüt, eine überragende Rolle spielte; auch Ibsens
Wirkung auf das junge Deutschland von damals blieb nicht aus, indes
Beethoven, Brahms und Wagner unsere Herzen im Sturm eroberten. Für
okkultes Denken war in diesem, aus so verschiedenen Elementen
zusammengesetzten Weltbild wenig Platz. Wohl schien so manches
merkwürdige Erlebnis die Vermeintlich sicheren Bereiche einer »positiven
Philosophie«, einer mageren, ahnungslosen und seelisch dürftigen
Denkweise mit ihren metaphysischen Fragen und mit dem koketten Stolz
auf den Triumph der Naturwissenschaften im Hintergrunde, die Grundlagen
unserer Welt- und Lebensauffassungen bedenklich zu erschüttern, aber
das ging vorbei, denn die freiheitliche, »voraussetzungslose« Gesinnung
gehörte, leider in starkem Ausmaß, zum Gesamtbild des deutschen
Studenten jener Zeit und wurde, bei mir wenigstens, dank unangenehmer
Erinnerungen an einen zelotischen katholischen Katecheten der
Gymnasialzeit, erheblich gefördert. Nebenbei bemerkt, trug die okkulte
Literatur jener Tage, ein Gemisch von Frömmelei und wüsten Mitteilungen
aus der Welt der Magie, nicht gerade dazu bei, den Sinn für okkulte
Probleme zu fördern, der latent allenthalben vorhanden war. Später dann,
in meiner Vaterstadt Wien, geschah die Wandlung ganz von selbst und
Schlag auf Schlag. Gleich Steiner journalistisch (als Kritiker in allererster
Reihe) tätig, eine romantische Natur, leidenschaftlicher ausübender
Musiker und empfindsam bis zum Weltschmerz, kam ich in Kreise, die,
ohne die geringste Mühe, nach und nach mein Interesse für übersinnliche
Dinge belebten (das übrigens auch durch Erlebnisse, die andere für
unscheinbar und geringfügig halten mochten, wachgerufen wurde); so

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 225


spann mich, heute darf ich das wohl so nennen, Karma bald in neue Kreise
ein; es ist viel Merkwürdiges um die Geschichte einer solchen Wandlung.
Ohne daß man es merkt, fliegt Einem Alles zu, was man braucht, um
innerlich weiterzukommen. Unsichtbare Helfer tragen Bücher und Schriften
herbei, wecken Erinnerungen an Begebenheiten der Kindheit, die plötzlich
in anderem Lichte erscheinen, führen den Suchenden mit Menschen
zusammen, die eine Rolle in dieser Entwicklung zu spielen berufen sind,
und geheime Wünsche, die man in bezug auf diese Dinge hegt, gehen
unversehens in Erfüllung; manchmal wird man auch, wie durch unsichtbare
Stimmen oder »Zufälle« davon abgehalten, diesen oder jenen
Gedankengang zu Ende zu denken, diesen oder jenen Weg einzuschlagen.
Wenn unsere neuen Tautologiker, die ihren Stolz darein setzen,
»Philosophie« auf mathematische Formeln abzuziehen und jede
Metaphysik sorgfältig aus dem Weltbilde zu entfernen, eine Ahnung davon
hätten, welche Fülle von Erlebnissen einem Menschen zuströmt, dessen
Sinn nicht zu und dessen Herz nicht tot ist, verhielten sie sich weit stiller
und bescheidener, im durchbohrenden Gefühle der jämmerlichen
Dürftigkeit ihrer Weltanschauung. Unter allen Problemen, die mich in jenen
Tagen beschäftigten, spielten die Rosenkreuzer im Zusammenhang mit
Rudolf II., dessen Alchimistenhäuschen auf dem Prager Hradschin mich
schon zu meiner Prager Studentenzeit intensiv beschäftigten, eine große
Rolle. Ich wollte um jeden Preis Näheres darüber wissen, studierte Buhle
und Katsch und war sehr unglücklich darüber, daß die Monographie des
braven Gindely wohl sehr Genaues über das politische Getriebe an Rudolfs
II. Hofe, aber fast gar nichts über die Persönlichkeit des Kaisers selbst zu
sagen wußte. Sehr betrübt ging ich eines Tages in die Wiener
Hofbibliothek, um hier etwas über den Gegenstand zu finden, der mich Tag
und Nacht beschäftigte. Da trat der Schriftsteller Hayek, ein Okkultist von
reinstem Wasser, auf mich zu, sagte mir, obschon er nichts davon wissen
konnte (außer Bulwers Roman »Zanoni« hatte ich noch nichts Sachliches
über die Rosenkreuzer gelesen), was ich vorhätte. »Sie wollen wohl etwas
über die ›Rosenkreuzer‹ wissen? Da kann ich Ihnen helfen!« Meine
Verblüffung über dieses merkwürdige Erlebnis war groß, doch wagte ich
nicht, Hayek darüber zu befragen und ließ mich gerne belehren: ich sollte
zu Dr. Steiner nach Berlin gehen, denn Dr. Steiner wäre der einzige
wirkliche Rosenkreuzer unserer Zeit. Wohl hatte ich schon von Doktor
Steiner gehört; der junge Walter Johannes Stein aber, damals Studiosus
der Philosophie an der Wiener Universität (noch warm vom Lotterbett der
Freudschen Psychoanalyse, aber schon in vielen Beziehungen
Anthroposoph, übrigens ein ganz außerordentlicher Kopf und
hervorragender Redner) sprach in privatem Kreise, in fesselnder Weise
über die esoterische Bedeutung des Mysteriums von Golgatha, über die
Erkenntnistheorie der Geisteswissenschaft und andere Probleme. In Berlin
angelangt, hörte ich, also vorbereitet, Dr. Steiner, am 26. März des
Schicksalsjahres 1914, im Architektenhaus, zum erstenmal in meinem

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 226


Leben, sprechen; er hielt einen Vortrag über den Homunkulus (bei Goethe
und Hamerling), und es drängt mich, einiges über die Wirkungen dieses
Erlebnisses zu sagen. Vorausschicken muß ich, daß ich durch okkulte
Freunde, die Steiner nicht mochten und mit ihren Beziehungen zu den
Martinisten flunkerten, gegen Steiner eingenommen war, den sie einen
»Schmierenhamlet« nannten, und dem ich (daran war wohl Nietzsche, der
Antichrist, schuld) nachtrug, daß er durchaus eine Renaissance des
Christentums im Sinne habe; einige flüsterten mir obendrein zu, Steiner sei
ein Jesuitenzögling, indes andere ganz bestimmt zu wissen vorgaben,
Steiner wäre Judenstämmling und Freimaurer obendrein. So wenig mich
dieses dumme Gerede alterierte, denn ich war ja in erster Reihe darauf
begierig, den Rosenkreuzer Steiner kennenzulernen, so kühl machte es
mich; ich erwartete sozusagen, Gewehr bei Fuß, den Augenblick, da ich
den vielumstrittenen Mann selbst hören würde und nahm mir vor, das
Erlebnis ganz ohne Vorurteil als etwas hinzunehmen, was für meine
Entwicklung notwendig schien. Nun, der Saal war überfüllt, eine elegante,
aber doch auch aus Menschen verschiedenster Kreise zusammengesetzte
Zuhörerschaft war erschienen; ich saß in der zweiten Reihe unmittelbar vor
dem Rednerpult und muß gestehen, daß die erwartungsvolle Stimmung, die
über dem stattlichen Räume lag, bald auch auf mich überging. Da tauchte
nun, plötzlich, und wie mir vorkam, als wäre er aus einer Versenkung
emporgestiegen, Doktor Rudolf Steiner hinter dem ragenden Stehpult auf:
in seinem schwarzen, langen Rock, die schwarze Schleife unter dem
umgelegten, blendendweißen Kragen, mit seinem wundervollen Kopf, in
dem zwei große, unvergeßliche Augen über die Köpfe der Leute hinweg in
die Ferne zu blicken schienen. Ahnte Steiner schon damals die
»schicksalstragende Zeit«, die wenige Wochen später mit dem Peter-und-
Pauls-Tag 1914 über die Menschheit hereinbrach? Ich weiß nur, daß dieser
Mann in diesem Saal und vor diesen Leuten ein herrliches Erlebnis war,
und daß mich dieses Erlebnis in eine ganz merkwürdige Stimmung
versetzte. Da geschah nun folgendes: Steiner sah manchmal auf den
Neuling in diesem Kreise und schien einige Sätze gleichsam für ihn zu
sprechen. Es ist allerdings möglich, daß ich mich darin täuschte, jedenfalls
wagte ich bei der nachfolgenden Unterredung nicht, davon zu reden. Was
nun den Vortrag selbst betrifft, so dauerte es einige Zeit, ehe ich mich in
Steiners Stimme und seine Art zu sprechen, hineinfand. Dennoch fesselten
mich das Thema des Vortrages und die Art, es von höheren
Gesichtspunkten aus zu beleuchten, auch schien mir, daß Steiner, indem er
sprach (seine Rede war frei und wohlgegliedert), wie aus der Fülle seines
Wissens redete und nur einen Ausschnitt daraus geben konnte. Nach dem
Vortrage ward ich Steiner vorgestellt und da kam nun ein zweites;
interessantes Erlebnis zustande. Steiner sah an mir vorbei wie auf einen
Punkt außerhalb meines Blickfeldes und begann mit einemmal, als wüßte
er, was ich augenblicklich arbeitete, von den Schwierigkeiten zu sprechen,
die mir, der just mit einer neuen Übersetzung des Platonischen »Timaios«

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 227


und einem Kommentar zu diesem dunklen und erhabenen Werk beschäftigt
war, diese Arbeit in der Tat bereitete. Ich verbarg mein Erstaunen darüber
nur schlecht, aber die Unterredung, im Verlaufe derer sich Steiner als
vollkommen vertraut mit dem Gegenstand zeigte, dauerte länger, als den
Anhängern, die danach lechzten, von Steiner ins Gespräch gezogen zu
werden, angenehm war. Steiner reichte mir die Hand. Er sprach zu mir
noch etlichemal in Wien, einmal über die Presse und ihre Bedeutung für die
Geisteswissenschaft, sofern die Journalisten nur die Kraft hätten, sich von
Vorurteilen und ihrem Hang zu Flüchtigkeiten freizumachen, die den Betrieb
dieses Handwerks oft empfindlich schädigten. Für mich war, persönlich, die
Sache Steiner schon nach dem Berliner Vortrage entschieden; ich gelobte
mir, ihm im schweren Kampfe, den er zeitlebens mit Unverstand,
Niedertracht und nicht selten mit eigenen Anhängern zu führen hatte,
beizustehen und stürzte mich mit Feuereifer auf das Studium seiner
Schriften und Zyklen. Ohne ihn zu sehen, ohne jemals in Dornach gewesen
zu sein, stand ich fortab in fester, unlöslicher und inniger Verbindung mit
ihm, und noch heute, da mehr als sechs Jahre nach seinem Tode
verflossen sind, habe ich das sichere Gefühl, von ihm nicht verlassen zu
sein, glücklich darüber, der Sache dienen zu dürfen, der er sein opfervolles
Märtyrerleben geweiht hatte.

I. Steiners Leben
Rudolf Steiner ist als Kind einfacher, kleiner katholischer Leute aus
niederösterreichischem Bauernblut (die Wiege seiner Eltern stand im
Waldviertel) am 27. Februar 1861 zu Kraljevek an der ungarisch-
kroatischen Grenze geboren. Der Vater, Beamter der Südbahn, wechselte
häufig den Dienstort, war in Mödling (Brunn am Gebirge), Pottschach und
Neudörfl beschäftigt. In Neudörfl ging der kleine Rudolf in die Dorfschule
und machte 1872 bis 1879 die Realschule in Wiener-Neustadt. Äußerlich
betrachtet, lassen sich fünf Abschnitte seines Lebens unterscheiden: die
Jugend- und Schulzeit von 1861 bis zur Absolvierung jener Realschule,
1879; die Wiener Studienzeit (technische Hochschule und Universität) vom
Herbst 1879 bis zum Sommer 1890; die Weimarer Periode (Tätigkeit am
Goethe- und Schillerarchiv, vom Herbst 1890 bis zum Sommer 1897); die
Berliner und Münchener Zeit, vom Sommer 1897 bis zum Sommer 1914, in
die, um die Jahrhundertwende, der Anfang der anthroposophischen
Bewegung fällt, und endlich die letzte Lebensperiode in Stuttgart und
Dornach vom Herbst 1914 bis zum Tode, am 30. März 1925; sie umfaßt
den Bau des Goetheanums, das, ein Holzbau, durch Feuer zerstört wurde,
die Begründung der allgemeinen anthroposophischen Gesellschaft (zu
Weihnachten 1923) und die Inangriffnahme des neuen, aus Beton
gestalteten Goetheanums, das heute auf dem Hügel als ein Tempel neuer
Gralssuche dasteht. Die Zeit von 1861 bis zum Theosophischen Kongreß,
der, 1907, in München stattfand, hat Rudolf Steiner in seiner
Selbstbiographie »Mein Lebensgang« geschildert, schlicht, bescheiden,

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 228


Wahrhaftig und durchsichtig bis auf den Grund, in einem Buch, das unter
allen Selbstbiographien eine ganz eigenartige Stellung einnimmt und sich in
seiner Weise als ein hochwertiges Dokument der Zeit des Überganges vom
19. ins 20. Jahrhundert erweist. Mit großer, herzlicher Wärme, ganz
besonders dort, wo es Persönlichkeiten und Verhältnisse behandelt, zu
denen Rudolf Steiner vom Anfang an oder später in Gegensatz geriet, gibt
dieses merkwürdige Buch, dessen seltsame, durchaus unliterarische
Schönheit ich immer wieder aufs neue empfinde, ein Tableau von
Menschen, Dingen und Meinungen, bunt, bewegt, farbig, fein und objektiv
in den Hintergrund jener Zeit gezeichnet, wie es nur ein wahrhaft großer,
sich selbst treuer Mensch in gleicher Klarheit zu entwerfen vermag. Die
Welt, wie sie ihn formte und wie er sie später gestaltete, bestand aus
scheinbar einfachen und doch vom Innersten her aufgewühlten Gefühls-
und Denkelementen, die Steiner mit klarem Blick erfaßte und denen er das
Material zu seiner auf eigener Schauung beruhenden Welt- und
Lebenserkenntnis, sorgfältig ausgewählt, entnahm, ein Kämpfer und
Versteher seiner Epoche, und diese mit ungeheurem Wissen, das ohne
Beispiel dasteht, umspannend. Rudolf Steiner beginnt 1882/83 seine
Tätigkeit als Schriftsteller und Literat in Zeitungen; um 83 nimmt er die
Herausgabe der naturwissenschaftlichen Schriften Goethes in Angriff, ein
monumentales Werk, das ihn durch viele Jahre (der 8. und 9. Band
erschien 1892) beschäftigte und als grundlegendes und beispielgebendes
Werk jedem, der ein vollkommenes und lückenloses Gesamtbild
Goethescher Geistes- und Denkungsart gewinnen will, unentbehrlich
geworden ist. Schon hier muß man wohl ein orientierendes Wort über
Steiners Verhältnis zu Goethe anbringen, über jene ideale Verbundenheit
und Wesensverwandtschaft, die gleichsam den Grundton zu Steiners
Anfängen legte und die in unzähligen Schriften, Aufsätzen und
eingestreuten Bemerkungen immer wiederkehrt, Goethes
wissenschaftliches und denkerisches Porträt immer wieder um liebevoll und
doch kritisch geschaute Details ergänzend. Noch heute zieht die exakte
Wissenschaft ihr Amtsgesicht in hämische Falten, wenn vom
»Wissenschafter« und Philosophen Goethe die Rede ist. Unfähig, die
ganze Fülle und Fruchtbarkeit Goetheschen Denkens und Forschens auf
sich wirken zu lassen, betrachten Fachleute der Naturwissenschaft und
Kathederphilosophen Goethe gerne gleichsam als enfant terrible oder als
einen Fachfremden von Distinktion, dessen wissenschaftliches Streben
mehr den Charakter einer Liebhaberei mit liebenswürdig dilettantischen
Zügen als den eines ernst zu nehmenden, selbständigen und wahrhaft
schöpferischen Forschers zu tragen schien, der Goethe in Wahrheit
gewesen ist. Mit diesem dünkelhaften Unverständnis für Goethes
Geistesart räumte der junge Steiner (er war kaum über zwanzig Jahre alt,
als er an diese Arbeit ging) gründlich auf. Schon Steiners Arbeit an den fünf
Bänden der naturwissenschaftlichen Schriften Goethes hätte an sich die
Aufmerksamkeit aller Gelehrten in hohem Maße erregen müssen;

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 229


offenbarte sie doch einen so umfassenden, kritischen, ordnenden,
weitblickenden und alle Tatsachen umfassenden Geist, daß man kaum
begreift, wie ein so junger Mensch imstande war, ein Wissen von solchem
Umfang und solcher Tiefe des Blickes in so kurzer Zeit anzusammeln und
schöpferisch zu verarbeiten. Dieses Moment zu betonen, ist schon deshalb
so wichtig und unerläßlich, als in herabsetzenden und einfältigen
Darstellungen über den modernen Okkultismus, die im Umlauf sind, Steiner
immer wieder als unwissenschaftlicher Kopf und nebuloser Mystiker
geschildert wird, dem »unkritische Naturen« leider in ausreichendem Maße
»hineingefallen« sind, weil sie seine »phantastischen« Darstellungen der
übersinnlichen Welten urteils- und widerspruchslos als gegeben
hinnähmen. Ein Blick auf diese fünf Bände Goethe, die Steiner mit
ausführlichen Einleitungen und gründlichen Anmerkungen versah, sollte
diese ebenso sonderbaren als dreisten Stimmen bald verstummen machen.

