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Sowjetische Militärstrategie
Westdeutscher Verlag
Köln und Opladen 1967
Aus dem Englischen übersetzt von Rolf R. Schröder
Titel der Originalausgabe:
Soviet Strategy at the Crossroads
erschienen bei Harvard University Press, Cambridge, Massachusetts 1964
Verlags-Nr.051037
© 1967 by Westdeutscher Verlag, Köln und Opladen
Grafische Gestaltung: Herbert W. Kapitzki, Stuttgart
Inhaltsverzeichnis
Einleitung .................................................. 27
VI. Die Frage des Krieges als Mittel der Politik .............. 85
Symptome für den Zerfall der klassischen Doktrin .............. 85
Die interne sowjetische Debatte über Lenins Ausspruch. . . . . . . . . . .. 86
Begleiterscheinungen der sowjetischen Debatte über Krieg und Politik 90
Seit Erscheinen dieses Buches in englischer Sprache vor etwas weniger als zwei Jah-
ren haben wichtige Veränderungen sowohl innerhalb der Sowjetunion als auch auf
der internationalen Bühne stattgefunden. In der Sowjetunion, in der im Oktober
1964 Chruschtschows Führerschaft ein plötzliches und unerwartetes Ende nahm,
fand sich eine neue kollektive Führung unter Leonid Breschnew und Aleksei Kossy-
gin intensiv damit beschäftigt, die Leistung der sowjetischen Wirtschaft zu verbes-
sern, die Struktur des Parteiapparates umzugestalten, die Verteidigungsstellung des
Landes aufzupolstern und den ideologischen Elan unter der Jugend und der Intelli-
gentia im allgemeinen wiederherzustellen. Auf der internationalen Bühne hat die
Verlängerung der Krise in Vietnam ihre Schatten auf die Ost-West-Beziehungen
geworfen, der chinesisch-sowjetische Streit ist zunehmend härter geworden, und die
politische Dynamik eines sich entfaltenden Europas hat sowohl einer entzweienden
sowjetischen Politik gegenüber der NATO neue Möglichkeiten eröffnet, als auch die
Aufgabe der Sowjetunion, den Zusammenhalt ihres eigenen Warschauer Blocks
aufrechtzuerhalten, erschwert.
Wie haben sich unter Chruschtschows Nachfolgern derartige Entwicklungen in der
sowjetischen Militärpolitik und -strategie widergespiegelt? Das ist im wesentlichen
die allgemeine Frage, der sich diese einführenden Bemerkungen zuwenden.
Zunächst kann man sagen, daß die meisten großen Streitfragen, denen das gegen-
wärtige sowjetische Regime im Bereich der Verteidigungspolitik gegenübersteht, in
ihren Wurzeln in die Chruschtschow-Kra zurückreichen, obwohl die Entwicklungen
daheim und im Ausland einige davon in einen neuen Zusammenhang gestellt haben.
Unter diesen Streitfragen sind die Anforderungen, die die Verteidigung an die
sowjetischen Ressourcen stellt, ein dauerndes, zentrales Problem, das sich durch die
Bindung des neuen Regimes an ein ehrgeiziges Programm einheimischer wirtschaft-
licher Reformen und Verbesserungen zugespitzt hat.
Die Berichte der vergangenen ein oder zwei Jahre lassen vermuten, daß der Streit
um das Verteidigungskontingent weiterhin sehr lebendig bleibt, nicht nur als eine
potentielle Quelle von Meinungsverschiedenheiten zwischen den sowjetischen mili-
tärischen Führern, sondern auch als ein Brennpunkt der Auseinandersetzung inner-
halb der politischen Führung selbst. Trotz der Annahme eines »konservativen«
Militärbudgets im Dezember 1964, das den Wunsch des neuen Regimes andeutete,
radikale Knderungen in der bisherigen Verteilung der Hilfsmittel zu vermeiden,
10 Ein/ühr""g ZNr JeNtsmm .ÄlISgahe
wurde Anfang 1965 - etwa gleidtzeitig mit der Versc:härfung der Krise in Süd-
ostasien - offenbar, daß die Frage der Verteilung der Ressourcen nicht zur letzten
Ruhe gebettet worden war.
Ein erstes Anzeidten dafür war die allmählidte Wiederaufnahme der Debatte über
gewisse umstrittene Fragen der Verteidigungspolitik in der sowjetisc:hen Presse. Für
einige Monate nadt Chruschtsc:hows Sturz hatte auf dem Gebiet der Verteidigungs-
politik eine Art Stillhalteabkommen geherrscht, wobei sowohl die neue politische
Führung als audt die Kreise des Berufsmilitärs hinsichtlidt wesentlicher Verteidi-
gungsfragen in hohem Maße neutral blieben. Ein neues Startzeichen wurde der
Debatte in einem Artikel in Roter Stern vom 21. Januar 1965 von zwei bekannten
Militärautoren, Generalmajor K. Bodtkarew und Oberst I. Sidelnikow, gegeben.
Die Autoren unternahmen einen dogmatisdten Angriff gegen ungenannte Genossen,
weil diese, wie Chrusdttschow, weiterhin die ,.Möglidtkeit der Verhinderung eines
Krieges« durdt die abschreckende Wirkung von Kern- und Raketenwaffen beton-
ten, statt der Möglichkeit, daß ein Krieg sich ereignen könnte, genügend Beachtung
zu schenken. Wie in diesem Artikel angedeutet und später (Roter Stern, 22. Sep-
tember 1965) von einem der Autoren ausdrücklich gesagt wurde, könnte eine zu
starke Akzentuierung der Kriegsabschreckung zu einer Vernachlässigung der allsei-
tigen Stärkung der bewaffneten Kräfte und Infragestellung der »Notwendigkeit,
große Hilfsmittel auf sie zu verwenden«, führen.
Nach der einleitenden dogmatischen Salve von Bochkarew und Sidelnikow Anfang
des Jahres 1965 sprachen sich mehrere hochstehende Militärs in einer Weise aus,
die andeutet, daß man das neue Regime bedrängte, Chruschtschows Beispiel zu ver-
meiden und den Rat von seiten des Berufsmilitärs vermehrt zu beachten. Marschall
M. W. Zakharow, der etwa einen Monat nach dem Tode von Marschall S. S. Bir-
jusow im Oktober 1964 wieder zum Chef des Generalstabs ernannt worden war,
übernahm die Führung, indem er die Wichtigkeit berufsmäßiger Sachkenntnis bei
der Formulierung der Verteidigungspolitik hervorhob.
In einem Artikel in Roter Stern vom 4. Februar 1965 legte Zakharow großen Nach-
druck auf die »wissenschaftliche« Bestimmung militärischer Erfordernisse und die
»objektiven« Beiträge von Berufsmilitärs, und er wies darauf hin, daß »eine sub-
jektive Behandlung militärischer Probleme ... teuer zu stehen kommen und nicht
wiedergutzumachenden Schaden verursachen könnte«. Marschall R. Malinowski,
der Verteidigungsminister, wiederholte diese Warnung wenige Wochen später,
während ein anderer führender Militär, der Generalmajor S. M. Shtemenko, in
einem Sinne, der wenig Aussicht auf eine Einschränkung der erhöhten Forderungen
an den Haushalt bot, geradeheraus zugunsten eines umfassenden und ausgewogenen
stehenden Heeres argumentierte (Nedelia, 6. Februar 1965). Shtemenko eröffnete
auch wieder mehrere andere dogmatische Auseinandersetzungen aus der Zeit Chru-
schtschows, darunter die Streitfrage über die relative Wahrscheinlichkeit eines nu-
klearen oder konventionellen Krieges und die Frage, ob im Atomzeitalter ein Krieg
von kurzer oder langer Dauer sein wird. Hierauf kommen wir noch zu sprechen.
Hier ist zu beachten, daß die Entwicklung der Krise vom Anfang des Jahres 1965
in Südostasien - indem sie vor die Möglichkeit der Eskalation zu einem allgemei-
neren Kriege stellte und die Notwendigkeit einer betont stärkeren sowjetischen
Einführung zur deutschen Ausgabe 11
Unter dem neuen Regime hat es eine gewisse Neigung gegeben, die tendenziösen
Besmuldigungen, der Westen bereite den Krieg gegen das sowjetisme Lager vor,
wiederzubeleben. Als die Vietnam-Situation während des Jahres 1965 zunehmend
gespannter wurde, nahmen sowohl der militärisme als aum der politisme Kom-
mentar in der Sowjetpresse das Thema auf, der »aggressive Charakter des Imperia-
lismus« sei im Zunehmen begriffen, und er mame es zu der »wimtigsten Aufgabe«
der sowjetismen Partei und anderer marxistism-Ieninistismer Parteien, »eine Un-
terbewertung der Kriegsgefahr nicht zuzulassen« (z. B. Roter Stern, 9. Juli 1965;
Prawda, 24. Juni 1965). Aum die neuen Führer selbst haben der Sorge Ausdruck
gegeben, daß die Gefahr eines Krieges angesimts der internationalen Situation ge-
wamsen ist (Prawda, 11. September, 31. Oktober, 8. Dezember 1965; lswestija,
24. Oktober 1965; Roter Stern, 1. Juli 1965). Entscheidend ist jedoch die Frage,
welcher Untersmied zwismen den erklärten sowjetischen i\ußerungen über die
Wahrscheinlichkeit des Krieges - die versmiedenen Zwecken der internen Argu-
mentation und externen Propaganda dienen - und den persönlimen überzeugun-
gen der Führung gemacht werden sollte.
Jede Ansicht, die über diesen Gegenstand gewagt wird, muß spekulativ bleiben. Der
Autor dieses Buches wäre geneigt anzunehmen, daß die amtierende sowjetisme
Führerschaft noch immer einen großen Krieg zwismen den rivalisierenden Syste-
men für unwahrscheinlich hält - wenn nicht dank der gutartigen Absichten der
Vereinigten Staaten, dann infolge einer Kombination der abschreckenden sowjeti-
schen militärismen Macht und jener politischen Kräfte, die allgemein als die» Welt-
friedensbewegung« bezeichnet werden. Eine Einsmränkung sollte vielleicht im Hin-
blick auf die Sorge der Sowjets hinzugefügt werden, daß ein lokaler Krieg - wie
etwa der in Vietnam - außer Kontrolle geraten oder daß die Politik eines wieder-
erwachten Deutsmlands eines Tages die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion
in einen Krieg ziehen könnte. Besonders im letzteren Fall smeint es in der sowje-
tischen »politischen Psyche« einen Komplex zu geben, der i\ngste verursacht, die
über das hinausgehen, was eine rationale Berechnung der deutschen militärischen
Drohung rechtfertigen würde.
Wie dem auch sei, nimmt man an, daß die gegenwärtigen sowjetismen Führer tat-
sämlich etwas mehr Sorge bezüglich der Möglimkeit eines Krieges hegen als es der
Fall war, bevor die Entspannung zwischen Ost und West sich Anfang 1965 zu ver-
schlechtern begann, dann scheint es fast, daß sie von neuem einer grundsätzlimen
politischen Streitfrage begegnen müssen, die zur Zeit Chruschtschows die Quelle vie-
len Zankes war. Diese Streitfrage ist die, ob die Kriterien für die Entwicklung der
sowjetischen Streitkräfte hauptsächlich deren Abschreckungswert oder deren tat-
sächliche Leistungsfähigkeiten im Kriege betonen sollten. Bis zu einem gewissen
Grade hat - urteilt man nam dem sowjetischen Gespräch während etwa des ver-
gangenen Jahres - eine neue Runde der internen Auseinandersetzung über die ge-
eigneten dogmatismen und praktischen Schritte begonnen, die unternommen werden
sollten, um die Streitkräfte und das Land zur Führung eines Krieges auf eine bessere
Grundlage zu stellen, falls aus irgendeinem Grunde die Abschreckung versagen
sollte.
14 Einführung zur aeutsmen Ausgabe
Im dogmatischen Bereich ist eines der interessantesten Anzeichen der Gärung die
Wiederbelebung der Frage gewesen, ob im Atomzeitalter der Krieg als ein Instru-
ment der Politik überholt ist. Während der Amtsdauer Chruschtschows hat es in
einigen sowjetischen Kreisen eine wachsende Tendenz gegeben zu argumentieren,
daß ein nuklearer Krieg wahrscheinlich militärisch unkontrollierbar sein werde, daß
er sich selbst »paralysiert« hätte, und daß das Leninwort vom Krieg als Fortset-
zung der Politik eine Revision verlange. Dieser Streit, der mit der chinesisch-
sowjetischen Polemik verwoben war, klang in der Sowjetunion nach dem Erschei-
nen des neuen Regimes ab, doch ist er nun wieder an die Oberfläche gelangt.
Das Medium, durch das diese Frage wieder in den Vordergrund gerückt wurde, war
ein Artikel von Oberstleutnant E. Rybkin in der zweimal im Monat erscheinenden
Zeitschrift Der Kommunist in den bewaffneten Kräften, der unter dem Titel »Ober
das Wesen eines Weltkrieges mit Kern- und Raketenwaffen« im September 1965
veröffentlicht wurde. Der Artikel griff derart prominente sowjetische Autoren wie
den General Talenski namentlich an, weil sie das »fatalistische« Dogma verbreitet
hätten, demzufolge der Krieg als ein Instrument der Politik überholt und es nicht
mehr länger möglich sei, »annehmbare Formen des nuklearen Krieges zu finden«.
Obwohl er die Auffassung billigte, daß ein nuklearer Krieg große Zerstörungen an-
richten würde und man alles nur mögliche zu seiner Verhinderung tun sollte, be-
stand Rybkin darauf, man dürfe nicht der Doktrin unterliegen, der Sieg sei unmög-
lich: "Die Behauptung, daß in einem nuklearen Krieg der Sieg unmöglich ist, würde
nicht nur aus theoretischen Erwägungen falsch, sondern auch von einem politischen
Standpunkt aus gefährlich sein.«
Rybkin fuhr fort mit der Behauptung, der Sieg sei möglich, wenn ein Land einen
nuklearen Krieg so führte, daß die eignen Schäden auf ein Mindestmaß zurückge-
halten würden. »Wir müssen im Auge behalten«, sagte er, »daß der Sieg in einem
Krieg nicht einfach von dem Charakter der Waffen abhängt, sondern von dem
Kräfteverhältnis der kriegführenden Länder.« Abhängig von diesem Verhältnis
können nach Rybkin zwei komplementäre Methoden zur Begrenzung der Beschä-
digungen durch einen nuklearen Krieg in Aussicht genommen werden. Eine Methode
liegt in der Erreichung eines »schnellen« Sieges, »der weitere Zerstörung und wei-
teres Unheil verhindern wird«. Die andere liegt »in der Möglichkeit, neue Mittel
für die Kriegführung zu entwickeln und zu schaffen, die zuverlässig dem nuklea-
ren Schlag des Gegners entgegenwirken können«.
Gleichzeitig jedoch warnte Rybkin, daß die Erreichung der notwendigen militäri-
schen Stellung große Anstrengungen fordern würde, ohne die es ein gefährlicher
Fehler wäre, »anzunehmen, daß der Sieg zuverlässig gesichert sei«. Rybkin schloß
mit einer Mahnung in die Richtung jener, die für militärpolitische Entscheidungen
verantwortlich sind, indem er besonders erwähnte, es habe kürzlich »strenge Kri-
tik an untauglichen Führungsmethoden« gegeben - Methoden, so sagte er, die auf
der Annahme beruhten, daß die »Vorteile des sozialistischen Systems« aus sich
selbst »und fast automatisch einen raschen Erfolg sichern« würden.
Die Wiederbelebung der theoretischen Erörterungen über die Frage des modernen
Einführung zur deutschen Ausgabe 15
Krieges als Mittel der Politik durch Rybkin und andere (z. B. die Obersten B. Ryb-
nikow und A. Babakow, Roter Stern, 7. Dezember 1965) bedeutet nicht unbedingt,
daß ein Element der harten Linie begonnen hat, zu einem gegenwärtigen Wandel in
der Politik zu drängen, der ein viel größeres Kriegsrisiko als bisher enthalten
würde. In einem aktuellen politischen Kontext könnte der Hauptzweck einfach in
der Bekämpfung der Tendenzen zum politischen Immobilismus und des Rückgangs
eines angemessen militanten ideologischen Geistes liegen.
In einem anderen Sinne könnte jedoch die wiederbelebte Beweisführung eine wich-
tige Bedeutung in Hinblick auf die langfristigen Entscheidungen haben, denen sich
die Sowjetführung gegenübersieht. Denn der Hauptgedanke von Rybkins Argu-
mentation ist nicht, daß heute die »Entsprechung der Kräfte« im Falles des Krie-
ges eine gute Aussicht auf einen sowjetismen Sieg bieten würde, sondern daß das
ein zukünftiger Wandel in dem Kräfteverhältnis zwismen der Sowjetunion und
ihren Gegnern das tun könnte. Dieses läßt vermuten, daß die hier zugrunde liegende
Streitfrage, um die die theoretisme Auseinandersetzung wiederum aufbrandet, die
alte Frage sein könnte, ob es sich lohnt, militärische Investitionsprogramme in dem
Umfang zu verfolgen, der nötig ist, um einen bedeutsamen Umschwung des stra-
tegischen Machtgleichgewimts zwismen der Sowjetunion und den Vereinigten Staa-
ten zu erzielen.
kes zu mildem. In dem Maße, in dem sie sich von einer Politik der gütlichen Eini-
gung entfernen, könnten sie es deshalb auch als schwieriger empfinden, in einer Stel-
lung strategischer Unterlegenheit zu leben. Kurz, sie könnten es für nötig halten,
das Image eindrucksvoller sowjetischer strategischer Stärke nicht nur weiterhin zu
kultivieren, sondern zu versuchen - darin hatte Chruschtschow versagt -, auch
die Substanz des strategischen Gleichgewichts zu verändern.
Bisher hat sich die neue Führung vielleicht sogar noch eifriger als Chruschtschow
dem Bestreben gewidmet, ein günstiges Image von der sowjetischen strategischen
Stärke zu verbreiten. Unter dem neuen Regime enthielten zum Beispiel die Militär-
paraden auf dem Roten Platz bei Gelegenheit dreier großer Jahrestage einen brei-
teren Fächer sowjetischer technischer Errungenschaften auf dem Gebiet der Rake-
ten - sowohl offensiver als auch defensiver Typen -, als jemals während der Zeit
Chruschtschows vorgeführt worden waren.
