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2017
Panagl, Oswald, "Der Text als Gewebe: Lexikalische Studien im Sinnbezirk von Webstuhl und Kleid" (2017). Textile Terminologies from
the Orient to the Mediterranean and Europe, 1000 BC to 1000 AD. 31.
http://digitalcommons.unl.edu/texterm/31
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Der Text als Gewebe: Lexikalische
Studien im Sinnbezirk von
Webstuhl und Kleid
Oswald Panagl
D
ie Thematik des folgenden Beitrags ist pragmatisch im Vordergrund standen. Die Kehrseite
gleichsam doppelt gepolt. Sie ist zunächst der semantischen Analyse ist bekanntlich das sema-
im terminologischen Feld der Prozesse, In- siologische Procedere, in dem Lexeme bzw. Syntag-
strumente und Produkte der Sachbereiche von We- men ihre sprachlichen Merkmale preisgeben. Erst das
ben und Flechten verankert. Zugleich ist sie auch in Zusammenspiel der beiden Vorgangsweisen ergibt ein
den metaphorischen Verwendungsweisen der zuge- Resultat, das als aufschlussreiches semantisches Pro-
hörigen Sinnbezirke bzw. Wortfelder, also im weit- fil gelten darf.
gespannten Horizont der Herstellung von Stoffen, Was sich für das Weben und die Herstellung von
Tüchern und Gewändern verortet. „Vom Textil zum Textilien behaupten lässt, gilt ebenso für die Praxis
Text“ ließe sich die Intention des Artikels bündig zu- des Dichtens. Diese nach unserer modernen Einschät-
sammenfassen: Dabei verläuft also die Richtung der zung geistige Tätigkeit wurde in der durch alte Texte
Bedeutungsentwicklung des Produkts in ihrer Ten- zugänglichen Frühzeit als Handwerk empfunden oder
denz gegen den Vorgang der zugehörigen morpho- schien sich - als ein alternatives Extrem - göttlicher
logischen Ableitung. Inspiration zu verdanken. Ein spezifischer, verbind-
Ich möchte mich meinem Vorhaben zunächst mit licher allgemein gültiger Wortschatz, wie er sich für
einem Blick auf die bekannten beiden konversen Zu- manuelle Verrichtungen oder kriegerische Vorhaben
gänge zur Semantik von Einzelwörtern und lexikali- herausgebildet hat, scheint in diesem Segment des
schen Systemen zuwenden.1 Das onomasiologische geistigen Überbaus zu fehlen. Und gerade dieses De-
Verfahren untersucht die Bezeichnungsweise be- fizit erklärt den späteren metaphorischen Gebrauch
stimmter Gegenstände, Vorgänge oder Sachverhalte oder - mit anderen Worten - die sekundäre Sublimie-
und wirft dabei ein Licht auf die Benennungsmotive, rung von professionellen Handgriffen und techni-
die für die Prägung der einschlägigen Ausdrücke we- schen Abläufen zur Beschreibung geistiger Leistun-
sentlich waren und für deren ‚Erfinder‘ mental bzw. gen und künstlerisch-kreativer Vorgänge.
413
414 Oswald Panagl in Textile Terminologies (2017)
Das Lexikon ausgewählter Synonyme indoeuro- skald, ae. scop, ahd. scof, mhd.
päischer Sprachen, als kollektives Nachschlagewerk tihtaere, poête, lit. poėtas, skr.
unter der Leitung von Carl Darling Buck2 in Chicago pjesnik, russ. poet, stichotvorec, ai.
entstanden, stellt den ehrgeizigen Versuch dar, For- kavi-
schungsergebnisse der linguistischen Einzeldiszipli-
Auch in diesem Bereich dominieren die Unter-
nen zu sammeln, aufzubereiten und einer interessier-
schiede vor den Gemeinsamkeiten, die sich ihrerseits
ten breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen.