II. Die Gegensätze Goethe : Kant


Zweierlei offenbarte sich, für ein Auge, wie es Rudolf Steiner eigen war,
im Genie Goethes: des Dichters besondere Art, die Dinge zu sehen, die
Natur auf sich wirken zu lassen und Wissenschaft über die Rätsel der Natur
nur aus dieser selbst zu holen und, zum andernmal, Goethes Kenntnis der
übersinnlichen Welten, geoffenbart, im Gedichtfragment »Die
Geheimnisse«, im »Märchen«, das die »Unterhaltungen deutscher
Ausgewanderter« krönt, und im »Faust«, der, obwohl ein Dichtwerk der
freien Phantasie, in vielen Teilen, unbewußt, aus den höheren Welten
empfangen ist; als ein viertes Symptom für Goethes Okkultismus ist wohl
die Arbeit des alten Goethe im Gartenhäuschen anzusehen, die er vor
neugierigen Blicken wohl zu verbergen wußte, die er aber im Tagebuch mit
seltsamen Ausdrücken bezeichnete; über diesen Punkt hat Steiner, soweit
bis jetzt bekannt ist, allerdings nicht gesprochen. Was nun die zuerst
genannte Seite im Verhältnis Steiners zu Goethe anlangt, so ist sie mit eine
der Grundlagen dafür geworden, was man Steiners erkenntnistheoretische
Grundlegung der Geisteswissenschaft nennen kann. Von 1883 an, da er an
den naturwissenschaftlichen Schriften Goethes zu arbeiten beginnt, bis
1902, da seine Schrift »Goethes Faust als Bild seiner esoterischen
Weltanschauung« erscheint, hat Rudolf Steiner, durch die Beschäftigung
mit der naturwissenschaftlichen Erkenntnis Goethes reich befruchtet,
gleichsam das Gebäude seiner erkenntniskritischen Voraussetzungen für
die anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft ausgebaut, die,
allerdings, weit über Goethe hinausgeht, indem sie die bei Goethe bloß
keimhaft vorhandenen Anschauungen bewußt zu übersinnlicher
Anschauung und Erkenntnis entwickelt. Steiner stellt zunächst die
Grundlinien einer Erkenntnistheorie in Goethes Weltanschauung (mit
besonderer Rücksicht auf Schiller) fest, und gelangt, nach einem Ausflug in
»Goethes Ästhetik«, 1889, zwei Jahre später, auf dem Boden seiner
Rostocker Dissertation zur »Grundfrage der Erkenntnistheorie«, das ist zur

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 230


»Verständigung des philosophierenden Bewußtseins mit sich selbst«; von
hier, 1892, über »Wahrheit und Wissenschaft«, eine Schrift, die auf jener
Dissertation ruht, zur grundlegenden Auseinandersetzung über eine
»moderne Weltanschauung«, betitelt »Philosophie der Freiheit, 1894, der
»Goethes Weltanschauung« (1897) und die »Welt- und
Lebensanschauungen im XIX. Jahrhundert« (1899) folgen. Es ist ein
erlesenes Vergnügen, Steiners Entwicklungsgang bis zu diesem Punkte zu
verfolgen, da seine ersten hellseherischen Anfänge einsetzen, durch die
Beschäftigung mit den philosophischen Problemen jener Zeit (an Goethe
orientiert) wohl gestützt und vor dem Verfall in nebelhafte Mystik weise
bewahrt. Ein junger Siegfried bahnt sich hier, mit dem selbstgeschmiedeten
dialektischen Schwert, einem Vermächtnis Goethes, in der Hand, durch die
Lohe der damaligen Naturwissenschaft zum Felsen, darauf die reine
Erkenntnis übersinnlicher Welten, in tiefem Schlafe ruhte, der Erweckung
harrend. Steiner selbst schildert diesen Entwicklungsgang in überaus
anziehender Weise, seine Selbstbiographie wird hier zur spannenden
Lektüre: sie erzählt die Geschichte eines erleuchteten Menschen, der sich
in seinem dunklen Drange des rechten Weges wohlbewußt ist. Ich kann die
Ergebnisse dieses Prozesses hier nur in ganz kurzen Zügen andeuten,
schon weil der Prozeß selbst wohl geeignet ist, die boshafte Legende zu
zerstören, als hätte Steiner hinterdrein versucht, seine Philosophie der
»Freiheit« auf Anthroposophie umzufrisieren und den »Übergang zur
Theosophie« durch philosophische und erkenntnistheoretische
Auseinandersetzungen zu bemänteln. Alle diese Einwände, erhoben von
Leuten, die muntererweise gar nichts daran fanden, daß die Hüter des
Goethehortes von heute auf den blasphemischen, Goethes
Weltanschauung geradezu parodierenden Einfall kamen, Sigmund Freud,
trotz seines absoluten Gegensatzes zu Goethe und damit, rundweg
herausgesagt, Goethes Widerspiel, durch den Goethepreis zu ehren, alle
diese Einwände fallen sofort in Nichts zusammen, wenn man, von Steiners
Selbstbiographie geführt, die geistige Wanderung Steiners zur
übersinnlichen Erkenntnis in der Erinnerung neu belebt. Wer, wie Steiner,
der den tieferen Blick für Goethes Wesen vom Anfang an besaß, von
Goethes Geistesart ausgeht, zweigt schon, in dieser rein äußerlichen
Stellungnahme, bewußt von Kant ab. Kants Natur war völlig ungeeignet, die
Natur anders zu erleben denn in ihrer Auflösung im menschlichen Geiste.
Unterscheidet Kant Natur und Geist, so wird Natur bei Goethe selbst Geist.
Darum durfte Goethe ganz aufrichtig sagen, daß Kants »Kritik der reinen
Vernunft« gänzlich außerhalb seines Kreises blieb; das Ichselbst und die
Außenwelt streng voneinander zu sondern, war Goethe nicht gegeben; er
fand, wie er selbst äußert, den Grundirrtum Kants darin, daß Kant das
»subjektive Erkenntnisvermögen selbst als Objekt« setzte. Nicht der
Mensch spricht für ihn über die Natur, sondern die Natur im Menschen und
durch den Menschen. Mit dieser Überzeugung wußte sich Goethe zugleich
im Gegensatz zu Schiller, auf den Kant weit stärker einwirkte. Wie dem

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 231


auch sei, das Geheimnis der tiefen Verbundenheit Steiners mit Goethes
Geistesart, im »Goetheanum« zu Dornach für immer, auch nach außen,
geoffenbart, ruht auf dem Grunde dessen, was Steiner als neues Wissen
um die Welt und den Menschen der Erde gab.

III. Kant, Hartmann, Nietzsche in Steiners Entwicklung


In »Wahrheit und Wissenschaft« gibt Steiner eine klare
Auseinandersetzung mit Kant. Steiner ging es in diesem »Vorspiel einer
Philosophie der Freiheit« darum, die Natur des Wissens selbst festzustellen
und das wichtigste Problem alles menschlichen Denkens darin zu erblicken,
daß es den Menschen als auf sich selbst gegründete, freie Persönlichkeit
begreife. Der junge Hauslehrer und Erzieher Rudolf Steiner verbrachte, in
den Achtzigerjahren, die Spätabende am Attersee damit, an Hartmanns
Schriften, die damals in hohem Ansehen standen, »immer größere
Sicherheit« für die eigenen erkenntnistheoretischen Gesichtspunkte zu
gewinnen. Für Goethes Art der Erkenntnis gab es keine
»Erkenntnistheorie« im Sinne der damaligen Zeit. Waren »Wahrheit und
Wissenschaft« schon Eduard v. Hartmann in Verehrung gewidmet, so ging
das erste Exemplar der »Philosophie der Freiheit«, noch warm vom Druck,
an den Philosophen, der, wie sich bald darauf zeigte, die Quellen und Ziele
Steinerschen Denkens vollkommen mißverstand, was in Steiners
Lebensbeschreibung mit der Steiner eigentümlichen Gründlichkeit und
Objektivität geschildert wird. Steiner sah in diesem berühmten Buche, das
die zünftige Kathederphilosophie mit Geringschätzung beiseite schob, die
Möglichkeit eines vollkommenen Zusammenseins von Seele und Geistwelt.
Der alte Irrtum, die erkennende Seele müsse sich, um zu erkennen, von
dem zu Erkennenden streng sondern, verschwand hier und löste sich in
Nichts auf. An diesem Punkte läßt sich übrigens eine wichtige Seite
Steinerschen Denkens mit Gewinn betrachten. Die größte Schwierigkeit für
jene, die nicht fassen konnten, daß es ein leibfreies Bewußtsein gebe, lag
darin, einzusehen, wie ein solches leibfreies Bewußtsein dann wieder in
den Körperbereich »zurückfinde«, um seine in der übersinnlichen Welt
erworbene Erkenntnis auf die Welt der gewöhnlichen materiellen
Erkenntnisart zu übertragen und in dieser Welt zu verwerten. In diesem
Sinne gibt es auch bei Steiner, wie in Kants »Kritik der reinen Vernunft«
(bei Steiner allerdings nur scheinbar) ein besonders schwieriges und
dunkles Kapitel: dort den »Schematismus der reinen Verstandesbegriffe«,
hier den Schematismus der »unbewußt« und den objektiven Geist
untersuchenden erkennenden Seele, die das »vollkommen Wesenhafte«
bei voller »Selbstbesinnung« wieder ins Bewußtsein hereinbringt. In der
Geistwelt kann die erkennende Seele auch zu den Ideen vordringen und
die Welt der sittlichen Impulse erleben. Ein für allemal war in der
»Philosophie der Freiheit« gezeigt, daß die Welt unserer Sinne in
Wirklichkeit von geistiger Beschaffenheit ist, daß also der Mensch, als
seelisches Wesen, durch wahre Erkenntnis der Sinneswelt im Geistigen

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 232


lebe und webe. Lag hier das eine Ziel der »Philosophie der Freiheit«, so
sah Steiner eine zweite Bestimmung seines Buches in der durch die Kraft
der moralischen Phantasie erlebten moralischen Welt, die den Menschen in
Freiheit an sich herankommen läßt. Hartmann war außerstande, diese
Impulse zu verstehen; er sah in Steiners Buch nichts als eine willkürliche
Kuppelung des »erkenntnistheoretischen Phänomenalismus« mit dem
»ethischen Individualismus«. Die Gestalt, die Steiner seinen Ideen gab,
war, nach den ersten drei Jahrzehnten seines Lebens, durch seine
damalige Seelenverfassung gegeben. Die »Philosophie der Freiheit« birgt
gleichsam die Grundzeichnung der späteren Anthroposophie; die Natur
offenbart sich, durch Steiners Erlebnis der geistigen Welt, in unmittelbarer
Anschauung als Geist, und eine zeitgemäße Naturwissenschaft sollte aus
diesem Erlebnis aufblühen. Der »weitere Weg« von dieser »Philosophie der
Freiheit« zu der »Ideengestaltung« für die geistige Welt selbst, war damit
skizziert und ward von Steiner mit strenger Konsequenz eingeschlagen.
Daß der Ausdruck »Anthroposophie« für die zeitgemäße Erkenntnis nicht
schon damals gebraucht wurde, kam daher, daß Steiners Denken und
Schauen, immer nach Anschauungen drängend, den Wunsch einer
bestimmten Namengebung noch nicht empfand. Mit dem Ringen nach einer
Ideengestaltung für die geistige Welt sind die zehn Lebensjahre Steiners,
von 1891 bis 1901, erfüllt. In diese Zeit fiel auch die nach der Lage der
Dinge unvermeidliche Berührung mit Friedrich Nietzsche, mit diesem
»Kritiker der Zeit, den seine eigene Kritik krank machte«; daß Nietzsche
diese Krankheit erleben mußte, um seinen Traum von Gesundheit und
Lebensbejahung zu träumen, hat Steiner als Erster ausgesprochen; 1895
erschien als Frucht dieser Berührung »Nietzsche als Kämpfer gegen seine
Zeit«; schon früher hatte Steiner die Bekanntschaft mit Elisabeth Förster-
Nietzsche gemacht, die nach Weimar gekommen war, um, nach dem
Muster des Goethe- und Schillerarchivs, die Anlage eines Nietzschearchivs
zu entwerfen. Über dieser Begegnung stand allerdings kein günstiger Stern;
es kam später zu schweren Konflikten zwischen Steiner und der Schwester
Nietzsches. Steiner, die ganze Bitterkeit jener unseligen Tage empfindend,
blieb der genialen, aber sehr streitsüchtigen Frau doch dankbar für ein
besonderes Erlebnis: für einen Besuch beim Umnachteten, den Steiner mit
edelster Ergriffenheit schildert. Am Ende seiner Weimarer Zeit stand
Steiner in seinem 36. Lebensjahre; in diese Zeit fällt auch die Entscheidung
über sein weiteres Leben, Wirken und Denken. Bis zum Jahre 1897 gab es
einen Hofmeister, einen Journalisten und Kritiker, einen Gelehrten Steiner,
der, trotz seiner Jugend, zu ernster und schwieriger Arbeit an Goethes
Schriften berufen, an den Dingen und Umständen seines Lebens innerlich
wuchs. Kein Mensch ahnte im Rudolf Steiner jener Zeit den künftigen
Welten- und Menschheitslehrer Rudolf Steiner, nur Eingeweihte hätten es
an Symptomen besonderer Art feststellen können; wußten sie doch oder
hätten wissen müssen, daß gegen das Ende der Siebzigerjahre ein
Wechsel in den Impulsen eintrat und das Wort Mensch neuen Klang

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 233


bekam. Steiners literarisches Wirken setzt mathematisch fast genau mit
dem Beginn der Achtzigerjahre ein. Wir werden später sehen, daß diese
Impulse, in Rudolf Steiner besonders wirksam, Michaelimpulse sind, eine
Vorstellung, die richtige Exaktler zur Verzweiflung bringen mag, obschon
gerade diese ihre Verzweiflung mit zum Bilde gehört und darin
eingeschlossen liegt. Das Lebenswerk Rudolf Steiners zeigt erstaunliche
Einheitlichkeit, und die Gliederungen, die darin zutage treten, sind durchaus
im menschlichen Seelenleben begründet; sie weisen nicht etwa einen
logischen Fortschritt, wohl aber die Gesetzlichkeit einer »verwirklichenden
Entwicklung« auf. Der erste Abschnitt in Steiners Schaffen, repräsentiert
durch die Schriften der Achtziger- und der ersten Neunziger Jahre, betonen
mehr den Gedanken, die Schriften aus der Zeit der Jahrhundertwende
mehr das Gefühl und die eigentlichen anthroposophischen Schriften der
letzten Jahre mehr den Willen, der zur Tat geworden. Immer aber
erscheinen Aspekte, die in den beiden früheren Abschnitten gleichsam als
Verheißungen auftreten, später, als Taten, aus dem Willensimpulse erfüllt.
Um so interessanter ist es, wenn man Steiners Anthroposophie erfaßt und
in immer wieder erneuter Arbeit sozusagen dem eigenen Wesen einverleibt
hat, zu den Schriften einer früheren Epoche zurückzukehren. Sie
erscheinen dann dem prüfenden Auge in neuem und glänzendem Licht, ein
Erlebnis, das ich besonders mit Steiners »Philosophie der Freiheit« hatte;
sie ist unendlich mehr als ein philosophisches Buch: ein Dokument von
überragender Kraft, die allerdings den Philosophiebeamten von gestern und
heute nur schwer bewußt wird; enthält sie doch neben der Erledigung des
Kantschen Denkens schon die Christuslehre Rudolf Steiners! Von diesem
Gesichtspunkte aus wird man wohl auch verstehen, wenn Steiner in seiner
Selbstbiographie (XXII) von sich selbst sagt, sein gesamtes
Beobachtungsvermögen habe sich nach der Richtung der Genauigkeit und
Eindringlichkeit, im 36. Lebensjahre umgestaltet: das Gefühl gab seinem
Denken neuen Antrieb. Einzelheiten wurden ihm wichtig, die Sinneswelt
begann, ihm zu enthüllen, was nur sie zu enthüllen vermag.

IV. Der Philosoph auf dem Wege zu Christus


Sechsunddreißig Jahre alt und die Weimarer Zeit hinter sich, entdeckte
Steiner, daß die Wesen und Vorgänge der physischen Welt ganz anders zu
ihm sprachen als bisher; »Ich hatte das Gefühl«, so schreibt er in seiner
schlichten Art, aller schriftstellerischen Koketterie fern und einzig darauf
bedacht, sich selbst und seiner Zeit wahrheitsgetreuen Bericht über seinen
Entwicklungsgang zu geben, »die Sinneswelt habe etwas zu enthüllen, was
nur sie enthüllen kann«. Der Mensch als Rätsel ist des Rätsels Lösung in
einem. Es ist ungeheuer spannend zu verfolgen, wie Rudolf Steiner hier
dem Hange ausweicht, Mystiker zu werden, das heißt: ein Mensch, der den
Zusammenhang mit der Welt nach und nach verliert. Dinge, wie sie Steiner
um diese Zeit erlebt, zeigen sich zunächst bloß im Gefühl; eine gewisse
Bequemlichkeit und wohl auch offene Gegnerschaft gegen das Getriebe

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 234


der Welt mögen den Wunsch mystischer Naturen, nicht dabei zu bleiben,
sondern gänzlich im Meere der Mystik unterzutauchen und der Welt bei der
ersten besten Gelegenheit zu entwischen, heimlich nähren, wofür es in der
Geschichte der Mystik wahrhaftig der Beispiele genug gibt. »In das Licht
gerückt«, darin »sich die Ideen offenbaren«, hebt Steiner das mystische
»Erfühlen« mit einem Ruck ans Licht des Tages und schöpft daraus immer
klarere Erkenntnis. Dreieinhalb Jahre nach »Goethes Weltanschauung«
und der Einleitung zum letzten Bande der Kürschnerschen Goetheausgabe,
mit einem Überblick über die »Welt- und Lebensanschauungen im XIX.
Jahrhundert« beschäftigt, hatte Steiner wieder ein großes Stück des Weges
im Eilschritt durchlebt. Das Abenteuer der Mystik war überwunden, die
Meditation in ihrer Bedeutung für die Erkenntnis nach allen Seiten
klargestellt; es zeigt sich ihm nun eine neue Landschaft der Einsicht, in
Stufen geteilt, die später ganz genau, auch begrifflich klar und
unzweideutig, geschildert werden: als Aufstiege von der materiellen
Erkenntnisart (mit Gegenstand, Bild und Begriff, ohne Gegenstand), zur
Inspiration (Begriff, ohne Bild und Gegenstand) und zur Intuition (das Ich
allein, alles umfassend und in allem enthalten). Was Steiner in seinem
minutiösen Bericht als Erlebnis hier wiedergibt, ist nichts anderes, als eine
Entdeckungsreise in das innere Wesen des Menschen, zum Bewußtsein
des »inneren, geistigen Menschen«, der, losgelöst vom physischen
Organismus, lebt, wahrnimmt und sich bewegt! Wer angesichts solcher
Begebenheiten noch den Mut aufbringt, einzuwenden, Steiner habe sich in
»Autosuggestion« geübt, weiß ebensowenig von der geistigseelischen Art
eines Menschen wie Steiner, noch überhaupt, was Autosuggestion ist. Die
gespenstige Formel des »Dings an sich«, war mit einemmal spielend
überwunden. In diese Zeit mächtiger Wandlungen fällt nun Steiners
Berufung an das »Magazin für Literatur des Auslandes«, einer alten, im
Todesjahre Goethes (1832) gegründeten Wochenschrift; im Juli 1897
übernimmt er, zusammen mit Otto Erich Hartleben, die Redaktion dieser
Zeitschrift. Er unterwirft sich diesem Abschnitt seines Karmas mit einer
Geduld und Größe, die nur Eingeweihten gegeben sind. Die Menschen um
das »Magazin« und die »Freie literarische Gesellschaft« waren ganz
deutlich in Steiners »Schicksal verwoben«; er allein wußte, warum gerade
er auf diesem Platze stand, die anderen ahnten es kaum. Im November
1901 erscheint Steiners letzte Arbeit für das »Magazin«, »Tolstoj und
Nietzsche«, als Autoreferat eines Vortrages, den Steiner am 22. Oktober
dieses Jahres in der »Freien Literarischen Gesellschaft« hielt. Sein
Abschied von der Redaktion des »Magazins« war schon am 29. September
1900 erfolgt, und 1901 erscheint Steiners erstes okkultes Werk: »Die Mystik
im Aufgange des neuzeitlichen Geisteslebens und ihr Verhältnis zu den
modernen Weltanschauungen« und in einer Leipziger Zeitschrift für
Theosophie, Dezember: 1901 Steiners erster »theosophischer« Aufsatz. In
einer überaus anziehenden und liebevollen Weise hat Dr. H. E. Lauer in
zwei Nummern der »österreichischen Blätter für freies Geistesleben«

