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Integrative Bewegungstherapie

Internetzeitschrift für klinische Bewegungstherapie,


Körperpsychotherapie und bio-psycho-sozial-
ökologische Gesundheitsförderung
(peer reviewed)
begründet 1990 von Anne Schubert, Apostolos Tsomplektis, Hilarion G. Petzold, Martin J. Waibel
Herausgeber: Deutsche Gesellschaft für Integrative Leib- und Bewegungstherapie e.V. (DGIB e.V.),
Cornelia Jakob-Krieger, Geldern; Annette Höhmann-Kost, Ludwigsburg; Martin J. Waibel, Aulendorf;
Hermann Ludwig, Hannover; Hilarion G. Petzold, Hückeswagen

in Verbindung mit:
„Europäische Akademie für biopsychosoziale Gesundheit,
Naturtherapien und Kreativitätsförderung“
Materialien aus der EAG, 2001 gegründet und herausgegeben von:
Univ.-Prof. Dr. mult. Hilarion G. Petzold, Europäische Akademie für biopsychosoziale Gesundheit, Hückes-
wagen, Donau-Universität Krems, Institut St. Denis, Paris, emer. Freie Universität Amsterdam

© FPI-Publikationen, Verlag Petzold + Sieper Hückeswagen.


„Integrative Bewegungstherapie“ ISSN 1437–2304

Ausgabe 01/2008
Auf dem Weg zum Lernfeld Aggression –
oder wie man „richtig“ wütend wird

Auguste Reichel, St. Pölten P0F P

Erschienen in: Integrative Bewegungstherapie Nr. 1/2008


Aus der „Deutschen Gesellschaft für Integrative Leib- und Bewegungstherapie e.V. (DGIB)“, Im Obstgarten 6,
88326 Aulendorf, Tel: 07525-7449, Mail: info@ibt-verein.de, Leitung: Cornelia Jakob-Krieger, Geldern; Annette
Höhmann-Kost, Ludwigsburg; Martin J. Waibel, Aulendorf; Hermann Ludwig, Hannover; sowie der „Europäischen
Akademie für biopsychosoziale Gesundheit, Naturtherapien und Kreativitätsförderung“ (EAG), staatlich
anerkannte Einrichtung der beruflichen Weiterbildung, Hückeswagen (Leitung: Univ.-Prof. Dr. mult. Hilarion G.
Petzold, Prof. Dr. phil. Johanna Sieper. Mail: forschung@integrativ.eag-fpi.de, oder: info@eag-fpi.de, Information:
http://www.eag-fpi.com ).
Zusammenfassung: Auf dem Weg zum Lernfeld Aggression – oder wie man „richtig“
wütend wird
Das Lernfeld Aggression bedeutet für PädagogInnen, TherapeutInnen und Eltern die
persönliche Auseinandersetzung mit der eigenen Aggression, den kulturellen
Rahmenbedingungen und Normen, sowie Übungsmöglichkeit für Verhalten. Unsere Kultur
bietet dazu wenig an: Angstfreie Übungsräume, Konflikttrainingsangebote, reflektierte
Kampfkunst, kreative Bewegungsangebote, therapeutische Theaterarbeit. Dieser Beitrag
ist ein „kleiner Stein des Anstoßes“ zur konstruktiven Aggressionsarbeit.
Der Artikel steht konträr in der Diskussion zum Aggressionsbegriff in der Integrativen
Therapie (s. Höhmann-Kost u.a.) und stellt einen Beitrag zur diskursiven
Auseinandersetzung mit dem Thema dar.

Schlüsselworte: Integrative Bewegungstherapie, Aggression, Aggressionsarbeit, kreative


Aggression, destruktive Aggression, Kampfkunst, Diskussion zur Aggression.

Summary: Towards Learning Aggression - or how to become "right" angry


The learning field of aggression means for teachers, therapists and parents to deal
personally with their own aggression, the cultural framework conditions and norms, as well
as the opportunity to practice behavior. Our culture offers little to it: fearless practice
rooms, conflict training offers, reflected martial arts, creative exercise offers, therapeutic
theater work. This contribution is a "small stumbling block" for constructive aggression
work.
The article contrasts with the discussion on the concept of aggression in integrative therapy
(see Höhmann-Kost et al.) and represents a contribution to the discursive examination of
the subject.

