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Führen und Mentalisieren

Peter Döring

Zusammenfassung
Mentalisieren wurde als Konzept für die Behandlung von Patienten mit Borderline Persönlich-
keitsstörungen entwickelt. Zunehmend zeigt sich, dass es auch bei anderen Störungen vorteil-
haft ist, auf Mentalisierungsdefizite zu achten. Mentalisieren kann in der Zusammenarbeit in
Organisationen beeinträchtigt sein – auch bei Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die sonst
psychisch unauffällig sind. Eine mentalisierungsfördernde Perspektive kann helfen, Führen und
Zusammenarbeiten konstruktiv zu gestalten

Gruppenpsychother. Gruppendynamik 55/2019, 118-130

Schlagwörter
Führung – Mentalisieren – Organisationen – Zusammenarbeit

Summary
Leadership and Mentalization

Mentalization was developed as a concept for the treatment of patients with borderline
personality disorders. It is becoming increasingly apparent that it is also advantageous to
pay attention to mentalization deficits in the case of other disorders. Mentalization can be
impaired in cooperation in organizations – even with employees who are otherwise men-
tally inconspicuous. A mentalization-promoting perspective can help to shape leadership
and cooperation constructively.

Keywords
leadership – mentalization – organizations – collaboration

1 Hintergrund

Das Mentalisierungskonzept wurde ursprünglich von Bateman, Fonagy und ande-


ren für die psychotherapeutische Behandlung von Patienten mit einer Borderline
Persönlichkeitsstörung entwickelt. In der Folge zeigte sich, dass es auch bei anderen
psychischen Störungen hilfreich ist, darauf zu fokussieren, ob und wie Patienten
jeweils mentalisieren – oder dies nicht tun (können).
Gruppenpsychother. Gruppendynamik 55: 118 – 130 (2019), ISSN 0017-4947 (print), 2196-7989 (online)
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Mentalisieren ist für uns so selbstverständlich, dass es schwierig ist, zu beschreiben


und zu verstehen, was Mentalisieren genau bedeutet. Leichter ist es, Mentalisierungs-
störungen zu beschreiben. Diese drücken sich in unterschiedlichen prämentalistischen
Modi aus, die übliche Erlebensweisen in der frühen Kindheit darstellen und im Laufe
der Entwicklung durch Mentalisieren integriert und überwunden werden.
• Teleologischer Modus: Für den Säugling ist eine gut funktionierende Umwelt
überlebenswichtig. Da er selbst nicht ausdrücken kann, was er braucht, muss die
Bindungsperson herausfinden, ob er Hunger, Durst oder Schmerzen empfindet.
Das mentale Erleben vollzieht sich hier allein auf physiologischer Ebene. Die Um-
welt muss funktionieren, um eigene innere Spannungszustände zu mindern.
In den persönlichen Beziehungen von bestimmten Patienten wird der teleo-
logische Modus bei Spannungen schnell aktiviert. So ist ein Patient in diesem
Modus beispielsweise sicher, unbedingt auf die Gegenwart anderer Menschen an-
gewiesen zu sein. Die Beziehungspartner erwarten jedoch, dass solche Wünsche
und Bedürfnisse gesteuert und kontrolliert werden und reagieren mit Ärger. Dies
kann schnell eskalierende Konflikte nach sich ziehen.
• Äquivalenzmodus: Wenn ein Kind Angst vor einem Tiger unter dem Bett hat, dann
geht es davon aus, dass tatsächlich ein Tiger unter dem Bett ist. Beruhigt der ge-
meinsame Blick mit dem Vater unter das Bett, kann die Angst wieder ansteigen,
wenn der Vater den Raum verlässt, weil „dann der Tiger wieder da ist“. Innere und
äußere Welt werden als identisch erlebt. Gefühle von Bedrohung im Erwachsenen-
alter, in denen innere Ängste „zur Realität“ werden, finden sich in deutlicher Aus-
prägung bei verschiedensten Patienten. In bedrohlichen Situationen können auch
ansonsten gut strukturierte Menschen im Äquivalenzmodus reagieren.
• Als-Ob-Modus: Etwa im Alter von vier Jahren beginnen Kinder Als-Ob zu spielen.
Hiermit entwickelt sich eine Welt der Phantasie, die von der äußeren Welt entkop-
pelt ist. Bei Erwachsenen zeigt sich der Als-Ob-Modus zum Beispiel in Dissozia-
tionszuständen oder – weniger deutlich – in einer rationalisierenden Sprache, die
den Kontakt zum affektiven Erleben verloren hat. Kinder spielen Als-Ob: Sie betre-
ten und verlassen das Spiel aktiv. Bei Erwachsenen ist das Spielerische der Kindheit
verloren gegangen. Der Als-Ob-Modus bestimmt das Denken und Erleben und
geht mit dem Fehlen von Gefühlen, insbesondere von Freude einher.