Obwohl solche Schaustellungen - wie auch die stetig steigenden Bewilligungen für
die wissenschaftliche Forschung - für ein ehrgeiziges Programm militärischer For-
schung und Entwicklung zeugen, werfen sie nicht viel Licht auf die Absichten des
gegenwärtigen Regimes bezüglich etwa des Versuchs, die Technik in ein bedeutungs-
volles System der überlegenheit an strategischen Kräften umzusetzen. Wie infor-
mierte westliche Beurteilungen des militärischen Gleichgewichts aufzeigen, sind seit
der Machtübernahme durch das neue Regime die sowjetischen strategischen Kräfte
etwas gewachsen, doch sind sie noch immer bedeutend bescheidener als die des
Westens.
Das sowjetische Forschungs- und Entwicklungsprogramm selbst verkörpert natür-
lich eine Verpflichtung des Regimes, seine Anstrengungen fortzusetzen. Neben der
Tatsache, daß die Forschungs- und Entwicklungsbemühungen das Image der So-
wjetunion als eines führenden Konkurrenten in dem technologischen Wettlauf stär-
ken und eine Sicherung gegen das Aufklaffen einer technologischen »Lücke« zwi-
schen der Sowjetunion und dem Westen liefern, mag man auch damit rechnen, daß
sie Wahlmöglichkeiten und eventuelle Durchbrüche auf technischem Gebiet gestat-
ten, die - wenn andere Bedingungen günstig erscheinen - zu einem Versuch aus-
genutzt werden könnten, das militärisch-strategische Gleichgewicht zum Vorteil der
Sowjets zu ändern.
Das Problem der Entscheidung, ob man der sowjetischen strategischen Stellung ver-
mehrte Hilfsmittel opfern sollte, konzentriert sich nicht allein auf die Stärkung der
strategischen Trägerwaffen. Ein komplementärer Teil der sowjetischen strategischen
Stellung ist die strategische Verteidigung der Sowjetunion. In der Vergangenheit,
insbesondere seit Anfang der fünfziger Jahre, gingen große Ausgaben in den Auf-
bau strategischer Verteidigungsanlagen gegen Angriffe mit Flugzeugen. Heute
stehen die neuen Probleme der Verteidigung, die das Raketenzeitalter aufwirft, vor
den sowjetischen Führern. Ihre Einstellung zu diesen Problemen wird wahrschein-
lich durch eine sowjetische Fachansicht bedingt, derzufolge eine Verbindung stra-
tegischer Angriffswaffen mit Luft- und Raketenverteidigungskräften eine größere
militärische und politische Bewegungsfreiheit erlaubt und im Falles des Krieges
eher den Sieg verspricht als eine bloße Abschreckungsstellung, die sich nur auf die
Drohung der Vergeltung durch offensive strategische Kräfte gründet.
Einführung zur deutschen Ausgabe 17
Eine strittige Frage von höchster Bedeutung ist in diesem Zusammenhang, ob die
Sowjetunion den teuren und vielleicht noch immer technisch ungewissen Kurs der
Aufstellung ausgedehnter antiballistischer Raketenabwehranlagen (ABM defenses)
über das ganze Land einschlagen wird. Seit Beginn des neuen Regimes hat es unter
anderem seitens Breschnews gelegentliche Hinweise auf »neue Fortschritte« auf
dem Gebiet der Anti-Raketen-Raketen gegeben, und dokumentarische Filmvor-
führungen von Raketenabschüssen schlossen Abschüsse mit sowjetischen Anti-Rake-
ten-Raketen ein. Auch in Diskussionen über die Rüstungskontrolle sind die Sowjets
bemerkenswert kühl hinsichtlich der Idee der Beschränkung von Anti-Raketen-Ver-
teidigungsanlagen gewesen. Soweit man nach der allgemein erklärten Haltung ur-
teilen kann, die das gegenwärtige Regime eingenommen hat, scheint es, daß die
Sowjetunion sich vermutlich in die Richtung der zumindest nominellen Entfaltung
eines Anti-Raketen-Raketensystems bewegt.
Es ist eine wesentliche Frage der vergangenen paar Jahre - insbesondere angesichts
der Betonung, die innerhalb der NATO auf eine Strategie der flexiblen Reaktion
gelegt wird, welche die Atomschwelle in Europa heben soll -, ob es irgendeine ent-
sprechende sowjetische Tendenz zur höheren Einstufung der Möglichkeit nicht-
nuklearer Kampfhandlungen gibt. In der Zeit Chruschtschows ging sowohl die mili-
tärische als auch die politische sowjetische Diskussion über die Kriegführung auf
Landkriegsschauplätzen - besonders jeden Krieg in Europa - vor den zentralen
Vorstellung aus, daß ein derartiger Krieg im Rahmen eines allgemeinen Krieges
ausgefochten würde, der mit beiderseitigen schweren strategischen und taktischen
nuklearen Feuerwechseln eröffnet wird. Einige wenige Anzeichen, daß ein Wechsel
im sowjetischen Denken stattfinden könnte, begannen vor Chruschtschows Abset-
zung aufzutauchen, und seither hat es eine gewisse Tendenz gegeben, der Vorbe-
reitung der sowjetischen Kräfte auf sowohl nukleare als auch konventionelle
Kampfhandlungen vermehrte Beachtung zu schenken.
Mehrere prominente sowjetische Militärs haben angedeutet, daß die Feindseligkei-
ten nicht unbedingt automatisch den Einsatz nuklearer Waffen einbeziehen müß-
ten, wenngleich nicht immer deutlich war, ob sie dabei speziell an einen europäischen
Konflikt dachten. Marschall P. A. Rotmistrow, der Ende 1964 einen Plan eines
Gürtels atomarer Landminen entlang der deutschen Grenze kritisierte, erklärte da-
bei, daß der Plan die Möglichkeit nichtnuklearer Feindseligkeiten ausschließen
würde. Dies schien die Anschauung anzudeuten, daß sonst die konventionelle
Alternative möglich wäre. Im September 1965 ließ Marschall Malinowski einen
interessanten Vorbehalt von vier Worten in einige Bemerkungen einfließen, die sich
hauptsächlich mit den Problemen der nuklearen Kriegführung beschäftigten, als
er nämlich sagte: »Nicht nur in der Schlacht, sondern auch im ganzen Krieg wird
der Erfolg von dem Einsatz von Kern- und Raketenwaffen abhängen - wenn sie
eingesetzt werden.«
18 Einfühmng ZIIT delltschen Allsgabe
eine wesentlich höhere sowjetische Erwartung gäbe, daß ein Krieg in europäischem
Umfang auf einer nichtnuklearen Grundlage geführt werden könne. Sollte diese
Erwartung an Boden gewinnen - und in diesem Zusammenhang könnte das Bei-
spiel eines verstärkten Krieges ohne nukleare Eskalation in Vietnam das sowjeti-
sche Denken beeinflussen - dann würde daraus zweifellos eine Reihe ziemlich
grundlegender überlegungen hervorgehen, die die Politik des neuen Regimes be-
einflussen könnten. Die Aussicht auf das verminderte Risiko einer nuklearen Kon-
frontation in Europa könnte beispielsweise sehr wohl die Vorsicht etwas zerstreuen,
die die sowjetische Einstellung zu einem militärischen Konflikt in diesem Gebiet
stark gefärbt hat. Das wiederum könnte eine Neueinschätzung ihrer politischen
Haltung gegenüber Europa seitens der sowjetischen Führer erforderlich machen und
vielleicht zu der Annahme führen, daß mit geringerer Gefahr als bisher ein ge-
steigerter Druck zur Lösung unerledigter Probleme ausgeübt werden könnte. Eine
weitere Folge wäre wahrscheinlich eine Vermehrung des Drucks auf das Regime
durch einflußreiche Gruppen innerhalb des Militärs, die eine stärkere Beachtung der
Bedürfnisse der sowjetischen Landstreitkräfte verlangen, mit daraus folgenden
Anforderungen an das Menschenpotential und andere Hilfsmittel, die kostspieliger
wären, als Chruschtschow für gerechtfertigt erachtet hatte.
kräfte, ..herabzusetzen«. In der praktismen Politik hat sich der Streit der Frage
nach dem erforderlichen Umfang der bewaffneten Kräfte zugewand, da die ver-
schiedenen Truppenkürzungsprogramme, die in der Kra Chrusc:htsmows vorge-
schlagen oder durchgeführt worden waren, immer die Landstreitkräfte besonders
stark getroffen hatten.
Anfang 1965 zeigte eine Erklärung von Marsc:hall Sokolowski, die eine Zahl von
2,4 Millionen Mann für den derzeitigen Umfang der Streitkräfte angab, daß
Chruschtschows letzter Truppenkürzungsvorschlag (vorgebracht im Dezember
1959) ausgefühn worden war, vermutlich ohne daß er von dem neuen Regime
widerrufen wurde. Es gab auc:h Anzeic:hen dafür, daß Versc:hiebungen in führenden
Kommandostellen in den Landstreitkräften vorgekommen sein können, wobei
Marsmall Tsc:huikow - ein freimütiger Befürworter großer moderner Landstreit-
kräfte - möglic:herweise im Zusammenhang mit einer Reorganisation der Führung
der Landstreitkräfte selbst zumindest zeitweilig seiner Pflic:hten als Befehlshaber
enthoben wurde. Obwohl es nur spärliche Zeugenbeweise gibt, lassen diese Ent-
wicklungen vermuten - betrachtet man sie zusammen mit der aktiven Befürwor-
tung der andauernden Notwendigkeit massiver Armeen in der Stärke mehrerer
Millionen Mann durc:h solc:he Vorkämpfer der Landstreitkräfte wie Rotmistrow
und Shtemenko -, daß der Umfang und die Stellung der für den Kampf auf
Landkriegsschauplätzen bestimmten Streitkräfte unter dem neuen Regime wieder
ein Zankapfel der Politik geworden ist. Das gilt insbesondere im Hinblick auf die
neuen Unsic:herheitsfaktoren in der internationalen Lage, die aus dem Vietnam-
Konflikt entstehen.
Der Streit um die Landstreitkräfte berührt auch die Frage der sowjetischen mili-
tärisc:hen Beziehungen zu Moskaus Warsc:hauer Pakt-Verbündeten in Osteuropa und
zu seinem zunehmend mißtrauischem Bundesgenossen in Peking. Hinsichtlich des
Warschauer Paktes hat etwa 1960/61 ein ernsthafter sowjetischer Versuch begon-
nen, die vereinte Leistungsfähigkeit der Paktstreitkräfte zu stärken. Programme
wurden unternommen, um diese Kräfte neu auszurüsten, integrierte Kommandoein-
richtungen zur Leitung einer gemeinsamen Kriegsführung im europäischen Bereic:h
aufzustellen, und zahlreiche gemeinsame Feldübungen wurden abgehalten. Der-
artige Schritte dienten nicht nur dem politischen Zweck der Förderung eines grö-
ßeren Zusammenhalts innerhalb des Warschauer Paktes angesichts der polyzentri-
stischen Tendenzen in Osteuropa, sondern sie gaben auch Chruschtschow einen Ver-
nunftgrund für die Verminderung der eigenen Landstreitkräfte, den Grund näm-
lich, daß ein größerer Anteil der militärischen Lasten und Kosten von den osteuro-
päischen Alliierten getragen werden könnte. Es ist im Augenblick noch nicht klar
ersichtlich, wie empfänglich das neue Regime für Argumente sein könnte, die - in-
dem sie zusätzliche große Investierungen in die sowjetischen Landstreitkräfte for-
dern - im wesentlichen eine Umkehrung dieser Warschauer Pakt-Politik mit sich
bringen würden.
Für China sind eine Reihe anderer überlegungen hinsichtlich der Landstreitkräfte
geboten. Die Tatsache, daß es nicht gelungen war, den c:hinesisch-sowjetischen Streit
beizulegen, hat zweifellos unter den berufsmäßigen Militärberatern des neuen Re-
gimes Anlaß zu Sorgen darüber gegeben, ob es klug ist, den Stand der Landstreit-
Einführung zur deutschen Ausgabe 21
war, wie militant der revolutionäre Kampf geführt werden sollte. Die Chinesen
argumentierten, daß, obwohl ein friedlidler Weg zum Kommunismus theoretisdl
möglidl sei, er in der Praxis wenig Aussidlt auf Erfolg hätte; daher sei ein mili-
tanter und aggressiver revolutionärer Kampf das ridltige Rezept. Im Gegensatz
dazu warnte die Sowjetunion, daß der revolutionäre Prozeß unter dem sdlützen-
den Arm der absdlreckenden sowjetisdlen tnilitärisdlen Madlt dann am besten vor-
angetrieben werden könnte, wenn übermäßig herausfordernde oder ungelegen
lokale Aktionen vermieden würden, da sie ein Eingreifen des Westens provozieren
und zur Gefahr eines nuklearen Krieges führen könnten.
Angesichts dieser unterschiedlidlen Einstellungen zum revolutionären Prozeß ist es
nicht überrasdlend, daß sidl die Sowjetunion in den letzten Jahren von Chru-
schtschows Regierung zunehmend in der Defensive sah gegenüber den Anschuldi-
gungen Pekings, sie vernadllässige ihre Verpflichtungen gegenüber der Nationalen
Befreiungsbewegung. Die Anklagen aus dem chinesischen Flügel des kommunisti-
schen Lagers enthielten Vorwürfe, daß Chruschtsdlow durch die militärische Stärke
der Vereinigten Staaten »zu Tode erschrocken« sei, und daß die sowjetische Militär-
politik und die militärischen Vorbereitungen das Problem der nationalen Befrei-
ungskriege vernachlässigt hätten, während sie »besessen« seien von denen eines
allgemeinen nuklearen Krieges.
Teilweise als eine Reaktion auf diesen Druck seitens der Chinesen und vielleicht
auch, um einem wachsenden Eindruck im Westen entgegenzuwirken, daß die Sowjet-
union sich aus Angst vor einer Eskalation gegen Aktionen in lokalen Konflikten
sträube, begann sich die erklärte sowjetische Einstellung etwas zu verschieben,
während Chruschtschow noch auf der Bildfläche war. Es gab zum Beispiel einige
Rückzieher von der ehemals starren Formel, daß jeder lokale Konflikt, in den die
Atommächte verwickelt würden, »zwangsläufig« zu einem nuklearen Konflikt
eskalieren würde und daher vermieden werden müßte. Im sowjetischen Militär-
schrifttum wurde eingeräumt, daß dem Problem kleiner Kriege früher »unzu-
reichende Beachtung« geschenkt worden war. In diesen Schriften wurde jedoch
nicht vorbehaltlos dazu gedrängt, die Sowjetunion solle ein aktiver Teilnehmer an
derartigen Kriegen werden. Der Hauptgedanke im sowjetischen Schrifttum war ein
doppelter: erstens die wiederholte Behauptung, daß die westlichen Theorien über
einen begrenzten Krieg lediglich eine Tarnung für den Versuch seien, nationale
Befreiungsbewegungen zu unterdrücken; zweitens die gleichermaßen beharrliche
Zusage, die Sowjetunion werde weiterhin solche Bewegungen unterstützen.
Auf der Ebene des Handeins blieb jedoch die sowjetische Politik bis zum Ende von
Chruschtschows Amtszeit verhältnismäßig maßvoll. Insbesondere hielt sie kurz
vor solchen Schritten wie die Verpflichtung sowjetischer Streitkräfte in lokalen
militärischen Konfliktsituationen inne. Obwohl Chruschtschow energisch für die
Unterstützung nationaler Befreiungskämpfe sprach, stellte er sich, wenn Krisen
ausbrachen, im wesentlichen als ein Schwankender heraus, der weder aufhörte, so-
wjetische Hilfe zu versprechen, noch sie tatsächlich in Formen zur Verfügung
stellte, die die Gefahr der Ausweitung eines Krieges hätten erhöhen können. Als sich
der Rauch der Tongking-Golf-Krise vom August 1964 verzogen hatte, wurde be-
züglich der sowjetischen Haltung gegenüber Südostasien klar, daß Chruschtschow
Einführung zur deutschen Ausgabe 23
willens war, sich zumindest vorläufig mit einer ruhigen Politik des Disengagement
von sowohl Laos als auch Vietnam zu begnügen.
Wäre es ganz nach ihnen gegangen, dann hätten Chruschtschows Nachfolger es
wahrscheinlich vorgezogen, nicht innerhalb weniger Monate nach ihrer Machtüber-
nahme mit einer schwierigen Situation in Vietnam konfrontiert zu werden. Teil-
weise jedoch als eine Folge ihres eigenen offenbaren Entschlusses, Chruschtschows
de facto Politik des Disengagement von dem Vietnam-Problem umzukehren, und
teilweise als Resultat des unvorhergesehenen Zusammenspiels von Ereignissen sahen
sich die neuen Führer mit einer komplexen Krise belastet. Die Lage in Südost-
asien nahm nicht nur den Charakter eines Testfalls für die sowjetische Politik
gegenüber nationalen Befreiungskriegen im allgemeinen an, sondern sie stellte
auch vor ein verwirrendes neues Problem. Weil die Ausdehnung der amerikanischen
Luftangriffe auf Nordvietnam die Schonung beendeten, die etablierte kommunisti-
sche Regime herkömmlicherweise genossen, wurden die sowjetischen Führer un-
mittelbar vor die unbequeme Frage der Einlösung sowjetischer Verpflichtungen zur
Verteidigung eines kommunistischen Bruderstaates gestellt, der fern von der konti-
nentalen Basis der sowjetischen militärischen Macht liegt.
Allgemein kann man die bisherige Einstellung des neuen Regimes zur Lage in Viet-
nam vielleicht am besten als eine Haltung des widerstrebenden Kompromisses mit
verschiedenen unwillkommenen Alternativen beschreiben. Das Regime ist in seiner
Verpflichtung sowjetischer politischer und militärischer Ressourcen zur Unterstüt-
zung der kommunistischen Seite in Vietnam weiter gegangen als Chruschtschow,
doch bleibt es anscheinend abgeneigt, in einer Weise einzugreifen, die die Sowjet-
union in eine größere Konfrontation mit den Vereinigten Staaten verwickeln
könnte. Hinsichtlich der amerikanisch-sowjetischen Beziehungen als solche hat das
neue Regime einige Bestürzung über die Beeinträchtigung der Entspannung bekun-
det, die eine Nebenwirkung des Vietnamkrieges ist. Doch gleichzeitig scheinen die
sowjetischen Führer alle Befürchtungen, die sie deswegen gehegt haben könnten,
zurückgestellt zu haben, um gegen Peking Punkte zu sammeln. Indem sie eine
schärfere antiamerikanische Propaganda mit dem sowjetischen Image als dem eines
unnachgiebigen Unterstützers des Regimes in Hanoi verband, ist es der neuen
sowjetischen Führung in der Tat gelungen, in der Polemik mit China etwas an
Boden zu gewinnen.