Keywords: Integrative movement therapy, aggression, aggression work, creative


aggression, destructive aggression, martial arts, discussion on aggression.
Integrative Bewegungstherapie Nr. 1/2008 Seite 32 - 39

Auf dem Weg zur Lernfeld Aggression –


oder wie man „richtig“ wütend wird
Auguste Reichel, St. Pölten
„Auf die rechte Person, mit rechtem Maß,
zum rechten Zeitpunkt
und aus rechtem Grund böse zu sein-
das ist nicht leicht!“
Aristoteles

1 Vorbemerkungen wird damit sowohl als spannungslösende


Aktivität und Energie verstanden die zur
„Das ist nicht leicht … “ sagt Aristoteles und Selbstbehauptung dient, als auch zu Gewalt
das sagen viele PädagogInnen, Eltern und
TherapeutInnen. Sie erzählen in den Supervi- und Grausamkeit werden kann (Buchta 2004).
sionen und Fortbildungen, dass sie häufig in „Nicht alle Aggression ist Gewalt, aber alle
aggressiven Situationen mit Kindern in eine Gewalt ist Aggression“ (Hacker 1971, S. 15).
„wütende Hilflosigkeit“ geraten.
Der Umgang mit Aggressionen ist daher eines
der schwierigsten Themen im pädagogischen 2 Lernen durch Wahr-
Alltag. Das „rechte Maß“ für Aggression zu
finden, fordert Reflexion und alternative
nehmung und Reflexion
Handlungsideen.
Aggression wird in wissenschaftlichen Theo- Durch langjährige Begleitungen in Supervisi-
rien verschieden definiert und bewertet, vor- onen und Weiterbildungen mit LehrerInnen,
rangig jedoch als „absichtlich destruktives Kindergärtnerinnen und SozialpädagogInnen,
Verhalten“. Eine differenzierende Sichtweise, habe ich praxisnahe Strategien, Konzepte und
die Aggression mit „sowohl als auch“ bewer- Übungen entdeckt, entwickelt und zusam-
tet, ermöglicht einen adäquateren Umgang. mengefügt. Die hier beschriebenen Impulse,
Die Bewertung und Deutung von aggressivem Übungen und Strategien werden auf den diffe-
Verhalten wird nicht beliebig, sondern „auf renzierenden Aggressionsbegriff „vital und
der Grundlage sozial geteilter und mit einem destruktiv“ bezogen, mit dem Lernziel, „das
beachtlichen sozialen Konsensus vorgenom- Feuer der Aggression“ handhaben zu können.
menen Interpretationen“ reguliert (Mummen- Die Lernschritte und Übungen sind vor allem
dy 1992, S. 296 - 297). Die differenzierende für Fortbildungen mit Erwachsenen zum
Definition der Aggression verweist auf die Thema Aggression geeignet.
lateinischen Wurzeln des Begriffs und be- Als Rahmen für diese Vorgehensweise eignet
schreibt auch den Doppelaspekt von Aggres- sich eine mehrstündige Fortbildungsform, die
sion: „aggredi“, „aggressum“, was soviel außerhalb des Arbeitsfeldes stattfindet. Ein-
bedeutet wie „herangehen“, aber auch „an- zelne Teile sind auch in Gruppensupervisio-
greifen“, und sie wird auch als konstruktiv- nen einsetzbar.
schöpferische Energie gedeutet. Aggression 