zumeist sekundären Lehnbeziehungen verdanken, wie
Die einzelnen Sprachen sind dabei unterschiedlich
die Verbreitung von gr. ποιητής z.B. im lateinischen,
ausgewertet und dokumentiert: Die später entdeck-
mittelhochdeutschen, slawischen und litauischen Le-
ten und philologisch aufbereiteten Idiome erscheinen
xikon darlegt. Das alternative lateinische Wort vātēs,
darin unterrepräsentiert, und nicht alle vorgeschla-
das man mit einem Etymon „wehen“ in Verbindung
genen Etymologien sind nach dem neuesten Stand
bringen wollte, wurzelt wohl im kultisch-magischen
der Forschung stichhaltig. Dennoch eignet sich das
Bezirk. Es bezeichnete in älterer Zeit ein eher un-
Werk noch heute für einen ersten Blick auf die kom-
heimlich-dämonisches Wesen, einen Hexer quasi, ehe
paratistische Gliederung und verbale Besetzung ei-
es in der augusteischen Periode zu einem besonders
nes thematischen Bereichs. Was ich unter (1) in Aus-
rühmenden Ausdruck für den inspirierten und begna-
wahl vorstelle, sind Bezeichnungen für das Weben in
deten Autor aufstieg.4
einer Reihe von verwandten Sprachen, die allein in
Geht man, sofern die einzelnen Bezeichnungen
dieser Auflistung völlig unterschiedliche Wurzeln er-
überhaupt sicher gedeutet sind, auf ihre Benennungs-
kennen lassen. Auch Sprachzweige, die sonst häufig
motive ein, so zeichnen sich einige Schwerpunkte
vergleichbare Wege gehen, zeigen in diesem Fall an-
bzw. ‚Nester‘ oder Konvergenzen ab, die gleichsam
deres Wortmaterial.
einen onomasiologischen Pfad säumen. Der Dich-
(1) Buck (1949): 6.33 WEAVE ter erscheint dabei vor allem als „Macher“ bzw. ge-
(Auswahl) - gr. ὑφαίνω, lat. texere, nauer als „Schöpfer von Versen“; eine jüngere Kul-
ir. figim, an. vefa, ae. wefan, ahd. turstufe setzt ihn mit der Tätigkeit des Schreibens
weban, lit. áusti, aksl. tъkati, ai. u- gleich, auch „Sänger“ wird er apostrophiert oder mit
prophetischen Gaben bedacht. Ein besonderer Fall ist
Ich verweise, ohne auf etymologische Details ein-
der Name Dichter und das zugrundeliegende Verbum
zugehen, auf die Varianten im germanischen, balti-
dichten im Deutschen. Es gehört nicht in einer Lesart
schen und slawischen Bereich sowie auf die latei-
„dicht machen, verdichten“ zum Adjektiv dicht, son-
nisch-keltische Evidenz. Über die Differenzierung
dern ist ein frühes Lehnwort aus lat. dictāre „wieder-
einer gleichen Wurzel durch morphologische Ver-
holt sagen, ansagen“ und gewährt damit gleichsam ei-
änderungen oder Erweiterungen, etwa im Verhältnis
nen Blick in die Werkstatt dieses Berufs.
zwischen den griechischen, germanischen und altindi-
schen Formen, informieren in Einzelheiten jeweils die (3) - themo dihtôn ih thiz buah (Otfrid,
entsprechenden etymologischen Nachschlagewerke.3 Widmung an König Ludwig, 82)
Ein vergleichbar heterogenes Bild bietet Bucks - dizze buoch dihtôte zweier kinde
Liste zu den Bezeichnungen des Dichters: muoter diu sageten ir disen sin
(Jüngstes Gericht bei Diemer 292,13)
(2) 18.67 POET (Auswahl) - gr. ποιητής,
- der ime daz buoch wider liez und
lat. poeta, (vātēs), ir. faith, fili, an.
2. Buck 1949.
3. Vgl. Frisk 1970, 976f; Beekes 2010, 1540; Mayrhofer 1992, 275; Kluge & Seebold 2002, 975; Falk & Torp 1960, 1405 s.v. vaeve;
Fraenkel 1962, 26; Vasmer 1958, 109 s.v. tkatь; Matasović 2009, 409 s.v. *weg-yo-.
4. Vgl. Tacitus Dialogus de oratoribus 9.2: “Quis Saleium nostrum, egregium poetam vel, si hoc honorificentius est, praeclarissimum
vatem, deducit […]?”