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 235


(1927) Steiners Wirken am »Magazin« geschildert. »Ein Sänger ohne
Publikum« ist Rudolf Steiner in den Augen der naturwissenschaftlichen
Kreise immer geblieben. In diesem Bereich, für den Mut konsequenten
Denkens, vor allem für den Mut zum »Zu-Ende-Denken«, war kein Echo
aufzutreiben. Ein anderes Echo aber meldete sich gleichsam von selbst;
der Lindwurm (durch Steiners Siegfriedshorn aus dem Schlafe geweckt),
der die Höhle der okkulten Geheimnisse vor der andringenden
Geisteswissenschaft bewachte: die Theosophie! Von der »Mystik im
Aufgang« und dem »Christentum als mystischer Tatsache«, diesen beiden
Grundsäulen am Eingange der Anthroposophie, soll gleich im weiteren die
Rede sein; um ihres eigenartigen Reizes willen mag aber vorher noch
Steiners Erlebnis mit dem Giordano-Bruno-Bund gestreift werden. In einem
Vortrag über »Monismus« bekannte Rudolf Steiner ganz offenherzig, die
schroffe Scheidung von Stoff und Geist sei im Grunde nur eine Erfindung
der neuesten Zeit; diesem Dualismus stand, ganz richtig und unzweideutig,
der Monismus der Scholastik gegenüber, womit die Scholastik im Grunde
höher gestellt war als Kant und seine Lehre. Das bloße Wort »Scholastik«,
noch heute ein rotes Tuch für jede Sorte der »Feld-, Wald- und
Wiesenfreidenkerschaft«, brachte Steiner natürlich sofort in schroffen
Gegensatz zu der Brunogesellschaft, die »Verrat« witterte und den
Verdacht im Busen hegte, Steiner wolle den Bund an den Katholizismus
ausliefern; so erschien Steiner den Freidenkern bald als Jesuit, indes es
eine Menge von Leuten gab, die ihn senkrecht für einen Materialisten
erklärten. Die Aufforderung an Rudolf Steiner, im engeren Kreise vor
Angehörigen der Theosophischen Gesellschaft zu sprechen, fällt in das
Jahr 1900. Als Frucht dieser Berührung sind eben jene beiden Schriften:
»Mystik im Aufgang« und Christentum als »mystische Tatsache«
anzusehen.

V. Die Leidensstation: Theosophie


Es ist durchaus nötig, hier einem Generaleinwand gegen Steiner, als
habe er die »Theosophie« und die »Theosophische Gesellschaft« einfach
als »Sprungbrett« benützt, mit einigen entscheidenden Sätzen zu
begegnen. »Ich nahm«, sagt Steiner bei Erörterung der Frage, wie weit das
Verbot der Geheimhaltung für esoterisches Wissen bestehe, »von alter
Weisheit nichts an; was ich an Geisterkenntnis habe, ist durchaus Ergebnis
meiner eigenen Forschung; nur, wenn sich mir eine Erkenntnis ergeben
hat, da ziehe ich dasjenige heran, was von irgend einer Seite an ›altem
Wissen‹ schon veröffentlicht ist, um die Übereinstimmung und zugleich den
Fortschritt zu zeigen, der der gegenwärtigen Forschung möglich ist.« Schon
seit den Achtziger jähren beschäftigten Steiner Imaginationen, die mit
Goethes »Märchen« zusammenhingen und die er 1899 unter dem Titel
»Goethes geheime Offenbarung« im Druck erscheinen ließ. Um die
Jahrhundertwende kam dann die Aufforderung durch das gräfliche Paar
Brockdorff, das Steiner bat, im Rahmen allwöchentlicher Veranstaltungen

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 236


zu sprechen. Steiner sprach zunächst über Nietzsche, trat aber erst in
einem zweiten Vortrag über das eben angegebene Thema (Goethes
geheime Offenbarung) offen mit esoterischen Erkenntnissen vor seine
Zuhörer, also mit einem Thema, das dem Kreise der damaligen Theosophie
vollkommen fernstand. Das Ehepaar Brockdorff spielte eine führende Rolle
in der von der Blavatsky gegründeten theosophischen Gesellschaft; von
Brockdorffs aufgefordert, auch vor rein theosophischen Zuhörern zu
sprechen, bemerkte Steiner sofort und prinzipiell, daß er nur darüber, was
in ihm selbst als Geisteswissenschaft lebe, sprechen wolle und könne.
Gleich zu Beginn seiner Tätigkeit zu Beginn der Jahrhundertwende spürte
Steiner den Gegensatz seiner schon damals Anthroposophie genannten
Geisteswissenschaft zu dem, was damals durch die theosophische
Gesellschaft verbreitet wurde, und eine Reihe von Vorträgen aus jener Zeit
markiert Steiners Weg ganz deutlich; er sprach über »Mystik im Aufgange«,
»Von Buddha zu Christus«, über das »Wesen der Mysterien«, über
Goethes »Faust« vom esoterischen Gesichtspunkt aus und schließlich über
das »Christentum als mystische Tatsache«, lauter Themen, die unter
Theosophen und für theosophische Ohren keineswegs theosophisch im
indischen Sinne klangen. Nirgends im Rahmen der theosophischen
Gesellschaft hätte man über solche Dinge in dieser Art sprechen können,
ohne Befremden zu erregen und offenen Widerstand hervorzurufen. Zu
dem, was man bei einigem Wohlwollen für die Theosophen von damals
theosophische Dogmatik hätte nennen können, stand Steiner schon damals
in Widerspruch, noch ehe die deutsche Sektion der Gesellschaft mit Steiner
als deutschem Generalsekretär begründet wurde, sogar in schroffem
Gegensatz (Londoner Kongreß, 1902). Das einzige, was die Theosophie
diesem Manne zu bieten vermochte, bestand in einem ständigen
Hörerkreis, der auf geistgemäße Vorträge eingestellt war und für solche
Interesse zeigte. In seiner »Mystik im Aufgange« stellte sich Steiner die
Frage der Zusammenhänge zwischen den Anfängen des gegenwärtigen
naturwissenschaftlichen Denkens (in der Zeit vom 13. bis zum 17.
Jahrhundert) mit jener besonderen Gestalt der Mystik, wie sie durch Meister
Eckhart, Nicolaus von Cuës, Agrippa von Nettesheim und Theophrastus
Parazelsus, durch Valentin Weigel und Jakob Böhme, durch Giordano
Bruno und Angelus Silesius vertreten wird. Was die führenden Mystiker
jener Zeit zu sagen hatten, steht in einem starken Gegensatz zu den
Erkenntniskräften, wie sie im 13. und 14. Jahrhundert in der europäischen
Menschheit auftraten. Wer ein unbefangenes Auge für diese
Problemstellung hat, der kann sich gewiß auch zusammenreimen, wie sich
Steiners enges Verhältnis zur Ideenwelt Ernst Haeckels gleichzeitig mit der
Ideenwelt der deutschen Mystiker vertrug. Zweieinhalb Jahrhunderte waren
verflossen, seit Angelus Silesius im »Cherubinischen Wandersmann« die
Weisheit seiner Vorgänger sammelte; da standen nun Goethes Geistesart
und naturwissenschaftliche Denkweise auf der einen, die moderne
Naturwissenschaft mit Lamarck, Darwin und Haeckel auf der anderen Seite.

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 237


Dennoch ließ sich, durch geistgemäßes Denken, eine unterirdische
Verbindung herstellen, die Steiner mit seinem genialen Blick erkannte und
schon verarbeitet hatte, während seine Gegner noch bei den scheinbaren
Widersprüchen in Steiners Seele verweilten. In den bedeutsamen Jahren
der Jahrhundertwende 1902 vor allem, das als Beginn der deutschen
Sektion und als Anfangsjahr für die gemeinsame Tätigkeit Rudolf Steiners
und Marie von Sievers anzusehen ist, kann man den geistigen Grundriß
des Riesengebäudes der Anthroposophie schon deutlich ersehen,
gekennzeichnet durch die Erkenntnis des Christentums als einer
»mystischen Tatsache« und niedergelegt in Vorträgen, die heute erst
zugänglich geworden sind und die ein spannendes Bild der inneren
Situation des großen Anthroposophen und Menschheitslehrers geben. Die
theosophische Gesellschaft war eine auf dem Spiritismus und auf
Inspiration durch »Meister« ruhende, stark dogmatische Sekte mit
dilettantischen Zügen geworden. Daß diese Bestrebungen schon in der
Anlage verfehlt waren und daß Rudolf Steiner nichts mit ihnen zu tun haben
konnte, versteht sich von selbst. Schon 1906 zeigten sich offenkundige
Anzeichen des Verfalls, die dann ihren Gipfel in der Gründung eines
besonderen Ordens fanden, der »Stern des Ostens« genannt wurde und
der zu dem Zwecke gegründet war, um den Hinduknaben Krishamurti dem
christlichen Wesen als neuen Erlöser und Menschheitslehrer aufzuzwingen.
Innerlich war der Bruch schon 1906 vorhanden; wohl versuchte
Steiner anfangs, was er als Anthroposoph zu sagen hatte, im Rahmen der
theosophischen Gesellschaft zu geben, aber seine Anthroposophie löste
sich als heller, reiner und idealer Kern schon 1913 von der faulenden
theosophischen Schale los.

VI. Christentum und Theosophie


Der okkulte Entwicklungsgang Steiners geht nun vollbewußt,
herbeigeführt durch eine Überfülle esoterischer Erkenntnis, die sich seinem
schauenden Blicke ergab, ihren Weg, dessen Hauptlinie durch seine drei
großen, grundlegenden Bücher »Theosophie«, »Geheimwissenschaft im
Umriß« und »Wie erlangt man ...« als durch drei gewaltige Merksteine für
immer bezeichnet wird. Sie fallen in die Jahre 1904 (Theosophie), 1909
(Wie erlangt man ...) und 1910 (Geheimwissenschaft im Umriß). 1903
begründet Steiner das Erscheinen einer Zeitschrift für Seelenleben und
Geisteskultur, Theosophie, genannt »Lucifer« (560 in der Zahl der
Steinerschen Publikationen); hier sammelt er zunächst gleichsam das
Material zu den übersinnlichen Mitteilungen, die in seinen Büchern und
Vorträgen zusammengefaßt sind, von Arbeiten über Dr. Faust, J. G. Fichte,
Meister Eckhardt und Angelus Silesius bis zur Theosophie, als »Einführung
in übersinnliche Welterkenntnis und Menschenbestimmung« und zur
Erneuerung des »Luzifer« in Gestalt einer »Lucifer-Gnosis«, die 1908 mit
Arbeiten »über die Stufen der höheren Erkenntnis« (Inspiration und
Intuition) und »zur Akashachronik« aufhört. 1909 nimmt der philosophisch-

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 238


theosophische Verlag (Berlin) Steiners weitere Publikationen auf. Die erste
Auflage der »Theosophie«, die bis zum heutigen Tage nicht weniger als
zwanzig Auflagen erlebte, 1904 in Berlin erschienen, ist noch »dem Geiste
Giordano Brunos gewidmet«, ein Vermerk, der schon in der zweiten
Auflage verschwand, offenbar, weil das Treiben der Freidenker den Begriff
Giordano Bruno mit Bestrebungen verband, die Steiner weder fördern
wollte, noch aus inneren Gründen konnte. Vergleicht man Steiners
»Theosophie«, die eigentlich schon eine Art Einleitung in seine
Anthroposophie ist, mit Publikationen der theosophischen Gesellschaft, so
springt der tiefgehende Unterschied zwischen Steiner und den
Theosophen, die Steiner »als Sprungbrett« benützte, sofort ins Auge; seine
Schrift läßt keinen Augenblick Zweifel darüber, daß sie vom Autor des
»Christentums als mystische Tatsache« stammt. Nach einer Einleitung, in
der Steiner, von J. G. Fichte ausgehend, feststellt, daß man nicht im vollen
Sinne des Wortes Mensch sein kann, ohne der durch das Wissen vom
Übersinnlichen enthüllten Wesenheit und Bestimmung des Menschen in
irgend einer Art nahegetreten zu sein, daß das Höchste, zu dem der
Mensch aufzublicken vermöge, das »Göttliche« genannt wird, daß man
übersinnliches Wissen in gewissem Sinne auch »Theosophie« nennen
dürfe, während der Betrachtung geistiger Vorgänge im Menschenleben und
im Weltall die Bezeichnung »Geisteswissenschaft« gebührt, und daß er
endlich in seinem. Buche nichts dargestellt habe, was nicht aus dem
»Schauen des Geistes« stammte und für ihn nicht etwa als Tatsache in
Betracht käme, befaßt sich Steiner mit dem Wesen des Menschen und
dessen drei Wesensseiten, die durch die drei Worte Leib, Seele und Geist
ausgedrückt werden. Für den oberflächlichen Leser mag dieses Festhalten
an der Dreifältigkeit des menschlichen Wesens zunächst als pedantisch
erscheinen, da der Durchschnittsmensch in der Gewohnheit hat, von Leib
und Seele zu sprechen, mit denen er das Geistige in einer dunklen und
ungenauen Weise verbindet. Der abendländische Mensch kann, wenn er in
dieser oberflächlichen Art einem seichten Dualismus in der Auffassung des
Menschenwesens huldigt, die Bedeutung jener Dreifältigkeit kaum
ermessen, aber eine Ahnung von der Wichtigkeit dieses Problems geht ihm
doch auf, sobald er daran erinnert wird, daß im Konzil zu Konstantinopel
381 die Wesensgleichheit des Vaters mit dem Sohne und damit das Dogma
zum Durchbruche kam, den Heiligen Geist vom Vater und vom Sohne
ausgehen zu lassen, womit der Boden für einen späteren Beschluß
vorbereitet war; für das Konzil von Konstantinopel, abgehalten just in der
»Hagia Sophia«, in der Kirche zur heiligen Weisheit, das vom 5. Oktober
869 bis zum 28. Februar 870 tagte und den Lehrsatz verdammte, der
Mensch habe zwei Seelen (Seele und Geist), indes das alte und neue
Testament lehre, daß der Mensch bloß eine verständige und vernünftige
Seele besitze. Umsonst wies Paulus auf den »seelischen Menschen« hin,
der nicht annimmt, was vom Geiste Gottes ist, indes der geistige Mensch
alles ergründet, ohne selbst von jemandem ergründet zu werden,

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 239


vergeblich unterschied er Soma (Körper), Psyche (Seele) und Pneuma
(Geist) und sagt vom Logos, daß dieser bis in die Fuge von Seele und
Geist eindringe: von jenem verhängnisvollen Konzil ab war es unchristlich,
wie zu Zeiten Platos, der Gnostiker und des Manichäismus, von Leib, Seele
und Geist zu sprechen. Mit diesem Beschluß öffnete die »Kirche Christi«,
indem sie sich geistigen Impulsen verschloß, den materialistischen
Vorstellungen von »Funktionen« des Gehirns alle Pforten in das
kirchlichreligiöse Leben, es begann die verheerende Epoche einer
ungeistigen Auslegung der Bibel unter voller Preisgabe der Weisheit des
Origines. Noch bei Luther finden sich schwache Ansätze, den Geist zu
retten, aber jene Entwicklung, die im Protestantismus zur Heraufkunft der
materialistischen Naturwissenschaft und Begründung einer ungeistigen
Philosophie führte, war nicht mehr aufzuhalten, sie schloß mit dem Verlust
auch der Seele. Wie dem immer wäre: in Steiners Theosophie, der
grundlegenden Schrift seiner anthroposophischen Wissenschaft, lebt die
alte heilige Dreiteilung in Leib, Seele und Geist feierlich auf, logisch
begründet. Steiners Geisteswissenschaft steht streng und sachlich auf dem
christlichen Boden.