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2.1 Reflexion mit bewegungsthe- 2.2.2 Wahrnehmen der Gefühle
rapeutischen Interventionen
Die Szene wird wieder „eingeschaltet“ und
Die bewegungstherapeutisch-hermeneutische gefragt:
Vorgehensweise ermöglicht, auf der Grundla-
ge eines biopsychosozialen Menschenbildes, - „Welche Gefühle sind mit diesen Empfin-
Affektregulation in der Akutsituation und soll dungen verbunden?“
dazu beitragen kreative, gewaltfreie Hand-
lungsmöglichkeiten zu entwickeln. In diesem Angst, Hilflosigkeit, Furcht, Wut, Trauer und
Artikel wird vor allem die übungs- und erleb- die Impulse Flüchten, Totstellen oder auch
niszentrierte Modalität beschrieben. Die auf- Angreifen als „Überlebensreaktionen“ werden
deckende und konfliktzentrierte Modalität ist benannt.
weiterführend möglich. - Die Gefühle werden mit nonverbalen Aus-
 drucksübungen verdeutlicht: „Wie fühlt sich
Angst an, Hilflosigkeit, Wut im Körper und
2.2 Szenisches Erfassen welche Bewegungsimpulse entstehen?“
Die TeilnehmerInnen der Fortbildung schrei-
ben – nach einer Einstimmung in das Thema
Aggression - eine Szene aus ihrem pädagogi-
2.2.3 Bewusstwerden der Gedanken
schen Alltag so präzise wie möglich auf. Da in und Bewertungen
der Akutsituation der Blick meist auf die Ge-
fahr gerichtet ist, kann in der exzentrischen Bei der Betrachtung der Szene aus der exzent-
Position der Reflexion, die „Dramaturgie“ der rischen Position werden die begleitenden
aggressiven Situation erfasst, verstanden und Gedanken bewusstgemacht:
erklärt werden. Die TeilnehmerInnen werden
eingeladen, sich die gewählte Szene „wie - „Welche Gedanken, Worte, Sätze blitzen
einen Film“ anzuschauen. auf, werden deutlich und wie fühlen sich diese
Gedanken an?“
 Häufige Sätze sind: „Darf ich das jetzt so
2.2.1 Wahrnehmen der körperlichen fühlen?“ „Was kann ich jetzt tun?“ „Was
Regungen und Empfindungen denken sich die Anderen?“ „Was ist richtig
und falsch?“
Die leiblichen, perzeptiven Empfindungen
und sensumotorischen Regungen werden in Eine vereinfachte Erklärung der neurophysio-
der Akutszene meist nur beiläufig wahrge- logischen Vorgänge, kann das unbewusste
nommen und auch abgewehrt, weil sie ängsti- Verhalten verstehbar machen:
gen.
- „Wie nehme ich meinen Körper, die Emp- Ein Reiz – die aggressive Szene – wird leib-
findungen in der rückblickenden Betrachtung lich wahrgenommen und blitzartig wird im
der Situation wahr?“ Stammhirn reagiert: Flucht, Angriff und ande-
Wahrgenommene Regungen und Empfindun- re instinktive Überlebensmuster sind aktiv, sie
gen können sein: Anspannung der Nacken- werden als unsteuerbar erlebt. Das limbische
muskeln, Hitzegefühle, Kribbeln oder auch System „bewertet“ die Situation als bedroh-
leichtes Frösteln, Spannungen im Kiefer, enge lich und reagiert mit Angst. Erst wenn die
Atmung usw. „Großhirnbewertung“ – „es ist doch nicht
gefährlich“ oder „das will ich jetzt tun“ –
bewusst wird, kann eine andere Handlung
gesetzt werden. Die Reflexion der aggressiven