Mentalisierungsstörungen schränken die Verarbeitungsfähigkeit der Betroffenen


erheblich ein. Der Kern der mentalisierungsbasierten Therapie besteht darin, da-
rauf zu achten, dass beide Partner einer Kommunikation mentalisieren. Wenn dies
nicht der Fall ist, gilt es zunächst auf eine Wiederherstellung des Mentalisierens zu
fokussieren.
Dabei betonten die Autoren stets, dass sie keine neue Therapiemethode entwickelt,
sondern mit Mentalisieren nur einen spezifischen Fokus gesetzt hätten. Trotzdem hat
dieses Konzept zu Veränderungen geführt, wie Allen, Fonagy und Bateman (2011, S.
27) dies z. B. formuliert: „… das Konzept des Mentalisierens [hat mir] geholfen, meine
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Gedanken über das, was ich tue, zu klären; es hat meine Sicherheit im Prozess gestärkt
und dadurch vielleicht auch meine Effektivität auf subtile Weise verbessert“.
In der folgenden Arbeit wird beschrieben, dass es lohnend ist, auch die Zusam-
menarbeit in Organisationen unter dem Blickwinkel des Mentalisierens zu betrachten.
„Führen“ stellt dabei die besondere Verantwortung von Führungskräften einer Orga-
nisation in den Mittelpunkt. Gleichwohl haben alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter
Einflussmöglichkeiten, um Mentalisieren in einer Organisation und damit die Zusam-
menarbeit sowie die Zielerreichung zu verbessern. Dabei ist dies nichts grundsätzlich
Neues. Kompetente Führungskräfte und Mitarbeiter haben auch bisher – wie Psycho-
therapeuten – implizit mentalisierend zusammengearbeitet. Es bleibt abzuwarten, ob
unter der expliziten Perspektive auf Mentalisieren sich weitere Klärungen ergeben –
wie von Allen et al. (2011) beschrieben.
Auch wenn am Anfang eine Arbeitsdefinition von „Führen“ steht, kann hier
nicht in das Thema „Führen“ eingeführt werden. Ziel ist es, Mentalisieren in der
Zusammenarbeit von Mitgliedern einer Organisation als spezifischen Fokus zu
erläutern und mit Beispielen zu verdeutlichen.

2 Was bedeutet es, zu führen?

Ich schlage vor, „Führen“ oder auch den oder die „Führenden“ als „das Ich“ einer Or-
ganisation zu verstehen. Führung ist notwendig, um unterschiedliche Interessen, Mo-
tive und Werte der Mitglieder mit den Zielen einer Organisation abzugleichen. Weiter
ist es die Aufgabe von Führung, die Beziehungen zur Umwelt der Organisation zu
gestalten. Dabei geht es in beiden Bereichen – intern und extern – darum, „in Struk-
turen denken und handeln zu lernen und nicht nur in Personen und Beziehungen“,
wie Buchinger (1993, S. 31) dies vorschlägt. Dabei würde ich „Strukturen“ noch um
„Aufgaben“ ergänzen. In Anlehnung an Malik (2007, S. 33) schlage ich als Defini-
tion von Führung vor: Führung koordiniert die Zusammenarbeit von Menschen, um
aus Ressourcen (Geld, Wissen, Arbeitszeit etc.) Nutzen für die Umwelt der Organisation
(Kunden, Patienten) zu generieren. Hierzu gehört auch die Abstimmung über gemein-
same Ziele und Vorgehensweisen, wie diese Ziele erreicht werden sollen.
Um zu führen, ist es erforderlich, Entscheidungen vorzubereiten, diese in Maßnahmen
zu übersetzen und für deren Umsetzung zu sorgen. Anschließend gilt es, die Umsetzung
zu begleiten und zu kontrollieren. Die Auswirkungen sind wahrzunehmen und auf diese
ist erneut zu reagieren. In diesem Sinne findet Führen stets in Regelkreisen statt.

3 Entscheidungen können existenzielle Auswirkungen für Mitarbeiter haben

Entscheidungen von Führungskräften betreffen mehrere Bereiche, die ineinander


greifen:
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• Koordination der operativen Tätigkeit einer Organisation (Erbringen von Dienst-


leistungen, wie die Behandlung von Patienten, Produzieren von Gütern etc.).
• Weiterentwicklung dieser operativen Tätigkeit (z. B. Entwickeln und Einsetzen
neuer Verfahren und Vorgehensweisen).
• Organisation, Strukturierung und Unterstützung der Kommunikation und Zu-
sammenarbeit der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.
• Veränderung der Zusammensetzung von Teams, indem Mitarbeiterinnen und
Mitarbeitern eingestellt, versetzt oder auch entlassen werden.
• Dieser (letzte) Punkt ist von besonderer Wichtigkeit. Führungskräfte haben die
Macht, zu entscheiden, ob eine Mitarbeiterin oder ein Mitarbeiter (weiter) dazu-
gehört oder nicht. Damit haben Führungskräfte die Befugnis, Entscheidungen
zu treffen, die erheblich in die Existenz der Betroffenen eingreifen können. Wird
dies nicht sorgsam gehandhabt, können Ängste ausgelöst und verstärkt werden
– und zwar nicht nur bei den Beteiligten, sondern auch bei außenstehenden Mit-
arbeiterinnen und Mitarbeitern, indem diese von der Geschichte erfahren.
Indem sie Entscheidungen treffen und diese von ihnen und anderen kommu-
niziert werden, prägen Führungskräfte die Kultur einer Organisation. Dies hat
Auswirkungen darauf, ob Mitarbeiter sich Sorgen machen oder gar Angst entwi-
ckeln, die sich mentalisierungshemmend auswirkt.