VII. Grundzüge der Geisteswissenschaft


Steiners Anthroposophie ruht auf der Grundlage der Dreiteilung des
menschlichen Wesens: durch seinen Leib ist der Mensch seiner Umwelt
verwandt, aus deren Stoffen sein Leibliches zusammengesetzt ist, das
Seelische, leiblicher Anschauung entzogen, trägt der Mensch als seine
eigene Welt in sich, mit seinem Geist aber erfaßt er eine Welt, die, »über
Leib und Seele erhaben«, in der einigen geistigen Welt wurzelt; so gehört
der Erdenpilger drei Welten als Bürger an, die er gedanklich von einander
zu unterscheiden vermag. In seinem Leibe findet er die drei Formen des
irdischen Daseins, die steinhafte, pflanzenartige und tierische, vermehrt um
eine eigene, zu den anderen Formen hinzutretende menschliche, denn
durch sein Menschentum bildet er, neben den drei Reichen der Natur, sein
eigenes Reich, eben das Reich des Menschen. Der Mensch, das
Menschenreich, bildet und hat seine eigene Innenwelt; schon seine
Sinnesempfindung ist seelisches Erleben, das mit bloßen Gehirnvorgängen
nichts zu tun hat; an die Sinnesempfindung schließt sich das Gefühl
(Behagen, Mißbehagen, Lust und Unlust, Sympathie und Antipathie), an
das Gefühl aber der Wille, durch den der Mensch auf die Außenwelt
zurückwirkt. Die Leiblichkeit wird zum Untergrunde der seelischen
Wesenheit des Menschen. Indes: das Seelische des Menschen wird nicht
allein durch den Leib bestimmt. Seine Wahrnehmungen und Handlungen
werden vom Denken geleitet; den Denkgesetzen unterwirft er sich selbst,
womit er sich in eine höhere Ordnung einfügt, in die geistige Ordnung.
Fortpflanzung und Wachstum haben Mensch, Tier und Pflanze gemein,
wodurch sie sich vom »leblosen Mineral« unterscheiden. Lebendiges
entsteht aus Lebendigem durch den Keim, die Form und Gestalt des

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 240


Lebendigen pflanzt sich durch Vererbung fort. Die Art vererbt sich auf die
Nachkommen und diese artbildende Kraft, die der Zusammensetzung der
Stoffe Gestalt gibt und diese bestimmt, mag mit einem wissenschaftlichen
Ausdruck Lebenskraft genannt werden. Die Äußerungen der Lebenskraft
bleiben den gewöhnlichen Sinnen verborgen, man kann sie nur
wahrnehmen, wenn der Sinn dafür erschlossen, darauf entwickelt ist, das
Leben der Lebewesen wahrzunehmen; man gewahrt dann in jedem Tier
und jeder Pflanze die »lebenserfüllte Geistgestalt«, die in der
Anthroposophie Steiners den Namen Äther- oder Lebensleib führt; er ist
eine selbständige, wirkliche Wesenheit, die erst die physischen Stoffe und
Kräfte zum Leben aufruft und die den physischen Leib im Leben vor dem
Zerfalle bewahrt; nur das erweckte geistige Auge kann ihn schauen;
während der physische Leib nach dem Tode in der mineralischen Welt
aufgeht, löst sich der Ätherleib in die Lebenswelt auf. Mit dem, was der
Ätherleib für den Menschen bedeutet, ist aber sein Seelisches noch nicht
berührt und ergriffen. Die Welt der Begierden und Wünsche, der
mannigfaltigsten Empfindungen gehört genau so wesenhaft zu ihm als
irgend ein Wesensteil des Menschen überhaupt. Er schwimmt in einer nur
dem Eingeweihten wahrnehmbaren eiförmigen Wolke, die beständig in
innerer Bewegung ist. Erscheint der Ätherleib als ein Schemen, als eine
rötlich-blaue Lichtform, die glänzt und leuchtet, von Farbe etwas dunkler,
als eine Pfirsichblüte, so ist auch dieses dritte Wesensglied des Menschen,
Astralleib genannt, je nach Wesensart, von verschiedener Farbe und
Bewegung. Temperament und Grundstimmung eines Menschen sind an
diesem bewegten Spiel mit seiner von innen heraus sich immer wieder
erneuernden Lebendigkeit, an der Aura, zu erkennen. Unter Aura versteht
der Hellseher diese beständig wechselnden bewegten Ausstrahlungen. In
der Philosophie der Rosenkreuzer wird der Astralleib Seelenleib genannt,
den der Mensch mit dem Tiere gemeinsam hat. Durch das
Selbstbewußtsein endlich fühlt sich der Mensch als selbständiges, in sich
geschlossenes Wesen, als ein Ich, das alles Leibliche und Seelische erlebt.
Leib und Seele tragen das Ich in sich eingeschlossen; ist das Gehirn der
Mittelpunkt des Körpers, so hat die Seele im Ich ihren Ausdruck, das, als
die eigentliche Wesenheit des Menschen in sich bergend, gänzlich
unsichtbar bleibt. Mit seinem Ich ist der Mensch ganz allein, es ist,
sozusagen, der Mensch selbst; im Ich liegt seine wahre Wesenheit, sein
Wesenskern; es ist der Teil des Menschen, der durch alle Inkarnationen
geht und nur jedesmal neue »Hüllen« mitbringt. »Ich« kann ich zu
niemandem andern sagen als zu mir, »ich« kann niemand anderer zu mir
sagen, denn er ist für mich ein Du, ein Er! Die Hülle des Ichs aber ist der
Geist; der Geist lebt in der Hülle Ich, so wie das Ich in Leib und Seele als in
seinen Hüllen lebt. Das Ich wird von der mineralischen Welt von außen
nach innen, im Geiste aber von innen nach außen gebildet. Im Ich endlich
sind die drei Seelen wie Keime zu höherer Entwicklung verborgen, die in
der Geisteswissenschaft den Namen Empfindungsseele, Verstandesseele

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 241


und Bewußtseinsseele tragen. Astralleib und Empfindungsseele sind Eins.
Die Empfindungsseele ist eine Tätigkeitsquelle, sie hängt in ihrer Wirkung
vom Ätherleib ab, holt aus ihm hervor, was in ihr als Empfindung aufglänzt;
durch den Ätherleib aber hängt sie natürlich auch mit dem physischen
Leibe zusammen, durch den sie begrenzt wird, obschon sie, für den
Hellseher sichtbar, um ein Stück über den physischen Leib hinausragt,
mächtiger als dieser. Die Verstandesseele (auch Gemütsseele oder Gemüt
genannt) ist die den Gedanken erlebende, vom Denker bediente Seele. Der
Kern des menschlichen Bewußtseins, der die Ideen des Wahren, Guten
und Schönen zu entwickeln vermag, also die Seele der Seele, wird als
Bewußtseinsseele bezeichnet; in ihr lebt die bleibende, von Sympathie und
Antipathie unabhängige Wahrheit. So wären nun mit dem physischen Leib,
Ätherleib, Astralleib und Ich die vier niedrigeren Wesensglieder bezeichnet,
deren die Geisteswissenschaft noch weitere drei kennt, so daß das Ich als
Mittelpunkt nach der niederen wie vor der höheren Wesenheit anzusehen
ist. Die Keime zu den höheren Entwicklungen, die in der indischen Lehre
als Manas, Buddhi und Atman, in der Geisteswissenschaft als Geistselbst,
Lebensgeist und Geistmensch bezeichnet werden, sind in den drei Seelen
des Ichkerns enthalten: Bewußtseinsseele und Geistselbst bilden eine
Einheit, so wie Astralleib und Empfindungsseele eine solche bilden. Durch
die Entwicklung des Geistselbst wird der Astralleib, durch die des
Lehensgeistes der Ätherleib, durch die des Geistmenschen endlich der
physische Leib verwandelt und veredelt. Unter dem Geistselbst versteht die
Anthroposophie den das Ich bildenden, als Ich oder Selbst erscheinenden
Geist; berührt die Bewußtseinsseele die von Antipathie und Sympathie
gereinigte Wahrheit, so trägt das Geistselbst dieselbe, nur vom Ich
aufgenommene und umschlossene Wahrheit, durch das Ich individualisiert
und in die selbständige Wesenheit des Menschen übernommen; mit dem
Ich ist die Wahrheit wesenhaft verbunden, sie macht das Ich zu einem
Ewigen. Das Geistige ist die ewige Nahrung des Menschen; wird der
physische Mensch aus der physischen Welt geboren, so wird er durch die
ewigen Gesetze des Wahren und Guten aus dem Geiste zur Welt gebracht.
Die Geisthülle, in der die selbständige, geistige Wesenheit, Geistmensch
genannt, wohnt, wird Äthergeist oder Lebensgeist genannt. Die gesamte
geistige Wesenheit des Menschen umstrahlt ihn, für den Hellseher
wahrnehmbar, wie ein Licht (Aura). Kann die physische Wesenheit des
Menschen nur bis zu einer gewissen Grenze wachsen und zunehmen, so
ist die geistige Wesenheit des Menschen unbegrenzt. Das Ich trennt und
vereinigt keimhaft zugleich den irdischen von dem höheren, den physischen
vom geistigen Menschen. Gibt sich das Ich dem Physischen und dessen
Eigenart hin, so kann aus dem Ich allein die höhere Seelen- und
Geisteswelt erschlossen werden. Die Wesensglieder des Menschen
ergeben das nachstehende Schema:
1. Physischer Leib
2. Ätherleib

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 242


3. Astralleib
Empfindungsseele
4. Ich   Verstandesseele
Bewußtseinsseele
5. Geistselbst (Manas)
6. Lebensgeist (Buddhi) und
7. Geistmensch (Atman).
Dieses Schema ist der Schlüssel zum Wissen des Menschen und birgt in
sich die heilige Formel aller menschlichen Entwicklung, die mit der
Evolution der Welt verbunden ist.

VIII. Das Michaelgeheimnis


Die Dreiteilung in Leib, Seele und Geist, die sieben-(neun-) gliedrige
Wesenheit des Menschen, um das Ich als Mittelglied gruppiert, als Frucht
der drei niederen Wesensglieder und zugleich Keim für die drei höheren
(Manas, Buddhi und Atman), sie bilden zusammen auch den Schlüssel zum
Michaelmysterium der Gegenwart. Wer sich in dieses erhabene Schema
vertieft, kann, in ihm und an ihm, die gesamte Geisteswissenschaft,
Anthroposophie, vor sein geistiges Auge rufen. Sind doch zugleich die
sieben großen Verkörperungen der Erde darin enthalten: die Saturnzeit, die
den Körperkeim entwickelt, die Sonnenzeit, die den Ätherleib hinzufügt, die
Mondenzeit, die durch das Hinzutreten des Astralleibes ihren Sinn
empfängt und endlich das Ich, das auf der Erde in das Menschenwesen
einzieht und die irdische Entwicklung abschließt, um sie, durch den Manas,
in der kommenden Jupiterzeit, zur Verwandlung des Astralleibes, durch
Buddhi, in der Venuszeit, zur Verwandlung des Ätherleibes und, durch den
Atman, der Vulkanzeit, zur Verwandlung und Vergeistigung des physischen
Leibes und damit zum Abschluß des großen Schöpfungszyklus
weiterzuführen. Eine große Rolle spielen die Empfindungsseele, die
Verstandesseele und die Bewußtseinsseele in der Entwicklung der
nachatlantischen Epoche und ihrer sieben großen Kulturen bis auf unsere
Zeit. Gott, Welt und Mensch werden von dieser geheimnisvollen Figur der
siebengliedrigen Menschennatur umschlossen; man kann kein Christ sein,
die Evangelien nicht verstehen, den Geist unserer Tage nicht erfassen
ohne sie, Medizin, Astronomie im geistigen Sinn (als geistig gesteigerte
Astrologie), Geschichte, Geographie, Geologie, Soziologie, Erziehung,
Technik, Landwirtschaft, Künste nicht betreiben, ohne daß die Erkenntnis
der siebengliedrigen Natur den Schlüssel zu diesen verschlossenen Türen
liefert, und keines der sieben Menschenrätsel und Weltgeheimnisse
entschleiert sich dem stumpfen Blick der bloß auf die »fünf Sinne«
gegründeten Erkenntnis.
Ein zweites grundlegendes Kapitel der Geisteswissenschaft ist die
Erkenntnis der drei Welten: physische Welt, Seelenland und Geisterland, in

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 243


denen der Ichkern des Menschen bis zur nächsten Verkörperung weiterlebt.
Die physische Welt ist die Domäne des »exakten«, auf die Sinne
gegründeten Wissens; sie wird von der »positiven«, aber sehr
unvollkommen und eng begrenzten Forschungsmethode nur halb »erklärt«
und gedeutet, aber gewissenhaft beschrieben, beklopft und erforscht; man
betritt sie durch die Geburt und verläßt sie durch die Pforte des Todes. Das
Seelenland mit seinen sieben Regionen (der Begierde, der fließenden
Reizbarkeit, der Wünsche, der Lust und Unlust, des Seelenlichtes, der
tätigen Seelenkraft und des Seelenlebens) wird, von den höheren, zum
Schauen entwickelten Sinnen aufgenommen, von der Seele durchschritten,
wenn sie die physische Welt verlassen hat. Die dritte Welt, die Geisterwelt
endlich, ist die Urheimat der geistigen Dinge und ihrer Schatten, der
abstrakten Gedanken. Hier hausen die schaffenden Wesenheiten,
die Weltmeister alles dessen, was in der physischen und in der seelischen
Welt entsteht; ihre Formen wechseln. Hat das Seelenland Bilder und
Farben (in beständigem Dahinfluten begriffen), so sind das Hauptmerkmal
der geistigen Welt, des Geisterlandes, Töne: wer die Seelen- und
Geisterwelt schauen will, muß, als Seher des Seelenlandes, das geistige
Auge auftun, das geistige Ohr entwickeln; auch hier, in der Geisterwelt, gibt
es Stufen und Regionen, die nicht etwa schichtenweise
übereinandergelagert sind, sondern einander durchdringen. In der ersten
Region sind die Urbilder der physischen Welt, in der zweiten die des
Lebens, in der dritten der Luftkreis des Geisterlandes, die Urbilder alles
Seelischen, der Leidenschaften, Gegensätze und Kämpfe, Gewitter und
Stürme zu finden, in der vierten Region die ordnenden und gruppierenden
Geister, in der fünften, sechsten und siebenten aber die Urtriebe (Impulse)
zu allen Tätigkeiten und Absichten, die geistigen Worte und ewigen Namen.
Die dreifache Welt hat sieben Elementarreiche: das der urbildlichen,
formlosen Wesen, der gestaltschaffenden Wesen, der seelischen
Wesenheiten, der geschaffenen Gestalten (Mineral, Pflanze, Tier und
Mensch). Die Gebilde der drei Welten kann erlebend erkennen, wer die
Fähigkeiten und Organe dazu entwickelt, was an den Farben der Aura
sichtbar wird, deren es drei Arten gibt: die erste Aura als Spiegelbild des
Einflusses, den Leib und Seele auf den Menschen üben, die zweite als
Kennzeichen des Eigenlebens der Seele, die dritte endlich als Spiegel der
Herrschaft, die der ewige Geist über den vergänglichen Menschen
gewonnen hat. In allen drei Teilen der Aura sind Farben in zahllosen
Nuancen und Abstufungen, in der ersten wie in der zweiten und dritten
verschieden im Farbengrundton. In der physischen Welt lebt der Mensch
mit seinen vier niederen Wesensgliedern, das Tier hat drei niedere
Seelenglieder in der physischen, sein Gruppen-Ich aber in der seelischen
Welt (auf dem Astralplan), die Pflanzen physischen Leib und Ätherleib in
der physischen, den Astralleib in der seelischen, das Ich im unteren Teile
(im unteren Devachan) des Geisterlandes, das Mineral endlich den
physischen Leib in der physischen, den Ätherleib in der seelischen Welt,

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 244


den Astralleib im unteren, das Ich aber im oberen Devarhan des
Geisterlandes, darin der Hellseher Kontinente, Meere und Luftkreis
unterscheidet. Steiners »Theosophie« enthält, ebenso wie sein
Vortragszyklus »Vor den Toren der Theosophie«, eine Fülle von Details, die
zu wissen niemand versäumen darf, der in die Erkenntnis der
übersinnlichen Welten eindringen will. Sie sind eine schwierige Lektüre,
aber ganz unerläßlich als Vorstufe des Adepten.

IX. Die Erlebnisse nach dem Tode. Die Wiederverkörperung


Die siebengliedrige Menschennatur und die drei Welten (Zwischenreich,
unteres und oberes Devachan) mit ihren festen Ländern, Meeren und ihrem
geistigen Luftkreis eröffnen gigantische Ausblicke auf eine Überfülle
dahinwogender, flutender und tönender Gebilde und Erscheinungen; sie
sind zugleich Stufen des Bewußtseins und im entwickelten Bewußtsein
enthalten. In ihnen bewegt sich der Mensch mit seinen Träumen und
während des Schlafes, der den physischen Leib und den Ätherleib in der
physischen Sphäre läßt, indes der Astralleib und das Ich in die geistig
seelische Welt ausschwärmen. Die Seele lebt in der Mitte zwischen Leib
und Geist; sie spielt eine entscheidende Rolle im Geheimnis des Todes.
Man kann auf verschiedene Weise zur Erkenntnis dieses Geheimnisses
gelangen, doch ist es durchaus möglich, auch auf gewöhnlichen Wegen
des Denkens zu richtigen Anschauungen und Auffassungen davon zu
kommen. Empfindung und Wahrnehmung sind an Sinneseindrücke
geknüpft; ganz anders entsteht und aus ganz anderem Wesen sind
Gedächtnis und Erinnerung, die gleichsam als Eingangstor in die geistig
seelische Welt Bedeutung haben. Der Leib allein ist außerstande,
Eindrücke zu behalten; sie würden einfach immer wieder in das Nichts
zurücksinken, wenn zwischen Seele und Außenwelt nicht etwas spielte,
was den Menschen in den Stand setzt, durch Vorgänge in seinem Innern
Vorstellungen von dem zu haben, was die Eindrücke der Sinneswelt früher
bewirkten. Wie sich schon an dieser vielleicht etwas gezwungenen
Beschreibung zeigt, ist es sehr schwer, eine Definition des Gedächtnisses
und der Erinnerung zu geben. Die Philosophen nennen das Gedächtnis
eine »Fähigkeit der Psyche«; sie verweisen auf die Eigentümlichkeit des
Gedächtnisses, »Spuren« des Erlebten zu bewahren und nennen die
Erinnerung einen Prozeß der »Reproduktion«, in Vereinigung mit einem
»Gefühl der Bekanntheit«. Hält die ältere Psychologie an der Vorstellung
fest, daß das Gedächtnis eine Art »Aufbewahrung« von Vorstellungen
ermögliche, gleichsam eine (von Bergson übrigens abgelehnte)
»Aufspeicherung von Erinnerungen im Gehirn« gestatte, so spricht Semon
von »Engrammen« und »mnemischen Empfindungen«. Die Wahrheit ist,
daß es töricht wäre, zu glauben, die Vorstellungen hielten sich »irgendwo
im Menschen auf«. Die Vorstellungen leben und vergehen mit dem
Augenblick. Die durch die Erinnerung hervorgerufene Vorstellung ist etwas
ganz neues, was mit einer »alt aufbewahrten« keinerlei Zusammenhang