Eine kritische Frage der Politik, die sich den sowjetischen Führern stellt, scheint zu
sein, ob militärische Hilfe in beträchtlichem Umfang wirksam eingesetzt werden
kann, ohne den eigentlichen »Vollmacht«-Charakter der sowjetischen Verstrickung
in dem Vietnam-Konflikt zu verändern. Eine wachsende Stufe der Luftkriegs-
führung über Vietnam würde beispielsweise sicherlich eine erhöhte Sachhilfe und
technische Unterstützung durch Moskau erforderlich machen, aber muß das not-
wendig die Art der sowjetischen Beteiligung verändern? Während jede Antwort
auf diese Frage offensichtlich eine Mutmaßung ist, scheint es fast, daß Hilfe in
Form von Rüstungsmaterial und sogar »freiwilligen« Mannschaften zur Unter-
stützung einer nominell nordvietnamesischen Jägerwaffe und anderer Arten der
Luftverteidigung wahrscheinlich in der zuvor üblichen Art und Weise zur Ver-
fügung gestellt werden könnte, das heißt - ohne direkte und formelle Bindung der
24 Einführung zur deutschen Ausgabe
sowjetischen Streitkräfte. Urteilt man von dem Beispiel der SAM-Basen aus, dann
könnte sich eine ziemlich hohe Stufe vollmachtmäßiger Unterstützung in der Luft-
verteidigung und anderen spezialisierten Gebieten auf unbestimmte Zeit behaup-
ten, insbesondere wenn es den Interessen beider Seiten zu dienen scheint, die Fiktion
keiner direkten sowjetischen Einmischung aufrechtzuerhalten.
Eine andere Frage wird jedoch aufgeworfen, falls die sowjetische Führung beab-
sichtigt über diese Form der beschränkten Verstrickung in Vietnam hinauszugehen
und sich eine Politik der ernstlichen Bindung sowjetischer Kräfte an entfernte Kon-
flikte in der dritten Welt zu eigen zu machen. Neben solchen grundsätzlichen Er-
wägungen wie die der Erhöhung des Risikos der Eskalation und der Ablenkung
von sowjetischem Potential von den militärischen und politischen Problemen in
Europa würde ein derartiger Wemsel in der Politik enorme Anstrengungen for-
dern, um die Elemente der logistismen Fähigkeiten zu Wasser und in der Luft
bereitzustellen, die notwendig wären, um dem Westen auf dem Kampfplatz der
dritten Welt militärisch wirksam entgegenzutreten.
Unter Chruschtschow zeigten die sowjetischen Fähigkeiten in den betreffenden
Kategorien, gemessen an dem Stand der Vorbereitung, der vor fünf oder zehn
Jahren existierte, einen deutlichen Fortschritt. Es gab, um kurz einige Punkte zu
erwähnen, vermehrte Investierungen in die amphibisme Beförderung und die Luft-
beförderung; die sowjetische Marineinfanterie wurde in kleinen Zahlen reaktiviert
und mit viel begleitender Publizität speziellen Landungsübungen unterworfen; die
Schiffstonnage wurde wesentlich erhöht; und in einigen Gebieten erwuchsen Stütz-
punktvereinbarungen aus den sowjetischen Militärhilfeprogrammen zugunsten einer
Reihe von Staaten, die ab 1955 durchgeführt wurden.
Obwohl derartige Entwicklungen nicht untersmätzt werden dürfen scheint es fast,
daß das neue Sowjetregime nom immer große unvollendete militärische Vorberei-
tungen vor sich hat, falls es beabsichtigt, sich eine Politik der lokalen Herausforde-
rung der amerikanischen militärischen Mamt an verschiedenen entfernten Fronten
in der dritten Welt zu eigen zu machen. Einige der Unzulänglichkeiten, denen abge-
holfen werden muß, werden durch die Schwierigkeiten der Vergangenheit ange-
deutet, auf die die Sowjetunion bei der Einführung ihrer militärischen Hilfe -
selbst wenn diese größtenteils nur eine verschleierte war - in entfernte Krisen-
gebiete traf; das gilt für Kuba, den Kongo und heute für Vietnam. Den Anforde-
rungen einer angemessenen Logistik, der Gründung und Sicherung der Kommunika-
tionslinien unter den Bedingungen eines direkteren und offeneren sowjetischen Ein-
greifens kann ohne große neue Investitionsentschlüsse kaum entsprochen werden.
Diese Entschlüsse werden zwangsläufig schmerzhaft sein, falls sie gefaßt werden,
und auf jeden Fall werden sich ihre Resultate wahrscheinlich nicht unmittelbar auf
die Vietnam-Situation auswirken.
Wollte man tiefer in die Faktoren eindringen, die schließlich die sowjetische Ein-
stellung zu Konflikten in der dritten Welt formen werden, dann müßte man ver-
schiedene allgemeine Trends berücksichtigen, die innerhalb des sowjetischen Systems
selbst im Gange sind, so zum Beispiel die noch unentschiedene Frage, ob die sowje-
tische Politik heute hauptsächlich von einem revolutionären Drang bewegt wird,
die Welt nach kommunistischen Grundsätzen umzugestalten, oder von einer evolu-
Einführung zur deutschen Ausgabe 25
tionären Tendenz in die Richtung einer Anpassung an die Welt wie sie ist. Es gibt
einige Anzeichen der Wandlung in der sowjetischen Einstellung, die man als Bereit-
schaft auslegen könnte, eine revolutionäre Strategie kommunistischen politischen
Vormarsches zugunsten einer stabilisierenden Rolle auf der internationalen Bühne
aufzugeben. Gleichzeitig ist das Problem der Interpretation der Richtung des Wan-
dels in der sowjetischen Einstellung außerordentlich schwierig, denn es ist eine
diffizile Angelegenheit des Differenzierens zwischen dem »normalen« Wechsel-
spiel der Rivalitäten innerhalb des laufenden Systems der internationalen Politik
einerseits und dem konkurrierenden Konflikt, der darauf abzielt, das System selbst
über Bord zu werfen. Welche dieser beiden Tendenzen den sowjetischen Fall am
besten beschreibt, ist eine strittige Frage, wenngleich nach Ansicht des Verfassers
die Sowjetunion sich bestenfalls nur langsam und widerstrebend auf eine Annahme
des gegenwärtigen Systems »normalen« konkurrierenden Strebens unter National-
staaten zubewegt.
Jüngere sowjetische Standpunkte, wie sie in Rüstungskontrollverhandlungen und
anderen Bereichen sowjetischen Verhaltens hervorgekehrt wurden, waren durch
eine gewisse Zwiespältigkeit gekennzeichnet. Auf der einen Seite wurde die Sowjet-
union in dem Image eines aktiven Förderers nationaler Befreiungsbewegungen
vorgestellt, auf der anderen Seite als Verfechter einer Verbesserung des internatio-
nalen Klimas durch geduldige Beratungen am Verhandlungstisch. So begrüßte zum
Beispiel die Sowjetunion im Januar 1966 mit Enthusiasmus die Konferenz dreier
Kontinente in Havanna, die ein neues Komitee ins Leben rief, um in afro-asiati-
schen und lateinamerikanischen Ländern »die nationale Befreiungsbewegung zu
fördern, zu vergrößern und zu festigen«. Andererseits verkündete die Sowjet-
union der Welt fast gleichzeitig, gleich nach Kossygins Vermittlung im Streit
zwischen Indien und Pakistan in Taschkent, daß sie auf »etwas völlig Neues in der
Ausübung internationaler Beziehungen« gestoßen sei, nämlich - die »sozialistische
Diplomatie«, mit deren Hilfe bisher halsstarrige internationale Auseinandersetzun-
gen gelöst werden könnten.
Ob dieses neue Konzept von der Möglichkeit der Friedensstiftung durch die Sowjet-
union - mit der darin enthaltenen übernahme größerer Verantwortung für die
Erhaltung des Friedens in unruhigen Gebieten der dritten Welt - bequem mit der
anderen Selbstvorstellung der Sowjetunion als eines pflichtbewußten Vorkämpfers
und aktiven Helfers revolutionärer Konflikte koexistieren wird, das ist eine Frage,
die zu beantworten der Geschichte überlassen bleibt.
Einleitung
In einem großen Teil der ausgedehnten westlichen Literatur über sowjetische Ange-
legenheiten ist in den letzten Jahren in zunehmendem Maße erkannt worden, daß
ein Wandlungsprozeß innerhalb des Sowjetsystems im Gange ist. In der Politik,
Diplomatie, Wirtschaft, Erziehung, Kultur, der Wissenschaft und in militärischen
Dingen - um nur einige Gebiete zu nennen - hat es Zeichen der Wandlung und
der Anpassung an neue Gegebenheiten gegeben, als das Sowjetsystem aus der Stalin-
Ära in diejenige Chruschtschows überging. Gewiß sind sich westliche Beobachter
der sowjetischen Verhältnisse in keiner Weise einig über die Natur dieses Wand-
lungsprozesses oder die Richtung, die er nimmt. Man kann sehr verschiedene An-
sichten über gewisse grundlegende Fragen finden.
So wird beispielsweise die Auffassung vertreten, daß die Sowjetunion sich allmäh-
lich zu einer Gesellschaftsform entwickelt, die in vielen grundlegenden Gesichts-
punkten jenen modernen Gesellschaftsformen ähnlich ist, wie sie in der westlichen
Welt durch die Phänomene, die die Industrialisierung und Verstädterung beglei-
teten, hervorgerufen wurden. Diese Theorie der Angleichung wird von einer
anderen verworfen, derzufolge sich das sowjetische System auf eigene 'Veise - sui
generis - nach Grundsätzen fortentwickelt, die eine Verschmelzung mit der west-
lichen Welt zu einer gemeinsamen politischen und sozio-ökonomischen Form un-
wahrscheinlich machen.
Zu einer zweiten ins Auge springenden Frage meinen einige Beobachter, daß der
Wandlungsprozeß eine beträchtliche Mäßigung der feindlichen Ziele und Verhal-
tensweisen der Sowjetunion gegenüber dem Westen bewirkt habe. Andere dagegen
finden keinen überzeugenden Beweis dafür, daß sich die eigentlichen Ursachen des
Konflikts zwischen dem Sowjetsystem und seinen Gegnern wesentlich gemildert hät-
ten. Nach dem Dafürhalten wieder anderer befinden sich die sowjetischen Beziehun-
gen zum Westen im übergang entlang einer Skala, die von der Auseinanderset-
zung und dem Wettbewerb auf der einen Seite bis zur wachsenden Zusammenarbeit
auf der anderen reicht.
Zu einer dritten bedeutenden Frage wird die Ansicht vorgebracht, daß der Wand-
lungsprozeß im Sowjetsystem weitgehend von der Politik und Macht des Westens
beeinflußt worden ist, und daß der künftige Weg der sowjetischen Entwicklung in
hohem Maße von der Wechselwirkung der beide Systeme abhängen wird. Dagegen
setzt sich jene Meinung ab, derzufolge Wandlung und Entwicklung innerhalb der
Sowjetunion hauptsächlich von Kräften getragen werden, auf die der Westen keinen
Einfluß und über die er keine Kontrolle hat.
Es ist nicht zu erwarten, daß sich diese Fragen in zukünftigen Studien der sowjeti-
schen Angelegenheiten eher beantworten lassen als in der Vergangenheit. Jedoch
28 Einl~itung
schon die Erkenntnis, daß die sowjetische Sicht der Dinge einer Veränderung zu-
gänglich und nicht so starr und monolithisch ist, wie man allgemein angenommen hat,
scheint einen Schritt zu umfassenderer Einsicht und besserem Verständnis darzustel-
len. In diesem Zusammenhang ist es erwähnenswert, daß die Beobachter der sowje-
tischen militärischen Belange und des sowjetischen strategischen Denkens unter
den ersten waren, die darauf hinwiesen, daß das alte Bild von dem monolithischen
Sowjetgeist nicht länger angebracht war.
Vielleicht kann dies mit der Tatsache erklärt werden, daß die nachstalinistische
Ära etwa zur gleichen Zeit begann, als auch die wissenschaftlich technologische Re-
volution des Atomzeitalters stärker in der Sowjetunion spürbar wurde. Somit ist
es nicht überraschend, daß die Militärpolitik und Strategie zu den ersten Bereichen
gehörte, in denen das sowjetische Denken sich anschickte, mit den mehr statischen
Konzeptionen und dem strengen Konformismus der Stalin-Ära zu brechen. Man
braucht sich nur in Erinnerung zu rufen, daß sogar bevor die »Entstalinisierungs«-
bewegung - die auf den 20. Parteikongreß vom Jahre 1956 folgte - Korrekturen
und Erneuerungen in viele Bereiche des sowjetischen Lebens brachte, einige sowjeti-
sche Militärs schon die Absolutheit und Dauer der »stalinistischen« Militärtheorie
in Frage zu stellen begonnen hatten. Das ist auch bei Chruschtschow selbst der Fall,
dessen erster Versuch als »schöpferischer Fortentwidder« der marxistisch-leninisti-
schen Theorie auf die strategischen Probleme des Atomzeitalters gerichtet war, als
er nämlich die leninistische These von der Unvermeidbarkeit des Krieges auf dem-
selben 20. Parteikongreß abänderte. Welches auch immer die Quellen für die Gä-
rung und den Wandel im nachstalinistischen Rußland sein mögen, auf jeden Fall
scheint die Aussage richtig, daß eines der wichtigsten Elemente in der Einstellung
der Sowjetführung die wachsende Einsicht in die Folgen der Waffen des Atomzeit-
alters gewesen ist. Sicherlich war die Revolution in den militärischen Dingen ein
grundlegender Faktor bei der Bildung jenes allgemeinen politischen und strategi-
schen Klimas, in dem sich die sowjetische Politik in dem Jahrzehnt seit Stalin ent-
faltet hat.
In dieser Studie habe ich mich hauptsächlich mit Entwicklungen auf dem Gebiet der
sowjetischen Militärpolitik und Strategie in der Zeit seit der Kubakrise vom Okto-
ber 1962 befaßt, einer Zeit, in der die Sowjetführung eine gewisse Art begrenzter
Entspannung mit den Vereinigten Staaten suchte. Es ist nicht möglich, vorauszusa-
gen, wie lange diese Politik der Entspannung andauern wird. Zu einem gewissen
Grade wird die Dauerhaftigkeit der Entspannung zweifellos durch den Erfolg der
Sowjetführung bei der Behandlung der verschiedenen strategischen und militär-
politischen Probleme, die durch die Kubakrise in den Brennpunkt gerückt wurden,
bedingt sein. Damit ist nicht gesagt, daß notwendigerweise eine ausschließliche
Wechselbeziehung zwischen einem sowjetischen Interesse, eine Atmosphäre der Ent-
spannung zu pflegen, und den Unzulänglichkeiten der militärischen Lage der
Sowjets besteht. Viele andere Faktoren treten noch hinzu. Auch bedeutet Entspan-
nung nicht zwingend, daß Chruschtschows Stellung allgemein unsicher ist, und daß
er einer Atempause bedarf, um daheim und im Ausland seine eigene politische Stel-
lung zu festigen. Ganz im Gegenteil, man könnte das Argument vorbringen, daß es
einen außerordentlich festen Griff am Hebel der Führerschaft erfordert, um über
Einleitung 29
Schritte zur Entspannung zu verhandeln, sich aus einer Krise herauszulavieren und
um Rückschläge zu überleben; das gilt insbesondere angesichts der Kritik von seiten
der rivalisierenden Führer innerhalb des kommunistischen Lagers in Peking.
Während man anerkennt, daß eine Entspannungspolitik nicht nur als das Produkt
ungelöster Probleme und beschränkter Gelegenheiten erklärt werden kann, so neigt
man nichtsdestoweniger dazu, diesen Faktoren besonderes Gewicht beizumessen,
um Moskaus Betreiben einer derartigen Politik während der letzten Jahre zu erklä-
ren. Es ist in der Tat eine zentrale These dieser Studie, daß die sowjetische Führung
sowohl Zeit wie Aktionsfreiheit zu gewinnen gesucht hat, um mit einer Anhäufung
von Schwierigkeiten fertig zu werden, unter denen einige der hartnäckigsten eben
die Fragen der Strategie und Verteidigungspolitik sind. Es ist das Ziel des Verfas-
sers, mit der vorliegenden Arbeit eine Analyse des sowjetischen Denkens und Er-
örterns dieser Fragen vor dem Hintergrund der Vielzahl von Problemen zu erbrin-
gen, die aus dem neuen technologischen und politischen Milieu erwachsen. Die fol-
genden Absätze dieser einführenden Bemerkungen geben eine allgemeine Zusam-
menfassung der eingehenden Untersuchung im Hauptteil dieser Arbeit.
Ein zentrales Problem, dem sich die Sowjetführung gegenübersieht. betrifft die Ver-
teilung der Ressourcen. Der Bedarf an größeren Investitionen zur Aufrechterhal-
tung einer hohen industriellen Wachstumsrate und Unterstützung eines schwanken-
den Landwirtschaftssektors, die steigende Höhe der Konsumentenerwartungen, der
wachsende Bedarf an Arbeitskräften angesichts eines Arbeitskräftemangels, die Ko-
sten der Aufrechterhaltung des Wettrennens um den Weltraum - dieses sind einige
der konkurrierenden Forderungen an die sowjetische Volkswirtschaft, die in den
vergangenen ein oder zwei Jahren den sowjetischen Führern ungewöhnliche Schwie-
rigkeiten bei der Entscheidung bereiten, welcher Anteil ihrer Ressourcen militäri-
schen Zwecken gewidmet werden sollte. In einem erheblichen Ausmaße mögen
wirtschaftliche Schwierigkeiten den sowjetischen Versuchen, eine Atmosphäre der
Entspannung in den Ost-West-Beziehungen zu fördern, zugrunde liegen. Gleichzei-
tig macht aber die sowjetische Führung geltend, daß wirtschaftliche Abhilfsmaß-
nahmen die sowjetische Verteidigung nicht beeinträchtigen dürfen.