Im Zentrum des oben genannten Verständnisses von Führung steht, dass Leite-
rinnen und Leiter eine moderierende und klärende Funktion haben. Es ist ihre
Aufgabe, Entscheidungen über Ziele und Vorgehensweisen zu strukturieren und zu
organisieren, nicht diese Entscheidungen (einsam) selbst zu treffen – auch wenn dies
in besonderen Situationen erforderlich sein kann.
Entscheidungen und nahezu alle Interaktionen in einer Organisation finden in
Gruppen statt und/oder wirken sich auf Gruppen aus. Damit ist Führung immer
auch damit verbunden, Gruppen zu leiten. Es ist die Aufgabe von Führung, Grup-
pen zu helfen, arbeitsfähig zu werden. Dies ist keineswegs von vorneherein gege-
ben (s. u. Arbeiten und Mentalisieren in Gruppen).
Nach außen ist es die Aufgabe der Führung, die Beziehung der Organisation zur
Umwelt zu gestalten. Die Organisation erbringt Leistungen für die Umwelt – die
Umwelt stellt Mittel zur Verfügung, die die Existenz der Organisation sichern.
In der Tavistock Tradition stellt dies die primäre Aufgabe einer Organisation dar
(Hirschhorn, 2000; Lohmer, 2000): Welchen Nutzen erwartet die Umwelt von der
Organisation? Wofür wird die Organisation bezahlt? Wozu ist die Organisation
da? Aus der Herausforderung, die in der Bewältigung dieser primären Aufgabe
liegt, resultiert Angst, die durch sinnvolle Aktionen konstruktiv gemildert werden
kann. Dies kann auch misslingen und führt dann zu psychosozialen Abwehrme-
chanismen – etwa einer eingeschränkten Fähigkeit, äußere Veränderungen wahr-
zunehmen und auf diese zu reagieren. Dabei sind diese psychosozialen Abwehr-
mechanismen mit Einschränkungen des Mentalisierens verbunden. Gleichzeitig
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wirken sich auch Einschränkungen der Mentalisierungsfähigkeit nachteilig darauf


aus, wie die Organisation mit der Umwelt interagieren kann.

4 Mit welchen Einschränkungen des Mentalisierens haben wir es in


Organisationen zu tun?

Kirsch, Brockmann und Taubner (2016, S. 70) beschreiben, „dass die Fähigkeit zur
Mentalisierung, auch wenn sie einmal erreicht wurde, wieder verloren gehen kann.
So können starke Stressoren und traumatische Erfahrungen zu einer Desintegration
und zu Rückfällen in prä-mentalisierende Stadien führen.“ Die Autoren überneh-
men folgende Differenzierung von Krüger (2015):
1. „vorübergehende, durch Aktualkonflikte ausgelöste Blockaden des Mentalisierens,
2. dauerhafte, durch neurotische Konflikte ausgelöste Blockaden des Mentalisie-
rens,
3. Identitätskonflikte, bei einer strukturellen Störung der psychischen Selbstorga-
nisation durch Defizite des Mentalisierens und
4. den Zerfall des Mentalisierens bei psychotischen Erkrankungen“ (ebd.).

Das Versagen des Mentalisierens entsteht aus einer Interaktion zwischen Indivi-
duum und Umwelt. Dabei liegen bei Punkt 2 bis 4 in der obigen Aufstellung die
Ursachen eher beim Individuum. Im Unterschied dazu entwickelt sich ein Mentali-
sierungsversagen im Rahmen von Aktualkonflikten, ohne dass es eines besonderen
„Entgegenkommens“ der Betroffenen bedarf. Natürlich gibt es auch Interaktionen:
Neurotische (2) und Identitätskonflikte (3) sowie die Entwicklung von psycho-
tischen Episoden (4) können durch aktuelle Konflikte ausgelöst oder verstärkt wer-
den. Auch werden bei Aktualkonflikten (1) manche Individuen stärker und andere
weniger stark (oder gar nicht) mit Mentalisierungsversagen reagieren.
Für die folgenden Überlegungen behalten wir die Gegenüberstellung „eher Ak-
tualkonflikt“ und „eher im Individuum liegend“ bei.
Kommt es bei Mitarbeitern zu Mentalisierungsversagen aus Gründen, die „eher
im Individuum“ liegen, so stellt sich die Frage der Personalauswahl und die An-
passung des Arbeitsplatzes an den Mitarbeiter oder die Mitarbeiterin.

5 Beispiel Mentalisierungsversagen bei (zunächst kompensierten)


strukturellen Defiziten

Eine Abteilung in einem Unternehmen entwickelt spezifische Softwarelösungen.


Ein fachlich sehr qualifizierter Mitarbeiter arbeitet weitgehend isoliert vom Ge-
samtteam, liefert allerdings stets pünktlich gute Ergebnisse ab. Ein neuer Leiter
übernimmt die Abteilung. Er findet es wichtig, dass im Team gearbeitet wird. Der
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Mitarbeiter soll sich mit anderen austauschen, an regelmäßigen Besprechungen teil-