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Situation aus einer exzentrischen Perspektive, - Wie hat sich die Szene abgespielt? Was habe
ist für die Akutsituation „notwendig“, da die ich selbst wahrgenommen, was haben die
Überlebensmuster meist keine „gewalt- oder anderen gesehen? Welche Rolle spielen die
angstfreien“ Lösungen zeigen. Die reflektierte „Braven", scheinbar nicht aggressiven Betei-
Handlung braucht jedoch Übung, sie muss in ligten? - Die Szenen können nun mittels Rol-
„Fleisch und Blut“ übergehen“, damit in A- lenspiel aufgegriffen, nachgespielt und insze-
kutsituationen anders reagiert werden kann. niert werden. Die Anleitungen dazu sind mög-
Gute Kampfkunst und Selbstverteidigungs- lichst einfach zu halten. Ziel ist das Verstehen
trainings sind hier beispielgebend. des Ablaufs und noch nicht die Veränderung.
Die Situation kann auch mit Symbolen, klei-
nen Figuren, Knöpfen usw. dargestellt und
2.2.4 Normen und Botschaften be- bearbeitet werden.
wusst machen
Emotionen sind kulturell geprägt und „ge- 2.2.6 Motive und Ursachen der
normt“. Diese Normen können in Konfliktsi- Handlungen
tuationen hinderlich und förderlich sein. Die
gemeinsame Suche nach den Botschaften aus
der eigenen Kindheit und Jugend ist auf- Nach dem Erfassen der szenischen Situation
schlussreich. wird der Fokus auf das Verstehen des Verhal-
- Partnergespräch: Die TeilnehmerInnen er- tens der Beteiligten gerichtet.
zählen einander Szenen aus der Kindheit, in - Welche Ursachen haben die aggressiven
denen sie selber wütend, aggressiv u.a. waren Reaktionen, was wollte der Aggressor, die
oder Aggression erlebt haben. Eine Atmo- Aggressorin ausdrücken, welche spannungs-
sphäre des Vertrauens sollte vorhanden sein, geladenen Atmosphären waren unmittelbar
denn es können auch traumatische Erlebnisse vor der Aktion? Welche Funktion hatte die
auftauchen. Der Hinweis, achtsam zu ent- aggressive Äußerung? (Mittelpunkt, Span-
scheiden was man erzählt, ist beruhigend. Die nungslöser, Ablenkung...)
erinnerten Botschaften zur Aggression werden
gesammelt, notiert und dann in der Gruppe Identifikation mit Rollenspiel: die PädagogIn
vorgelesen. kann sich in die aggressive Person einfühlen,
- Diese Sätze und Botschaften, wie z.B.: „gib die Haltung einnehmen, die Bewegungen
nach“, „streitet nicht“, „sprecht miteinander“, nonverbal nachvollziehen, um dadurch die
„sei nicht so böse“, können als Impulse für Emotionen und die Not zu verstehen. In der
eine nonverbale Improvisation verwendet Bearbeitung der Situation aus verschiedenen
werden. Gegensätzliches Verhalten wird ange- Perspektiven, ergeben sich umsetzbare Lö-
regt und damit kann experimentiert werden: sungen.
richtig streiten, laut schreien, kämpfen, aus-
weichen, Angst zeigen, davonlaufen...

2.2.5 „Dramaturgie“ der Situation


erfassen

Die TeilnehmerInnen nehmen nun ihre no-


tierte Szene wieder her und versuchen eine
Analyse der Situation:

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3 Lernen durch Übung:  3.2 Erfahrung des Eigenraumes
Übungs- und erlebniszentrierte
Der persönliche Raum beginnt beim Körper
Anleitungen zum Thema Ag- und seinen Hautgrenzen, wird zum Greifraum
gression und Bewegungsraum. Raum entsteht durch
Begrenzung. An der Grenze ist Berührung und