Ein weiteres fundamentales Problem, daß der militärisch-technologischen Revolu-
tion der neu esten Zeit entspringt, beruht auf der Tatsache, daß die Sowjets sich der
zerstörenden Gewalt eines nuklearen Krieges bewußt sind. Die nukleare Umwelt
läßt einen Krieg nicht nur außergewöhnlich gefährlich erscheinen, sie trug auch dazu
bei, die traditionelle marxistisch-leninistische Doktrin von der Verkettung von
Krieg und Politik zu unterminieren, und sie ließ beunruhigende Fragen über den
politischen Nutzen des Gebrauchs militärischer Macht oder der Drohnung, sie ein-
zusetzen, im Zeitalter der Kern- und Raketenwaffen aufkommen.
Die andauernde chinesisch-sowjetische Spaltung stellt ein weiteres Problem von
großer Wichtigkeit dar. Es hat viele Verzweigungen. Neben der Tatsache, daß diese
Spaltung die zentrifugalen Kräfte, die innerhalb des kommunistischen Lagers wirk-
sam sind, genährt und die Konkurrenz zwischen Moskau und Peking um die Ge-
folgschaftstreue der »nationalen Befreiungsbewegungen« verschärft hat, kann der
Konflikt einige der grundsätzlichen strategischen Voraussetzungen, auf die die
30 Einleitung
sowjetisdte Planung gegründet worden ist, in Frage gestellt haben. Neben dem
Streben nadt größerer Autonomie unter den osteuropäisdten Ländern hat die
wadtsende Entfremdung zwisdten Moskau und Peking die sowjetisdte Führung
gezwungen, den internen militärisdten Verhältnissen innerhalb des kommunisti-
sdten Lagers mehr Aufmerksamkeit zu widmen.
Gleidtzeitig stellt, zwei Jahre nadt dem erfolglosen Aufmarsdt sowjetisdter Rake-
ten auf Kuba, offensidttlidt die Entwicklung einer militärisdten Stellung, die den
sowjetisdten Bedürfnissen im Machtwettstreit mit den Vereinigten Staaten ent-
spridtt, vor lästige und ungelöste Probleme. Sowohl die interne Militärdiskussion
innerhalb der Sowjetunion als auch der äußere strategisdte Dialog mit den Vereinig-
ten Staaten zeugen für die Tatsadte, daß es in der Sowjetunion noch immer ver-
schiedene Denkridttungen zu vielen schon seit längerer Zeit diskutierten Angelegen-
heiten gibt.
Die Militärdebatte, die in den letzten Jahren in der Sowjetunion stattfand, hat
eine Menge Einblicke in die Arten militärpolitischer Probleme, wie sie die sowje-
tische Führung vornehmlich beschäftigen, geliefert. Man kann auch sagen, daß es
jetzt für die Darstellung divergierender Ansichten etwas mehr Spielraum als früher
gibt. Der Umfang dieses Spielraums schwankt, und es gibt noch immer - um den
Mythos kommunistischer Solidarität zu erhalten - ein recht kompliziertes Ritual
für die indirekte Mitteilung von Kritik auf hoher Ebene. Nichtsdestoweniger
erlauben die Verhältnisse des sowjetischen Gesprächs es heute eher als früher, Mei-
nungsverschiedenheiten an die Offentlichkeit zu bringen.
Was die Militärdebatte selbst angeht, so ist die Hauptströmung seit dem Ende der
SOer Jahre ziemlich genau bestimmt worden, als nämlich die Konsolidierung von
Chruschtschows politischer Vorherrschaft mit der Aussicht zusammenfiel, daß die
Sowjetunion bald mit dem Besitz größerer Mengen fortentwickelter Waffen rech-
nen könnte. Seit jener Zeit hat sich die Diskussion wesentlich auf die Bestrebungen
der Sowjetführung einschließlich Chruschtschows selbst konzentriert, die sowje-
tische Militärdoktrin und die Streitkräfte in eine Richtung umzuorientieren, von
der man annimmt, daß sie den Anforderungen des Zeitalters der Kern- und Rake-
tenwaffen besser entspricht. Diese Bemühungen sind auf unterschiedlichen Wider-
stand aus einigen Bereichen des Militärs getroffen, vielleicht mit der stillschweigen-
den Unterstützung von Elementen der Parteistaatsbürokratie, deren Interessen auf
die eine oder andere Weise betroffen wurden.
Es würde das Bild jedoch zu sehr vereinfachen, wollte man dies lediglich als einen
institutionalisierten Meinungsstreit zwischen politischen und militärischen Füh-
rungsgruppen ansehen. Wahrscheinlich ist die Diskussion ebensosehr von dem Wesen
der Streitfragen wie von rein institutionellen Unterschieden geformt worden. Es
hat in der Tat einen ständigen untergeordneten Diskussionsstrom innerhalb des
Militärs selbst gegeben, mit »modernistischen« und »traditionalistischen« Auffas-
sungen an jedem Ende der Skala und einem Kern mit einer Mittelmeinung da-
zwischen.
Die Modernisten tendierten mehr oder weniger dazu, mit der Art von Ansichten,
wie Chruschtschow sie vorbrachte, zu sympathisieren und sich für eine radikalere
Anpassung der modernen Technologie an militärische Belange einzusetzen. Sie ha-
Einleitung 31
ben zu verstehen gegeben, daß diese Methode eine Verringerung der Streitkräfte
erlauben könnte, daß Qualität - sozusagen - die Quantität ersetzen würde.
Zwar neigten die Traditionalisten dazu, die Wirkung der Technologie auf mili-
tärische Angelegenheiten anzuerkennen, doch auf der anderen Seite widersprachen
sie einem Ablegen erprobter und bewährter Anschauungen mit dem bloßen Zweck,
etwas Neues anzunehmen.
Man kann weder von der modernistischen noch von der traditionalistischen Auf-
fassung sagen, daß sie die »offizielle« sowjetische Militärtheorie heute beherrsche,
obwohl die Hauptströmung der letzten Jahre auf eine Etablierung der modernisti-
schen Vorstellungen abzuzielen schien, weil das die Denkweise ist, die von Chru-
schtschow und der politischen Führung am meisten begünstigt wird. Gleichzeitig
finden sich Anzeichen dafür, daß eine Gegenströmung einsetzen könnte, die gleich-
sam eine Reaktion in einigen Teilen des Militärs gegen die neue Orthodoxie andeu-
tet, die solche strategischen Vorstellungen Chruschtschows wie den absoluten Primat
der Kern- und Raketenwaffen enthält. Für die andauernde Vitalität der Militär-
debatte in der Sowjetunion zeugt zumindest die Tatsache, daß der Streit zwischen
den modernistischen und den traditionalistischen Auffassungen noch nicht entschie-
den ist.
zeigt sich während der letzten Jahre bei einer Anzahl militärischer Fragen. Das ist
beispielsweise der Fall in Hinblick auf: den Vorrang strategischer Kernwaffen in
der modernen Kriegführung; die entscheidende Bedeutung der Anfangsphase eines
Krieges; die Notwendigkeit der Aufrem.terhaltung eines Zustandes hoher Kampf-
bereitschaft; bei der Zielwahl die Annahme eines Standpunktes, der die Zerstörung
sowohl militärism.er als aum. ziviler Ziele betont; die Ablehnung der Vorstellungen
von Zielbesm.ränkung und kontrollierter Reaktion (controlled response); und die
Erkenntnis der wirtschaftlichen Schwierigkeit, in Friedenszeiten große stehende
Streitkräfte aufrem.tzuerhalten.
Bei wieder anderen Fragen wurden die Akzente in der neueren sowjetism.en Militär-
diskussion anders gesetzt. So gab es, um einige Beispiele zu nennen: mehr Augen-
merk auf den begrenzten Krieg; erhöhtes Vertrauen in die Fähigkeit der Früh-
warnung, die Aussim.ten eines erfolgreichen Oberraschungsangriffs zu vermindern;
größeren Nam.druck auf der Festigung und BeweglidJ.keit strategischer Waffen und
dem Beitrag, den diese Maßnahmen der Glaubhaftigkeit der sowjetischen Abschrek-
kungshaltung leisten; eine Aufwertung der strategism.en Rolle von Raketen-U-Boo-
ten; eine gewisse niedrigere Einstufung der Aussim.ten von Langstreckenbombern
in der Zukunft, aber eine Aufwertung der Funktion vom Bombern gegen Ziele auf
See; eine größere Betonung der U-Boot-Abwehrtätigkeit und der Fähigkeiten zu
amphibischen Landungen; und vermehrten Nachdruck auf die Wichtigkeit der Ent-
wicklung der Raketen- und Satellitenabwehr. Es hat sich ferner bei den Sowjets
ein wachsendes Interesse für die Möglichkeiten des Weltraums gezeigt. Es drehte sich
hierbei um die Beschuldigung, daß die amerikanism.en Absichten, den Weltraum
militärisch auszubeuten, die Sowjetunion zwängen, entsprem.ende Schritte zu ihrer
eigenen Verteidigung aufzunehmen.
Die Ansichten sowjetischer politischer und militärischer Führer über Fragen des
Krieges und der Strategie sind von großem Interesse im Zusammenhang mit dem
äußeren strategischen Dialog -mit dem Westen, insbesondere den Vereinigten Staa-
ten. Als eine Form von Kommunikation zwischen Gegnern ging es den beiden gro-
ßen Atommächten in dem strategischen Dialog weitgehend um die Förderung von
nationalpolitischen Interessen im mehr oder weniger engen Sinne, und das wird
wahrscheinlich auch weiterhin so bleiben. Dabei gebraucht jede Seite öffentliche
Erklärungen, um ihre Abschreckungsstellung zu erhöhen, um aus ihrer militäri-
schen Macht politisches Kapital zu schlagen oder den anderen an der Ausschlach-
tung seiner Militärmacht zu hindern, und um die Autorität ihrer Haltung Ver-
bündeten und Dritten aufzuzwingen.
Gleichzeitig neigen jedoch beide Seiten spürbar wenn auch mit wechselnder Stärke
dazu, eine genauere strategische Verständigung als ein Mittel anzusehen, das die
Verwicklungen klären und die Gefahren ihrer strategischen Beziehungen im Zeit-
alter der Kern- und Raketenwaffen mildern könnte.
In dem vergangenen Jahr hat die sowjetische Seite mehrere Beiträge zur Diskussion
der Strategie geleistet, die im Zusammenhang mit dem Gespräch nach außen wie
auch nach innen von bemerkenswertem Interesse sind. Einer davon war eine über-
arbeitete und erweiterte Ausgabe des Sokolowski-Bandes, Militär-Strategie, die im
Einleitung 35
Herbst 1963 veröffentlicht wurde, knappe fünfzehn Monate nach der vielbespro-
chenen ersten Auflage. Ein weiterer Beitrag war die sofortige sowjetische Erwide-
rung in der Zeitschrift Roter Stern auf amerikanische Besprechungen der ersten
Sokolowski-Ausgabe. In diesen und gewissen anderen 1\ußerungen strategischen
Denkens sowjetischer Militärs und Politiker ist eine Tendenz zum Ausdruck. ge-
kommen, die Argumente zu verfeinern, teilweise um westlichen Interpretationen
der sowjetischen militärischen Lage und Politik entgegenzutreten oder sie abzu-
schwächen. Einige sowjetische Schriften haben »berichtigende Botschaften« über
solche Fragen wie die Eskalation lokaler Konflikte, die sowjetische Fähigkeit zum
zweiten Schlag (second strike capability), die Vorwegnahme oder Vorbeugung
(pre-emption), die Beziehungen zwischen Militär und Politik und so weiter ent-
halten.
Die jüngsten Schwierigkeiten der sowjetischen Führung haben dem strategischen
Gespräch mit dem Westen ihren Stempel aufgedrückt. In diesem Gespräch zeichnet
sich deutlich ab, daß sich die Sowjets der Notwendigkeit bewußt sind, die sowje-
tische Politik den 1\nderungen des strategischen Klimas anzupassen.
So haben sich die Sowjets zum Beispiel beharrlich bemüht, die Glaubhaftigkeit der
sowjetischen strategischen Abschreckung in westlichen Augen zu erhöhen. Dieses
Thema, das mit besserer Methodik als zuvor erörtert wurde, ist mit einem Versuch
gekoppelt worden, die Vereinigten Staaten bezüglich irgendwelcher Vorstellungen,
sie könnten etwa mit einem erfolgreichen ersten Schlag rechnen oder politischen
Vorteil aus ihrer strategischen Position gegenüber der Sowjetunion ziehen, eines
besseren zu belehren. Vermehrter Nachdruck ist auf die strategischen Raketenstreit-
kräfte als Hauptbestandteil der sowjetischen Militärrnacht und als Hauptwerkzeug
der sowjetischen Außenpolitik gelegt worden. Während sie die qualitative überle-
genheit sowjetischer Raketen geltend machen und die Sowjetunion als die einzige
Besitzerin von Waffen von »50 bis 100 Megatonnen und mehr« ausspielen, haben
sowjetische Sprecher es fortgesetzt vermieden, die Zahl ihrer Langstrecken-Raketen-
waffen mit der der Vereinigten Staaten zu vergleichen.
Die konsequente Zurückweisung der Idee der kontrollierten Anwendung strategi-
scher Waffen und der schadensbegrenzenden Zurückhaltung für den Fall, daß ein
größerer Krieg sich ereignen sollte, ist ein anderer Zug des sowjetischen Gesprächs
über die Kriegführung auf der strategischen Ebene gewesen. In seiner Rede in
Ann Arbor im Juni 1962 hat Verteidigungsminister McNamara eine strategische
Konzeption skizziert, die betont, daß nicht Städte und Bevölkerungen, sondern
militärische Ziele der Angriffsgegenstand im Falle eines nuklearen Krieges sein
sollten. Seither haben sowjetische Kommentatoren viel Kritik dem gewidmet, was
sie als einen amerikanischen Versuch bezeichnen, eine »counterforce-.. oder »Städte-
ausklammerungs«-Strategie zu popularisieren. Gleichzeitig fanden sich einige An-
zeichen sowjetischer Empfindlichkeit gegenüber der stillschweigenden Schlußfolge-
rung, daß die sowjetische strategische Konzeption starr und weniger human sei, als
die Einstellung westlicher Befürworter schadenbegrenzender Maßnahmen.
Während die sowjetische Vorstellung vom Kriege auf der strategischen Ebene starr
ist, zeigte sich andererseits eine neue Tendenz, den sowjetischen Standpunkt von
der Verknüpfung zwischen kleinen Kriegen und einem globalen Krieg neu zu be-
36 Einleitung
stimmen. Während einiger Jahre war dieser Standpunkt durm einen ziemlim hohen
Grad doktrinärer Starrheit gekennzeidtnet, wie die besondere Hervorhebung der
großen Eskalationsgefahr zeigt. Heute dagegen bemühen sim insbesondere militä-
risme Kreise, den Eindruck zu vermitteln, daß die sowjetisme Doktrin nimt die un-
ausweimbare Eskalation begrenzter Kriege zu einem allgemeinen Krieg predigt.
Obgleim das nimt unbedingt darauf hinweist, daß die Sowjetunion plötzlim ein
neues Interesse entwickelt hat, lokale Kriege zu führen, so legt die neue Rimtung
der Diskussion dom den Gedanken nahe, daß die Sowjets zumindest das alte Lied
von der Eskalation zu dämpfen sumen. Ein Grund dafür könnte sein, daß sie damit
dem minesismen Vorwurf begegnen wollen, sie - die Sowjets - unterstützten
»nationale Befreiungskämpfe« nimt mit genügend Namdruck. Ferner könnten die
Sowjets dadurm den Eindruck berichtigen wollen, der Westen könnte in lokalen
Konflikten größere Handlungsfreiheit deshalb haben, weil die sowjetisme Doktrin
eine übergroße Besorgnis vor einer Eskalation verrät.
Der offensichtlime Wunsch einiger sowjetischer Kreise, den Eindruck größerer Be-
weglimkeit bei der Handhabung möglimer örtlicher Konflikte zu vermitteln, hat
dazu tendiert, vor Mitteleuropa haltzumachen, weil hier die Möglimkeit, einen
lokalen Krieg zu begrenzen, von der sowjetischen Meinung zurückgewiesen wird.
Jedom hat es im sowjetischen Gespräm einige Andeutungen dafür gegeben, daß für
den Fall bestimmter Konflikte dritter Mächte, die möglicherweise Westdeutschland
und Osteuropa einbeziehen, die Sowjetunion versumen könnte, eine Ausdehnung
des Konflikts dadurch zu verhindern, daß sie die Vereinigten Staaten nicht angreift,
wenn diese ihrerseits die Sowjetunion nicht angreifen. Diese Andeutung scheint mit
einem allgemeinen sowjetischen Interesse verbunden zu sein, die Vereinigten Staaten
gegen die Gefahr eines ersten Schlages unter Grenzbedingungen, in denen die Frage
der Vorwegnahme (pre-emption) aufkommen könnte, zu versichern.
Gleichzeitig bleibt jedoch die sowjetische Einstellung zur Vorwegnahme etwas
zweideutig. Man findet - vielleicht um den Eindruck der sowjetischen Abschrek-
kungsmittel zu stärken - noch immer in den Darlegungen vieler Sowjetführer
einen verschleierten Hinweis darauf, daß die Sowjetunion unter gewissen Umstän-
den das in Erwägung ziehen könnte, was in der Tat und nimt nur dem Namen nach
eine Vorwegnahme bzw. vorbeugende Strategie sein würde. So machen beispiels-
weise Marschall Malinowski und andere noch immer geltend, daß die sowjetischen
Streitkräfte für die vorrangige Aufgabe vorbereitet sein müßten, »des Gegners
aggressive Pläne zu vereiteln, indem man ihm zur rechten Zeit einen vernichtenden
Schlag versetzt«.
Bis heute hat sich ein großer Teil der strategischen Diskussion zwischen Ost und
West auf die Frage konzentriert, ob das Gleichgewicht der militärischen Macht in
der Welt die eine Seite oder die andere begünstigt. Das vorherrschende Merkmal
im sowjetischen Gespräch ist durchweg die Betonung der Notwendigkeit militäri-
scher überlegenheit gegenüber dem Westen gewesen. Es gibt jedoch einige offen-
sichtliche Nachteile, wenn man sich zu einer Politik der Erreichung und Behaup-
tung militärischer überlegenheit bekennt. Wenn nämlich der sowjetischen militäri-
schen Haltung das Aussehen übertriebener Furchtbarkeit verliehen wird, so kann
Einleitung 37
das die Folge haben, daß der Westen einfach zu größeren Anstrengungen ange-
spornt wird. Das würde im militärischen Bereich die Lage der Sowjets im Verhältnis
zum Westen nicht verbessern, und sie wirtschaftlich vielleicht erheblich verschlech-
tern. Für ein Land, dessen Ressourcen ohnehin schon durch die hohen Kosten des
Wettrüstens stark in Anspruch genommen sind, ist dieses eine ernste überlegung.