27. Lexikalische Studien im Sinnbezirk von Webstuhl und Kleid 415
iz in vol tihten hiez (Veldeke, Eneit An ursprünglich verwandten Verben nennt das
13,311)5 jüngste etymologische Wörterbuch des Lateini-
schen,7 wie oben unter (4) vermerkt, Beispiele aus
Distinktives Merkmal für das Selbstverständnis
dem Hethitischen, Germanischen und Avestischen.
und die Fremdbezeichnung des Poeten war zur Zeit
Deren Bedeutungen lassen auf eine zunächst konkrete
der Lexikalisierung des einschlägigen Vokabulars of-
Werktätigkeit schließen, die sich (lat., ahd.) auf die
fenbar das Ansagen, das Diktieren von Worten und
Flachsverarbeitung spezialisiert hat, aber auch schon
Sätzen, die von professionellen Schreibern festge-
Ansätze zur semantischen Sublimierung bzw. zu bild-
halten wurden. Die drei Zitate aus dem ahd. Otfrid,
lichem Gebrauch (heth., avest.) zeigt.
der Darstellung des Jüngsten Gerichts und dem früh-
Wenigstens am Rande möchte ich auf die Diskus-
mittelniederdeutschen Heinrich von Veldeke zeigen,
sion um die rekonstruierte Grundform des lat. Ver-
dass die Ausdrucksweise eng mit der bereits blühen-
bums hinweisen, die zuletzt Gerhard Meiser8 belebt
den Buchkultur verknüpft war: An der letztgenannten
hat. Er bespricht zunächst die traditionelle, auch im
Stelle überließ der adelige Auftraggeber dem Dichter
LIV9 vertretene Analyse als *te-tḱ- „erzeugen, her-
wieder das Buch und befahl ihm, es „voll zu dichten“,
stellen“, bevorzugt aber dann ein Rekonstrukt *tek-
d.h. als Werk zu vollenden.
s- mit wurzelerweiterndem -s-, das vielleicht als se-
Wenden wir uns nun dem Spezialfall von lat. te-
kundärer, aus einer Desiderativbildung erwachsener
xere zu:
Stamm zu erklären sei. Bei dieser Herleitung bie-
(4) lat. texere – Ableitungen6: textilis, ten sich gr. τέχνη (< *tek-s-nā) „Fügung, Verfahren“,
textor, textus, textūra, tēla, ahd. dehsala „Deichsel, Achse“ und air. tál „Axt“ an.
subtīlis, extexere, praetexta. Etym. Michiel de Vaan10 tritt zuletzt für eine Wurzelgestalt
Anknüpfung: heth. takš-zi „ersinnen, *teḱs- ein, da sich inlautendes -tḱ- im Lateinischen
unternehmen“, mhd. dehsen „Flachs zu -s(s)- (vgl. ursus vs. gr. ἄρκτος, ai. ṛ́kṣa-) entwi-
brechen“, ai. tákṣati „to hammer, ckeln sollte.
form, fashion“ - táṣṭar- „carpenter, Meiser geht auch auf eine alte Beobachtung von
master“, aav. tāšt 3.Sg.Inj. „bildet, Darmesteter11 ein, der in der Junktur dieses Ver-
formt“, tašta- „geschaffen“. bums und seiner Derivate mit einem Ausdruck für
Die angeführten, reichhaltigen, durchwegs früh be- „Rede, Wort“ als Objekt eine frühe grammatikalisch-
zeugten innerlateinischen Derivate zeigen die feste poetische Metapher erkennen wollte. Die Beispiele
Verankerung des Ableitungsparadigmas im Fachwort- aus dem Vedischen und Griechischen (ved. vácāṃsi
schatz, doch in der Folgeperiode auch in der Stan- … takṣam, RV 6,32,1; gr. ἐπέων … τέκτονες, Pind.