nehmen. Es werden auch gemeinsame Aktivitäten zum „Teambuilding“ geplant. Der
Mitarbeiter fühlt sich zunehmend unwohl und unter Druck gesetzt. Er ist sich sicher,
dass der neue Chef es „auf ihn abgesehen hat“. Gefühle von Bedrohtheit nehmen
Realitätscharakter an (Äquivalenzmodus). Der Mitarbeiter entwickelt zunehmend
Konzentrationsstörungen und seine Arbeitsleistung sinkt. In einer Phase, in der er
arbeitsunfähig ist, entscheidet er sich, das Unternehmen zu verlassen; er findet eine
neue Stelle, in der er wieder weitgehend autonom arbeiten kann. Seine paranoiden
Vorstellungen und Arbeitsstörungen sind nach dem Wechsel kein Thema mehr.
Die Firma hat einen Leistungsträger verloren, nachdem der neue Abteilungslei-
ter von ihm Anpassungsleistungen in der Teamzusammenarbeit erwartete. Unter
diesen Anforderungen wurden strukturelle Defizite deutlich. Der Mitarbeiter ent-
wickelte paranoide Vorstellungen, die Teamsituation stellte für ihn einen beson-
deren Stressor dar. Unter dieser Belastung war er nicht mehr ausreichend in der
Lage, dafür einzutreten, die ursprüngliche Arbeitssituation wieder herzustellen.
Mentalisierungsversagen auf Seiten des Abteilungsleiters: Der Abteilungsleiter (AL)
hatte von seinem Vorgesetzten den Auftrag bekommen, „frischen Wind“ in die Soft-
ware-Entwicklung zu bringen. Die Stelle als AL war seine erste Führungsposition
und er sah sich selbst unter einem hohen Druck, die geforderten Ergebnisse zu lie-
fern. Teilweise entwickelte er Ängste, auch Schlafstörungen, wenn er daran dachte,
dass sein Teamprojekt scheitern könnte. Das musste einfach funktionieren (teleolo-
gischer Modus). Fast alle Mitarbeiter nahmen die Neuerungen erfreut an – bis auf
Herrn M. „Der wollte einfach seine alten Privilegien behalten“ – da war sich der AL
sicher (Äquivalenzmodus). Der AL war hier unter dem Druck, sich in seiner Füh-
rungsposition beweisen zu müssen, nicht (mehr) in der Lage, andere Hypothesen
über die inneren Vorgänge seines Mitarbeiters in Erwägung zu ziehen, geschweige
denn zu bilden. Er war nicht fähig, dessen Innenwelt zu mentalisieren.
Was hätte der Abteilungsleiter anders oder besser machen können? Er hätte in-
nehalten und für sich wahrnehmen können, unter welchen Druck er sich selbst
setzte und wie unerbittlich er gegenüber Herrn M. geworden war. Aus dieser Irri-
tation hätte er Distanz zu seinen „Gewissheiten“ finden können, eventuell, indem
er die Situation mit einem Außenstehenden, auch mit seinem eigenen Vorgesetz-
ten reflektiert hätte.
Der Vorgesetzte des Abteilungsleiters hatte diesem eine Vorgabe gegeben, die nicht
besonders präzise war: „Bringen Sie frischen Wind in die Abteilung“. Er überließ
es dem Abteilungsleiter, diese Aufgabe selbständig umzusetzen. Dabei berücksich-
tigte er nicht, dass dieser für die neue Position noch keine eigenen Erfahrungen
mitbrachte. Er reagierte enttäuscht, als Herr M. kündigte und nicht mehr zu be-
wegen war, doch zu bleiben. Es wäre seine Aufgabe gewesen, den Abteilungslei-
ter enger zu begleiten. Er hätte den Abteilungsleiter unterstützen können, seinen
hohen Selbstanspruch zu relativieren und die Fähigkeit (wieder) zu gewinnen, die
Situation von Herrn M. aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten.
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Leider kommt es häufiger vor, dass Mitarbeiter in ihrer ersten Führungsaufgabe


zu wenig Unterstützung „von oben“ bekommen, weil ihre eigenen Vorgesetzten
selbst unter einem hohen Arbeitsdruck stehen, sodass es ihnen ebenfalls nicht
gelingt, die Lage ihrer Mitarbeiter ausreichend zu mentalisieren. So mag der Vor-
gesetzte gedacht haben: „Das ist doch eine leichte Aufgabe – mit etwas Fingerspit-
zengefühl wird er das bei diesen interessierten und begabten Mitarbeiterinnen
und Mitarbeitern schon hinbekommen.“
In diesem Beispiel wurde das Mentalisierungsversagen eines Leistungsträgers
mit strukturellen Defiziten im Rahmen eines Veränderungsprozesses geschildert
sowie das partielle Mentalisierungsversagen einer (sonst psychisch unauffälligen)
Führungskraft unter einem hohen eigenen Leistungsanspruch und Ängsten, die-
sem nicht zu genügen, beschrieben.
Im Folgenden erörtern wir exemplarisch einen Gruppenkonflikt, der entsteht,
wenn eine Gruppe nicht ausreichend geführt wird. In diesem Zusammenhang kön-
nen ebenfalls erhebliche Einschränkungen des Mentalisierens beobachtet werden.

6 Aktualkonflikte in Gruppen, Mentalisierungsversagen in Folge


mangelnder Führung

Beispiel: Äquivalenz- und Als-Ob-Modus entwickeln sich im Gruppenkontext. In einer