Die sowjetische Förderung einer Atmosphäre der Entspannung verrät, daß die
Sowjets dieses Problem erkennen, denn die Entspannungspolitik zielt zum Teil auf
eine Verlangsamung des Wettlaufs um den militärischen Vorrang ab. Außerdem
könnte in einem taktischen Sinne die unzeitige Betonung der militärischen über-
legenheit andere unmittelbare Ziele, denen die Entspannung anscheinend dienen
soll, aufs Spiel setzen.
Einige leichte Anzeichen des Schwankens, ob es ratsam sei, eine Politik der mili-
tärischen überlegenheit auszurufen, sind im jüngsten sowjetischen Gespräch aufge-
taucht, doch ob dieses lediglich eine vorübergehende Milderung der überlegenheits-
doktrin oder eine tiefere Neueinschätzung der Gründe dafür und dagegen bedeutet,
bleibt abzuwarten. Bei der Entscheidung, ob sie nach strategischer überlegenheit
über den Westen streben oder sich mit einer zweitbesten Stellung abfinden sollte,
steht die sowjetische Führung sicherlich vor einem ihrer beunruhigenderen Probleme.
Die Sowjetunion befindet sich nicht nur in Hinblick auf die zur Erreichung einer
bedeutenden überlegenheit verfügbaren Ressourcen in einem verhältnismäßigen
Nachteil, sondern sie hat es fertiggebracht, wie die Erfahrung zeigt, während eines
beträchtlichen Zeitraums in einer Stellung strategischer Unterlegenheit gegenüber
ihrem Hauptgegner zu leben, ohne dem so häufig prophezeiten »imperialistischen
Angriff« ausgesetzt gewesen zu sein.
Im Lichte einiger neuer Äußerungen des sowjetischen strategischen Denkens er-
scheinen die Aussichten auf die weitere Entwicklung eines nützlichen strategischen
Dialogs zwischen der Sowjetunion und den Vereinigten Staaten einigermaßen
ermutigend. Obwohl die sowjetische Vorstellung von den amerikanischen Motiven
und Absichten noch immer nicht frei von groben Verzerrungen ist, taucht doch in
dem jüngsten sowjetischen Gespräch ein etwas objektiveres Bild von den Vereinigten
Staaten als eines starken aber verantwortungsvollen Gegners auf. Der Verbesserung
der Kommunikation über die strategischen Beziehungen zwischen den beiden Super-
mächten haben gewisse tastende Schritte auf dem Gebiet der Rüstungskontrolle
entsprochen, wie zum Beispiel der Vertrag über die Ächtung der Atomversuche, das
Abkommen zwischen Moskau und Washington über den »Heißen Draht«, der
UNO-Beschluß gegen die kosmische Stationierung von Atomwaffen, und die ge-
meinsamen Erklärungen zur Einschränkung der Herstellung spaltbaren Materials.
Obwohl diese Maßnahmen nicht unmittelbar eine Abrüstung nach sich ziehen, kann
man von ihnen sagen, daß sie ein gemeinsames Verlangen widerspiegeln, das Tempo
des Wettrüstens zu verlangsamen und die Gefahr eines Krieges auf Grund eines
Mißverständnisses zu vermindern. Zusammen mit dem strategischen Dialog scheinen
diese Maßnahmen das darzustellen, was man als eine sondierende Bemühung be-
zeichnen könnte, die Konfrontation der Vereinigten Staaten und der Sowjetunion
so zu »lenken«, daß sie in bestimmten Grenzen bleibt, ohne den politischen Inter-
essen der Gegner zu schaden.
38 Einleitllng
Nur wenige Menschen sind sich heute nicht bewußt, daß die wissenschaftlich-techno-
logische Revolution unserer Zeit eine enorme Wirkung auf soziale und politische
Institutionen gehabt und dazu beigetragen hat, zu starker Gärung und Wandel in
der Welt anzuregen. Diese Wirkung haben die militärischen Angelegenheiten und
die Beziehung militärischer Macht zur Politik in einem besonders unmittelbaren
Sinne verspürt. Das gilt im Falle der Sowjets nicht weniger als bei uns. Um die De-
batte über Militärpolitik und Strategie, die sich im Verlauf des letzten Jahrzehnts
in der Sowjetunion entfaltet hat, wie auch den strategischen Dialog mit dem We-
sten zu verstehen, kann es nützlich sein, zunächst die Lage der sowjetischen Füh-
rung im Lichte mehrerer überlegungen, die sich aus dem neuen technologischen und
politischen Milieu unserer Zeit ergeben, zu betrachten.
Die erste dieser überlegungen betrifft das sowjetische Verständnis für die zerstö-
rende Gewalt eines nuklearen Krieges und den Wunsch der Sowjetführung, die Ge-
fahr zu vermindern, daß ein derartiger Krieg sich ereignet und vielleicht die Errun-
genschaften von mehr als viereinhalb Jahrzehnten sozialistischen Aufbaus zunichte
macht. Dieses Verständnis hat dazu beigetragen, einige der Grundbegriffe der
kommunistischen Doktrin aus der vornuklearen Zeit zu untergraben, insbesondere
den von der notwendigen Verkettung zwischen Krieg und Revolution. Es war
Lenins Auffassung, daß der Krieg das enthalte, was als die legitime soziopolitische
Funktion zur Steigerung der Bedingungen für sozialistische Revolutionen und deren
Auslösung beschrieben werden könnte. Während die kommunistische Doktrin der
vornuklearen Zeit weder von der Vorstellung der Gewalt um der Gewalt willen
Kenntnis nahm, noch, außer in kurzen Zeitabschnitten, die Ausbreitung der Revo-
lution durch die Kraft der roten Bajonette betonte, hat sie sicherlich, im marxisti-
schen Sprachgebrauch, den Krieg als »den Geburtshelfer der Revolution« angesehen.
Die Erfahrung der zwei Weltkriege schien diese Vorstellung zu bestätigen, weil nach
jedem dieser Kriege der Kommunismus sich seines größten Erfolges und seiner brei-
testen Ausdehung in der Welt erfreute 1.
1 Die kommunistische Doktrin hat weiterhin die historische Abhängigkeit des Kommunis-
mus vom Kriege anerkannt, obwohl nach der sowjetischen »revisionistischen« Auffassung
die Revolution nicht länger »notwendig mit einem Kriege verknüpft« ist. In einem maß-
geblichen, die Lehre betreffenden Handbuch, das 1959 veröffentlicht wurde, aber noch
immer als gültige Schrift in der Sowjetunion zitiert wird, heißt es z. B.: »Bis heute läuft
die geschichtliche Entwiddung auf die Tatsache hinaus, daß der revolutionäre Sturz des
Kapitalismus jedesmal mit Weltkriegen verbunden gewesen ist. Sowohl der erste als auch
der zweite Weltkrieg dienten als mächtige Beschleuniger revolutionärer Explosionen.«
Osnovy Marksisma-Leninisma (Grundlagen des Marxismus-Leninismus), Gospolitisdat,
Moskau, S. 519.
42 Kapitell
Heute dagegen hat das nukleare Milieu einem Weltkrieg ein äußerst gefährliches
Aussehen gegeben und folglich dahin tendiert, vielen Formen revolutionärer Aus-
einandersetzungen, die sich zu großen nuklearen Kriegen auswachsen und somit
das Sowjetsystem als solches aufs Spiel setzen könnten, Einhalt zu gebieten. Diese
Situation hat deutlich eine auffallende Wirkung auf die sowjetisme Doktrin und
Politik gehabt. Sie erklärt weitgehend ChrusdJ.tsdJ.ows Revision des Dogmas von
der Unvermeidbarkeit des Krieges, und seine nachdrückliche Befürwortung der
Strategie der friedlichen Koexistenz als der simersten und zuverlässigsten Form des
Klassenkampfes in der internationalen Arena. Man mag sich die Empfindung ins
Gedächtnis rufen, die in der Erwiderung der KPdSU an die chinesismen Kommuni-
sten zum Ausdruck kommt und in dem offenen Brief vom 14. Juli 1963 enthalten
ist:
Die Atombombe hält sidt nidtt an das Klassenprinzip, sie zerstört jeden innerhalb der
Reidtweite ihrer vemidttenden Gewalt I.
Im Verhältnis zur klassismen kommunistischen Doktrin ist dieses eine wahrhaft
zersetzende Vorstellung. Denn wenn einmal zugegeben ist, daß es mächtige Phäno-
mene gibt, die nicht den Gesetzen des Marxismus-Leninismus folgen, dann sind
dem zunehmenden Zweifel an der Gültigkeit anderer Merkmale des Glaubens-
bekenntnisses Tür und Tor geöffnet. Dieses scheinen die chinesischen Kommunisten
in ihrer Verteidigung der ideologischen Orthodoxie gegen das, was sie als sowjeti-
schen Revisionismus ansehen, zu spüren. Die waffentechnische Revolution des
Atomzeitalters liegt somit nahe am Kern der Auseinandersetzungen zwischen Mos-
kau und Peking über die Wahl der Mittel zur Erreichung der kommunistischen
Ziele in der Welt. Während die sowjetische Führung noch gelegentlich an der dog-
matischen Behauptung festhält, daß ein nuklearer Krieg zwischen dem Westen und
dem kommunistischen Lager mit einem Sieg des Letzteren enden würde, wird diese
Behauptung doch mit nachlassender überzeugung vorgebracht. Chruschtschows
eigene Einschätzung der Schwierigkeit der Errichtung einer kommunistischen Ord-
nung auf dem radioaktiven Schutt eines Krieges, der, wie er gesagt hat, 700 bis 800
Millionen Tote kosten könnte 3, scheint eine aufrichtigere sowjetische Ansicht über
den Ausgang eines allgemeinen nuklearen Krieges widerzuspiegeln, als die dog-
matische Formel von dem unvermeidlichen kommunistischen Sieg.
Eine zweite allgemeine überlegung, die sich auf die grundlegenden Entscheidungen
über die zu verfolgende Politik, denen die sowjetischen Führer gegenüberstehen,
auswirken kann, ist die Unsicherheit über den Ausgang eines uneingeschränkten
Rüstungswettstreits mit den Vereinigten Staaten. Eine wichtige Facette dieser Frage
ist, ob der verstärkte Aufbau der militärischen Kräfte in einem Wettrüsten mit
einem Gegner, der über überlegene Ressourcen verfügt, zunehmende oder abneh-
mende Erträge für die sowjetische Sicherheit mit sich bringen würde. Die Erfahrun-
gen der Vergangenheit, wie etwa jene, die mit der Schließung der sogenannten
Raketenlücke (missile gap) durch die USA zusammenhängen, könnten den Ge-
danken nahelegen, daß, aus dem Blickwinkel der Sowjets, die Herausforderung der
Vereinigten Staaten zu einem Wettrennen um die Zahl moderner Waffen die Wir-
kung haben könnte, die Sowjetunion in einer relativ schlechteren Stellung zurück-
zulassen als zur Zeit, bevor die Herausforderung gemacht wurde. Es gibt Anzeichen
dafür - die später im einzelnen diskutiert werden sollen - daß die sowjetische
Führung dieses besondere Dilemma richtig einschätzt und darin verfangen ist.
Eine dritte und nahe verwandte überlegung ist die Frage des wirtschaftlichen
Drucks und der wirtschaftlichen Zwänge, denen sowjetische Entscheidungen auf dem
Gebiet der Militärpolitik und Strategie unterliegen. Zu einer Zeit, in der sie vor be-
deutenden Aufgaben bei der Verteilung der Ressourcen stehen, um den steigenden
Verbrauchererwartungen zu begegnen und sehr erhebliche Investitionsforderungen
eines stagnierenden Landwirtschaftssektors zu erfüllen 4, scheinen sich die sowjeti-
schen Führer der steigenden Kosten und des schnellen Wechsels moderner Kern-
waffen systeme, die zu den fixen Kosten eines großen konventionellen stehenden
Heeres hinzukommen, durchaus bewußt. Des weiteren sind da gesteigerte Anforde-
rungen an die sowjetischen Ressourcen, um den wirtschaftlichen Wachstumszielen
gerecht zu werden, die die gegenwärtigen Pläne setzen und das Partei pro gramm
indiziert. Nach informierten westlichen Schätzungen der sowjetischen Wirtschafts-
leistung kommen diese Forderungen zu einer Zeit, in der die Wachstumsrate der
sowjetischen Wirtschaft erheblich abgenommen hat 5. Der sich erweiternde Bedarf
solcher. Im Hinblick auf eine andere Phase des Meinungsaustausches zwischen sowjetischen
und amerikanischen Experten über sowjetische Einkommenstatistiken siehe die inter-
essante Reihe von Briefen an den Herausgeber der New York Times von Vladimir Smo-
ljanski, einem sowjetischen ökonomen, und Abraham S. Becker von der Wirtschafts-
abteilung der RAND Corporation, vom 6., 12. und 29. Februar sowie vom 14. März
1964. Wie es scheint, war die sowjetische Seite am Ende dieses Austausches noch immer
widerwillig, die Grundlagen des sowjetischen Volkseinkommens aufzudecken.
6 Siehe Philip E. Mosely, Tbe Kremlin and World Politics, Random House, Ine., New
York 1960, S. 545, 551, 557.
Wirkung des Atomzeitalters 45
ist die Behauptung, daß die Madlt der sowjetischen Kern- und Raketenwaffen die
»Imperialisten« abschreckt und davon abhält, einen Krieg gegen das kommuni-
stische Lager zu beginnen. Dieses, so geben die sowjetischen Führer vor zu glauben,
ist eine Gefahr, die der Situation innewohnt, solange der Imperialismus existiert.
Die sowjetischen Führer werden wahrscheinlich nicht die Tatsache aus den Augen
verlieren, daß ihre Stellung innerhalb des kommunistischen Blocks auch eng mit
ihrer militärischen Position zusammenhängt. Die Unsicherheit über den schließlichen
Lauf der chinesisch-sowjetischen Beziehungen und die blockinterne Einheit könnte
dieser Sorge in der Zukunft sogar noch größere Bedeutung verleihen. Sollte sich
zum Beispiel innerhalb des Blocks ein offener Bruch ereignen, so könnte eine sowje-
tische Militärrnacht von bedeutendem Rang nötig sein, um den chinesischen An-
sprüchen entgegenzutreten. Sie könnte sich auch als unabdingbar erweisen, um in
einem unruhigen und zerteilten kommunistischen Lager die Linientreue von Mos-
kaus eigenen Satelliten zu erhalten. Neben dieser blockinternen Polizeifunktion der
sowjetischen Militärrnacht hat die Sowjetunion die selbstgewählte Rolle eines
Atomschilds für die kommunistischen Staaten ihres Machtbereichs übernommen.
Auch dies bringt eine Inanspruchnahme sowjetischer Ressourcen mit sich, die weit
über das hinausgeht, was zur Selbstverteidigung notwendig wäre.
Das sowjetische Verhältnis zu China schließt die besonderen Probleme ein, die aus
der Möglichkeit erwachsen, daß China eigene nukleare Fähigkeiten erwerben
könnte. Die größere Handlungsfreiheit, die auch nur beschränkte chinesische nu-
kleare Fähigkeiten Peking geben würden, müssen den sowjetischen Führern Anlaß
zu einiger Sorge geben. Dies ist insbesondere richtig, soweit chinesische Aktionen
zu einer gefährlichen Konfrontation mit den Vereinigten Staaten führen könnten.
In dieser Situation könnte China gezwungen sein, die Sowjetunion zur Einlösung
von stillschweigenden Vereinbarungen oder vertraglichen Verpflichtungen, die sich
auf die Rettung eines in Not befindlichen kommunistischen Bruderstaates beziehen,
aufzufordern. Seit einiger Zeit versuchen die sowjetischen Führer, sich eine Posi-
tion zurecht zu machen, in der sie - sollte China engstirnige Interessen verfolgen,
die nicht mit jenen des Sowjetblocks als ganzem übereinstimmten - nicht zu seiner
Unterstützung verpflichtet sein würden. Nichtsdestoweniger ist das widerspenstige
Problem, was nämlich zu tun sei, wenn sich eine Krise entwickeln würde, noch
immer eines mit dem die Sowjetführung zu ringen hat.
Selbst im Hinblick auf die Gefahren eines nuklearen Krieges befinden sich die
sowjetischen Führer in einer etwas zwiespältigen Lage. Auf der einen Seite ver-
stehen sie, daß ein nuklearer Krieg sie gänzlich ruinieren würde, wenn er sich ereig-
nete. Das liefert einen starken Antrieb, Lösungen für das sowjetische Sicherheits-
problem auf anderen Wegen als dem des weiteren Aufbaus der sowjetischen Streit-
kräfte zu suchen; solche wären zum Beispiel die Rüstungskontrolle und die Abrü-
stung. Auf der anderen Seite erkennen die sowjetischen Führer offensichtlich, daß
die Furcht der Welt vor einer nuklearen Katastrophe eine mächtige emotionelle
Streitfrage liefert, um die herum etwa der »Friedenskampf« oder andere Formen
politischer Kriegführung mobilisiert werden könnten. Bei der Art ihrer politischen
Ziele liegt darin eine notwendige Versuchung für die Russen, aus der Drohung
einer nuklearen Katastrophe Kapital zu schlagen. Dies bedeutet unter anderem,
46 Kapitell
daß sie ein großes Interesse daran haben, die Abrüstungssache in Gang zu halten,
ohne allerdings tatsächlich danach zu trachten, wirkliche Abrüstungsvereinbarun-
gen als eine ernsthafte Alternative zum Besitz eindrucksvoller militärischer Macht
zu vollenden. Die Sowjetführung scheint sich durchaus bewußt, daß, während
die Aussichten eines Krieges als eines aktiven Werkzeugs der Politik im Atomzeit-
alter nachgelassen haben, die in der Ausbeutung des Besitzes moderner Militärrnacht
liegenden potentiellen politischen Gewinne gestiegen sind. Gewissermaßen scheinen
die sowjetischen Führer das erkannt zu haben, was die hervorstechende strategische
Wahrheit unserer Zeit sein könnte: daß nämlich die Psyche der Menschen bei wei-
tem daß nützlichste und vielleicht das einzig geeignete Ziel für die neuen Waffen
des nuklearen Zeitalters ist.