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 245


hat. Erinnern heißt, nach Steiner, etwas erleben, was an sich (selbst) nicht
mehr da ist, was aber Vergangenheit zu neuem Jetzt wandelt. Den Vollzug
schafft die Seele, die treue Bewahrerin alles Vergangenen; sie ist es, die
»Engramme« macht, ein Wort, das gar nicht so übel klingt. Für wen die
Seele diese »bewahrt«? Für den Geist ist der Leib nur der Schauplatz, auf
dem diese Verwandlung spielt. Die Seele gibt, was sie durch den Leib
erhielt, an den Geist weiter, wo es in gewissem Sinne ewig lebt, wenngleich
der Geist die Erinnerungsschätze umgestaltet; der Geist verewigt
gleichsam die Früchte des Erlebnisses. In geistiger Hinsicht ist jeder
Mensch eine Gattung für sich. Der Leib wiederholt nur die
Existenzbedingungen des Vorfahren, der ein Mensch war, und der Mensch
kann immer wieder nur Menschen hervorbringen. Der geistige Mensch hat
mit Vorfahren nichts mehr zu tun, er kann nur seine eigene Geistgestalt
tragen, die er von niemandem »Anderen« hat, als von sich selbst. Meine
Vorfahren sind geistig vollkommen von mir verschieden, mein Leben läßt
sich aus dem der Vorfahren nie und nimmer erklären. Ich selbst kann nur
die Wiederholung, die Wiedergeburt, von mir selbst sein. So kann der
Mensch durch das reine unbefangene Denken sehr wohl zu einer richtigen,
verstandesgemäßen Auffassung der eigenen Wiederholung im Sein
kommen. Man muß, um zu solchen Schlußfolgerungen zu gelangen, die
sich als geistige Prozesse natürlich nicht naturwissenschaftlich »beweisen«
lassen, nur genug Vertrauen in die Kraft des Denkens besitzen, die ja nicht
von »dieser Welt« (von der körperlichen Welt) stammt. In einem
Erdenleben erscheint der Menschengeist nur als Wiederholung seiner
selbst, vermehrt durch die Früchte vorangegangener Lebensläufe. Wenn
ich des Morgens vom Schlafe erwache, bin ich gezwungen, an das Gestern
anzuknüpfen, das durch meine Taten und Handlungen geschaffen ist.
Meine Tätigkeit, im Schlafe scheinbar verloren, gehört zu mir, wie ich zu ihr.
Mein Gestern schafft mein Heute und dieses Schaffen ist mein Schicksal.
Mit seinen Taten schafft sich der Menschengeist sein Los. Daran, was ich
in den früheren Leben getan habe, knüpfte mein gegenwärtiges Leben an.
Der Menschenleib unterliegt den Gesetzen der Vererbung innerhalb der
menschlichen Rasse, der Menschengeist aber muß sich immer wieder aufs
neue verkörpern. Steht der Leib unter den Gesetzen der Vererbung, so
steht der Geist unter dem der Wiederverkörperung. Der Tod bedeutet bloß
eine Änderung in den Verrichtungen des Leibes; dieser hört nach dem
Tode auf, Vermittler von Seele und Geist zu sein und geht in die physische
Welt des Stoffes zurück, dem er entnommen war. Vom Leibe losgelöst,
bleibt der Geist noch immer mit der Seele verbunden; war er durch den
Leib an die physische Welt gekettet, so ist er jetzt mit der seelischen Welt
verbunden; die Seele lebt nach dem Tode, mit dem Geist vereint, in
seelisch-geistiger Umgebung. Es ist durchaus nicht etwa so, daß Seele und
Geist den Leib »aufgeben«, wenn dieser »stirbt«, sondern der Leib wird von
Geist und Seele entlassen, der Stoffwelt wiedergegeben, der er entliehen
war. Indes: auch die Seele hat ihren Auflösungsprozeß; sie muß sich, durch

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 246


Begierde mit der physischen Welt verbunden, von dieser Begierde lösen,
die Sphäre der Begierdenglut durchschreiten (Fegefeuer) und wandert nun,
vorn Geiste zunächst begleitet, an Sympathie und Antipathie vorbei, durch
die sieben schon genannten Stufen der Seelenwelt, in die Sphäre, in das
Land, in die Welt des Geistes, wo die lebendigen Gedanken oder
Geistwesen leben. Den Gedanken als lebendiges Geistwesen ins
Bewußtsein aufzunehmen, das bereitet der gegenwärtigen, im Schatten
materialistischer Anschauungen herangewachsenen Generation freilich
nicht geringe Schwierigkeiten. Das Gestaltlose, bestimmt, im Sinne eines
höheren Bewußtseins gestaltet zu denken, liegt ihr nicht. So wendet sie
denn die Denkgebräuche, die der physischen Welt angemessen sind,
unbekümmert auf die geistigen und seelischen Welten an, zu denen ihr der
Eingang verschlossen bleibt. Das geistige Reich, das »Geisterland«, ist die
Sphäre der Urbilder im »Unbelebten«; die erste Region dieses Reiches
stellen gleichsam die Kontinente dar, die zweite die Urbilder des Lebens,
das hier eine geschlossene, fließende Einheit bildet, die dritte die Urbilder
alles Seelischen, den Luftkreis des Geisterlandes, die fünfte, sechste und
siebente Region aber, anders als die vier vorangehenden, umfassen die
Urbilder der Antriebe und Impulse, die Absichten und Gedankenkeime,
nebst dem Geheimnis der ewigen Namen, und endlich den Lebenskern,
den Lebensgeist und Geistmensch (Buddhi und Atman). Aus der Welt der
Seele tritt der Ichkern des Verstorbenen in das Geisterland. Hier lernt er
das auf Erden Gelernte in lebendigen Geist verwandeln. Hier findet er seine
wahre geistige Heimat, hier überwindet er sein Karma, dessen
verschlungene Linien er von außen gleichsam durchschaut und begreift. Mit
dem Karma verhält es sich, bildlich gesprochen, ungefähr so: ein See ruht
ruhig und regungslos im Gebirge; du stehst am Ufer und wirfst ein
Steinchen in die glatte Fläche; es bildet, um die Einfallsstelle als Zentrum,
Kreise, die immer größer werden; es bleibt aber nicht bei dem einen
Erreger, unermüdlich wirfst du Stein und Stein in die Untergründe des
Sees, ihre Kreise schneiden sich, werden von den Kreisen der anderen, die
mit dir am See des Lebens stehen und so tun, wie du, geschnitten und
durchkreuzt; wenn alle Kreise sich geglättet haben und aus dem Bilde des
Sees geschwunden sind, hat Karma aufgehört: das deine, wie das der
anderen. Über die eigenen Kreise und die der anderen aber kannst du nicht
hinweg: deine Taten hören nicht auf, ihre Kreise zu ziehen. Unerschöpflich
ist die höhere Mathematik dieser Kreise, deren jeder einen Kern, einen
Mittelpunkt hat: deine Tat! Der Einsiedler, der weitabgewandte,
weltflüchtige, lebensfremde und lebensfeindliche Eingeweihte, des Treibens
überdrüssig, wird dir sagen: wirf keinen Stein in den See, handle nicht,
setze keine Taten, bezwinge deine Begierde, dann gehst du in Gott ein und
alle Furcht schwindet aus deinem Herzen! Er hat gut reden, denn was er dir
rät, sind der Egoismus des Heiligen, sein Ehrgeiz, sein Strebertum, selbst
ein Gott zu werden; er vergißt dir nur zu sagen, daß dieser ewige Gott

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 247


selbst eine Tat gesetzt hat, die alle Taten dieser Welt in sich schließt: die
Welt, die seines Strahles, des Demiurgos genannt, erhabenes Werk ist!
In Wiederverkörperung und Karma liegen die Angelpunkte des gesamten
bewußten Lebens. Von ihnen aus löst sich jedes Rätsel, jede scheinbare
Ungerechtigkeit der Welt.

X. Nicht Mystik: Anthroposophie!


Alle diese Dinge sind in Steiners »Theosophie« zu finden, die ein
unerläßliches Lehrbuch für alle höherstrebenden Menschen ist. Sie gehört
zu den schwierigsten und doch klarsten Büchern ihrer Art. Ihr reiht sich die
»Geheimwissenschaft im Umriß« an, deren großartige Kosmogonie in dein
vorliegenden Buche ebenso behandelt wurde, wie Steiners ungeheure
Umwälzung in der Erkenntnis des Christentums als einer mystischen
Tatsache. Sowohl »Theosophie« als »Geheimwissenschaft« enthalten aber
auch schon die Keime dessen, was Steiner in seinem grundlegenden
Buche »Wie erlangt man Erkenntnis höherer Welten?« der Menschheit
hinterlassen hat. Zeigt er in den beiden anderen Büchern die geistigen
Welten in gigantischen Gemälden, so behandelt er hier den Pfad, der zur
Erkenntnis, zur Entwicklung der höheren Sinne führt; davon, daß die alten
Mysterien bis zum Christus Jesus nichts anderes als Wege der Einweihung
gewesen sind, war schon die Rede. Sie waren so mannigfach, so vielfach
verschlungen und, zugleich, Ort, Rasse und Klima angepaßt, daß eine
einfache Schlußfolgerung schon genügt, zu erkennen, wie unangebracht es
ist, den Menschen unserer Zeit diese verschollenen und überlebten
Anweisungen zu höherer Einsicht in die Hand zu drücken. Steiner
unterscheidet drei Gruppen solcher Pfadanweisungen: den indischen, den
christlichen und den rosenkreuzerischen Weg, deren Stufen und Erlebnisse
er schildert. Die indische Form, für abendländische Menschen und
Verhältnisse ungangbar, ja in gewissem Sinne gefährlich, lebt heute in
einer Art modernisierter Yogapraxis weiter, der alte christliche Weg wird in
einer bestimmten Form von den Jesuiten gepflegt, der rosenkreuzerische,
gegründet auf die naturwissenschaftliche Erkenntnis im Geiste des 16., 17.
und 18. Jahrhunderts, entspricht in dieser Gestalt heute nicht mehr den
Anforderungen unseres Zeitalters. Besonderes Interesse darf der Weg, den
Ignatius von Loyola seinen Schülern und Adepten hinterließ, für sich
beanspruchen; hier handelt es sich, wie schon erwähnt wurde, um ein
regelrechtes Belagerungssystem, den lieben Gott in seiner himmlischen
Feste Jerusalem mit kriegerischen Mitteln, ja sogar mit Kriegslist, regelrecht
zu fangen. Ignatius von Loyola hinterließ ein strenges Dienstreglement,
eine aus den gewaltigen Bildern des Christustodes auf Erden geschöpfte
Exerzierinstruktion, die, durch Entsagung, Askese und gewollte Einsamkeit
gestützt, dazu führen soll, daß Gott sich endlich ergibt. An dem
militärischen Charakter dieser mit fast scharf jüdischem Verstand
erklügelten Überfallsordnung mag es auch liegen, daß der Jesuitismus
seine Wirkungen auf den irdischen Bereich erstreckt, obwohl Jesus, der

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 248


Meister, mit wunderschöner, edler und echt göttlicher Gebärde ausrief:
»Mein Reich ist nicht von dieser Welt!« Im Untergrunde dieses
kriegerischen Systems liegt die Absicht, Menschen von höchster Einsicht
und magischer Gewalt auszubilden, die, indem sie für den Jesus streiten,
die Kirche als »Braut« und als vollkommenen, idealen und alles andere
ausschließenden Organismus in der sichtbaren Welt umwerben, kurz, für
die Kirche kämpf en, wie ein mittelalterlicher Ritter für die Dame seines
Herzens. René Fülöp-Miller hat diesen Orden in seinem großangelegten,
alle Äußerlichkeiten restlos erschöpfenden Jesuitenbuch vorbildlich
geschildert und beschrieben; der Beifall der kirchlichen Kreise ward ihm
dafür ebenso zuteil, wie die Anerkennung der zahlreichen Feinde des
Jesuitismus; der Esoteriker vermißt darin das Zentralgeheimnis der
Bewegung: die Frage, warum der Jesus (nicht der Christus) den Kern
dieses Systems ausmacht und warum die rosenkreuzerische
Christusströmung geflissentlich in den Hintergrund tritt; nicht umsonst hat ja
der Jesuitismus ein verhältnismäßig gutes Einvernehmen mit der
materialistischen Wissenschaft durchgesetzt, und es sieht fast so aus, als
hätten Jesuiten und Freimaurer den Menschen auf der Erde unter sich
aufgeteilt: die Jesuiten haben die Seele, die Freimaurer, den Geist
übernommen, und die scharfe Front, die sie gegen die Geisteswissenschaft
einhalten, macht sie als ähnliche Brüder mit ähnlichen Kappen weithin
erkenntlich; Luzifer und Ahriman traten oft genug gemeinsam auf: als
Hauptakteure des einen Menschheitsdramas! Stützt sich der Jesuit noch
auf die Kräfte des Glaubens, der, solange er auch das Wissen umschloß,
umfassende Kräfte besaß, so legt die Freimaurerei mehr Gewicht darauf,
die Meinungen des modernen Menschen zu besitzen. Was zwischen den
drei großen Gruppen, Jesuiten, Freimaurern und Anthroposophen sonst
nach Erkenntnis strebt, sind gleichsam Privatkindergärten, in denen okkulte
Spiele gespielt, Neugierige mit sozialen und sonstigen Flechtarbeiten
beschäftigt werden. Der Mystiker, abseits dem Leben (wie A. M. O.), findet
die starke, werktätige Liebe ausreichend, er möchte durch Emanzipation
vom Getriebe der Welt eine Art Glückszustand herbeiführen, den auch der
kleine Krishnamurti, geschäftskundig und tüchtig darin, billiges, aber recht
mangelhaft zubereitetes Wortgemüse als Gedankenrohkost abzusetzen, als
Massenartikel auf Lager führt. Indes ist der Bolschewismus eben daran,
seine intellektuelle, revueartige Karnevalsoperette des Sozialismus in Blut,
Gewalt und Dreistigkeit zu ihrem logischen Horrid-end (im Gegensatz zum
beliebten Happy-end) zu bringen.

XI. Was tun?


Rudolf Steiners neurosenkreuzerischer Michaelsweg ist der
vollkommenste Ausdruck des Initiationswesens unserer Zeit. Er ist für jeden
Menschen gangbar, da er vom seelisch erfüllten Denken ausgeht und alle
Wesensglieder des Menschen als prima materia an den Anfang der inneren
Entwicklung setzt. Niemand darf glauben, daß man diesen Pfad der

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 249


Einweihung betreten kann, ungefähr wie man eine Kur beginnt, auf
Abmagerung losgeht, oder im vulgären Sinne ein »neues Leben« anfängt,
Vorsätzen nachjagend, mit denen der Weg zur Hölle allemal gepflastert ist.
Coué hat diese Art schlagend ad absurdum geführt, indem er sich einfach
vornimmt, reich, glücklich und gesund zu sein; er setzt großes Vertrauen in
Worte, die zweideutige Äußerung eines trainierten festen Willens; Worte
haben in der Tat eine gewisse magische Kraft, die wiederum der
übersinnliche und doch allzu sinnliche Trainer gebrauchen lehrt. Ein
witziger Mann sagte mir einmal ganz richtig: »Ich brauche den ganzen
Coué nicht mehr, sobald ich an ihn selbst glaube!« Darüber, wie man sich
überhaupt zu verhalten habe, um des »größtmöglichen Glückes« teilhaftig
zu werden, haben die Menschen gewöhnlich übertrieben extreme
Vorstellungen. Lehrt die christliche Wissenschaft, die in Amerika große
Häuser und Zeitungen besitzt, der Mensch, wie die Lilie auf dem Felde,
hätte nichts zu tun, als sich Gott zu überlassen, der alles lenkt, wie es für
die Menschen das Beste ist, so verkünden die Willens- und Tatmenschen,
vom Pragmatismus bis zum Couéismus, man müsse es mit dem festen,
unbeugsamen Willen machen, denn nur die Tat habe Wert, eine
Anschauung, der gelegentlich einmal auch Strindberg Ausdruck gab,
darüber klagend, daß er wahrscheinlich deshalb so jämmerlich arm
geblieben sei, weil er das Geld nicht heftig genug geliebt und begehrt habe;
steckt in jedem Extrem ein Körnchen Wahrheit, so ergibt sich aus einer
Zusammenfassung beider Spitzensysteme die wahre Haltung von selbst:
nie auf Gott allein, nie auf die eigene Kraft allein vertrauen, sondern immer
bereit und stark genug sein, Glück oder Unglück zu ertragen! Oft genug
sind beide Sorten des Schicksals in dem einen Erlebnis enthalten, oft gibt
sich ein Glück später als Unglück, ein Unglück später als Glück zu
erkennen! Wer die Hände in den Schoß legt, ist genau so töricht, wie ein
anderer, der ohne Unterlaß auf der Jagd ist; wer leugnet, daß Wunder
geschehen können, genau so einfältig, wie der, der mit einem Wunder
rechnet. Ein Wunder als Wunder erkennen, wer diese Kunst versteht, hat
die richtige Lebens- und Verhaltungsformel bald gefunden. Nicht selten will
sich eine Hoffnung jahrelang nicht erfüllen, trotzdem man mit aller Kraft
darauf hinarbeitet, damit sie sich erfülle, aber auf einmal (man denkt gar
nicht mehr daran) ist die Erfüllung da, obzwar, in diesem Augenblick, kein
Finger dazu gerührt ward. Es gibt Leute, die keinen Schritt ohne Horoskop
Ion, kein Unternehmen beginnen, ohne der guten Tattwas sicher zu sein,
keine Tat setzen, ohne die Ephemeriden zu befragen; sie sind Sklaven des
Augenblickes, die nicht wissen, daß ein Werk oft weit besser gedeiht, wenn
man es unter Hindernissen oder gegen Hindernisse in Angriff nimmt.
Andere wieder setzen, in Unkenntnis ihrer Abhängigkeit von kosmischen
Einflüssen, die für alle Einsichtigen längst als sicher feststeht, alles daran,
die Götter herauszufordern, tollkühn und im Glauben befangen, sie wären
nun einmal Sonntagskinder und alles müsse zu ihrem Besten ausschlagen.
In Wahrheit gibt es nur ein Glück: wissend zu leben, und ein Unglück,