Rehabilitationsklinik gibt es einen ärztlichen Bereitschaftsdienst, der 24 Stunden von
12:00 Uhr bis 12:00 Uhr am Folgetag dauert. Der Dienst wird in geringem Umfang
bei akuten Erkrankungen oder Notfällen nachts oder am Wochenende in Anspruch
genommen. Die Ärzte sind als Gruppe insgesamt zuständig, die Diensteinteilung
vorzunehmen. Es gibt keine Festlegung dafür, wer dafür verantwortlich ist, dass der
Dienstplan rechtzeitig erstellt wird. Auch ist niemand beauftragt, in Streitfällen zu
entscheiden. Die Dienste sind unterschiedlich attraktiv und belastend. Es kommt
immer wieder zu Konflikten zwischen den Ärzten und teilweise auch mit der Ärzt-
lichen Leitung, wenn es nicht gelingt, einzelne Dienste zu besetzen Die Ärztliche Lei-
tung ist der Auffassung, dass es „Sache der Ärzte“ ist, die Dienstplanung zu regeln.
Gelingt dies nicht, droht die Ärztliche Leitung, den Dienstplan selbst zu erstellen,
an den sich dann alle zu halten haben. Dies führt zu einem „Zusammenraufen“ der
Gruppe der Ärzte, sodass sich schließlich jemand findet – das heißt dem Druck der
Gruppe unterwirft – der einen noch offenen Dienst übernimmt („Einer ist immer
der Dumme“). Die Stimmung zwischen den Kollegen ist in Bezug auf die Dienstver-
teilung zum Teil gereizt und mit projektiven Zuschreibungen (Äquivalenzmodus)
verbunden. Andere ziehen sich zurück, gehen aus dem Kontakt und vermeiden jede
Auseinandersetzung – da sie ja ohnehin keine Chance auf Erfolg sehen – hier wirkt
sich eher der Als-Ob-Modus aus, der bis zur „inneren Kündigung“ gehen kann.
Die Ärztliche Leitung lässt hier die organisatorische Verantwortung für einen
wichtigen Bereich personell unbesetzt. Damit wird das Aushandeln der unterschied-
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lichen persönlichen Interessen der beteiligten Ärzte dem Prozess in einer Gruppe
von hierarchisch Gleichgestellten überlassen. Dies kann gut gehen, wenn einer der
Assistenten durch die Gruppe in einer informellen Führungsrolle akzeptiert wird
und wenn sich in der Gruppe klare Entscheidungsregeln für den Fall gegenläu-
figer Interessen herausbilden. Ist dies nicht der Fall, entwickeln sich unerfreuliche
Dauerkonflikte, die alle Beteiligten Kraft kosten und ihre Mentalisierungsfähigkeit
entscheidend beeinträchtigen. Auch kann der eine oder andere in eine schwierige
psychische Lage kommen, weil er sich aufgrund seiner Persönlichkeitsstruktur zu
schnell bereit erklärt, „um des lieben Friedens willen“ nachzugeben.
Eine solche Situation ist keineswegs selten. Häufig erfolgt seitens der Betrof-
fenen selbst und ebenso seitens der Leitung die Zuschreibung mangelnder Kom-
promissfähigkeit oder Problemlösekompetenz. Es kommt vor, dass in diesem
Zusammenhang – durch die Leitung, wie auch durch die Betroffenen – davon
die Rede ist, dass es um eine „Demokratisierung“ im Arbeitsbereich gehe, „denn
einen autoritären Stil wolle doch schließlich niemand“.
Dies geht nach unserem Verständnis an Sachverhalten und gruppendynamischer
Notwendigkeit vorbei. Funktionale Aufgaben- und Verantwortungszuordnungen
in Organisationen verringern Komplexität, tragen zu sachdienlichen Konfliktlö-
sungen bei und fördern damit das Mentalisieren, indem regressiven und para-
noiden Tendenzen in der Organisation vorgebeugt wird. Wird hierauf zu wenig
geachtet, entwickeln sich Gruppenprozesse in der zwischenzeitlich gut bekannten
eigenen Dynamik, die für die Zusammenarbeit häufig dysfunktional sind.

7 Arbeiten und Mentalisieren in Gruppen

Wie beschrieben, findet Führung überwiegend in Gruppen statt und wirkt sich auf
Gruppen aus. Die „Erfahrungen in Gruppen“ von Bion (1961/1990) und die Unter-
suchungen von Rice (1965) und anderen, für kleine, mittlere und große Gruppen
zeigen, dass sich in unstrukturierten Gruppen ohne weitere Mühe Grundannahmen
entwickeln. Die Grundannahmengruppe ist sofort da – das erfordert keine Anstren-
gung und Leitung! Soll gearbeitet werden, muss aus der Grundannahmengruppe
eine Arbeitsgruppe werden. Dieser Entwicklungsschritt benötigt Energie und Koor-
dination. Es ist die zentrale Aufgabe der Leitung, der Gruppe zu helfen, die Grund-
annahme zu überwinden und zu einer Arbeitsgruppe zu werden – und dies auch zu
bleiben. Dabei behalten Arbeitsgruppen in der Regel auch die Tönung einer Grun-
dannahme – allerdings bildet diese hier den Hintergrund der gemeinsamen Arbeit
und ist nicht Selbstzweck.
Im Folgenden ergänzen wir die drei Grundannahmen Bions um eine Beschrei-
bung der jeweiligen Mentalisierungsstörungen und geben Hinweise, wie die Grup-
pe jeweils darin unterstützt werden kann, zu einer Arbeitsgruppe zu werden.