Doch auch diese Erwägung wird gleichzeitig durch die praktischen Lehren der Er-
fahrung eingeschränkt. Nach den optimistischsten sowjetischen Berechnungen könn-
te es vor nur wenigen Jahren so ausgesehen haben, als biete die Verbindung der
sowjetischen Raketen- und Weltraumtechnologie mit dem »bolschewistischen eiser-
nen Willen« eine gute Aussicht, die Imperialisten in einer Serie von Krisensitua-
tionen zu bezwingen, und als würde dieser Prozeß zur rechten Zeit den Niedergang
und Zusammenbruch der Macht und des Einflusses des Westens in der Welt be-
schleunigen. Es kam jedoch anders. Angespornt durch die Herausforderung mit dem
Sputnik und durch die wieder aufgelebten Drohungen gegen Berlin am Ende der
SOer Jahre schüttelten die Westmächte die Suggestion ab, daß das Gleichgewicht
der militärischen Stärke sich unwiderruflich gegen sie gewandt habe. Sie reagierten
auf sowjetische Initiativen mit Taten, die den Mythos von der Raketenlücke auf-
lösten und die materiellen und politischen Grundlagen für den Widerstand des
Westens rund um die Welt stärkten. Kuba krönte den Vorgang im Herbst 1962,
als das Mittel der Raketendiplomatie zuzüglich des »bolschewistischen eisernen
Willens« in den Händen der Sowjets zerbrach und Moskau nur eine vernünftige
Alternative blieb, nämlich zurückzuweichen und zu retten, was in der unseligen
Situation noch zu retten war. Wenn sie auf ihre Erfahrung zurückblicken, werden
sich die sowjetischen Führer wahrscheinlich der Frage gegenübersehen, ob der
sinkende Wert einer auf Raketen begründeten Erpressungsdiplomatie weiterhin
große Anstrengungen und Investitionen zur Wiederherstellung ihrer Glaubwürdig-
keit rechtfertigt. Dieses sind somit einige der breiten überlegungen, vor denen die
Sowjetführung steht, wenn sie in Hinblick auf ihre Streitkräfte und die Rolle, die
die militärische Stärke voraussichtlich bei der Durchführung der Sowjetpolitik als
solcher spielen könnte, Entscheidungen trifft.
Im Verlauf des letzten Jahrzehnts haben wechselnde Konzeptionen und praktische
Notwendigkeiten die Politiken beeinflußt, die die Entwicklung der sowjetischen
Streitkräfte beherrschen. Diese Einflüsse, die oft in verschiedene Richtungen stre-
ben, sind noch immer am Werk. Die Führer der Sowjetunion verfolgen eine Viel-
heit innen- und außenpolitischer Ziele, und diese geraten häufig miteinander und
mit den Zielen der Militärpolitik in Konflikt.
Die unmittelbaren Probleme der sowjetischen Verteidigungspolitik treten in meh-
reren erkennbaren Gebieten auf, und sie werden zweifellos auf den verschiedenen
Stufen der Sowjetbürokratie unterschiedlich wahrgenommen. Eine erste Schwierig-
Wirkung des Atomzeitalters 47
keit ergibt sim aus der Natur eines modernen Krieges selbst, die Anlaß zu solmen
grundsätzlimen Fragen wie die gibt, ob ein Krieg oder die Drohung mit einem
Krieg weiterhin als vernünftiges Instrument der Politik angesehen werden kann.
Eine zweite Schwierigkeit ersmeint bei der Zuweisung von Ressourcen an das Mili-
tär angesimts dringender konkurrierender Forderungen, die andere Sektoren der
Sowjetgesellsmaft gegenüber der Wirtsmaft geltend mamen. Ein drittes Bündel von
Problemen tritt in jenem Bereich auf, wo Militärstrategie und politisme Ab-
simt sich treffen. Es umfaßt beispielsweise folgende Fragen: auf welme Weise erhält
man am besten die Glaubwürdigkeit der sowjetischen Absmreckung aufrecht; wie
löst man am besten die Diskrepanz zwismen der tatsächlimen militärischen Hal-
tung und den dafür in Ansprum genommenen Nutzen; was ist hinsichtlim irgend-
welcher Lücken zu tun, die zwismen den sowjetischen militärismen Fähigkeiten und
denen potentieller Gegner bestehen. Eine vierte Smwierigkeit liegt in der Organi-
sation und der Ausbildung der Sowjetstreitkräfte selbst. Sie spiegelt all die Pro-
bleme wider, die entstehen, wenn die Politik mit den Funktionen und Verpflim-
tungen der versmiedenen Teilstreitkräfte verstrickt werden muß. Und schließlim
berührt jeden dieser Problernbereime die Frage nam dem Umgang und der Verstän-
digung mit dem Gegner, jenem Prozeß, bei dem der strategisme Dialog mit dem
Westen seine Rolle spielt.
Wenige der Probleme in diesen mehreren Kategorien finden sich einzig in der
Sowjetunion. Dom werden sie dort nimt notwendig auf die gleiche Weise erkannt
und angefaßt wie die entsprechenden Probleme, denen die westlichen Staats-
männer und Strategen gegenüberstehen. In diesem Buch werden wir uns mit dem
sowjetischen Denken auf allen oben genannten Gebieten befassen. Und, wie wir
später sehen werden, wenn wir den Gehalt des sowjetischen strategismen Denkens
und Diskutierens untersumen, die sowjetischen Führer smeinen bei ihren Entsmei-
dungen über viele Fragen der Militärpolitik und Strategie an einem Smeideweg zu
stehen. Vielleicht ist dies die natürlime Lage jener, die das Schicksal großer Mämte
im Zeitalter der Kern- und Raketenwaffen leiten.
Kapitel II
1 Prawda, 26. April 1963. Für eine lehrreiche Diskussion der Beziehung zwischen Chru-
schtschows Aufstieg zum unbestrittenen politischen Primat und dem größeren Spielraum
der politischen Diskussion und Kritik in der Sowjetunion siehe Zbigniew Brzezinski und
Samuel P. Huntington, Political Power: USA I USSR, Viking Press, New York 1964,
S. 280, 299, passim.
50 Kapitel II
1962 veröffentlicht wurde, die folgende Bemerkung in bezug auf einen Wechsel in
den Grundregeln der Diskussion militärischer Fragen: .Heutzutage legen wir die
grundlegenden Thesen der sowjetischen Militärdoktrin - sowohl von ihrer politi-
schen wie von ihrer technischen Seite - offen an den Tag, und wir verbergen auch
nicht solche Einzelheiten, die selbst in der jüngsten Vergangenheit noch als große
Staatsgeheimnisse angesehen wurden I.«
Die vergleichsweise größere Offenheit des internen sowjetischen Gesprächs bedeu-
tet sicher nicht, daß die sowjetischen militärischen Schriften jetzt als ein Spiegel der
.Objektivität« angesehen werden können, getrennt von den Propagandafunktio-
nen, denen selbst eine fachliche militärische Äußerung in der Sowjetunion dienen
soll. Die Autoren des Sokolowski-Werkes, Militärstrategie, das kürzlich in einer
überarbeiteten Ausgabe veröffentlich wurde, machten deutlich, daß sich die sowjeti-
schen Militärautoren ausdrücklich bewußt sind, daß es nicht ihre Aufgabe ist, eine
»objektive« und »unparteiische« Haltung gegenüber ihrer Materie einzunehmen:
Die Theorie der sowjetismen Kriegskunst ... spiegelt die Gesetzmäßigkeiten des Krieges als
eines bewaffneten Kampfes wider, der im Interesse der fortsmrittlimsten Gesellsmafts-
klasse, nämlim des Proletariats, ausgefomten wird. Aus diesem Grunde konnte die Unter-
sumung der versmiedenen Aspekte des Krieges in der vorliegenden Arbeit nimt objekti-
vistismen Charakter tragen. Obwohl der Krieg als ein zweiseitiger Prozeß des Kampfes eine
ganze Reihe objektiver Züge aufweist, konnten die Autoren als Vertreter der Sowjet-
streitkräfte diese Züge natürlim nimt vom Standpunkt eines unbeteiligten Beobamters aus
betramten, sondern gingen jeweils von der marxistism-Ieninistismen Auffassung vom We-
sen des Krieges sowie den Ursamen und Bedingungen des Ausbrums von Kriegen in der
gegenwärtigen Epome aus. Vom Standpunkt der marxistism-Ieninistismen Dialektik aus
gesehen besteht die objektive Einsmätzung der versmiedenen Ersmeinungen der gesellsmaft-
limen Entwiddung darin, daß der Forsmer nimt neutral sein darf, sondern immer der Ver-
treter und Verfemter der Ideologie seiner Klasse bleibt!.
Offensichtlich wird das Militärschrifttum, das im Rahmen der marxistisch-lenini-
stischen Ideologie hervorgebracht wird, durch und durch von einer dogmatischen
»Propaganda« gefärbt sein, die die Wirklichkeit, so wie sie das nicht marxistische
Auge sieht, verzerrt. Doch sind die sowjetischen Arbeiten als ein Ausdruck dessen,
was sowjetische Autoren als relevant für ihr Thema ansehen, durch diese Art
propagandistischer Verzerrung nicht weniger gültig. Ebensowenig widerspricht es
den Zwecken der internen Indoktrination und Belehrung, denen das sowjetische
Schrifttum über die Kriegskunst ebenfalls dienen soll. Daß sich die sowjetischen
Diskussionsteilnehmer ihrer Verpflichtung als Vorkämpfer der marxistisch-lenini-
stischen Ideologie bewußt sind bedeutet nicht, daß sie niemals in eine Debatte über
die Vorzüge von Alternativpolitiken oder -vorschlägen hineingezogen werden.
Abgesehen davon, daß das sowjetische militärische Gespräch einem legitimen Be-
dürfnis nach interner Kommunikation dient, hat es die Funktion, die sowjetische
2 Marschall R. Malinowski, Bditelno stojat na strasche mira (Stets auf der Wacht für den
Frieden), Voenizdat Ministerstva Oborony SSSR, Moskau 1962, S. 23 (hiernach wird der
Titel nur in der übersetzung angegeben).
3 Marschall V. D. Sokolowski, et al., S07Jiet Military Strategy, with Analytical Intro-
duction and Annotations by H. S. Dinerstein, L. Goure and T. W. Wolfe of the RAND
Corporation, Prentice-Hall, Englewood Cliffs, New Jersey 1963, S. 513 (amerikanische
übersetzung der 1. Auflage).
Interne sowjetische Militärdebatte 51
Der Charakter und die Geschichte der sowjetischen Militärdebatte vom Zeitpunkt
des Todes Stalins bis zur Veröffentlichung des Sokolowski-Werkes über Militär-
strategie im Spätsommer 1962 sind anderweitig ziemlich eingehend vom Autor dieses
Buches und von anderen behandelt worden. Nur die Hauptlinien dieser Debatte
brauchen hier wiederholt zu werden, um einen Hintergrund für die Diskussion
gegenwärtiger Streitfragen in den folgenden Kapiteln zu liefern.
Der Hauptstrom der Debatte hat sich seit dem Ende der SOer Jahre ziemlich deut-
lich abgehoben, als nämlich die Festigung von Chruschtschows politischer Führer-
schaft mit der Aussicht zusammentraf, daß die Sowjetunion bald fortentwickelte
Waffensysteme in größerer Menge besitzen könnte. Seit der Zeit konzentrierte sich
die Debatte im wesentlichen auf die Anstrengungen der politischen Führung ein-
schließlich insbesondere Chruschtschows, die sowjetische Militärdoktrin und die
Streitkräfte in eine Richtung neuzuorientieren, von der man annahm, daß sie für die
Bedürfnisse des Zeitalters der Kern- und Raketenwaffen geeigneter sein würde.
4 Siehe die Analytieal Introduetion der amerikanischen Herausgeber von 50viet Military
Strategy, S. 12--41. Als weitere umfassende Analysen der Militärdebatte nach der
Stalin-Xra siehe: Herbert S. Dinerstein, War and the Soviet Union, revised edition, Fre-
derick A. Praeger, Ine., New York 1962; Raymond L. Garthoff, Soviet Strategy in the
Nuclear Age, revised edition, Frederick A. Praeger, Ine., New York 1962; J. M. Mack-
intosh, Strategy and Tactics of Soviet Foreign Policy, Oxford University Press, London
1962, insbesondere S. 88-104.
Als Beispiel einer neue ren sowjetischen Erörterung, die darauf hinausläuft, die Haupt-
züge dieser westlichen Analysen der Nachkriegsveränderungen in der sowjetischen Mili-
tärtheorie zu erhärten, siehe: Oberst I. Korotkow, Die Entwicklung der sowjetischen
Militärtheorie in den Nacbkriegsjahren, Voenno-Istoricheski Zhurnal (Journal für Mili-
tärgeschichte), Nr. 4, April 1964, S. 39-50. Korotkow unterscheidet verschiedene Stufen
in der Nachkriegsentwicklung der sowjetischen Militärtheorie. Der erste Hauptabschnitt
lag zwischen dem Ende des zweiten Weltkrieges und 1953, Stalins Todesjahr. Während
dieser Zeit »wurde die historische Wahrheit zu Stalins Vorteil mit Füßen getreten«, und
die Entwicklung der sowjetischen Militärtheorie litt Schaden. So wichtige neue Begriffe
wie die Wichtigkeit der Anfangsphase eines modernen Krieges und die enorm vergrö-
ßerte Bedeutung eines überraschungsangriffes mit Kernwaffen wurden vernachlässigt.
Trotz des Aufkommens von Kernwaffen hielt die sowjetische Militärtheorie - so Korot-
kow - an der Auffassung fest, daß ein zukünftiger Krieg »sich zwangsläufig über lange
Zeit hinziehen würde«.
Der zweite Hauptabschnitt begann 1954, und in seiner ersten Stufe von 1954 bis 1956
vollzog sich ein »gradueller« WemseI der Ansimten, als die Wirkung von Kernwaffen
begann, mehr Aufmerksamkeit zu erhalten. Obwohl dies ein wimtiger Wendepunkt im
52 Kapitel 11
Diese Anstrengungen trafen auf Widerstand und abweichende Meinungen aus eini-
gen Teilen des Militärs, vielleicht mit der stillsmweigenden Unterstützung aus an-
deren Kreisen der Parteistaatsbürokratie, deren Interessen auf die eine oder andere
Weise betroffen waren. Es würde das Bild jedodl zu sehr vereinfachen, wollte man
dies lediglim als einen Meinungsstreit zwisdlen den politisdlen und den militäri-
sdlen Führern besdlreiben, denn wahrsmeinlim ist die Debatte mehr von dem
Wesen der Streitfrage selbst beherrsmt worden, als von rein institutionellen Mei-
nungsverschiedenheiten zwischen der politismen und der militärisdlen Führung.
Tatsächlich hat es dauernd nebenher eine Debatte innerhalb des Militärs selbst
gegeben, mit »modernistischen« und .. traditionalistischenc Auffassungen an jedem
Ende der Skala, und einem Stamm von Anhängern einer .. Mittel«meinung im
Zentrum. Die Modernisten neigten dazu, mehr oder weniger mit der Art von An-
simten, wie Chrusdltschow sie vorbramte, zu sympathisieren. Sie argumentierten
zugunsten einer radikaleren Anwendung der Früchte moderner Technologie auf
die militärischen Belange und wiesen darauf hin, daß dieser Weg den Druck auf
die Ressourcen vermindern, daß die Qualität - sozusagen - an die Stelle der
Quantität treten könnte. Auf der anderen Seite haben die Traditionalisten - wäh-
rend sie die Wirkung der Technologie auf militärische Angelegenheiten nicht ver-
kannten - nichtsdestoweniger dazu geneigt, gegen die Verwerfung bewährter
und erprobter Konzeptionen, nur um etwas Neues anzunehmen, Einwände zu
machen.
sowjetismen Militärdenken war, wurde die Verwendung der neuen Waffen nom immer
im »Rahmen früherer Methoden der Kriegführung« gesehen, und Flugzeuge wurden als
hauptsämlimes Trägermittel ins Auge gefaßt. Probleme wie der überraschungsangriff
und die Anfangsphase wurden jetzt untersumt, obgleim die durch nukleare Waffen her-
vorgerufenen Knderungen der Kriegführung bei weitem nicht von allen richtig einge-
schätzt wurden und die neuen Ansichten sich ,.nur langsam und unter Schwierigkeiten
gegen die alte Einstellung durchsetzen konnten«. Besonders blieb nach Korotkow die
Vorstellung von einem langen Kriege bestehen, was zum Teil durch die Tatsache erklärt
werden kann, daß noch keine Seite genügend moderne Waffen besaß. Erst wenn inter-
kontinentale ballistische Raketen verfügbar werden würden, würden »die Bedingungen
für einen schnellen, kurzen Krieg geschaffen sein«. Der Wendepunkt kam im Jahre 1957
mit dem Aufkommen von Raketen, die nun nach einer »radikalen Knderung der An-
sichten über den Charakter eines möglichen Krieges, die Methoden der Kriegführung und
die Rolle und Bedeutung aller Teilstreitkräfte« verlangten. Nach Korotkow sahen die
Jahre 1960 und 1961, während auf Konferenzen, in Militärakademien und in Zeitschrif-
ten theoretische Diskussionen geführt und praktische Probleme umrissen und geprüft wur-
den, die »Belebung militärtheoretischen Denkens«. Diese Jahre sahen auch die Auf-
stellung neuer Prinzipien und Begriffe des modernen Krieges in wichtigen Reden von
Chruschtschow und Malinowski und die Schaffung eines neuen Streitkräftetyps - die
strategismen Raketenstreitkräfte. Sogar nach diesen Beweisen eines »qualitativen
Sprungs« und »radikaler« Knderungen auf dem Gebiet des modernen Krieges beurteil-
ten jedoch »einige Genossen« die neuen Waffen noch immer aus dem Blickwinkel der Er-
fahrungen des vergangenen Krieges. Am Ende seiner Abhandlung über die Nachkriegs-
entwicklung der sowjetischen Militärtheorie bemerkte Korotkow, ihre letzten Stufen
seien »nach langer Stagnation« durch den Ausstoß einer Reihe von Arbeiten über die
sowjetische Militärtheorie gekennzeichnet gewesen; darunter charakterisierte er das Soko-
lowski-Buch Militärstyategie als eines der »grundlegendsten« und »trotz einiger Unzu-
länglichkeiten ... ein bemerkenswertes Phänomen an der militärtheoretischen Front«.