Trennung zugleich und dort wird Kontakt,
3.1 Neue Verhaltensmöglichkei- Nähe und Distanz erfahren. Wenn diese Gren-
ten verleiblichen zen nicht respektiert werden, entstehen Kon-
flikte und Verletzungen.
Der Umgang mit Aggression braucht ein krea- „Aufrichtung“ und Respekthaltung wie auch
tives und selbstwirksames Denk- und Hand- Abgrenzung sind wichtige Übungen zum
lungsrepertoire. Schutz vor Übergriffen, aber auch bei Ausei-
- Wahrnehmen in der Situation. Sich selbst nandersetzungen.
erlauben, dass es im Moment keine bessere
Lösung dafür gibt. Erkennen der Hilflosigkeit, Lernziele:
Angst und Handlungsunfähigkeit bedeutet
noch keine Unfähigkeit als Erziehungsperson. * Persönliche Grenzen erkennen und verdeut-
- Übung: Standpunkt einnehmen, zentrieren, lichen: Eigenraum des Körpers, Intimzone,
Achtsamkeit auf den Atem legen, Respekt.
* Soziale Grenzen erfahren und verändern:
innere und äußere Distanz herstellen, Durch- Macht und Revierraum, Eigentum.
atmen, in Abstand gehen, Ärger wahrnehmen. * Emotionale Grenzen wahrnehmen und ver-
deutlichen: Respekt, Eigensinn, Selbstwert,
- Übung: Spannungslösende Bewegungen, Selbstbestimmung.
Gesten und Vorstellungen.
- Übungsanleitung: Die TN suchen sich einen
Verbunden damit soll ein achtsames, deeska- Platz im Raum, in dem sie die Arme ausbrei-
lierendes Verhaltensrepertoire abrufbar sein: ten können und ziehen einen Kreis mit den
Konfrontieren, ausweichen, beruhigen, fest- Händen um sich herum. Dies ist der „Eigen-
halten, um Hilfe rufen etc. Die Wahrnehmung raum“. Dieser wird mit Schritten und Bewe-
der Angst wie auch Angriffsfähigkeit und eine gungen „besetzt“, „markiert“ (Revier).
gute Einschätzung der Gefahr, wird in
Vorstellungs- und Bewegungsübungen erlernt. - Weiter und enger Raum: sich Raum neh-
men, ausweiten im Gegensatz zu eng und
keinen Raum nehmen, angemessenen Raum
nehmen und wechseln zwischen Weite und
- Übungen: Abgrenzende Gesten, Stopps, Enge, Körperwahrnehmung beachten.
Stimme variieren, Blickkontakt regulieren etc.
und auch Weglaufen, Ausweichen; grundsätz- - Raum und Revier verteidigen: wechseln der
lich Übungen aus einer guten und reflektierten Rollen zwischen angreifen und verteidigen.
Kampfkunst.
- verschiedene Strategien des Angreifens
Die folgenden Basisübungen ermöglichen die üben: freundlich, indirekt, bettelnd etc. non-
Differenzierung zwischen destruktiven und verbal…und beobachten, wo die Grenze halt-
vitalen Aspekten der Aggression. bar ist und wo sie verloren geht.