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• Grundannahme Abhängigkeit
„Im Zustand der Grundannahme der Abhängigkeit ist die Gruppe überzeugt
davon, zusammengekommen zu sein, ‚um von einem Führer betreut zu wer-
den, von dem sie Schutz und Nahrung – materielle und geistige erhält‘ (Bion,
1961/1990, S. 107). Der Führer der Gruppe ist so etwas wie eine Gruppengott-
heit, der angeblich, nach undiskutierter und stiller Überzeugung, alles kann
und weiß …“ (Landis, 1996, S. 159).
In der Abhängigkeitsgruppe dominieren die Gefühle, von Depression, Resi-
gnation und Machtlosigkeit. Omnipotenzzuschreibungen an die Leitung wech-
seln mit heftigen Enttäuschungen und Gefühlen von Ohnmacht. Dabei erleben
sich die Gruppenmitglieder häufig der Macht dieser Gefühle ausgesetzt und be-
finden sich im Äquivalenzmodus. Resignation kann mit Unverbundenheit und
dem Als-Ob-Modus einhergehen. Dies stellt eine Abwehr und einen Schutz ge-
genüber den heftigen Gefühlen im Äquivalenzmodus dar. Charakteristisch für
die Grundannahme Abhängigkeit ist, dass diese „um ihrer selbst willen und
nicht um eines Zieles willen gepflegt (wird) – ja, Wachstum und Unabhängig-
keit, die Legitimationen vorübergehender Abhängigkeit, sollen gerade nicht
angestrebt werden“ (Landis, ebd.).
Die Aufgabe der Führung besteht in der Abhängigkeitsgruppe darin, die Ab-
hängigkeitsbeziehung zunächst anzunehmen, um diese in der Folge aufzulösen.
Hierzu ist es wichtig, der „Vermassung“ und Entindividualisierung aktiv entge-
genzutreten. Dies gelingt, indem Einzelne angesprochen werden und Aufgaben
zunächst in kleine Einheiten aufgeteilt werden. So entwickelt sich bei Einzelnen
und in der Folge auch bei der Gruppe insgesamt wieder ein Gefühl der Selbst-
wirksamkeit, das in der Grundannahme der Abhängigkeit verloren gegangen ist.
Dabei bleibt die Arbeitsgruppe auch weiter „abhängigkeitsgetönt“ – nur mit
dem Unterschied, dass es jetzt um die Stimmung einer Arbeitsgruppe geht und
nicht mehr um einen Zustand, der um seiner selbst willen angestrebt wird.

• Grundannahme Kampf/Flucht
„Die Gruppe im Zustand der Grundannahme Kampf/Flucht ist zusammen-
gekommen, um gegen etwas zu kämpfen oder davor zu fliehen, wobei sie zu
beidem unterschiedslos und blind bereit ist. Man schwelgt in Angst- oder ag-
gressiven Affekten (oder beidem), ob deren Thema nun die so modern gewor-
dene Weltuntergangsstimmung ist oder die ultimative Forderung nach Körnern
und Karotten statt Steak und Pommes frittes“ (Landis, 1996, S. 160). Als aktu-
elles politisches Thema kann hier die Auseinandersetzung um Geflüchtete und
muslimische Frauenkleidung genannt werden. Selbst wenn im aktuellen Alltag
kaum Geflüchtete oder Frauen in Burkas gesichtet werden, kann der Kampf
dagegen einerseits eine identitätsstiftende Funktion und andererseits die Funk-
tion der Verschiebung haben, da man Geflüchtete und Frauen in Burkas sehen
kann, während die Krise des Finanzsektors oder die Klimakatastrophe weniger
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sichtbar sind. Mit diesem gruppendynamischen Verständnis lässt sich erklä-


ren, warum Ausländerfeindlichkeit, verbunden mit dem Gefühl, „überrannt
zu werden“, gerade da besonders ausgeprägt ist, wo es keine oder sehr wenige
Ausländer gibt.
In der Kampf/Flucht-Gruppe dominiert der Äquivalenzmodus. Von außen ist
leicht zu erkennen, wie projektive Zuschreibungen aus „felsenfesten“ inneren
Überzeugungen vorgenommen werden. Dabei hat wohl jeder den Zustand, der
sich einstellt, wenn man Teil einer solchen Gruppe ist, schon einmal erlebt. Die
Gruppenüberzeugungen werden zu einigenden Gewissheiten, die Verbundenheit
schaffen und Sicherheit vermitteln.
Wie in der Abhängigkeitsgruppe, wird hier der affektiv aufgeladene Zustand
um seiner selbst willen erzeugt und erhalten. Gemeinsame getragene Ängste und
Aggressionen stiften Gemeinsamkeit und schützen vor Schlimmerem.
Wie kann es hier gelingen, dass eine Arbeitsgruppe entsteht? In der Abhän-
gigkeitsgruppe geht es darum, innerhalb der eigenen Gruppe zu individualisie-
ren und zu differenzieren. In der Kampf/Flucht-Gruppe ist dies gegenüber „dem
Feind“ erforderlich. Zentrales Ziel der Leitung muss es sein, die Gruppe anzu-
regen, den Gegner zu mentalisieren, das heißt die gegnerische Gruppe als An-
sammlung von Individuen mit unterschiedlichen Wünschen, Interessen und Mo-
tiven und einer jeweils eigenen Biographie wahrzunehmen. Damit dies gelingt,
muss der Leiter jedoch zunächst „einer von uns“ sein. Dies bedeutet, dass sie oder
er mit den Zielen und Affekten, die in der Gruppe vorherrschen, identifiziert ist.
Falls dies zu wenig der Fall ist, besteht ein hohes Risiko, der Gruppe der „Feinde“
zugerechnet und von der Gruppe ausgestoßen zu werden. Dies ist insbesondere
bei Veränderungsprozessen in Unternehmen wichtig, die von einer „feindlichen
Umwelt“ oder von einem „unfähigen Management“ in Gang gesetzt werden. Hier
kommt es für Führungskräfte zentral darauf an, hinter ihren Mitarbeiterinnen
und Mitarbeitern zu stehen. Übernehmen sie (zu) schnell die Notwendigkeiten
und Anforderungen von außen oder von oben, geschieht es ebenso schnell, dass
die Gruppe die Beziehung kappt, um die innere Einigkeit zu bewahren und das
Risiko, einen „Maulwurf “ in den eigenen Reihen zu haben, auszuschalten.