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 250


unwissend um die großen Geheimnisse durch das Leben zu gehen. Das
erkannte Steiner, das eröffnete sich ihm als einem Erleuchteten, dessen
ganzes Leben auf die Betätigung dieser Weisheit gerichtet war. Darum
entströmt seiner Geisteswissenschaft eine geradezu geheimnisvolle Kraft,
die, in sich zu erleben, zu den größten Sensationen aller irdischen
Sensationen gehört. Das Leben des wahrhaftigen Anthroposophen, der den
Weg zur Erkenntnis höherer Welten betreten hat, ist, selbst wenn er nur
einen Teil dieses Weges zu gehen imstande war, das Dasein des
Geistesmenschen im Sinne der Geisteswissenschaft, sage ich, ist ein
Leben der Tätigkeit und Arbeit für die Menschheit, durchwirkt von
Augenblicken der Ruhe und Besinnung, der Erleuchtung und der Liebe, wie
sie nur aus dem Erleben des »Christus in mir« empfangen wird. Betritt man
den Pfad, den Steiner in allen Einzelheiten beschrieben bat, nicht im
gegebenen Augenblick, so bringt es viel Mühe und wenig Frucht, ihn zu
wandeln. Dazu ist eine richtige Astrologie, empfangen aus dem kosmischen
Bewußtsein, eine starke Helferin; kein wahrer Adept am Stein der Weisen
hätte je seine Arbeit begonnen, ohne sicher zu sein, daß seine Stunde
geschlagen hat. Lächerlich aber sind zugleich jene »Astronomen«, die
dreist und hochmütig behaupten, es gäbe keine »astrologische
Wissenschaft«, weil sie sich niemals die Mühe genommen haben, die
Aussagen einer richtigen Astrologie zu prüfen und, davon überrascht, zu
sehen, wie Vieles in einem richtigen Horoskop aufs Haar mit den Tatsachen
übereinstimmt. So wahr es ist, daß jedermann durch Fleiß und Mühe auf
dem anthroposophischen Wege zu bestimmten Stationen innerer
Entwicklung gelangen kann, so sicher gibt es eine Prädisposition für diese
Erkenntnis; eine Ahnung des richtigen Augenblickes auch ohne Einsicht in
die »Aspekte«. Man erlebt in dieser Hinsicht, oft schon während der ersten
Stadien, ganz erstaunliche und wundersam geheimnisvolle Dinge:
Anzeichen, die man zunächst gar nicht recht beachtet, Vorgänge, die wie
eine bestimmte Botschaft auftreten und sich in irgend einer anderen Gestalt
wiederholen und verstärken, »Symbolisches« und »Zufälliges« der
verschiedensten Art, Hilfen aus Gegenden, von wo man sie am
allerwenigsten erwartet, Begegnungen, deren Sinn nicht alsogleich aufgeht,
und vieles andere mehr. Wer Offenbarung leugnet, hebt seine eigene
Existenz auf. Es gibt Offenbarungen auf Schritt und Tritt und zu jeglicher
Lebensstunde!

XII. Der Weg, die Wahrheit und das Leben


Ist in der alten indischen Einweihung und ihrer modernisierten Form der
Führer (Guru) von großer Wichtigkeit, wird zum Führer der alten christlichen
Einweihung der Christusjesus und die Leidensgeschichte des Erlösers zur
Grundlage des Erleuchtungsweges genommen, so liegen bei der durch
Rudolf Steiner aufgebauten, zeitgemäßen rosenkreuzerischen
(Michaelseinweihung) Entwicklung des höheren Bewußtseins die Dinge
wesentlich anders. Einen Guru und Meister im Sinne der überlebten Pfade

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 251


gibt es auf diesem Wege nicht. Der Weisheitsschüler, der nach einem
solchen sucht, würde vielmehr ganz merkwürdige Dinge erleben: er kann
den ihm bezeichneten Eingeweihten sehr entschlossen und keineswegs
gewillt finden, die Vorbereitung und die ersten Schritte für den Schüler und
mit dem Schüler zu übernehmen. Der Eingeweihte wäre kein solcher,
würde er wahllos und ohne Ansehung der Person jedem Neugierigen
entgegenkommen. Der Eingeweihte sieht und weiß genau, wen er vor sich
hat und ob die Stunde für den Schüler da ist. Wohl darf der »Führer« und
»Lehrer« niemandem, der reinen Herzens danach verlangt, das höhere
Wissen vorenthalten, um so weniger darf er aber dem Unreifen auch nur
einen Zipfel vom Schleier der Geheimnisse preisgeben. Gibt es heute keine
sichtbaren Mysterien- und Einweihungsstätten mehr, so sind die
geisteswissenschaftlichen Erkenntnisse, um einen alltäglichen Ausdruck zu
gebrauchen, überall erhältlich, ohne daß es sichtbare Absatzstellen dafür
gäbe. Ist die richtige Grundstimmung vorhanden, so wird der
Weisheitsschüler an solchen Stellen kaum vorübergehen können, sofern er
die angemessene Gangart einschlägt und Wahrheit und Erkenntnis als
verehrungswürdige Güter ansieht. Niemand kann zu höherer Einsicht
kommen, ohne innerlich zu fühlen und mit unumstößlicher Sicherheit zu
wissen, daß es höhere Dinge und Einsichten in höhere Dinge gibt. Man
mag dieses Gefühl im älteren Sinne Glauben nennen, es ist doch im Lichte
unserer Zeit eine wesentlich andere Sache! Es gibt Menschen, denen
dieses ehrfürchtige Gefühl von der Geburt an eingepflanzt ist, daneben
solche, denen, vom Zeitgeist mitgerissen, in der wahren Bedeutung des
Wortes nichts heilig zu sein scheint; die haben es natürlich sehr schwer, zu
höherer Einsicht zu kommen, sie stehen sich selbst buchstäblich im Licht
und stolpern ohne Unterlaß über das eigene Wesen, darin sich Hochmut,
Dünkel und kritisch-dialektischer Überschwang in wilder Mischung
vorfinden. Ein lehrreiches Beispiel paralleler Natur findet sich in den
zahlreichen Spielarten der irdischen oder, wie man sie gerne nennt, der
sinnlichen Liebe. Die Kirche und die Zentralstellen anderer
Glaubensbekenntnisse, insbesondere aber die Kirche, haben den Fehler
begangen, alle »Fleischeslust«, alles geschlechtliche Begehren als
schwere Sünde zu brandmarken und schon den Wunsch nach dem Besitz
eines geliebten Wesens als verbrecherisches Gelüste zu verdammen; das
hat die Beziehungen der Geschlechter maßlos und schier unheilbar
verwirrt. Edlere Naturen können auch im Sturm des Triebes nicht irregehen,
so geflissentlich niedere und zynische Wesen hinterher sind, den geliebten
Gegenstand in den Augen des Liebenden herabzusetzen und durch
Hinweis auf dessen Abhängigkeit von banalen Verrichtungen und
Bedürfnissen lächerlich zu machen und zu entehren. Verehrung, Ehrfurcht,
Hingabe im Geiste der Liebe kommen über diese Dinge spielend hinweg.
Daß ein Talent sich in der Stille, ein Charakter aber im Strom der Welt
bildet, ist richtig. Der Geheimschüler ohne Gesinnung und Charakter wäre
ein Unding, eine tragikomische Figur, ein Hindernis des Fortschritts und

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 252


Aufstiegs der Menschheit. Den Keim zu höherer Geisteshaltung kann der
Geheimschüler nur im ruhigen und klaren Denken finden. Solange aber
dem Weisheitsschüler die Flügel der höheren Erkenntnis nicht gewachsen
sind, bleibt ihm nichts übrig, als alles, was er über Wesen, und Natur des
Menschen, über Entstehung der Welt, über das Christentum, über
anthroposophische Wissenschaft in allen ihren Zweigen von Steiner gehört
hat, wie etwas hinzunehmen, das er selbst noch nicht nachzuprüfen und an
sich zu erleben vermag. Er muß es hinnehmen wie den Bericht eines
Forschers und Entdeckungsreisenden, der so lange als aufrecht und
vertrauenswürdig gilt, als man die fremden Dinge und Länder nicht selbst
gesehen und durchwandert hat. Das höhere Wissen ist eine
Erfahrungswissenschaft im reinsten und erhabensten Sinne des Wortes.
Viele glauben, daß man im Augenblick, da der Fuß auf die Schwelle der
höheren Welten gesetzt wird, schwankenden Boden und Gelände ohne
Geländer betritt. Sie halten den Adepten der rosenkreuzerischen
Einweihung und dieses neue Wissen um den Gral selbst für ein dumpfes
Brüten über dunklen Geheimnissen, für weltfremd und lebensabgewandt,
allem Praktischen und Gegenständlichen verloren und abhold, für ein
Mischwesen verschiedener Welten, die er sich einbildet, »Halluzinationen«
als willenlose Beute unterworfen. Nichts von alledem, ja das genaue
Gegenteil ist wahr. Der Weisheitsschüler geht in keiner Weise seinem
Pflichtenkreis, seiner irdischen Arbeit und seiner opferheischenden
Alltäglichkeit verloren, und ist ein armseliger »Schwärmer und Schwindler«,
wenn er aus seinen neuen Erkenntnissen nicht auch die Kraft gezogen hat,
Täuschungen, Illusionen, Phantasmagorien und wildem, willkürlichem
Innenleben auszuweichen. Gesunde Sinne, gesundes Seelenleben,
gesundes Denken sind unerläßliche Voraussetzungen für die wahre und
richtige Geheimschulung, die ich gelegentlich, in Äußerungen über Steiners
Pfad zum Übersinnlichen, scherzhaft, als den einzigen Weg zur
Erleuchtung bezeichnet habe, der ohne Berufsstörung betreten werden
kann. Unter großen Mühen und Anstrengungen wird der Bau des neuen
Menschen, der alchimistische Prozeß der Verwandlung aufgeführt und
gekrönt, als Rest- und Randerlebnis zu einem bestimmten höheren
Erkenntnisgrad: die Begegnung mit den beiden Hütern der Schwelle, von
Steiner geschildert, erscheint ...

Schlußwort und Ausblick


Die gedruckten Schriften Steiners, zusammen mit den Zyklen und
Vorträgen, die Rudolf Steiner bis knapp an sein physisches Lebensende
gehalten hat und die alle Gebiete der Erscheinungswelt erfassen und
durchleuchten, stellen in ihrer Geschlossenheit ein ungeheures Gebäude
dar, das nun von seinen Schülern, als den Trägern der Michaelssendung,
im einzelnen auszuführen und zu vollenden ist. Sie bergen bei sich eine
schier unübersehbare Fülle von Erkenntnissen, körperlicher, seelischer und
geistiger Art, wie sie vorher kein anderer Menschheitsführer an das

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 253


Erdengeschlecht heranbrachte und kein späterer heranzubringen vermag.
Eine ganz neue zeitgemäße Kultur steigt unter dem belebenden Strahl
seiner Geistessonne aus dem Chaos dieser entwurzelten und ratlosen
Epoche, als deren hervorragendstes Merkmal die rapide Verdummung und
Charakterverschlechterung des Europäers anzusehen ist. Hier liegt Stoff für
die Arbeit kommender Jahrhunderte; hier stehen, plötzlich wie aus der Erde
hervorgezaubert: eine neue Religion und Theologie, eine neue
Naturwissenschaft, eine Philosophie der Ewigkeitswerte ohnegleichen, eine
neue Heilkunst, eine neue Psychologie und Physiologie, eine neue
Himmelskunde, eine neue Menschenkunde, eine neue Rechtsfindung, eine
neue Erziehungslehre, eine neue Geologie und Pflanzenlehre, eine neue
Geschichte, Geographie und Mathematik, die im wahren Sinne des Wortes,
höhere Mathematik genannt zu werden verdient, eine neue Landwirtschaft,
eine neue lebendige Schätzung der Kunst, eine neue Ethik und Ästhetik
und nicht zuletzt eine neue Geologie und Rassenkunde. Das Wunder eines
Geistes, der alle diese unermeßlichen Gebiete mit hellseherischen Sinnen
zu erfassen und in einer gar nicht langen Lebensspanne von Grund auf in
der Hauptsache an das Bewußtsein heranzubringen vermochte, ist so
riesengroß und erschütternd, daß dem Geschlechte von heute nichts
dagegen aufzubieten blieb als Ignoranz, Geringschätzung, Hohn,
Mißverständnis und dunkler Fanatismus einer im Innersten ihres Wesens
verwundeten Feindesschar. Eine große Menge erleuchteter und selbstlos
der großen Arbeit an der Menschheit dienender Geister hat sich um das
Banner der anthroposophischen Geisteswissenschaft, köstliche Ernte
bergend und immer neue verheißend, gesammelt; den Hort hütend und
stets neue Schätze aus dem Nachlaß ans Tageslicht fördernd, waltet
Steiners Witwe, Marie Steiner, ihrer Sendung, und in jedem Augenblick
dieses vielgestaltigen, verwirrenden und trostlosen Treibens ist es, als griffe
Steiner aus den höheren Welten in das irdische Geschehen dieser Epoche
und der kommenden Zeiten ein. Unberechenbare Impulse gehen von seiner
Durchleuchtung des Christentums, seiner Lehre von den Hierarchien, von
Luzifer und Ahriman, als den beiden Hauptquellen aller Täuschung, von
Karma und Wiederverkörperung, vom Geiste der Evangelien, und von der
Dreigliederung des sozialen Organismus als des einzigen Heilmittels gegen
die sozialen Kämpfe unserer Epoche aus, das er einer verständnislosen
und stumpf gewordenen Welt in einem kritischen Zeitpunkt an die Hand
gab, ohne daß sich diese seiner zu bedienen wußte. In welcher anderen
Weise und wo anders als im deutschen Volke, das fremde Kulturen und
fremdes Geisttum wie sein eigenes Leben hegt und pflegt, hätte eine
erhabene Gestalt, wie die Rudolf Steiners, erscheinen können, ohne
Mißdeutungen zu begegnen? Wo anders wäre ein Bau, wie des
Goetheanum in Dornach, nach geheimnisvoller Einäscherung neu
erstanden, denkbar, als dort, wo es heute steht, eine Sendestation der
seelischen und geistigen Welten für alle Arten von Wellen, deren Namen
und Wesen die exakte Wissenschaft von heute gar nicht kennt. Wo anders

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 254


sind Bücher möglich, wie Rittelmeyers »Begegnung mit Steiner« (eines der
edelsten biographischen Dokumente der Weltliteratur), wie Beckhs
Schriften über den kosmischen Rhythmus der Evangelien, wie Günther-
Wachsmuths lebendige Lehrbücher von den ätherischen Bildekräften, wie
Walter Johannes Steins »Neuntes Jahrhundert«, wie Poppelbaums
Schriften über das Tierreich, wie E. H. Lauers einführende Schriften und
Aufsätze, wie die Schriften der medizinischen Schule, der juristischen
Klasse (Thieben), wie die Jahrbücher des »Gäa Sophia«, und unter den
Zeitschriften wie »die Drei« und das »Goetheanum« und seine Beilage,
ganz abgesehen von den herrlichen Evangelienerläuterungen Bocks und
Rittelmeyers und ihrer Zeitschrift »die Christengemeinschaft«, als dem
Organ eines neuen Apostolats, das die neuen Christen der freien
Christengemeinschaft sammelt und dessen Kreise seit 1925, immer weiter
und weiter ausgreifen, sterbende Formen religiösen Lebens umackernd und
zu neuer Ernte bereitend. Goetheanum, Waldorfschule und »freie
Christengemeinschaft« sind die drei Grundmaterien, aus denen die neue
Menschheitskultur hervorgehen muß. Nur im Fluge habe ich, als ein
dürftiges Rundgemälde, eine Gesamtansicht der Geheimwissenschaften im
Lichte unserer Zeit entwerfen können. Wer gehofft haben mag, in diesem
einführenden Buche Anweisungen, Rezepte und Formeln zu zauberhaften
Hantierungen zu finden, wird es vielleicht enttäuscht beiseite legen und
lieber nach Traktätchen greifen, die unerhörte Wonnen versprechen, aber
zugleich in unabsehbare Gefahren stürzen. Von Erneuerungen des
Zauberwesens kann heute keine Rede mehr sein, sondern nur von klarer
Einsicht in die übersinnlichen Welten, erworben durch ein übersinnliches
Bewußtsein und kosmische Erfassung des Christus Jesus und des
Christentums als einer mystischen Tatsache.
Dieses Buch, am Eingang zum Goethejahr erscheinend, will nichts
anderes sein, als zugleich ein Führer durch das Labyrinth verneinender, im
Wesen satanischer Erscheinungen. Es gibt so viel schwarze Magie in
unserer sichtbaren Welt, daß hoch an der Zeit ist, das Wesen dieser
schrecklichen, mit der tierischen Menschennatur tief verbundenen Praktiken
an ihrem himmlischen und reinen Widerspiel in ihrer ganzen
dämonenhaften Unnatur zu zeigen. Das Wort »γάρ χαιός εγγύς«, der
Apokalypse entnommen, steht keineswegs etwa aus koketten, literarischen
Gründen auf dem Titelblatt meines Buches, das als ein Leitfaden zur
wahren Metaphysik, der prima philosophia, der philosophia perennis dienen
möchte. Die Zeit ist nahe, da sich die Geister scheiden müssen, in solche,
die an das Ghaos, die Masse und die Technik glauben und nur dieses
wollen, und solche, deren Blick auf das Ewige im Menschen, auf die großen
Gesetze und Pläne gerichtet ist, denen alles Erschaffene im Lichte der
göttlichen Weisheit unterworfen bleibt. Ward das hochentwickelte
Instrument des menschlichen Verstandes bisher dazu gebraucht, die Reste
der Erinnerung an das Paradies endgültig zu verwischen, das Bewußtsein
göttlicher Abkunft endgültig zu zerstören und durch sinnlose »Freidenkerei«