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3.3 Konfrontation und Selbstver- 3.4 Entscheidungsfreude und
teidigung Willenstraining
Konfliktfähigkeit erfordert guten Stand, Ba- Lernziele:
lance und Beweglichkeit. Diese leibliche Der vitale Aspekt von Aggression ermöglicht
Erfahrung soll auch im Alltag wirksam wer- zupackende Angriffslust auch in Bezug zu
den. Aufgaben- und Problemstellungen. Aggressi-
 onsgehemmten Menschen fällt es schwerer,
Lernziele: Entscheidungen zu treffen. Die „Angriffsim-
Balance ist eine bewegliche Haltung. Diese pulse“ sind verschüttet und mit Angst verbun-
erfordert guten Bodenkontakt und flexiblen den. Diese können wieder „hervorgelockt“
Umgang mit dem Gleichgewicht. Der leibli- werden. Mit solcherart kraftvollen Impulsen
che Ausdruck einer zentrierten Aufrichtung ist auch die Willensentwicklung verbunden.
wirkt auf ein Gegenüber sicher und gleichzei- - Übungsanleitung: Herangehen
tig offen und selbstbewusst. Das Wort „Herangehen“ bietet viele Aus-
- Übungsanleitung: Stehen in Balance drucksmöglichkeiten: entschieden, zögerlich,
Die Achtsamkeit geht vom Kontakt der Füße zielgerichtet, verhalten etc. Der meist lustvolle
zum Boden zur Aufrichtung, über die Beine Bewegungsimpuls „von innen nach außen“,
zum Becken, Betonung des Tiefstandes, (Vor- von mir weg in den Raum, soll im Unter-
stellung: unter dem Steißbein steht ein Hocker schied zur Rückzugsbewegung erfahren wer-
auf dem man „im Stehen sitzt“). Dann geht den. Die Ausdrucksbewegungen werden an-
die Achtsamkeit weiter zur Aufrichtung der fangs am Platz und dann durch den Raum
Wirbelsäule, zum Nacken und Kopf, über das durchgeführt.
Gesicht zur Körpermitte und Atembewegung. - Übungsanleitung: Zupacken, festhalten
Alle TeilnehmerInnen haben eine Decke, die
Diese Grundhaltung kann nun als Ausgangs- gut mit den Händen zu halten ist. Sie begeben
punkt für verschiedene Konfrontationsübun- sich auf den Boden und „besetzen“ ihre Decke
gen mit Bewegung verwendet werden. und versuchen, sich in das Verhalten eines 1-2
- Übungsanleitung: Gehen und konfrontieren jährigen Kindes einzufühlen. Die Spielenden
- Kreuz und quer durch den Raum gehen und werden angeregt, neugierig zu sein und sich
einander ausweichen: höflich, ängstlich, dis- andere Decken anzueignen, wie kleine Kinder
tanziert, schüchtern, neugierig die zwischen „Mein und Dein“ noch nicht
- gehen und sich breit machen, jeder geht sosehr unterscheiden und alle erreichbaren
seinen Weg Objekte haben wollen.
- einen Punkt im Raum ausdenken und ziel- - Die eigene Decke wird verteidigt und andere
gerichtet und schwungvoll darauf zugehen Decken sollen erobert werden. „Ich will (ha-
- direkt auf jemanden zugehen, stoppen und ben)“ wird aktiviert und erlaubt. Wichtige
dann weitergehen Regel: es darf nur am Boden gekämpft wer-
- anrempeln, den Anderen schubsen und dabei den! Die Reflexion dieser Spiel- und Körper-
selbst in Balance bleiben erfahrungen kann in Bezug zum Alltag oder
- zu zweit: Einer geht vor, der Andere nach, der Lebensgeschichte erfolgen.
der Vordere dreht sich plötzlich um und lässt „ Was war mein, was durfte ich nehmen, fest-
einen lauten Schrei los, stoppt dabei, der An- halten? Wie konnte ich mich durchsetzen?
dere stoppt ebenso, ohne „umzufallen".

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3.5 Respektvoller Umgang im
Kampf und im Konflikt
Lernziel:
Eine häufige Ursache für destruktive Aggres- - Die Partner im Innenkreis drehen sich mit
sion ist die Nichtbeachtung persönlicher dem Gesicht nach innen, schließen die Augen
Grenzen. Die Kampfkunst bietet mit ihren und die im äußeren Kreis nehmen eine An-
ritualisierten Kampfformen ein gutes Beispiel griffshaltung ein. Auf ein Signal hin drehen
für den respektvollen Umgang mit dem sich die Partner aus dem Innenkreis um und
Kampf - Gegner. Die Verneigung vor und reagieren nonverbal auf die Angriffshaltung.
nach dem Kampf bedeutet: „Danke, dass du - Standpunkt einnehmen. Dieses Mal bringt
deine Kraft zur Verfügung gestellt hast, so ein Partner den Anderen mittels Berührung,
konnte ich auch meine Kraft stärken“. Diese Schubsen aus der Balance. Der/die PartnerIn
Haltung wäre für alle Arten von Kampf, versucht die Balance zu halten.
Streit, Konflikten sinnvoll, da damit „Siegen - Standpunkt einnehmen. Der Partner des
und Verlieren“ unwesentlich werden. Heftige Innenkreises tritt einen Schritt nach hinten
Emotionen brauchen einen guten Rahmen, und streckt seinen Arm nach vorne aus, um
daher sind die Übungen in dieser Form gut den Respektabstand festzulegen. Danach tritt
regulierbar und wirken deeskalierend. der äußere Partner einen Schritt näher und
versucht die Grenze des Anderen zu über-
- Übungsanleitung: „Aggressionskarussell“ schreiten. Dieser signalisiert mit einer Geste
Die Reihenfolge oder Inhalte können je nach das klare „Nein“.
Gruppe verändert werden. - Standpunkt einnehmen und Eigen-
Wichtig ist, dass das „Ritual“ eingehalten Raumgrenze festlegen. Der Partner greift an,
wird, so bleiben die Übungen zeitlich be- der andere Partner reagiert mit einem klaren
grenzt und überschaubar. Wort: „Nein“, „Stopp“ oder „Aus“.
Zwei Partner stehen einander gegenüber und - Standpunkt einnehmen. Ein Partner versucht
bilden mit den anderen Paaren einen Doppel- den anderen Partner in den Raum zu ziehen,
kreis. Bei ungleicher Zahl eine Dreiergruppe dieser setzt körperlichen Widerstand dagegen
bilden, wobei zwei davon im Innenkreis blei- und ruft „Nein“.
ben. Jede Übung beginnt und endet mit einer - Standpunkt einnehmen und mit dieser Hal-
Verneigung, die Respekt vor dem Gegenüber tung gedanklich in den Alltag gehen, sich die
ausdrückt. Die Leiterin sagt die Übung an und Reaktionen vorstellen und dann mitteilen.
diese soll genau ausgeführt werden. Jede - Abschließend frei durch den Raum gehen
Übung wird mit Rollenwechsel durchgeführt und sich eine hilfreiche Körperhaltung einprä-
(Innen- und Außenkreis). Es beginnt immer gen, wiederholen und abschließen.
der Außenkreis. Verneigen am Ende jeder
Übung und die Partner des äußeren Kreises
gehen nach rechts weiter und treffen dort auf
eine/n neue/n Partner/in, wieder begrüßen und
verneigen.
- Übungsvorschläge: Einander gegenüberste-
hen und einen Standpunkt einnehmen: Auf-
recht stehen, einander anschauen und danach
respektvoll rückmelden, wie man sein Gegen-
über in der Aufrichtung wahrnimmt.
- Standpunkt einnehmen und einen Schritt
aufeinander zu gehen, nicht ausweichen!