dardsprache. textor ist der Berufsname, textilis das Pyth. 3,199) lassen für das Verbum an eine Bedeu-
Adjektiv für alle Produkte, textus zunächst der vollzo- tung „zimmern“ denken, das avestische Kompositum
gene Prozess, textūra das Gewebe, tēla (< *teks-la-) vacastašti- „Strophe, Hymnentext“ weist bereits auf
ist das fertige Tuch, aber auch der Webstuhl. subtīlis eine Verfestigung zum Terminus technicus der Poetik
bezog sich auf den feinen Faden bei der Verarbeitung hin. Für die folgende Plautusstelle, in der sermones
und praetexta ist als besonderes Epitheton der Toga die Objektstelle besetzt (quamvis sermones possunt
sogar zu einem Gattungsnamen des römischen Dra- longi texier Plaut. Trin. 797, „wiewohl lange Reden
mas geworden. gefügt/gewoben werden können“), bieten sich zwei
Erklärungswege an: entweder ist die Fügung vor der später auch als internationales Vokabel durchgesetzt
Spezialisierung des Verbums zur Semantik „weben“ hat, bietet sich ein Beleg aus Quintilian an:
entstanden, oder das Syntagma ist insgesamt als Tex-
(6) Quint.Inst. 9.4.13: verba eadem qua
tilmetapher zu verstehen. Die letztere Lösung hätte
compositione vel in textu iungantur
vielleicht den Vorzug, dass in diesem Fall sermō als
vel claudantur.
Ableitung von serere „reihen, knüpfen“ ursprünglich
auf eine anschauliche Lesart hindeutet. In dieser Passage wird die kontextspezifische Geltung
Als Stellen, die bereits den Übergang des angesprochen und die Anwendung auf Wortverbin-
handwerklichen Vokabels zu einer bildlichen Verwen- dungen erörtert. Ich verweise auf den unter (6) zitier-
dung für sprachliche Vorgänge markieren, empfehlen ten entscheidenden Teilsatz innerhalb einer längeren
sich die drei lateinischen Beispiele unter (5): Periode: „In welchem Zusammenhang (qua compo-
sitione) dieselben Wörter (verba eadem) entweder im
(5) Cic.Fam. 9.21.1: epistulas …
Gewebe (scil. textlich eingebettet) verbunden werden
cotidianis verbis texere; Cic.Qu.fr.
(textu iungantur) oder als Klausel am Satzende auf-
3.5/6.1: sermo … in novem et dies
treten (claudantur).“12
et libros distributus … de optimo
Im mittellateinischen Schrifttum wird die eben be-
cive (sane texebatur opus luculente);
sprochene Bedeutung und Verwendung von textus als-
[Quint.] Decl. 3B.2: ita callidissimus
bald ganz üblich, was wenigstens an drei Beispielen
actor orationem suam ordinavit et
aus Urkunden bzw. Protokollen belegt sei:
texuit, ut … tribunum impudicitiae
criminetur. (7) „Urkunde“: donationum nostrarum
textus ostendant; de venditione quam
Im Brief Cic.Fam. 9.21.1 verwendet der Autor eine
textus iste continet; „Evangeliar“:
Konstruktion epistulas … texere für den Prozess ein-
dedit rex quatuor evangeliorum
facher verbaler Verknüpfung; im Schreiben an seinen
librum qui textus dicitur.13
Bruder Cic.Qu.fr. 3.5/6.1 wird ein auf neun Tage und
Bücher verteilter sermo als texebatur opus resümiert. An den ersten beiden Stelle handelt der ‚Text‘ von ei-
In einer pseudoquintilianischen Schrift ([Quint.] Decl. ner Schenkung bzw. einem Verkauf (de venditione),
3B.2) erweisen bereits die beiden verbundenen Ver- während der andere Beleg einen Evangeliar im präg-
ben ordinavit „gliederte“ und texuit „verknüpfte“ ne- nanten Wortsinn textus nennt.
ben dem Objekt orationem, dass das Sprachbild schon Wie die unter (8) stehenden Beispiele erweisen,
zur unmarkierten Ausdrucksweise verallgemeinert treten bisweilen zwei konkrete handwerkliche Tätig-
worden bzw. verblasst ist. Übrigens findet sich auch keiten, nämlich weben und kneten, als Metaphern-
beim litauischen Verbum áusti „weben“ eine Tendenz spender in Konkurrenz zueinander:
zur metaphorischen Verwendung, die allerdings leicht (8) lat. fingere mit gutem idg. Anschluss
pejorativ gefärbt ist und nur in spöttischem Jargon (ai. deh-, arm. dizanem, got. digan,
auftritt: „Geschwätz, Lügenreden, Phantasien“ sind toch. tsik-; gr. τεῖχος, got. daigs u.a.
die typischen nominalen Ergänzungen.