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 255


die Quellen zu verschütten, aus denen die ewige Erkenntnis des Guten,
Wahren und Schönen fließt, so ist nun die Stunde neuer Einsicht
gekommen. Erneuerung des Menschen auf allen Wegen sendet ihre
untrüglichen Zeichen in die Dunkelheit dieser drangvollen und schier
hoffnungslosen Gegenwart! Als in den letzten Wochen Berichte über
Erdbeben auftraten, die in Gegenden beobachtet wurden, wo man bis zum
heutigen Tage keine Beben kannte, war die Stimme von Hellsehern zu
hören, die kühn behaupteten, der wiedererscheinende Christus kündige
sich auf diese Weise an. In jeder solchen Behauptung wohnt ein Pfund
Irrtum neben einem Milligramm Wahrheit. Wahr ist, daß Erdbeben keine
rein geologische, sondern eine geistig-moralische Tatsache sind, denn: die
Erde als Leib des Christus Jesus, Hervorbringerin und Trägerin alles
Lebens, eine tote Masse zu nennen, vermag nur eine geist- und
lebensfremde Afterweisheit, die ihre »Offenbarungen« aus übler Verdauung
und zerstörenden Getränken schöpft, eine Lehre des Niedergangs, des
Abstiegs und der Fäulnis, empfangen vom unheiligen Ungeist haltloser
Naturen. Unwahr aber ist, daß die Welt das Wiedererscheinen des Christus
in neuer Körperlichkeit erwarten darf. Wer die Vorgeschichte des
Mysteriums von Golgatha kennt, versteht, warum das so sein muß. Viermal,
vor diesem Mysterium, geriet die Menschennatur in Gefahr, für immer zu
verderben: nach dem »Sündenfall« der lemurischen Epoche, nach den
Entartungen des Ätherleibes in einer späteren, und nach dem inneren
Zerfall des astralischen Leibes in seine drei unabgestimmten Grundkräfte
Denken, Fühlen und Wollen in einem noch späteren Zeitpunkt, der
gleichfalls vor den Beginn unserer Zeitrechnung zu setzen ist; endlich, im
Beginne unserer Zeitrechnung, da die Kräfte des Ichs die Entwicklung der
Menschheit zu sprengen drohten. Die Geschichte Griechenlands und
Roms, geistgemäß erfaßt, als ein Spiel der luziferischen und ahrimanischen
Kräfte, ist ein Kolossalgemälde dieser ungeheuren Ichkrise. Wie dem
immer wäre, in jedem dieser vier kritischen Zeitläufte ist der Mensch durch
Christuskräfte vor dem sicheren Untergang ins Chaos bewahrt worden.
»Der neue Adam, der in Christus erschienen ist«, wie ihn Paulus weissagt,
wird sich zeigen, weil das in der Geschichte der Erde und der Menschheit
begründet ist, aber er wird und kann nur in seiner ätherischen Leiblichkeit
dem erleuchteten geistigen Auge offenbar werden. Der Zusammenhang der
Paulusbriefe mit der Bhagavadghita, der Offenbarung des Krishna,
gegeben am Ende der alten, lichten Epoche als Erinnerung an die
verlorene Urweisheit der Menschenseele, und in ihrer wahren Natur
erforscht durch Rudolf Steiner, weist mit deutlicher Schrift auf das große
Geheimnis, in dessen Mittelpunkt die Geisteswissenschaft Steiners, die
Michaelsgestalt rückt; Geisteswissenschaft, Wissen vom Menschen,
Anthroposophie ist eine Michaelsbotschaft an das kommende johanneische
Zeitalter. In seinem letzten Vortrag, den Rudolf Steiner, Michaeli 1924, hielt,
wies er, als Abschiedsgruß gleichsam, noch einmal mit der ganzen
magischen Kraft seines Seherwortes auf Michael, den mächtigsten

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 256


Sendboten der Menschheit, hin. Was auf Golgatha in der Körperlichkeit des
Christusjesus spielte, entrollt sich nun im Entwicklungsgange der
Menschheit und, gerade in unserer Zeit, als eine neue Passionsfolge in
einer höheren, ätherischen Körperlichkeit; diese Passionsfolge ist bis zur
neuen Auferstehung gediehen, nur dem Michaelsbewußtsein sichtbar. Von
diesen Dingen aber weht der geistige Wind den »natürlichen« und
primitiven Hellsehern von heute hin und wieder eine Ahnung zu. Sie hören
etwas läuten und predigen die Wiederkunft des Christus im Leben,
vorangekündigt dadurch, daß die Erde wieder bebt, wie sie auf Golgatha
bebte, als Christus am Kreuze starb.
In dieser Welt, die nicht mehr weiß, wohin sie sich wenden soll, tobt zur
Zeit ein gigantischer Kampf um Gott auf dem ewigen seelisch-geistigen
Schlachtfelde. Er scheint Leuten, die nur gelernt haben, die Oberfläche der
Dinge zu sehen, als eine Sache, die sie nichts angeht, denn sie haben, wie
man es vulgär ausdrückt, »andere Sorgen«, aber sie würden doch
wahrscheinlich vor Schrecken starr werden, könnten sie mit geöffnetem
geistigen Auge die wahren Streiter sehen, die in den übersinnlichen Welten
gleichsam die höhere Oktave dieses Kampfes austragen. Mit Gottes
Worten und Gebärden, mit den Ausdrucksmitteln, die von ihm stammen, zu
sprechen: »es ist kein Gott!« gehört wohl zum übelsten aller Verhängnisse.
Heißt es zu weit gehen, wenn man annimmt, daß der »Tank Atheist«
sozusagen das Schluß- und Endsymbol jenes finsteren Zeitalters bedeutet,
das mit diesem Jahrhundert und Jahrtausend abläuft? Was könnte noch
Schlimmeres auf Erden geschehen, als daß man die Quintessenz aller
entsetzlichen Handlungen, vom Menschen am Menschen durch viele
Jahrtausende begangen, in die einfache, fast exakte mathematische
Formel zusammenfaßt: »es ist kein Gott!?« So daß also nichts anderes zu
tun bliebe, als in den Lärm und Gestank entarteter Zeiten mit aller Macht
hineinzurufen: »Haltet ein, Gott lebt!« Woher man aber die Kraft nimmt, das
zu tun und ein Mensch zu bleiben unter Millionen von Unmenschen, das
lieber Leser, lehrte von Anbeginn und lehrt noch immer, bis Heute: die
Geheimwissenschaft!

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 257


 

Anhang
Schematische Zusammenfassung der Geheimwissenschaft
(nach Rudolf Steiner und seiner Schule)

A. Grundriß des Menschen und der Körperwelt.


In dreifacher Art ist der Mensch mit den Dingen der Welt verbunden:
durch
Leib, Seele und Geist;
durch den Leib offenbaren sich ihm die Dinge der Um- und Außenwelt;
durch die Seele verbindet er die Dinge mit seinem eigenen Dasein,
unter Gefühlen des Wohlgefallens oder Mißfallens, der Lust oder Unlust,
der Freude oder des Schmerzes;
durch den Geist erfaßt er die Gesetze der Natur und des Daseins,
offenbart sich ihm eine Welt, die über die beiden anderen erhaben ist.
 
Die Elemente Leibes sind den drei Daseinsformen: Stein,
Pflanze und Tier entnommen;
eine vierte Daseinsform, die menschliche, kommt nur dem Menschen zu.
Es gibt also vier Erdreiche:
Stein, Pflanze, Tier und Mensch,
sichtbar in der sichtbaren Welt.
Seelisch sind die
Sinnesempfindung;
das Gefühl (Lust, Unlust; Sympathie, Antipathie; Freude und Leid);
der Wille, durch den der Mensch auf die Außenwelt wieder zurückwirkt;
Geistig ist:
der Gedanke, ein Gebilde höherer Ordnung; den Denkgesetzen unterwirft
sich der Mensch selbst.
 
Der Leib ist die Grundlage für das Seelische;
das Seelische die Grundlage für das Geistige.
Mit dem Leib hat es der Naturforscher, mit
der Seele der Seelenforscher (Psychologe), mit
dem Geist der Geistesforscher zu tun.

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 258


Der siebengliedrige Mensch.
I. Physischer Leib;
II. Ätherleib (Lebensleib, Bildekräfte-Leib);
III. Astralleib (Seelenleib);
Empfindungs-
IV. Ich Verstandes- -Seele
Bewußtseins
V. Manas (Geistselbst);
VI. Buddhi (Lebensgeist);
VII. Atman ( Geistmensch).
 
I.
Der physische Leib ist der mineralische, dem Denken entsprechende,
seiner Aufgabe gemäß gebildete Bau; er entsteht durch Fortpflanzung und
erhält seine Gestalt durch das Wachstum; Fortpflanzung und Wachstum hat
der Mensch mit Pflanze und Tier gemeinsam; die Form alles Lebendigen
pflanzt sich durch Vererbung fort; Lebendiges entsteht aus Lebendigem
durch den Keim; die Art wird durch die Zusammenfügung der Stoffe
bestimmt; die artbildende Kraft kann Lebenskraft genannt werden;
die Lebenskraft bleibt den Sinnen verborgen, wahrnehmen kann sie nur,
wer das geistige Auge dafür erwirbt und ausbildet.
II.
Der Ätherleib ist die lebenerfüllte Geistgestalt,
deren Elemente der Lebenswelt entnommen sind; er ruft die Kräfte des
physischen Leibes zum Leben auf; er bewahrt den physischen Leib in
jedem Augenblicke des Lebens vor dem Zerfall; durch seine Hinordnung
auf den denkenden Geist unterscheidet sich der Ätherleib des Menschen
von dem der Pflanze und des Tieres. Äther bedeutet nicht etwa den Stoff
der Physik, sondern eine höhere geisterfüllte Stofflichkeit; Leib bedeutet
Gestalt und Form, also nicht etwa einen Leib im Sinne einer Körperform;
dem geistigen Auge erscheint der Ätherleib als rötlichblaue Lichtform, als
ein Schemen, der glänzt und leuchtet und in der Farbe der jungen
Pfirsichblüte ähnelt.
III.
Der Astralleib, bei Tier und Mensch (die Pflanze hat ihn nicht), ist der
Seelen-, Begierde-Trieb und Leidenschaftsleib, sichtbar für das geistige
Auge als eiförmige Wolke, in der physischer Leib und Ätherleib stehen,
erfüllt mit beständiger innerer Beweglichkeit (Aura); die Aura offenbart die
Temperamente und Grundstimmungen, das Naturell des Menschen.

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 259


In der menschlichen
Aura
kommen die Gedankenformen zum Ausdruck; in ihr
fluten Grundfarbentöne (je nach Talent, Gewohnheit, Charakter) und
zahlreiche einzelne Farbentöne; hier wird die Farbe zum seelischen
Erlebnis.
Bei starker, animalischer Triebhaftigkeit zeigen sich an bestimmten
Stellen der Aura braune und rötlichgelbe flutende Farbentöne.
Sind Gedanken und geistige Elemente bei dieser Triebhaftigkeit
vorhanden, so tritt hellgelberes Rot und Grün auf.
Kluge, aber sinnliche Menschen weisen viel Grün in ihrer Aura auf, mit
stärkerem oder schwächerem Anflug von Braun und Braunrot.
Ruhige, abwägende und nachdenkliche Menschen zeigen
überwiegend Grün; angestrengtem Denken entspricht ein schöner grüner
Grundton.
Hingebungsvolle Seelenstimmungen treten in blauen
Farbentönen zutage; gutes Gemüt glimmt in schönem Blau.
Erfinderische Köpfe mit starken sinnlichen Leidenschaften zeigen
dunkelblaurote Nuancen.
Selbstlose Gedanken haben hell-rotblau.
Aufopferungsfähige Naturen rosarot und hellviolett.
Starke Erregung infolge äußerer Eindrücke zeigen sich als beständiges
Aufflackern kleiner blaurötlicher Punkte und Flecken in der Aura.
Ruhige, matte Empfindung: orangegelbe oder klar gelbe Punkte und
Flecken.
Zerstreutheit: bläulich ins Grüne spielende Flecke von wechselnder Form.
Man unterscheidet in der
menschlichen Aura
drei Gattungen von Farben:
1. den Raum wie Nebel durchziehende, ihn undurchsichtig machende;
2. Farben, die ganz licht sind, den Raum durchhellen und mit Glanz
erfüllen;
3. strahlende, funkelnde, farbenglitzernde, die, in unaufhörlicher
Bewegung, sich, gleichsam aus sich selbst, immer wieder erneuern.
Alle drei Farbenarten durchdringen sich in der menschlichen Aura in der
mannigfaltigsten Weise. Nicht jeder Seher ist für alle drei
Farbengesichte entwickelt; in der dreifachen Aura offenbaren
sich Leib, Seele und Geist.

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 260


Die erste Aura: ein Spiegelbild des Einflusses, den der Leib auf die Seele
des Menschen ausübt.
Die zweite kennzeichnet das Eigenleben der Seele.
Die dritte spiegelt den Grad der Herrschaft, den der ewige Geist über den
vergänglichen Menschen auszuüben begonnen hat.
Die erste Aura hat oft schreiende, förmlich lärmende Farbentöne.
Die zweite hat nur spärliche und schwache Farbenbildung.
Die dritte bleibt auf glitzernde Farbenfünkchen beschränkt.
IV.
Im Ich (Ichkern) faßt der Mensch alles zusammen, was er als leibliche und
seelische Wesenheit erlebt; Leib und Seele sind Träger des Ichs, das in
ihnen wirkt; das Ich ist der Mittelpunkt der Seele, es birgt die eigentliche
Wesenheit des Menschen; mit seinem Ich ist der Mensch ganz allein; Leib
und Seele sind nur die »Hülle« des Ichs; jedes Ich kann nur sich selbst
wiederum Ich nennen; offenbaren sich am Körper die Empfindungen, so hat
die Offenbarung des Geistigen den Namen Intuition; Offenbarungen aus
dem Geiste werden durch das Ich empfangen; die geistige Welt mit ihren
geistigen Stoffen und Kräften baut sich den Geistkörper auf, darin das Ich
leben kann.
Im Ichkern tätig sind:
die Verstandes-
die Empfindungs- – Seele
die Bewußtseins
Die Empfindungsseele, ebenso wirklich wie der physische Körper, ist der
Quell der Empfindungstätigkeit; sie hängt in ihrer Wirkung vom Ätherleib ab,
aus dem sie die Empfindung hervorholt, und durch den Ätherleib ist sie vom
Leibe mittelbar abhängig; ein Teil des Ätherleibes in seiner feineren
Struktur bildet eine Einheit mit der Empfindungsseele, der gröbere eine Art
Einheit mit dem physischen Leib; zwischen physischem Leib und Ätherleib
einerseits und Empfindungsseele ist der Astralleib eingeschoben, der von
der Empfindungsseele überragt wird; er birgt anschließend an die
Empfindungen die Gefühle der Lust und Unlust, die Triebe, Instinkte und
Leidenschaften.
Die Verstandesseele (Gemütsseele, Gemüt) ist die vom Denken bediente
Seele; sie durchdringt die Empfindungsseele; durch sein Denken rührt der
Mensch an die Denkgesetze, die in Übereinstimmung mit der Weltordnung
sind; er erzieht durch sein Denken das Wahre und das Gute, als von
Neigung und Leidenschaft unabhängige Wesenhaftigkeiten.
Bewußtseinsseele wird genannt, was als Ewiges in der Seele aufleuchtet;
sie birgt den Kern des menschlichen Bewußtseins, sie ist die Seele in der

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 261


Seele; wird die Verstandesseele noch von Trieb und Affekt getrübt, so lebt
in der Bewußtseinsseele das Wahre.
V.
Das Geistselbst, als niedrigstes Glied des höheren Menschen, ist
die Offenbarung der geistigen Welt innerhalb des Ichs und entspricht damit
der Sinnesempfindung innerhalb der physischen Welt, die eine Offenbarung
der physischen Welt innerhalb des Ichs ist; offenbart sich die physische
Welt dem Ich durch Sinnesempfindungen, so offenbart sich,
durch Geistselbst, als Intuition, das Wahre und Gute, das in der geistigen
Welt zu Hause ist; hätte der Mensch ohne Auge keine
Farbenempfindungen, so bliebe ohne das höhere Denken das Geistselbst,
des Menschen, ohne Intuition.
VI.
Lebensgeist bezeichnet, dem Ätherleib des physischen Menschen
entsprechend, den Äthergeist des höheren Menschen.
VII.
Geistmensch endlich ist die im Geistkörper (in der Geisthülle) lebende,
von Intuitionen bediente, selbständige geistige Wahrheit.
 
Das Ich ist sonach der Umschaltort für die Entwicklung zum höheren
Menschen, der gleichsam eine Umstülpung des niederen Menschen
darstellt.
I. Physischer Leib, IV. Geistselbst.
II. Ätherleib, V. Lebensgeist,
III. Astralleib, VI. Geistselbst,
Ichkern
Wie diese Entwicklung des Menschen in die Weltentwicklung eingeordnet
ist, zeigt das Schema der letzteren, weiter unten.
Unser gegenwärtiges Zeitalter ist in der Entwicklung der
Bewußtseinsseele und im Übergang zum Geistselbst begriffen.
 
Die Empfindungsseele entspricht dem Nephesch,
die Verstandes- oder Gemütsseele dem Ruach und
die Bewußtseinsseele der Neschuma der Kabbala.

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 262


B. Grundriß der dem Menschen übergeordneten Wesenheiten der
seelisch-geistigen Welten.
Der Mensch ist buchstäblich im Sinne der Stufen, die aus dem Irdischen
der seelisch-geistigen Welt zuführen, die »Krone der (irdischen)
Schöpfung«. Leib, Seele und Geist machen ihn zu einem Bürger dreier
Welten. Im Seelen- und Geisterland weben und wirken 3 x 3 Gruppen von
Wesenheiten, die im Sinne des Dionysios Areopagita Hierarchien genannt
werden.
Die Stufenleiter zur göttlichen Trinität, vom Menschen aus gerechnet,
umfaßt:
I (von oben III).
Engel (Angeloi), die erste Stufe über den Menschen; Lenker des
Einzelkarmas;
Erzengel (Archangeloi), Feuergeister, Völker- und Rassengeister im
geistigen, nicht im niederen politischen Sinne;
Archai (Geister der Persönlichkeit): Zeitgeister, in ihrer
Zusammenfassung Zeitgeist.
II (von oben II).
Gewalten (Exusiai, Potentates): Erhalter und Bewahrer des Bestehenden;
Mächte (Dynameis, Virtutes, Tugenden): Geister der Bewegung;
Herrschaften (Kyriotetes, Dominationes): Geister der Weisheit;
III (von oben I).
Throne: Werkvollstrecker, Vermittler des Göttlichen;
Cherubime: Geister der höheren Einsicht, Ausbauer der Weisheit der
nächsthöheren Stufe, der:
Seraphime: Übernehmer der höchsten Ideen und Absichten, empfangen
aus der
Trinität.
Engel, Erzengel und Archai bilden gewissermaßen, dem Mond,
dem Merkur und der Venus bereichhaft zugeordnet, eine irdische
Hierarchie;
Gewalten, Mächte und Herrschaften sind geistige Hierarchien im okkulten
Sinne, Sonne, Venus und Jupiter zugeordnet.
Throne, Cherubime und Seraphime mittelbar göttliche Hierarchien. Von
ihnen sind die Throne dem Saturn zugeordnet;
mit Cherubimen und Seraphimen, als gleichsam gänzlich außerweltlich,
können Uranus und Neptun als verknüpft angesehen werden.