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4 Spezielle Strategien für die
Arbeit mit Kindern

„ Der reißende Fluss wird gewalttätig


genannt,
aber das Flussbett, das ihn einengt,
nennt keiner gewalttätig.“
Bertold Brecht

In Schule, Kindergarten und Freizeit wird zur Gewalt, sie können jedoch Gewalt ver-
Aggression gelebt: die Grenzen zwischen deutlichen helfen. Kinder spielen das nach,
absichtlichem Zerstören und lustvollem was sie im TV, bei Erwachsenen etc. sehen,
Kämpfen ist für die verantwortlichen Erwach- sie können es im Spiel „entladen“ und danach
senen oft nicht sofort sichtbar. Ein reflektier- besprechen und unterscheidenlernen zwischen
ter, angstfreier und klarer Umgang der Er- Spiel und Wirklichkeit.
wachsenen mit Aggression - siehe voriger
Abschnitt - ermöglicht auch den Kindern ihre - Sich schützen lernen: Selbstverteidigung ist
Eigenverantwortung bezüglich Aggression zu richtig, Kinder brauchen Möglichkeiten Wi-
finden. Einige praktische Anregungen für den derstand zu leisten, sei es gegen Erwachsene
schulischen oder vor-schulischen Rahmen oder Kinder. „Nein“ sagen stärkt das Selbst-
sind hier aufgelistet: wertgefühl. Spiele mit Tierrollen oder Sym-
- Regeln im Umgang mit Aggression bei Spie- bolgestalten sind unterstützend.
len klären, absichtliches Verletzen ist nicht
gestattet (Stoppregeln, gelbe oder rote Karte), - Abreaktionsmöglichkeiten suchen: Wutecke,
Sanktionsmöglichkeiten vereinbaren und Ball, „Mistkübel“, Rituale... klare Formen und
einhalten. Grenzen helfen heftige Gefühle zu kanalisie-
- Raum geben für vitale und spielerische Ag- ren.
gression: Kampfspiele, Ballspiele, laut sein,
kraftvolles Bewegen und Abenteuer, tanzen, - Rollenflexibilität: Kinder nicht in ihrer ag-
schreien, werfen... gressiven Rolle fixieren: „immer der, schon
wieder der, die...“. Die Zusammenhänge, wie
- Körperkontakt entsteht über kraftvolle aggressive Handlungen in Gruppen entstehen,
Kampfspiele, vor allem bei Buben/Jungen ist auch mit den Kindern ev. nachspielen und
es eine Möglichkeit einander zu berühren. neue inszenieren.
Verschiedene Arten von Berührungen erfah-
ren dürfen, soziale und kulturelle Bewertun- Rahmenbedingungen bedenken: zuwenig
gen ansprechen lernen. Rückzug kann aggressiv machen, Gruppen-
größen über 12 Kinder sind bereits anstren-
- Lösungen entwickeln: über Rollenspiele gend für alle. Strukturen helfen steuern.
Variationen üben, ohne gleich friedvoll, sanft Teamarbeit!
sein zu müssen, Umgangsformen finden, die
man lieber hat (miteinander so umgehen, wie
man es an sich selbst erleben möchte). Das
„Theater der Unterdrückten – Forumtheater“
(Augusto Boal) bietet hier eine sehr wirksame
interaktive Methode für Konfliktlösungen.