• Grundannahme Paarbildung
„Bei der Grundannahme der Paarbildung ist in der Gruppe ein eigentümlich
hoffnungsvoller und gespannter Charakter spürbar. … Die optimistischen Ge-
danken sind dabei leicht als Rationalisierungen erkennbar. Sie sind von der Art,
wie ‚dass die Ehe neurotischen Schwierigkeiten ein Ende machen würde; …
dass die bevorstehende Jahreszeit – sei es nun Frühling, Sommer, Herbst und
Winter – angenehmer sein werde und dergleichen mehr‘ (Bion, 1961/1990, S.
110). Die Hoffnung dient als sozusagen virtueller Führer dieser Gruppe, als in
der Zukunft winkendes Banner, an welchem sich Erlösungserwartungen fest-
machen; um deren Einlösung geht es jedoch nicht (Hervorhebung im Origi-
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nal), das ist der springende Punkt. Im Gegenteil geht es nur um das Gefühl
der Hoffnung als solches, um Hoffnung um ihrer selbst willen, in welcher man
schwelgen kann, ohne etwas dafür zu tun“ (Landis, 1996, S. 159).
Aus der Perspektive des Mentalisierens dominiert hier der Als-Ob-Modus.
„Hoffnung reicht aus, um satt zu werden“ – was natürlich auf Dauer keinen Be-
stand hat. Dies ist vermutlich der Hintergrund dafür, dass Gruppen auf der Grun-
dannahme der Paarbildung vergleichsweise selten sind. Historisch ist hier die Zeit
der Hippie-Bewegung in der Folge der 68er zu nennen, wobei im Rückblick die
Gefahr eines Umschlags in die Grundannahme „Kampf/Flucht“ (in Deutschland
vertreten durch die RAF, Bewegung 2. Juni und andere) deutlich wird.
In Unternehmen kommen Gruppen auf der Grundannahme der Paarbildung ge-
legentlich vor: etwa bei höchst innovativen Entwicklungsprojekten, mit denen „Neu-
land“ betreten werden soll. Hier kann es geschehen, dass eine Gruppe von Entwick-
lern sich über längere Zeit – befreit vom Druck des niederen Alltags – ihren kreativen
Ideen und hoffnungsvollen Phantasien hingibt. Natürlich ist ein kreativer (Frei-)
Raum für wirkliche Innovationen eine wichtige Voraussetzung. Das Problem begin-
nt, wenn der Kontakt „zum wirklichen Leben“ verloren geht und sich die Vorstellung
breit macht, „schon am Ziel zu sein“. Auf der Ebene der individuellen Psychodynamik
entspricht dies dem „ödipalen Triumph“. Dem kleinen Jungen gelingt es, den Vater
auszustechen und die Mutter für sich (immer wieder) zu erobern. Eine Arbeitsgrup-
pe in einer Organisation unter Grundannahme der Paarbildung wird früher oder
später mit der Realität konfrontiert, was meist mit einem bösen Erwachen endet.
Die Aufgabe der Gruppenleitung besteht darin, die Gruppe „aus dem Paradies
zu holen“. Dies geschieht am besten durch wiederholte „sanfte“ Konfrontation be-
züglich des Stands der gemeinsamen Arbeit und mit einem Vergleich angesichts
der gestellten Aufgabe. Es geht darum, die „große Aufgabe“ als Vision in der Zu-
kunft zu kommunizieren und gleichzeitig immer wieder transparent in kleine
Arbeitspakete aufzuteilen, sodass Fortschritt und Zielerreichung in immer neu
festgelegten Zwischenschritten nachvollzogen werden können. Moderne Metho-
den des Projektmanagements (z. B. Scrum) versuchen genau dieses zu leisten.

8 Mentalisieren – Wo beginnen?

In der Kommunikation mit schwer gestörten Patienten treten erhebliche Schwie-


rigkeiten auf. Das Mentalisierungskonzept wurde entwickelt, um diese Schwierig-
keiten besser zu verstehen und Methoden zu entwickeln, einen Zugang zu diesen
Patienten zu erlangen und so dazu beizutragen, dass sich stabile innere Strukturen
ausbilden. Ein Schlüssel hierzu ist, dass Psychotherapeuten immer wieder daran ar-
beiten, selbst ausreichend zu mentalisieren. Gleiches gilt auch für Führungskräfte
sowie Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Organisationen: Es kommt immer wie-
der – insbesondere bei Konflikten und in angespannten Situationen – darauf an,
Gruppenpsychother. Gruppendynamik 55: 118 – 130 (2019), ISSN 0017-4947 (print), 2196-7989 (online)
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Führen und Mentalisieren 129