Das Nomen acti textus ist in der lateinischen Lite- Das gilt im Lateinischen etwa für texere und fingere.
ratur gut belegt, hat aber über einen langen Zeitraum Das Verbum fingere „kneten, plastisch formen“ hat
seine fachsprachliche Lesart konsequent bewahrt. Als sich als technischer Ausdruck für die Verarbeitung
Schaltstelle für die zunächst bildliche, später termi- von Lehm, also Tonerde etabliert, was auch Ablei-
nologische Verwendung, in der sich der Ausdruck in tungen wie figulus „Töpfer“, figūra „aus Ton gebil-
allen germanischen sowie romanischen Sprachen, dete Gestalt“ und effigiēs „geformtes Bild“ bezeugen.
12. Eine grundlegende Studie zur metaphorischen Verwendung des Sinnbezirks von Weben und Flechten in den klassischen Sprachen
hat Wagner-Hasel (2005) vorgelegt.
13. Vgl. Niermeyer & van de Kieft II, 2002, 1341.
27. Lexikalische Studien im Sinnbezirk von Webstuhl und Kleid 417
Das Etymon ist in den indogermanischen Einzelspra- die ursprünglichen Waffen des Helden an Hektor ver-
chen weit verbreitet, was die oben zitierte Auswahl an loren hatte. In einem weitgespannten narrativen Bo-
Belegen bezeugt. Wie eine Grundbedeutung lexika- gen beschreibt der Dichter den bildlichen Schmuck
lisch verschieden aufgefächert wird, zeigt sich u.a. in der Waffe, auf der eine Reihe von Szenen geradezu
der Gegenüberstellung von gr. τεῖχος „Mauer“, τοῖχος einen visuellen Kosmos erzeugt. Wesentlich an die-
„Wand“ und got. daigs, dt. Teig, denen das gleiche ser Art der literarischen Darstellung ist die erzähleri-
ursprüngliche Muster eines plastischen Gebildes aus sche Verselbständigung der Textsorte und ihre Ablö-
Lehm zugrunde liegt. sung von plausiblen realen Vorstellungen. Wir dürfen
Betrachtet man die Wortgeschichte von fingere daher als Leser nicht fragen, wie groß denn eigent-
im Detail, so führt der Weg der Bedeutungsentwick- lich das Objekt sein muss, um allen erwähnten Vor-
lung von „kneten“ über allgemein „plastisch gestal- gängen und Milieus überhaupt Platz zu bieten. Das
ten“ (mit bereits künstlerischer Ambition) zu verba- sprachliche Kunstwerk löst sich von der Funktion ei-
lem „dichten, ersinnen“ und schließlich pejorativem ner Beschreibung optischer Eindrücke ab; es wird au-
„lügen“. Alte Derivate wie figulus oder figūra haben tonom und begründet eine eigene literarische Gattung.
diesen semantischen Prozess nicht mitvollzogen; jün- Der homerische Archetyp hat nach mehreren Richtun-
gere- auch als Fremdwörter geläufige - Ableitungen gen ausgestrahlt und in zahlreichen Beispielen fortge-
wie fictiō oder fictīvus hingegen begegnen in beiden wirkt, von denen ich in diesem Rahmen nur drei er-
Richtungen und mit den gleichen Resultaten als „(Er‑) wähnen möchte:
Dichtung“ wie als „Lüge“.14 - Als Schildbeschreibung spiegelt sich das große
In der Diskussion über die Rekonstruktion einer Vorbild in einer analogen Episode der Aeneis Ver-
indogermanischen Dichtersprache spielt eine Wen- gils, in der die entsprechende Schutzwaffe des Ti-
dung aus Toch. A, auf die Wilhelm Schulze in einem telhelden mit den Stilmitteln der epischen Tradi-
Aufsatz erstmals hingewiesen hat,15 eine wichtige tion dargestellt wird16.