Interne sowjetische Militärdebatte 53
sition, so doch oft durch Darstellungen, die solche Gegenstände besonders betonten,
die Chruschtschow entweder vertuscht oder gänzlich außer acht gelassen hatte.
Gleichzeitig erschienen in der Sowjetpresse Anzeichen dafür, daß viele Offiziere,
die man in das zivile Leben entlassen hatte, auf Anpassungsschwierigkeiten trafen;
das ließ Fragen über die Wirkung des Truppenkürzungsprogramms auf den Geist
der Truppe aufkommen. l\ußere Ereignisse wirkten sich ebenfalls auf diese Situa-
tion aus. Im Mai 1962 ließ es die U-2-Episode als möglich erscheinen, daß die
sowjetische militärische Sicherheit durch Geheimnisverlust gefährdet war. Dadurch
war auch nach dem Zusammenbruch des Pariser Gipfeltreffens die internationale
Situation gespannter als zuvor.
1961 übernahm eine neue amerikanische Regierung die Geschäfte und beantwortete
die gegen Berlin erhobenen Drohungen, indem sie die Verteidigungsausgaben erhöh-
te, die konventionellen Streitkräfte stärkte und die Stellung der amerikanischen
strategischen Streitkräfte verbesserte. Im Herbst desselben Jahres begannen die
Vereinigten Staaten, auf Grund verbesserter Nachrichtengewinnung über den Geg-
ner, neuem Vertrauen in die Spanne der westlichen strategischen überlegenheit
Ausdruck zu verleihen. Ein Jahr später scheiterte der Versuch der Sowjetunion,
durch ihr Kuba-Abenteuer das strategische Gleichgewicht wiederherzustellen. In
den Nachwirkungen der Raketenkrise von Kuba sah sich die Sowjetführung vor
die schwierige Neubewertung ihrer weltweiten Position gestellt.
Während auf der einen Seite die Politik Chruschtschows sowohl einer gewissen
internen Kritik wie auch der Herausforderung durch die Ereignisse begegnen mußte,
fällt auf der anderen Seite bei seiner Rolle in der Militärdebatte die Beständigkeit
auf, mit der an seinen grundlegenden strategischen Ideen festgehalten zu haben
scheint 8. Seine sowohl öffentlich wie privat geäußerten Ansichten tendierten dazu,
sich weitgehend in den gleichen Bahnen zu bewegen, wie die in seinem Vortrag
vom Januar 1960. Außerdem bekamen diese Ansichten, wie wir später sehen wer-
den, in der Militärdebatte der Jahre 1963 und 1964 erneute Aktualität.
Durch die ganze Debatte hindurch ist die Rolle von Marschall Malinowski, dem
sowjetischen Verteidigungsminister, von besonderem Interesse. Wie andere in hohe
l\mter Ernannte, ist Malinowski Chruschtschow durch seinen Posten verpflichtet
und weiter durch die Parteidisziplin und wahrscheinlich auch seine eigene Vorsicht
gezwungen, nicht so kühn im Widerstand zu sein, wie es zum Beispiel sein Vorgän-
ger, Marschall Schukow, war. Marschall Malinowski scheint gewissermaßen eine
Mittlerrolle in der Militärdebatte gesucht zu haben. Er scheint bestrebt gewesen zu
sein, den allgemeinen Vorstoß von Chruschtschows Gedanken mit den Vorbehalten
in Einklang zu bringen, die ein Großteil der Militärs, die eine konservative Haltung
einnahmen, dagegen hatten. Das Ergebnis davon war, daß Malinowskis öffentliche
Erklärungen dahin tendierten, in der Militärdebatte den Standpunkt der Mitte
widerzuspiegeln, obwohl auch er Schwankungen an den Tag gelegt hat, die auf
Druck von beiden Seiten oder auch nur auf die Zugkraft seiner eigenen überzeu-
gungen hindeuten könnten.
Malinowskis Militärbericht an den 22. Kongreß der KPdSU im Oktober 1961 ist
ein weiterer wichtiger Markstein in der Militärdebatte 7. Diese Darstellung einer
»neuen sowjetischen Militärdoktrin« spiegelte viele der Gesichtspunkte wider, die
Chruschtschow in seiner Rede vom Januar 1960 in Hinblick auf den veränderten
Charakter des Krieges, den Primat der strategischen Raketenstreitkräfte und so
weiter vorgebracht hatte, aber sie enthält auch einige wesentliche Ergänzungen. Es
ist am bedeutungsvollsten, daß Malinowski die Wichtigkeit der herkömmlichen Streit-
kräfte nochmals versicherte. Anders als Chruschtschow, der deutlich diesen Punkt
ausließ, betonte Malinowski, daß Massenstreitkräfte in Stärke von vielen Millionen
Mann in jedem künftigen Krieg für den Sieg notwendig sein würden. Während
Malinowski selbst eigenartigerweise vermied, eine klare Stellung zu der Streitfrage
zu beziehen, ob ein zukünftiger Krieg lang oder kurz sein wird, implizierte der
Tenor seiner Beweisführung für die fortdauernde Notwendigkeit großer Armeen,
daß sich die Sowjetunion sowohl auf einen langen wie auf einen kurzen und kampf-
entscheidenden Krieg vorbereiten müsse. Diese Ansicht hatte für die sowjetische
Militärpolitik ganz andere Folgen als Chruschtschows Vorstellungen von einem
Krieg, der nach den anfänglichen nuklearen Feuerwechseln nur kurze Zeit dauern
würde. Im großen und ganzen zeigte sich bei Malinowski - während er Chru-
schtschows Betonung einer den Westen abschreckenden Militärhaltung teilte - die
Besorgnis, die offensichtlich auch die sowjetischen Militärs verspürten, daß nämlich
die Art der Friedenszeitstreitkräfte, die Chruschtschow anstrebte, sich als unzuläng-
lich zur erfolgreichen Ausfechtung eines Krieges erweisen könnten, falls die Ab-
schreckung erfolglos sein sollte.
Das vieldiskutierte Sokolowski-Werk über Militärstrategie, das weniger als ein Jahr
nach Malinowskis Bericht an den Parteikongreß herauskam, kann als ein weiterer
wichtiger Markstein in der Militärdebatte angesehen werden. Diese Gemeinschafts-
arbeit ist die ehrgeizigste Abhandlung über die Doktrin und Strategie, die seit vielen
Jahren in der Sowjetunion versucht worden war, obwohl es sich dabei nicht um eine
»offizielle« Darstellung der Ansichten handelte, die man auf der höchsten sowjeti-
schen Regierungsebene hegte. Mit seiner gemeinsamen Autorenschaft konnte das
Werk nicht umhin zu einem Forum zu werden, in dem sowohl Abweichungen als
auch Gebiete der übereinstimmung ins Blickfeld gerückt wurden. Im großen und
ganzen scheint man in dem Werk versucht zu haben, eine Art Bilanz aus der De-
batte zu ziehen, und man scheint dabei die Formulierungen Malinowskis vom Okto-
ber 1961 als »Mitte« zwischen den miteinander in Wettbewerb stehenden Auffas-
sungen benutzt zu haben. Jedoch mißlang es dieser Kompromißbemühung eindeu-
tig, die Debatte zu beenden. Einige der Streitfragen, zu denen in der ersten Aus-
Die Ansidtten von sowjetischen politisdten und militärisdten Führern über Pro-
bleme des Krieges und der Strategie sind nidtt nur im Zusammenhang mit der in-
ternen sowjetisdten Diskussion und Debatte über militärisdte Fragen von großem
Interesse, sondern audt im Kontext des äußeren strategisdten Dialogs mit dem
Westen, insbesondere mit den Vereinigten Staaten. Eine weitverbreitet ridttige Be-
urteilung der Tatsadte, daß die moderne Welt nidtt - wie Präsident Kennedy es
ausdrüc:kte - ,.in der Form, in der wir sie kennen, einen nuklearen Krieg überleben«
kann 1, erklärt zum Teil die wadtsende Bedeutung des strategisdten Dialogs zwi-
sdten den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion. Dies gilt in besonderem Maße
da, wo der Dialog ein Mittel darstellt, das den beiden Atommädtten gestattet, die
Sdtwierigkeiten zu klären und die Gefahren zu vermindern, die sidt aus ihrem stra-
tegischen Verhältnis im Zeitalter der Kernwaffen und Raketen ergeben.
Im großen und ganzen ist das strategisdte Gesprädt bisher nidtt sonderlidt ein-
druc:ksvoll im Sinne eines ausgeglidtenen und beiderseits lehrreidten Gesprächs ge-
wesen. Beide Seiten stehen sdtließlich in einem gegnerischen Verhältnis zueinander,
das grundsätzlidte Untersdtiede des Zwec:ks und der Politik mit sich bringt. Eine
breite Kluft trennt die verschiedenen Konzeptionen. Für beide Seiten wird es wahr-
sdteinlich nidtt einfadt sein, die sich gegenseitig beeinflussenden Probleme und Un-
klarheiten ihrer strategisdten Positionen in einer leidenschaftslosen und unpolemi-
schen Weise zu untersudten. In der Tat, als eine Form der Kommunikation zwi-
schen Gegnern hat sich der strategische Dialog weitgehend mit der Förderung der
politischen Interessen der beiden großen Atommächte in einem mehr oder weniger
engen Sinne befaßt, und dabei wird es wahrsdteinlich bleiben. Jede Seite wird den
Dialog benutzen, um ihre Abschrec:kungshaltung zu erhöhen; um politische Vorteile
aus ihrer militärischen Macht zu erlangen oder zu verhindern, daß der andere das
tut; um die Autorität ihrer Position Verbündeten und Dritten einzuprägen - und
so fort. Bisher hat der Dialog insbesondere dahin tendiert, sich auf die Frage zu
konzentrieren, ob das strategische Machtgleichgewicht in der Welt die sowjetische
1 Die mißliche Lage der modernen Welt wurde selten einfacher als in diesen Worten aus
einer der letzten Reden des verstorbenen Präsidenten Kennedy zusammengefaßt: »Die
menschliche Gemeinschaft kann Unterschiede der Rasse und Religion überleben, ... sie
kann Unterschiede der Ideologie, der Politik, der Wirtschaft hinnehmen. Sie kann jedoch
nicht, 50 wie wir sie kennen, einen Atomkrieg überstehen.« Siehe »Our Obligation to the
Family of Man«, Remark5 by President Kennedy, The Department 0/ State Bulletin,
25. November 1963
Die sowjetische Stimme im strategischen Gespräch 59
oder die westlime Seite begünstigt 2. Solange die öffentlime Meinung in der Welt
über das Gleimgewimt der militärismen Mamt ein gewimtiger Faktor in der inter-
nationalen Politik ist, kann man erwarten, daß ein großer Teil des Dialogs sich wie
zuvor dieser Frage zuwenden wird.
Zugleim neigt man auf beiden Seiten mit wemseinder Intensität dazu, eine präzi-
sere strategisme Kommunikation als ein Mittel anzusehen, daß die Verwicklungen
klären und die Gefahren ihres strategischen Verhältnisses im Zeitalter der Kern-
und Raketenwaffen vermindern könnte. Unter diesen Umständen ist es verständ-
lich, daß alle neuen Äußerungen strategischen Denkens der sowjetischen Seite im
Westen mit großem Interesse geprüft werden. Während des letzten Jahres etwa hat
es gelegentlich Erklärungen prominenter sowjetischer politischer und militärischer
Führer wie auch Bücher und Artikel geringerer Personen gegeben, die sich als be-
deutsame Beiträge zum strategischen Gespräm erweisen; nicht weil die Argumente,
die sie vorbringen, etwa unangreifbar wären, sondern weil sie darauf abzuzielen
scheinen, Botschaften an Leserkreise im Ausland wie zu Hause zu vermitteln. Einer
der wichtigsten dieser Beiträge ist die revidierte und etwas erweiterte zweite Auf-
lage der Militärstrategie, die von einem Team sowjetischer Militärexperten unter
der Leitung des Marschalls V. D. Sokolowski geschrieben worden ist 3.
Die erste Auflage dieses Werkes, die in der Sowjetunion im Spätsommer 1962 ver-
öffentlicht wurde, war - wie schon erwähnt - ein wimtiges Dokument in der in-
ternen sowjetischen Militärdebatte. Das Buch, das die Sowjets als erstes umfassendes
Werk über Militärstrategie bezeichneten, das in der Sowjetunion seit 1926 erschie-
nen war, weckte im Ausland so viel Interesse, daß es alsbald in verschiedenen engli-
schen übersetzungen von zwei amerikanischen Verlagen - und beinahe von einem
Dritten - herausgebracht wurde, ganz zu schweigen von Ausgaben in anderen
Sprachen. Ob seine sowjetismen Förderer das Ausmaß der Aufmerksamkeit erwar-
tet haben, das dieses Werk im Westen erhalten sollte, ist zweifelhaft. Jedenfalls
wurde damit zum erstenmal ein breiter Leserkreis im Ausland mit einem umfang-
reichen Exemplar des sowjetischen Schrifttums über die Militärdoktrin und Strate-
gie bekanntgemacht - einer Materie, die bisher der westlichen Welt hauptsächlich
durch die Arbeiten einer relativ kleinen Gruppe von berufsmäßigen Beobamtern
sowjetischer Militärangelegenheiten bekannt war.
Die neue Auflage - in demselben Format und von demselben Autoren»kollektive
oder -team wie ihr Vorgänger' - überraschte interessiene Beobamter nicht völ-
lig, obwohl der Zeitabstand zwischen den Auflagen mit fünfzehn Monaten für ein
derartiges Werk ungewöhnlich kurz war. Im Frühjahr 1963 enthielt ein Verzeichnis
der in Kürze erscheinenden Veröffentlichungen den kurzen Hinweis, daß eine revi-
diene Fassung des Sokolowski-Buches im Herbst jenes Jahres zu erwanen sei. Die
Ankündigung erschien zu einer Zeit, als der ursprüngliche Band in der Sowjetunion
auf gemischte kritisme Stellungnahmen traf 5. Dies verstärkte den im Ausland
schon herrschenden Eindrudt, daß das Bum, während es für eine breite überein-
stimmung der Ansimten auf vielen Gebieten der Militärpolitik und Strategie
zeugte, aum voneinander abweimende sowjetisme Auffassungen über versmiedene
Fragen widerspiegelte. Ob Pläne für eine zweite Auflage so bald nach Veröffent-
limung der ersten von einem Bedürfnis veranlaßt wurden, die Entwicklungen seit
Mitte 1962 zu berüdtsimtigen, oder lediglim eine Folge der Notwendigkeit größe-
rer Verbreitung waren (die erste Auflage von 20000 Exemplaren war schnell ver-
griffen, während die neue Auflage doppelt so groß war), ist nimt im geringsten
klar. Auf jeden Fall wurde die neue Fassung - als ein möglimes Barometer für
wichtige Veränderungen im sowjetischen Denken und als Hervorhebung eines brei-
ten Fächers militärpolitischer Streitfragen - mit mehr als routinemäßigem Inter-
esse erwartet.
Gleichzeitig mit dem Erscheinen des Werkes in den Moskauer Buchhandlungen er-
schien unter auffälliger Schlagzeile - als wolle man dem neuen Sokolowski-Band
einen kräftigen Start geben - ein Artikel in der Zeitschrift Roter Stern vom 2. No-
vember 1963. Man schien sich offiziell der Möglichkeiten des Buches als Mittler für
die externe wie interne Kommunikation über strategische Probleme des Atomzeit-
alters bewußt zu sein. Der Artikel, der von vier Mitgliedern des Sokolowski-Teams
unterzeichnet war 6, erschien als eine Erwiderung auf die auslegenden Einleitun-
gen, die die zwei amerikanischen übersetzungen des ursprünglichen Sokolowski-
Werkes begleitet hatten 7. Die Beanstandung lief hauptsächlich darauf hinaus, die
amerikanischen Kommentatoren, die »von einem einzigen Zentrum in den USA aus
gelenkt« worden seien, hätten systematisch die ,.friedliebende Politik der Sowjet-
union« verzerrt 8. Trotz seines verdrießlichen Tones enthielt der Artikel eine An-
zahl wesentlicher Beobachtungen, die ihn zu einem bemerkenswerten Dokument in
dem strategischen Gespräch zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion
machten. Wie eine Reihe anderer neuer Kußerungen sowjetischen strategischen Den-
kens zeugte er für die Empfindlichkeit der Sowjets gegenüber westlichen Interpreta-
tionen der sowjetischen Militärpolitik und -haltung. Er enthielt »berichtigende Bot-
schaften« über Fragen wie die Eskalation lokaler Konflikte, die sowjetische Fähig-
keit zum zweiten Schlag (second strike capability), und die Vorwegnahme oder
Vorbeugung (pre-emption).
Ein anderes Beispiel für die Art des direkten Gesprächs mit westlichen Militär-
forschern, das dazu beigetragen hat, die sowjetischen Ansichten in ein schärferes
Licht zu rücken, liefert ein Artikel von L. Glagolev und V. Larionov, der in der
Novemberausgabe 1963 der International Affairs veröffentlicht wurde 9. Die
Autoren dieses Artikels waren ein ziemlich interessantes Gespann. Glagolev ist ein
sowjetischer Spezialist für internationale Beziehungen und Abrüstungsangelegen-
heiten, der die informelle Diskussion über Abrüstungsfragen mit verschiedenen
amerikanischen Wissenschaftlern und Regierungsbeamten tätig gefördert hat 10.
Oberst Larionov, ein sowjetischer Militärexperte und produktiver Verfasser von
Abhandlungen über strategische Themen, darunter auch die militärische Nutzung
des Weltraums, ist einer der Autoren des Sokolowski-Werkes. Die Zusammenarbeit
dieser bei den Männer kennzeichnete eine Abkehr von der üblichen sowjetischen
Praxis. Sie läßt darauf schließen, daß man die besondere Kompetenz eines Militär-
experten wie Larionov zur Stärkung der politischen Argumente des Aufsatzes in
International Affairs für wünschenswert hielt.