sich des eigenen Mentalisierens zu versichern. Dabei ist die wichtige Frage, ob ich
noch in Verbindung mit den Menschen und Sachthemen in meiner Umgebung und
gleichzeitig in der Lage bin, unterschiedliche Perspektiven einzunehmen.
Hierzu noch zwei abschließende Beispiele – einmal für eine Führungskraft und für
einen Mitarbeiter in einer schwierigen Beziehungskonstellation zu seiner Vorgesetzten.
Beispiel temporärer Äquivalenzmodus: Ein Abteilungsleiter wird von einem
Mitarbeiter, der ausschließlich Nachdienst macht, am Abend um 22:30 Uhr an-
gerufen. Da der Abteilungsleiter frei hat, registriert er den Anruf erst um 23:00
Uhr und hört die Mailbox ab. Als er zurückruft, wirkt der Mitarbeiter gereizt und
latent vorwurfsvoll, weil er den Abteilungsleiter nicht unmittelbar erreicht hat.
Der Mitarbeiter fragt, wie eine bestimmte Aufgabe zu erledigen ist, was der Abtei-
lungsleiter schnell klären kann.
Der Abteilungsleiter ist sehr verärgert, schläft schlecht und regt sich die gan-
ze Nacht über „diesen unfähigen Mitarbeiter“ auf. Bereits vor Monaten wurde
ein nächtlicher Bereitschaftsdienst eingeführt. Der wird schließlich bezahlt und
dieser Mitarbeiter muss ihn zu Hause anrufen! Und außerdem hätte er auch über
die Aufgabe informiert sein müssen. Noch am Frühstückstisch regt er sich weiter
darüber auf – bis seine Frau sagt: „Vielleicht war er einfach nicht informiert …“
Verblüfft reibt sich der Abteilungsleiter die Augen. Daran hatte er überhaupt nicht
gedacht. Plötzlich ist er viel gelöster und nimmt sich vor, erst einmal herauszufin-
den, wie genau es zu dem Anruf kam.
Durch den Anstoß seiner Frau war es ihm gelungen, sich von seiner Überzeugung
der „Unfähigkeit dieses Mitarbeiters“ zu distanzieren und die Alternative, „der Mit-
arbeiter ist nur nicht informiert“ erstmals in Betracht zu ziehen, also die Fähigkeit
wieder zu gewinnen, verschiedene Möglichkeiten für denkbar zu halten.
Beispiel Umgang mit einer „schwierigen Chefin“: Eine Bereichsleiterin führt ein
Team von neun Abteilungsleiterinnen und Abteilungsleitern. Diese haben ihrer-
seits jeweils 8-20 Mitarbeiter. Wenn die Bereichsleiterin in der Abteilungsleiter-
runde von einem Thema überzeugt ist, verträgt sie keine andere Meinung. Bei
Widerspruch fühlt sie sich – insbesondere in der Gruppensituation – schnell ange-
griffen. Lenkt der widersprechende Abteilungsleiter nicht (schnell) ein, entstehen
heftige Auseinandersetzungen, die regelmäßig damit enden, dass die Chefin mit
einem „Basta“ eine Entscheidung trifft und deren Umsetzung anweist. Besonders
ein Abteilungsleiter fühlt sich immer wieder vor den Kollegen gedemütigt. Trotz-
dem „zieht er immer wieder erneut in den Kampf “ – anscheinend glaubt er, nur
so seine inhaltlichen Ziele erreichen und den Imageschaden der letzten Nieder-
lage wieder gutmachen zu können. Gleichwohl ändert sich nichts am bekannten
Ablauf. Die Bereichsleiterin fühlt sich durch den Widerspruch des Abteilungslei-
ters angegriffen – tatsächlich kann der Abteilungsleiter innerlich gar nicht mehr
anders als seine Ansichten in – zumindest unterschwellig – gereizt-aggressivem
Ton vorzutragen. Eine innere Empörung über das „unmögliche Vorgehen“ seiner
Vorgesetzten hat ihn fest im Griff (Äquivalenzmodus).
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Ganz anders geht ein Kollege vor: Dieser hat ein feines Gespür dafür entwickelt,
wann er mit der Chefin reden kann und wann er sie besser nicht anspricht. Bemerkt
er in einer Sitzung, dass die Bereichsleiterin fest eine bestimmte Richtung einschlägt,
zieht er seine Idee – etwa mit der Bemerkung, dass er noch einmal nachdenken
wolle – zurück. Mit einigem Abstand spricht er sie dann unter vier Augen an. So
entfällt die öffentliche Situation, in der sich schnell eine polare Gegenüberstellung
entwickelt, bei der beide Seiten jeweils eine Beschämung fürchten.

9 Fazit für die Praxis

Mentalisiere ich noch oder agiere ich blind?, ist eine Frage, die sich Führungskräf-
te und Mitarbeiter im Alltag immer wieder stellen können. Insbesondere in Span-
nungs- und Konfliktsituationen kann dies helfen, einer Eskalation entgegenzuwir-
ken und einen konstruktiven Austausch (wieder) in Gang zu setzen.

Literatur
Allen, J. G., Fonagy, P., Bateman, A. W. (2011). Mentalisieren in der psychotherapeutischen
Praxis. Stuttgart: Klett-Cotta.
Bion, W. R. (1961/1990). Erfahrungen in Gruppen und andere Schriften. Frankfurt am Main:
Fischer Taschenbuch Verlag.
Buchinger, K. (1993). Zur Organisation psychoanalytischer Institutionen: Psychoanalyse geht
nicht ohne, Psychoanalyse geht nicht mit. Oder doch? Psyche - Z Psychoanal, 47, 31-70.
Hirschhorn, L. (2000). Das primäre Risiko. In Lohmer, M. (Hrsg.), Psychodynamische Orga-
nisationsberatung (S. 98-118). Stuttgart: Klett-Cotta.
Kirsch, H., Brockmann, J., Taubner, S. (Hrsg.) (2016). Praxis des Mentalisierens. Stuttgart:
Klett-Cotta.
Landis, E. (1996). Führungsprinzipien – tiefenpsychologisch betrachtet. Psychotherapeut, 41,
156-162.
Lohmer, M. (2000). Psychodynamische Organisationsberatung. Konflikte und Potentiale in
Veränderungsprozessen. Stuttgart: Klett-Cotta.
Malik, F. (2007). Management: Das A und O des Handwerks. Frankfurt am Main: Campus.
Rice, A. K. (1965). Learning for Leadership. London: Tavistock.

Korrespondenzadresse: Peter Döring, Heidenküppelweg 17, 34128 Kassel; E-Mail:


beratung@peter-doering.de

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