Rolle: In einem Text, der ein wenig an den Mythos
- In einem Chorlied der euripideischen Tragödie Ion
von Pygmalion und Galatea erinnert, wird eine Phrase
zeigen sich die Frauen des Kollektivs von den äs-
tseke ṣi peke ṣi pat arämpāt, die sich als eine Junk-
thetischen Eindrücken und bildlichen Details be-
tur mit Reimwörtern präsentiert, zur Bezeichnung
geistert, die ihnen die Metopen, Friese, Säulen-
von plastischer und malerischer Gestaltung (tseke
kapitelle und anderen Architekturelemente des
ṣi peke ṣi) und künstlerischer Schönheit (arämpāt)
Apollontempels von Delphi vermitteln.17
verwendet. Etymologisch wie idiomatisch kann man
diese festgefügte Wendung mit lat. figura vel pictura - In einem von mir als Student der Universität Wien
paraphrasieren. erlebten Vortrag hat der Gräzist Joannis Theopha-
Gewebe, Kleider, Tücher und andere Textilien nes Kakridis aus neugriechischer Volksdichtung
spielen auch in einer verbreiteten Textsorte bzw. ei- die Ekphrasis eines kunstvoll gewebten Teppichs
nem Typus literarischer Darstellung eine Rolle, der nacherzählt, in der in gut homerischer Tradition
unter dem Terminus Ekphrase kursiert. Als berühm- Ensembles, Situationen, Konstellationen, ja ganze
testes Beispiel und Vorbild für viele spätere Varian- Handlungszüge in den materiellen Gegenstand als
ten gilt die Schildbeschreibung im 18. Gesang (V. dekorative Elemente einbezogen sind. Auch und
468-608) der homerischen Ilias. Hephaistos hat auf gerade bei einem solchen physisch begrenzten
Bitte von Thetis ihrem Sohn Achilleus eine neue Rüs- Kunstobjekt ist die Frage nach der Plausibilität re-
tung geschmiedet, da Patroklos als sein Stellvertre- dundant, ja verfehlt: es handelt sich demnach ge-
ter in der Schlacht ums Leben gekommen war und rade nicht um einen überdimensionalen Zierrat,18
sondern das narrative Genre behauptet sich vor Mannigfache Gestalten der Vorzeit, Taten von
und gegenüber den gegenständlichen Fakten. Helden
Zu diesem Typus zählt auch die Dichtung, aus der Zeigte in vielerlei Bildern der kunstvollendete
ich in der Folge einige Verse zitiere und interpre- Teppich:
tiere. Das Carmen 64 des römischen Lyrikers Catull Sorgsam späht Ariadne von Naxos‘
ist ein Epyllion, das sich mit der Hochzeit von Pe- flutenumrauschtem
leus und Thetis, also eines Sterblichen mit einer Göt- Strande hinaus in die See nach Theseus‘
tin, beschäftigt. Da die beiden Brautleute später die fliehenden Schiffen,
Eltern von Achilleus werden, stiftet der Text perso- Und unendlicher Kummer ihr Innres aufs
nell gleichsam eine mittelbare Verbindung zum ho- tiefste erschüttert.“20
merischen Muster. Das ungewöhnliche Ereignis wird In epischer Breite wird sodann die Geschichte von
im Erzählduktus mit allem Pomp begangen; auch die Theseus und Ariadne in Gestalt einer Ekphrase wie-
olympischen Götter erscheinen als geladene Gäste, dergegeben. Die Aussetzung der Heroine auf der In-
wobei das Erscheinen von Zeus-Juppiter eine erzäh- sel Dia/Naxos gipfelt in einer weitgespannten Kla-
lerische Pointe darstellt. Denn immerhin war er einst gerede von 70 Versen, die später zum Vorbild der
selbst als Freier um die Hand der schönen Meeres- zahlreichen Lamenti di Arianna in Oper und Orato-
göttin bemüht, hatte aber auf den Rat der Moiren/ rium geworden ist. Die endliche Befreiung, Erlösung
Parzen hin von diesem Vorhaben abgelassen. Gemäß und Tröstung durch den Gott Bacchus/Dionysos/Iac-
einer Prophezeiung drohte ihm nämlich von einem chus fehlt auch in dieser Fassung nicht, doch wird ihr
Sohn aus dieser Beziehung Gefahr: und nach seinem nur ein bemerkenswert knapper Raum zugestanden,
eigenen Verhalten gegenüber seinem Vater Kronos und das wohl aus künstlerischen Gründen: entweder
musste der oberste Gott ein gebranntes Kind sein. weil die erhabene Frau als trauernde Gestalt im Zen-
In die Schilderung des Textes eingebettet ist die Be- trum bleiben sollte oder gleichsam aus kunstökono-
schreibung eines Kunstwerks, das in den Versen 48- mischen Gründen, indem auf die Bildbeschreibung
5519 vorgestellt und in direktem Anschluss bildlich ohnehin erneut der Festesjubel folgt, der sich an die
nacherzählt wird. Verse 265f. anschließt:
(9) Puluinar uero diuae geniale locatur (10) Talibus amplifice uestis decorata figuris
Sedibus in mediis, Indo quod dente politum Puluinar complexa suo uelabat amictu.