- Nachspielen und verstehen: Kindliche Waf-


fenspiele sind nicht automatisch Anleitungen

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5 Wo sind die kreativen Lern- Auguste Reichel, René Reichel „Mit Angst,
Lust und Aggression leben“ –, 2005,; Ökoto-
felder für Aggression? pia Verlag Münster

Das Lernfeld Aggression bedeutet für Päda- Martin Waibel, Cornelia Jakob Krieger, „Inte-
gogInnen, TherapeutInnen und Eltern die grative Bewegungstherapie“, 2009 Stuttgart
persönliche Auseinandersetzung mit der eige- Schattauer Verlag
nen Aggression, den kulturellen Rahmenbe-
dingungen und Normen, sowie Übungsmög-
lichkeit für Verhalten. Unsere Kultur bietet Mummendey,A., „Aggressives Verhalten“ in
dazu wenig an: Angstfreie Übungsräume, Stroebe u.a. „Sozialpsychologie“, 1992, Ber-
Konflikttrainingsangebote, reflektierte lin, Verlag Springer
Kampfkunst, kreative Bewegungsangebote,
therapeutische Theaterarbeit. Es gäbe viel zu Anneliese Buchta, „Aggression von Frauen“,
tun! Dieser Beitrag ist hoffentlich ein „kleiner 2004, Hrsg. Wolfgang Mertens, Stuttgart,
Stein des Anstoßes“ zur konstruktiven Ag- Kohlhammer .
gressionsarbeit.
Winnicott D.W., „Von der Kinderheilkunde
zur Psychoanalyse“, 1983, Frankfurt

Rückmeldungen und Austausch: Heyne Claudia, “Täterinnen”, 1993, Zürich


auguste@reichel-reichel.at
Schwarz Gerhard, „Die heilige Ordnung der
Männer“, 1987, Opladen, Westdeutscher Ver-
lag

Hacker Friedrich, „Aggression“, 1971, Wien,


Molden
Literatur und Empfehlungen
Petzold Hilarion, „Budo Künste als Weg und
therapeutisches Mittel in der Körper- und
Hans-Peter Nolting „Lernfall Aggression“ –; Bewegungsorientierten Psychotherapie, Ge-
2004, Rowohlt Taschenbuch Verlag sundheitsförderung und Persönlichkeitsent-
wicklung..“ In „Integrative Therapie“, 1-2,
Herbert Selg, Ulrich Mees, Detlef Berg „Psy- 2004 Paderborn, Junfermann Verlag
chologie der Aggressivität“ –; 1988, Verlag
für Psychologie, Dr. C.J. Hogrefe Göttingen Petzold H., „Aggressionen: Perspektiven
integrative Therapie Impulse zu Diskursen“ in
George R. Bach, Herb Goldberg „Keine Angst Mitgliederrundbrief DGIK und DGIB 1, 2003.
vor Aggression“ –; 1990, Fischer Taschen-
buch Verlag

Gertrud Schröder, Thomas Brendel „Affekt-


Kontroll-Training“ – 2004,; Verlag Books on
Demand GmbH, Norderstedt

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