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 263


C. Grundriß der drei Welten.
Die Geisteswissenschaft spricht in ganz bestimmter Weise von drei
Welten: physisch-materiellen, von der Seelenwelt und von der Geistwelt.
I. Die physisch-materielle Welt ist der Schauplatz aller Menschen.
II. Die seelische Welt
Zwischenreich, Kamaloka, Fegefeuer
betritt der Mensch nach dem Tode; sie umfaßt sieben Regionen:
1. die Region der Begierdenglut,
2. der fließenden Reizbarkeit,
3. des Wunschlebens (der Wünsche),
4. der Lust und Unlust,
5. des Seelenlichtes,
6. der tätigen Seelenkraft und
7. des Seelenlebens.
Die drei ersten Regionen erhöhen »die Eigenschaften ihrer Seelengebilde
aus dem Verhältnisse von Sympathie und Antipathie«; »durch
die vierte webt die Sympathie innerhalb der Seelengebilde selbst; durch
die drei höheren wird die Kraft der Sympathie immer freier und freier;
leuchtend und belebend durchwehen die Seelenstoffe dieser Regionen den
Seelenraum.
III. Das Geisterland
ist aus dem »Geiststoff« gewoben, der den Gedanken trägt; es ist die
Region der geistigen Urbilder, die hier als schaffende Wesenheiten
auftreten; wird die seelische Welt von Bildern durchzogen, so werden die
Urbilder der geistigen Welt auch klingend und tönend wahrgenommen.
Auch hier gibt es sieben Regionen:
1. Vergleichbar dem festen Land unserer physischen Erde, enthält
die Urbilder der physischen Welt, sofern diese nicht mit Leben begabt sind;
2. die zweite Region enthält die Urbilder des Lebens, das hier eine
vollkommene Einheit bildet; sie wird, den Meeren und Gewässern der
irdischen Erde vergleichbar, von flüssigem Element durchströmt und
durchblutet;
3. Die dritte Region des Geisterlandes ist
der Luftkreis des Geisterlandes mit seinem sanften Hauch, seinen Stürmen
und leidenschaftlichen Ausbrüchen.
Die drei ersten Regionen beziehen sich noch unmittelbar auf die anderen
Welten.
4. Die vierte Region ordnet und gruppiert die Urbilder der drei unteren
Regionen.

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 264


5, 6 und 7. Die fünfte, sechste und siebente Region liefern den Urbildern
der unteren Regionen die Impulse (Antriebe) für ihre Tätigkeit; hier liegen
die Urkeime für geistige »Absichten« der mannigfaltigsten Art; hier ertönt
die »geistige Sprache«.
Eine Einteilung der drei Welten in Körperwelt, Astralwelt und unteres,
beziehungsweise oberes Devachan ergibt folgendes Schema:
Der Mensch hat phys. Leib, Ätherleib, Astralleib und Ich in
der physischen Welt;
das Tier hat phys. Leib, Ätherleib und Astralleib in der physischen Welt,
sein Gruppen-Ich oben in der Astralwelt;
die Pflanze hat phys. Leib und Ätherleib in der physischen, Astralleib in
der astralischen, Ich in der unteren devachanischen Welt;
das Mineral hat den phys. Leib in der physischen Welt, den Ätherleib in
der astralischen, den Astralleib im unteren, das Ich im oberen Devachan.

D. Schema des Weltenzyklus und seiner Entwicklungsstufen.


Die Geisteswissenschaft Steiners veröffentlicht das
nachstehende Schema der Weltentwicklung:
Unserer gegenwärtigen Erde als planetarischem Zustand sind drei große
kosmische
Zustände vorangegangen: Mondzustand, Sonnenzustand und Saturnzusta
nd;
drei werden ihr folgen: Jupiter, Venus, Vulkan;
der Zyklus, der mit dem alten Saturn begann, schließt mit
dem Vulkan äußerlich ab und umfaßt sonach
sieben kosmische Zustände (Bewußtseinszustände),
innerhalb deren sich die menschliche Entwicklung vollzieht, die
menschliche Bestimmung erfüllt.
Die Entwicklung wies und weist zwischen jedem dieser kosmischen
Zustände gewisse Unterbrechungen
auf, die als geistige Zwischen-, Verarbeitungs-
und Verwandlungszustände aufzufassen sind; Zustände der äußerlichen
Entfaltung des Lebens wechseln mit dazwischenliegenden Ruhezuständen;
offenen Kreisläufen folgen verborgene; ein Gleichnis dieser Art
sind Wachen und Schlaf des Menschen.
Die Entwicklung bis zum Erdenzustand:
Der alte Saturn.
Zustand der Wärme, aus einem rein geistigen, wesenhaften,
nichträumlichen Vorzustand nach dem »Erwachen« der Trinität unter
Mitwirkung höherer Hierarchien entwickelt; Wärmeätherzustand;
der Wärmeäther: eine ausdehnende, in der Form sphärische Bildekraft;

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 265


Ätherfarbe: dunkelrot; Ausbildung des physischen Leibes des Menschen;
verläuft in sieben, von geistigen Wesenheiten eingeleiteten kleineren
Kreisläufen; an ihr sind tätig:
1. Geister der Willens, Throne; Keime des physischen Leibes schaffend;
2. Herrschaften: weisheitsvoller Ausbau des Keimes;
3. Geister der Bewegung; Einpflanzung der krafterfüllten Wirksamkeit;
4. Geister der Form; bewegte, plastische Form des Menschenkeimes;
5. Geister der Persönlichkeit; Beseelung der Form, Anfänge der
Sinnesorgane; Grundlegung des Persönlichen;
6. Geister des Feuers, Archangeloi; Belebung der Keime, Aufleuchten des
Menschenkeimes (unter Offenbarung der Seraphime);
7. Geister des Zwielichtes, der Dämmerung: Engel. Keime des
Verstandes im Menschenkeim (unter Offenbarung der Cherubime).
Vom siebenten Kreislauf an beginnen die Throne sich zu offenbaren, die
eigentlichen »Schöpfer des Menschen«. Keime
des Atman (Geistmenschen) setzen mit Hilfe der Throne ein.
Saturnbewußtsein des Menschen: dumpf, ganz dunkel, träum- und
bewußtlos nach Art des Gesteines.
Geistig-wesenhafter, nichträumlicher Zwischenzustand
(er birgt gleichsam den Samen des Saturnmenschen, bestimmt, sich zum
Sonnenmenschen zu entfalten).
Die alte Sonne.
Zustand des Lichtes; Lichtätherzustand, aus dem Wärmeäther
hervorgegangen, formbildnerisch: dreieckig, in der Raumbildung zentrifugal,
im bewirkten Zustand gasförmig; Farbe: lichtgelb; Zustand der Umwandlung
des Saturnbewußtseins in das Sonnenbewußtsein des traumlosen ruhigen
Schlafes nach Art der Pflanze; hier wiederum 7 kleinere Kreisläufe:
1. Wiederholung des physischen Menschenkeimes in etwas veränderter
Form;
2. Aufströmung des Lichtäthers, der den Wärmezustand bis an die
Ränder verdrängt und treibt, doch, mit Wärmeäther gemischt, bleibt; Arbeit
der Geister der Weisheit;
3. Weiterarbeit der Geister der Bewegung an dem Menschenkörper;
4. Anfänge des Einbaues eines Ätherleibes im keimhaften Zustande,
dank den Geistern der Form;
5. Verstärkung der Selbstheit im Menschenkörper, dank den Geistern der
Persönlichkeit;
6. Fortschritte des physischen Leibes, dank den Geistern des
Feuers; Buddhi! (Lebensgeist durch die Cherubime.)

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 266


7. Arbeit der Geister des Feuers am Ätherkörper des Menschen; Arbeit
der Engel am physischen Leib.
Am Ende des 7. Kreises ist die menschliche Monade fertig; vom vierten
Kreislauf beginnt der Mensch, der im Verlaufe des 6. Kreislaufes selbst an
seinem physischen Leib arbeitet.
Eintritt des zweiten geistigen Ruhe- und Zwischenzustandes seit
der menschlichen Monade als Keim. Wiederholter Wärmeätherzustand +
Lichtätherzustand.
Der alte Mond.
Chemischer Zustand (Klangätherzustand), Farbe blau (mit Lichtäther,
gelb); und Wärmeätherrandkreisen (rot),
in der Raumbildung saugend in der Formbildung halbmondförmig, im
bewirkten Zustand flüssig. Wiederum 7 Kreisläufe:
1. u. 2. Entwicklung des Bilderbewußtseins mit symbolisch-sinnbildlichem
Charakter; Wiederholung des Sonnen- und Saturnzustandes, Vorbereitung
der Mondenentwicklung des Menschen;
3. Auftreten des Astralleibes in der Monade, dank der Arbeit der Geister
der Bewegung;
4. gleichzeitig spaltet sich vom wiedererwachten Sonnenkörper der alte
Mond ab und umkreist den Sonnenrest;
5. Einzug der Engel in den physischen Leib des Menschen; der Mensch
zu seiner Menschenstufe erhoben;
6. der Astralleib erwirbt, dank der Arbeit der Geister der Persönlichkeit,
Selbständigkeit;
7. dumpfe Weiterarbeit des Menschen an seinem physischen
Leibe; zur Monade tritt der Keim des künftigen »Geistselbst« ( Manas).
Im Ätherleib des Menschen entwickelt sich die Empfindung
von Lust und Leid, allerdings beides mehr passiven Charakters;
im Astralleib erwachen die Keime der Affekte (Zorn,
Haß), Instinkte, Leidenschaften. Mineral (Saturnzeit)
und Pflanze (Sonnenzeit) werden auf eine niedrigere Stufe herabgedrückt;
das Tierreich tritt auf, in dessen Schoße sich der Mensch befindet.
 
Im darauffolgenden Ruhezustand nähern sich alte Sonne und alter
Mond und vereinigen sich wieder zu einem Ganzen; das Erscheinen
der Erde bereitet sich darin vor; desgleichen Wiederholungen der
vorangegangenen Zustände: Wärme-, Licht- und Klangätherzustand.

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 267


Die Erde;
oder der Einzug des Ichs in die Menschenwesenheit.
Lebensätherzustand, Farbe pfirsichrot (mit blauen, gelben und
roten Mischungs-Randkreisen); der Lebensäther: in der Raumbildung
zentripetal, in der Formbildung viereckig, in der Wirkung fest. Haben sich
auf dem alten Saturn die Keime zum Geistmenschen (Atman), auf der
alten Sonne die Keime zum Lebensgeist (Budhi), auf dem
alten Mond die Keime zum Geistselbst ( Manas) entwickelt, so bestehen
jetzt, im Beginne des Erwachens zur Erde, zweierlei Menschenursprünge:
ein niederer Mensch, bestehend aus physischem Leib, Ätherleib und
Astralleib, und
ein höherer Mensch, bestehend aus Geistmensch, Lebensgeist und
Geistselbst; die niedere wie die höhere Menschennatur gehen getrennte
Wege.
Die Erdentwicklung hat den Sinn, den niederen mit dem höheren
Menschen zu vereinigen.
Auch hier wiederum 7 Kreisläufe:
1. Wiederholung der Saturn-
2. Wiederholung der Sonnen- und -zeit
3. Wiederholung der Monden-
Sonne und Mond spalten sich neuerlich; auf dem abermals
abgespaltenen Mond nehmen die Wesenheiten ungefähr wieder
dieselbe Daseinsart an, die sie schon auf dem alten Monde hatten. Die
ganze Situation gestaltet sich von da ab anders, als bei den früheren
planetarischen Zuständen. Während des 3. Kreislaufes verhärten sich
die Gesteine, die Pflanzen verlieren ihre tierartige Empfindlichkeit und aus
dem einheitlichen Menschen-Tierschema entwickeln sich nach und
nach zwei Klassen: mit einem niederen und einem höheren Astralleib; an
dem höheren Typus Astralleib arbeiten die Geister der Persönlichkeit, die
diesem Selbständigkeit und Selbstzucht einpflanzen, an
dem niederen die Feuergeister, am Ätherleib die Geister des Zwielichtes
(Engel) und am physischen Leib jene Kraftwesenheit, die als ein
eigentlicher Menschenvorfahr bezeichnet werden kann und der man die
Ausbildung von Atman, Buddhi und Monos zuzuschreiben hat; die
Wesenheiten, die dabei behilflich waren (Throne, Cherubime und
Seraphime), steigen zu viel höheren Sphären auf; der geistige Mensch
erhält nun den Beistand der Geister der Weisheit, der Bewegung und
der Form, die nun mit Atman, Buddhi und Manas (Geistmensch,
Lebensgeist und Geistselbst) vereinigt sind. Die Arbeit dieser Wesenheiten
gestaltet den Menschenleib zu einer Art Vorläufer des
späteren Menschenkörpers aus.
Die vierte Runde, der vierte Kreislauf ist unsere Erdenzeit.

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 268


Im Astralleib der Tierwesen bleiben die Feuergeister, am Ätherleib der
Pflanzen die Geister des Zwielichtes (Engel) tätig, indes die Geister der
Form das Mineralwesen weiterverhärten und festigen.
Gegen Ende des 3. Kreislaufes verschmelzen alle Wesenheiten, mit
Sonne und Mond zu einem Chaos, und gehen durch einen kürzeren
Schlafzustand durch, aus dem sich nach und nach unser, der vierte
Erdenkreislauf, erhebt.
Als selbständige Keime treten aus diesem Chaos zunächst nur die
Menschenvorfahren hervor, an deren höherem Astralleib die Geister der
Persönlichkeit gearbeitet haben; alle anderen Reiche (Stein, Pflanze und
Tier) führen am Anfang dieser vierten Stufe noch kein selbständiges
Dasein.
Nun setzt ein allgemeiner Zustand der Verdichtung, der Verfestigung ein,
der unaufhaltsam vorwärts schreitet, aus dem gestaltlosen Zustand in
einen astralen, endlich in den physischen; damit entstehen, auf dieser Stufe
der Entwicklung,
vier Elementarreiche,
Mineral-, Pflanzen-, Tier- und Menschenreich
aus dem gestaltlosen Zustand.
Aus dem astralen aber
drei Elementarreiche:
das erste, bestehend aus einer wolkenartig sich zusammenballenden,
sich wieder auflösenden und als allgemeine Masse dahinflutenden
Wesenheiten, herausgesetzt von den Geistern der Persönlichkeit;
das zweite, herausgesetzt von den Feuergeistern, bevölkert mit
schattenhaften Bildern (Schemen), ähnlich den Vorstellungen des
traumhaften Bilderbewußtseins, und
das dritte Elementarreich, im Anfange der physischen Stufe, losgelöst von
den Geistern des Zwielichtes (Engeln), bestehend aus unbestimmt
bildhaften Wesenheiten, die keine selbständige Wesenheit, aber trieb- und
leidenschaftshafte Kräfte besitzen (Dämonen).
Sonne und Mond aber trennen sich erst in einem späteren Augenblick
von der Erde ab.
Das vorläufig letzte Glied dieser Entwicklung ist
die Lostrennung des Mondes von der Erde,
die als Wohnstätte des Menschen und seiner Mitgeschöpfe im All für sich
allein bleibt, auf der aber auch die geistigen Wesenheiten wohnen.
Wir stehen gegenwärtig im
fünften Hauptzustand
der Erdenentwicklung.

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 269


Die polarische Epoche.
Der erste Hauptzustand zeigt die Menschenvorfahren
als feine, ätherische Wesenheiten, die (ungenau) als erste
Hauptrasse bezeichnet werden.
Die hyperboräische Epoche.
der zweite Hauptzustand, Zeit der zweiten Haupt- und Wurzelrasse, bringt
keine wesentlichen Änderungen; Sonne, Mond und Erde sind zu dieser Zeit
noch ein Weltkörper.
Mit der Sonnenabspaltung vollzieht sich eine
radikale Revolution
in der Menschheitsgeschichte: der Fall aus einer höheren Daseinsstufe in
eine niedere.
Die lemurische Epoche.
als dritter Hauptzustand wird herbeigeführt durch Abspaltung des Mondes
von der Erde und durch den Zerfall des bisher eingeschlechtlichen
Menschen in zwei Geschlechter:
Mann und Weib.
(Lemuria als Erdteil.)
Die lemurische Entwicklung schloß mit einer großen Feuerkatastrophe.
Die atlantische Epoche.
als vierter Hauptzustand, in Rudolf Steiners Schrift »Unsere atlantischen
Vorfahren«, überaus anziehend und buntfarbig geschildert, ging durch eine
große Wasserkatastrophe zugrunde.
Unsere fünfte Epoche,
die nachatlantische, der als sechste und siebente zwei weitere
Epochen folgen, zerfällt bisher in:
I. die uralte indische Kultur, im Tierkreiszeichen des Krebses (7200 bis
5000 v. Chr.);
II. die uralte persische Kultur, von 5000 bis 3000 v. Chr., im Zeichen
der Zwillinge;
III. die ägyptisch-babylonisch-chaldäisch-hebräische Kultur, von 3000 bis
747 v. Chr., im Zeichen des Stieres;
IV. die griechisch-lateinische Zeit, von 747 v. Chr. bis 1413 n. Chr., im
Zeichen des Widders (Lammes);
V. unsere Zeit der Entwicklung der Bewußtseinsseele (angelsächsisch-
germanisch im Hauptimpulse), von 1413 bis ins 19. Jahrhundert.

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 270


Zwei weitere Epochen, VI und VII, entziehen sich heute noch der
Aussage.

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 271


Die Zukunft der Erde.
Die nachfolgenden Erdenzustände sind:
V. Jupiterzustand (Geistselbst).
VI. Venuszustand (Lebensgeist).
VII. Vulkan (Geistmensch).

Hans Liebstoeckl: Die Geheimwissenschaft im Lichte unserer Zeit 272

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