Tincta tegit roseo conchyli purpura fuco.
Haec uestis priscis hominum uariata figuris „Mit solchen Gestalten verschwenderisch
Heroum mira uirtutes indicat arte. geziert war die Decke,
Namque fluentisono prospectans litore Diae die das Lager rings als Überwurf umhüllte.“
Thesea cedentem celeri cum classe tuetur Nur am Rande erwähnen möchte ich eine an-
Indomitos in corde gerens Ariadna furores, dere Variante bildlicher Darstellung eines Gesche-
hens, das sich zur Ekphrase gewissermaßen spiegel-
„Doch inmitten erhebt sich das bräutliche verkehrt verhält. Hatte diese die visuellen Eindrücke
Lager der Göttin, von plastisch oder malerisch gestalteten Vorgängen
Schimmernd von Elfenbein, in Indiens in Worte umgesetzt, so vertritt im folgenden Fall eine
Ländern gewonnen, nonverbale Botschaft den vereitelten Bericht. Es geht
Und darüber sich breitet ein purpurfarbener um den Mythos von König Tereus, der Philomele, die
Teppich. Schwester seiner Gattin Prokne vergewaltigt und ihr,
18. So neuerdings die volksetymologisch motivierte („Zier-rat“), offizielle Rechtschreibung des Nomens, das eigentlich eine suffixale
Ableitung (wie Armut oder Kleinod) von der Basis zier- darstellt.
19. Zitiert nach Holzberg 2009.
20. Übersetzung nach http://www.deutsche-liebeslyrik.de/europaische_liebeslyrik/catull.htm.
27. Lexikalische Studien im Sinnbezirk von Webstuhl und Kleid 419
damit sie die Untat nicht anzeigen kann, die Zunge An mehreren Stellen meiner Auseinandersetzung
herausschneidet. In ihrer Verzweiflung macht die ge- mit Dramaturgie, Mythenrezeption und Sprachkunst
schändete Frau ihre Misshandlung bekannt, indem sie des Bühnenschaffens von Richard Wagner habe ich
die erlittene Schmach als Vorgang in ein Tuch stickt. mich mit dieser und vergleichbaren Passagen seiner
Die Sage endet mit einer mehrfachen Verwandlung: Dichtersprache auseinandergesetzt.22
Tereus wird zum Wiedehopf, Prokne zur Nachtigall, Wie produktiv der metaphorische Wirkungsbereich
Philomele aber zur Schwalbe, da deren unartikulierte von Webstuhl und Spinnwirtel auch und gerade un-
Tongebung dem antiken Ohr unangenehm und wie serer heutigen Zeit geblieben - oder vielleicht wie-
eine lautliche Verstümmelung klingen musste. Apol- der geworden - ist, mag zum Ausklang eine keines-
lodor (3,193ff.) und Pausanias (1,41,8) teilen in my- wegs vollständige Liste von englischen Fachtermini
thographischer Darstellung das sagenhafte Gesche- belegen, die drei einschlägige Ausdrücke unseres For-
hen in dieser Variante mit. Die römische Literatur hat schungsgegenstandes (weben, spinnen, Netz) aufgrei-
in ihrer Version der Metamorphose21 die Rollen ge- fen und zu verbindlichen technischen Begriffen des
tauscht: In dieser Fassung und in den späteren Tradi- internationalen Wortschatzes der neuen elektroni-
tionen wird Philomela (so die lateinische Wortform) schen Medien verfestigen:
zur Nachtigall, deren Gesang man - man denke nur
(12) web address, on the web, web based,
an die romantische Dichtung - den Gestus von Sehn-
web browser, web designer, webcast,
sucht, Trauer und Klage unterlegte.
web forum, webhead, webmaster, web
Mit der Deutung der folgenden Sequenz über-
page, web-site; spin doctor; network,
schreite ich den Referenzzeitraum der Tagung und
internet, net speak
ihrer Dokumentation, freilich nicht so stark, wie es
auf den ersten Blick den Anschein haben mag. Denn Dass dabei auch das Randgebiet der Augenblicks-
Richard Wagner hat sich in der Dichtersprache seiner bildungen mit eingeschlossen ist, zeigt das letzte
Musikdramen, besonders aber im Zyklus Der Ring Beispiel der Liste, denn net speak wird von rezenten
des Nibelungen die frühdeutsche und altnordische Wörterbüchern des Englischen unter Hinweis auf den
Epik anverwandelt, stilistische Figuren zitiert oder Funktionalstil als informelle Bezeichnung des Inter-
imitiert und archaische Metaphern aufgegriffen, al- netjargons gebucht.
lerdings zusätzlich pointiert und mit den Merkmalen
seiner eigenen poetischen Diktion angereichert. Im
zweiten Aufzug von Siegfried greift der Dichterkom- Bibliographie
ponist das alte Motiv der sprechenden und weissagen-
den Tiere auf. Der Waldvogel, der den jungen und na- Beekes, R. (2010) Etymological Dictionary of Greek II.
iven Titelhelden vor bösen Nachstellungen warnt, ihm Leiden.
die Wirkung der erbeuteten Objekte Ring und Tarn- Binder E. & G. (2001) Aeneis: lateinisch - deutsch / P. Ver-
helm enthüllt und dazu künftiges Liebesglück ver- gilius Maro. Stuttgart.
heißt, fasst die Ambivalenz seines eigenen Wesens Buck, C. D. (1949) A dictionary of selected synonyms in
und Wirkens in einem schönen Sprachbild zusammen, the principal Indo-European languages: a contribution
das in seinem zweiten Teil das Thema dieser Konfe- to the history of ideas. Chicago.
renz im Wandel von Gewebe zum Text auf den Punkt Bußmann, H. (2002) Lexikon der Sprachwissenschaft.
bringt (II, 3): Stuttgart.
Darmesteter, J. (1968) Eine grammatikalische Metapher
(11) Lustig im Leid sing ich von Liebe. des Indogermanischen. In R. Schmitt (1968), 26-29.
Wonnig aus Weh‘ web ich mein Lied: De Vaan, M. (2008) Etymological dictionary of Latin and
nur Sehnende kennen den Sinn. the other Italic languages. Leiden.
Falk, H. S. & Torp, A. (1960) Norwegisch-dänisches ety- Panagl, O. (2014) „Die Tonsprache ist Anfang und Ende
mologisches Wörterbuch : mit Literaturnachweisen der Wortsprache“ Zur Diktion der Opern und Musik-
strittiger Etymologien sowie deutschem und altnordi- dramen Richard Wagners. In Die Musikforschung 67.
schem Wörterverzeichnis. II. Oslo - Bergen. Jahrgang, 1-25.
Fraenkel, E. (1962) Litauisches etymologisches Wörter- Panagl, O. (2015) „Lustig im Leid sing’ ich von Liebe“
buch I. Heidelberg. Richard Wagners Siegfried - beim Wort genommen. In
Frisk, H. (1970) Griechisches etymologisches Wörterbuch U. Müller & O. Panagl (eds.), Von der Wartburg nach
II. Heidelberg. Walhall. Studien zum musikdramatischen Werk Richard
Grimm, J. & W. (1991=1860) Deutsches Wörterbuch. Wagners, 272-283. Anif/Salzburg.
München. Rix, H. (2001) Lexikon der indogermanischen Verben:
Holzberg, N. (2009) Catullus, Gaius Valerius: Carmina = LIV; die Wurzeln und ihre Primärstammbildungen.
Gedichte : lateinisch - deutsch. Düsseldorf. Wiesbaden.
Kluge, F. / Seebold, E. (2002) Etymologisches Wörterbuch Schulze, W. (1933) Tocharisch tseke peke. In R. Schmitt,
der deutschen Sprache. Berlin. 34-39 (1968).
Matasović, R. (2009) Etymological Dictionary of Proto- Schmitt, R. (1968) Indogermanische Dichtersprache.
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