Diese Vermutung wurde durch den Inhalt des Artikels selbst bestätigt. Neben seiner
Reaktion auf die angebliche Folgerung des Auslandes, daß es »Widersprüche zwi-
schen der sowjetischen Politik der friedlichen Koexistenz und den Lehrsätzen der
8 Ein Großteil dieser Roter-Stern-Kritik richtete sich ausführlich gegen die Einführung in
der Prentice-Hall-Ausgabe, zu der der Autor dieses Buches beigetragen hat. Es ist be-
achtenswert, daß die sowjetischen Autoren trotz ihrer kritischen Angriffe auf die ame-
rikanischen Interpretationen sich veranlaßt sahen, die Prentice-Hall-Einführung, die von
Mitarbeitern der RAND Corporation geschrieben wurde, als "im Ton zurückhaltender«,
»objektiver« und "fachlicher« und »mehr wissenschaftsartig« in ihrer Analyse zu be-
zeichnen, als frühere »sensationelle und offen verleumderische« Pressekommentare.
9 L. Glagolev und V. Larionov, ,.Soviet Defence Might and Peaceful Coexistence«, Inter-
national Affairs, Moskau, Nr. 11, November 1963, S. 27-33. International Affairs,
eine politische Monatsschrift, die sowohl in der Sowjetunion als auch im Ausland ver-
breitet ist, erschein! im Russischen als Mezhdunarodna;a Zhizn. Hiernach beziehen sich
die Hinweise auf die englische Fassung des Glagolev-Larionov-Artikels.
10 Glagolev ist Direktor der Wissenschaftlichen Gruppe für Abrüstung des Instituts für
Weltwirtschaft und internationale Beziehungen, einer Körperschaft, die unter der Schirm-
herrschaft der Akademie der Wissenschaften der UdSSR> arbeitet. Er hat die Vereinigten
Staaten besucht und gelegentlich in der amerikanischen Presse seinen Ansichten über die
Arbeit auf dem Gebiet der Abrüstung Ausdruck geben können. Siehe z. B.: »A Com-
munication to the Editor of the Washington Poste, Washington Post, 27. November 1962.
62 KapitelllI
sowjetischen Militärstrategie« gäbe 11, enthielt der Artikel eine ziemlich detaillierte
Ausarbeitung militärischer Faktoren mit der Absicht, die Glaubhaftigkeit der so-
wjetischen Vergeltungshaltung zu beweisen. Die letztere Darstellung, die wir gleich
im einzelnen betrachten werden, führte in das strategische Gespräch einen etwas in-
formierteren Argumentationsstil ein, als er gewöhnlich in sowjetischen Schriften
anzutreffen war.
Ein nicht uninteressantes Beispiel für diesen neuen Stil im sowjetischen strategischen
Gespräch war ein Artikel, der unter der Signatur von »General A. Newski, Militär-
kommentator« in der Ausgabe vom März 1963 in der World Marxist Re'Oiew er-
schien 12. Dieser Artikel, der gewissermaßen ein Wegbereiter war, entwarf viele der
Behauptungen über einen begrenzten Krieg, die »counter-force« Strategie (Strate-
gie der Ausklammerung der Städte) und andere Themen, die ansc:hJ.ießend in der
revidierten Sokolowski-Ausgabe und der Arbeit von Larionov und Glagolev zu
finden waren. In der Tat legt die enge übereinstimmung von Inhalt und Stil nahe,
daß ,.A. Newski« - zufällig ein überlieferter russischer Kriegsheld - ein nom de
plume eines oder mehrerer der Mitarbeiter des Sokolowski-Werkes sein könnte.
Dieser Eindru<k wurde durch zumindest zwei weitere Umstände verstärkt: kein
sowjetischer General mit dem Namen Newski konnte in irgendeiner Liste der sowje-
tischen Zeitschriftenliteratur entde<kt werden; die Liste der Mitarbeiter der Aus-
gabe vom März 1963 der World Marxist Re'Oiew wies alle Mitarbeiter aus, mit der
auffallenden Ausnahme des Generals Newski. Außerdem ist es der Brauch bei allen
wirklichen sowjetischen Generalsrängen, daß sich ihre Träger mit ihrer vollen Rang-
bezeichnung ausweisen, wenn sie Artikel unterzeichnen, so etwa als Generalmajor
der Luftwaffe, Generaloberst der Artillerie, etc. Wer auch immer der General
Newski sein mag, sein Artikel trug dazu bei, den informierteren Argumentations-
stil einzuführen, der in den neueren sowjetischen strategischen Schriften erkennbar
ist.
Einige der Streitfragen, die intern in der Sowjetunion erörtert werden, besonders
solche, die aus dem kritischen Verhältnis zwischen Wirtschaft und Verteidigung er-
wachsen, waren in das strategische Gespräch mit dem Westen verwoben. Ein typi-
sches Beispiel dafür ist die zentrale Frage gewesen, ob man den sowjetischen Militär-
haushalt erhöhen und sich eine entsprechend harte Politik - die stärkere westliche
Verteidigungsbemühungen herausfordern könnte - zu eigen machen sollte, oder ob
man einen Weg zur Entspannung einschlagen sollte, wobei man unter anderem die
Taktik der» Verhandlung durch Beispiel« benutzen könnte, um eine Senkung der
Ebene der militärischen Vorbereitungen zu erreichen. Durch die ganze Zeit der in-
ternen sowjetischen Neuorientierung hindurch, deren Zweck es war, festzustellen,
was man tun müsse, um die sowjetische strategische Position nach der Schlappe in
Kuba wiederherzustellen, wurde offensichtlich erheblicher DrU<x zugunsten einer
Erhöhung des Militärhaushalts ausgeübt. Ein frühes Anzeichen solchen Druckes er-
schien in einer Flugschrift von Marschall Malinowski im November 1962.
Eine der Lehren, die er aus der Kuba-Erfahrung zog, war die, daß »reale Gründe
bestehen, die die Regierung und die kommunistische Partei dazu zwingen, die so-
wjetischen Streitkräfte zu stärken« 13. Chruschtschow selbst anerkannte diesen
Druck in einer großen Rede vom 27. Februar 1963, als er das peinlidte Eingeständ-
nis madtte, daß die Befriedigung der Verbraudterbedürfnisse wiederum aufgescho-
ben werden müsse, damit die »gewaltigen Hilfsmittel« verfügbar gemadtt werden
könnten, die nötig wären, um ein Zurückbleiben des sowjetisdten Militärpotentials
hinter dem des Westens zu verhindern 14. Kurz darauf wurde die Errichtung eines
neuen Obersten Wirtsdtaftsrates mit D. F. Ustinow - einem Experten der Ver-
teidigungsindustrie - an der Spitze, bekanntgegeben 15. Dieser Schritt gab zu ver-
stehen, daß man möglicherweise zu dem Entsdtluß gekommen war, oder daß dieser
unmittelbar bevorstand, die Zuteilungen für militärisdte Zwecke zu erhöhen. Es er-
schien jedoch kein Hinweis darauf, wie etwa erhöhte Verteidigungsausgaben inner-
halb des Militärs verteilt werden würden. Sollten sie verwendet werden, um die
vorherrschende Forderung der Militärs nach fortgesetzter Unterstützung großer
Landstreitkräfte verbundener Waffengattungen zu befriedigen, oder um die strate-
gischen Raketenstreitkräfte zu stärken, auf die Chruschtsdtow selber großes Ge-
wicht zu legen schien? Die Möglichkeit, daß die strategischen Kräfte größere Auf-
merksamkeit erhalten könnten, wurde durch die etwa gleidtzeitige Erhebung des
Marschalls Birjusow - eines Chruschtschow-Anhängers und Befehlshabers der
strategischen Raketenstreitkräfte - in die Stellung des Chefs des Generalstabs
nahegelegt.
An diesem Punkt nahm jedoch im Frühjahr 1963 die interne politische Debatte eine
neue Wendung, die alsbald in dem sowjetischen Entschluß gipfeln sollte, zumindest
eine begrenzte Entspannung mit den Vereinigten Staaten zu suchen. In einer langen
Rede am 24. April 1963 verlagerte Chruschtschow sein Augenmerk auf die drin-
gende Notwendigkeit, der wirtschaftlichen Entwicklung den Vorrang einzuräumen,
und für eine wirksamere Verwendung der vorhandenen Ressourcen durch die Ver-
teidigungsindustrie zu sorgen. Gleichzeitig wies er darauf hin, daß die sowjetischen
Streitkräfte schon jetzt »mit den fortschrittlichsten Waffen zur Abwehr aggressiver
Kräfte ausgerüstet« seien 16. Diese Feststellung und seine Bemerkungen Anfang
Juni gegenüber Harold Wilson - dem Führer der britischen Labour Party -, daß
die Sowjetunion ihre Produktion strategischer Bomber und überwasserkriegsschiffe
einstellen würde 17, lassen darauf schließen, daß Chruschtschow erneut bereit war,
den Standpunkt zu vertreten, daß der Zustand der sowjetischen Verteidigungsein-
13 Marschall R. Malinowski, Stets auf der Wacht für den Frieden, Voenizdat Ministerstva
Oborony SSSR, Moskau 1962, S. 15.
14 Wahlansprache im Kalinin-Distrikt, Prawda, 28. Februar 1963.
15 Prawda, 14. März 1963.
16 Rede vor der Bauarbeiterkonferenz, Prawda, 26. April 1963.
17 New York Times, 11. Juni 1963.
64 Kapitel 111
18 Siehe Oberst S. Baranow und Oberst E. Nikitin, »Die Führerschaft der kommunistischen
Partei als ideelle Grundlage für den Aufbau der sowjetischen Militärmacht«, in: Kom-
munist Wooruschonnych Sil (Der Kommunist in den bewaffneten Kräften), Nr. 8, April
1963, S. 22. Eine umfassendere Erörterung dieser Entwicklungen findet sich in Kapi-
tel XII.
19 lswestija, 15. Dezember 1963; Prawda, 16. Dezember 1963.
20 Sowjetische Erklärungen, die den Tugenden der Sowjets in dieser Hinsicht Beifall spende-
ten, ingorierten die Tatsache, daß die Ankündigung der Kürzung des sowjetischen Bud-
gets der von der neuen Johnson Administration in den Vereinigten Staaten angekündig-
ten Initiative, eine Anzahl von militärischen Einrichtungen zu schließen und den Militär-
haushalt zu verringern, um einige Tage nachhingen.
21 New York Times, 9. Januar 1964.
22 lbid., 21. April 1964.
Die sowjetische Stimme im strategischen Gespräch 65
23 Iswestija, 15. Dezember 1963. Die einzige Ausnahme unter den prominenten Militärs
war Marsmall A. I. Eremenko, der in einem Artikel der Moscow News ohne Kommen-
tar auf ,.die bevorstehende Verminderung der sowjetismen Streitkräfte« hinwies. Die
Moscow News ist eine englismspramige Publikation, die hauptsämlim im Ausland ver-
breitet wird. Siehe Marsmall Andrei Eremenko, ,.War must be wiped out«, Moscow
News, Nr. 2, 11. Januar 1964.
2' Marsmall V. Tsmuikow, "Moderne Landstreitkräfte«, Iswestija, 22. Dezember 1963.
Siehe Kapitel XII für eine weitere Erörterung der Truppenverminderungsfrage.
25 Siehe Marsmall Pawel Rotmistrow, "Ursamen moderner Kriege und ihre Charakteristi-
ken«, in: Der Kommunist in den bewaffneten Kräften, Nr. 2, Januar 1963, S. 31; ferner:
SOfJiet Military Strategy, S. 410; Militär-Strategie, S. 422.
66 KapitelllI
Ziele des westlichen Blocks, insbesondere der Bonner ,.Revanchisten« demonstriert 26.
Gleichzeitig gab es - besonders seit dem Beginn von Chruschtschows Entspan-
nungsouvertüren - eine erkennbare Tendenz, eine gewisse Erhöhung der NATO-
Landstreitkräfte als eine Gegebenheit hinzunehmen und sie politisch auszunützen,
statt unmittelbar dagegen vorzugehen.
Chruschtschow selbst hat beispielsweise die Vermehrung der westlichen Kräfte in
Europa zur Kenntnis genommen, aber er hat zu verstehen gegeben, daß es keinen
Grund gäbe, weshalb der Westen zögern sollte an Waffenverringerungsvereinba-
rungen teilzunehmen, wenn diese Streitkräfte wirklich so stark seien wie das
amerikanische Sprecher behaupteten 27. Es gab auch einige sowjetische Stellung-
nahmen zu der Frage der Politik der Vereinigten Staaten bezüglich der Anwendung
von Kernwaffen im Falle eines mit konventionellen Mitteln nicht aufhaltbaren
sowjetischen Angriffs auf Europa. In dem Glagolev-Larionov-Artikel hieß es,
einige Leute in den Vereinigten Staaten rechtfertigten eine amerikanische Nuklear-
in~tiative als eine Erwiderung auf ,.die Möglichkeit eines Angriffs konventioneller
sowjetischer Streitkräfte auf Westeuropa, das angeblich nicht genügend konventio-
nelle Kräfte hat, um sich selbst zu verteidigen«. Weiter hieß es dann in dem Artikel,
daß dieses Argument ,.nicht stichhaltig ist«, weil westliche Streitkräfte heute in
Europa in größerer Stärke als vormals aufmarschiert sind 28. Diese Erklärung
scheint ein interessantes Eingeständnis dafür zu sein, daß der westliche Aufbau kon-
ventioneller Stärke in Europa dort zu einer größeren Stabilität der militärischen
Situation beiträgt. Obwohl der Artikel eine solche Interpretation nicht anbot, be-
wirkte diese Handhabung der NATO-Situation eine allgemeine Mäßigung der
internen sowjetischen Argumente für eine weitere Stärkung der sowjetischen Land-
streitkräfte.
Die vorangehenden Beispiele dafür, wie interne Fragen dazu tendiert haben, mit
dem strategischen Gespräch nach außen verwoben zu werden, deuten die Schwierig-
keit der Interpretation von Botschaften an, die sowjetische Sprecher und Autoren
dem Westen vermitteln möchten. Die sowjetische Stimme kann manchmal dem
widersprechen, was die Hauptlinie der Sowjetpolitik in einem gegebenen Zeitpunkt
zu sein scheint. Im großen und ganzen ist jedoch ein ziemlich gleichbleibendes
Schema von Punkten der strategischen Politik an Betrachter im Ausland gerichtet.
Einige dieser Punkte sind Variationen bekannter Themen; andere scheinen neue
überlegungen widerzuspiegeln. Zu der Zeit, da dieses Buch geschrieben wird, scheint
sich das allgemeine Schema des Gesprächs nach außen in hohem Maß auf die kriti-
26 Siehe Oberst E. Fedulaew, »Das Wettrüsten mit Kern- und Raketenwaffen in den
NATO-Staaten - eine Bedrohung des Friedens«, Der Kommunist in den bewaffneten
Kräften, Nr. 17, August 1963. S. 84-85.
27 Siehe Chruschtschows abschließende Rede vor dem Plenum des Zentralkomitees, Prawda,
15. Dezember 1963.
28 Internationals Affairs, November 1963, S. 30.
Die sowjetische Stimme im strategischen Gespräch 67
sche und schwierige Zeitspanne zu beziehen, die die Sowjetführer während der letz-
ten anderthalb Jahre durchgemacht haben.
Während dieser Zeitspanne machten die Schwierigkeiten, die die sowjetische Land-
wirtschaft und Wirtschaft heimsuchten, es problematischer, mit den konkurrieren-
den militärischen und wirtschaftlichen Ansprüchen auf die verfügbaren Ressourcen
fertig zu werden. Innerhalb des kommunistischen Blocks wurde der Streit mit China
zunehmend schärfer, weil China die Führung der Sowjets in der kommunistischen
Weltbewegung in Frage stellte, während gleichzeitig die europäischen Satelliten
einen Drang nach einem größeren Maß an Autonomie an den Tag legten. Vor allem
standen die sowjetischen Führer in Hinblick auf ihr politisch-strategisches Verhält-
nis zu den Vereinigten Staaten und dem Westen während dieser Periode vor einigen
tiefgreifenden Entscheidungskrisen, davon die dramatischste die Raketenkraftprobe
in Kuba war. Diese Dilemmata drückten dem strategischen Gespräch mit dem Westen
deutlich ihren Stempel auf, dessen Hauptzüge nun eine offensichtlidte sowjetische
Bewußtheit für die Notwendigkeit widerspiegelten, die sowjetische Politik dem sich
ändernden Charakter des strategischen Milieus anzupassen. Einige besonders inter-
essante Züge des jüngsten sowjetischen Gesprächs, denen wir in den nädtsten Kapi-
teln dieses Buches weitere Aufmerksamkeit schenken wollen, können wie folgt zu-
sammengefaßt werden:
Erstens ist eine dauernde Bemühung zu beobachten, die Glaubhaftigkeit der sowjeti-
schen strategischen Abschreckung in westlichen Augen zu erhöhen. Dieser Punkt, der
mit größerer technischer Sophistikation als zuvor begründet wird, ist gekoppelt mit
einem Versudt, die USA von der Vorstellung zu befreien, sie könnten mit einem
erfolgreichen ersten Schlag rechnen oder politische Vorteile aus ihrer strategischen
Position gegenüber der Sowjetunion ziehen. In gewisser Weise scheint diese doppelte
»Botschaft« die militärische Begleiterscheinung der politischen Entspannungspolitik
zu sein. Tatsächlidt warnt sie den Westen vor dem Versuch, die Grenzen der Ent-
spannung zu seinem Vorteil auszudehnen.
Zweitens gibt es ein allgemeines sowjetisches Bestreben, die nicht immer klar aus-
gesprochene Idee der gegenseitigen nuklearen Abschreckung auf strategischer
Ebene zu propagieren und den Eindruck dogmatischer Starrheit auf dieser Ebene
durch die Ablehnung solcher Vorstellungen wie die einer kontrollierten strategischen
Kriegführung zu machen. Dieser Trend im sowjetischen Gespräch könnte sich auf
ein Gefühl zunehmenden Zweifels unter den sowjetischen Führern hinsichtlich der
Frage beziehen, ob die Erpressungsdiplomatie mit Raketen, die einmal so vielver-
sprechend aussah, tatsächlich mit Erfolg angewandt werden kann, um vom Westen
einen Rückzug aus seinen hartnäckig gehaltenen politischen und strategischen Posi-
tionen rund um die Welt zu erzwingen.
Drittens zeigt sidt. - in bemerkenswertem Gegensatz zu der Tendenz, auf der
strategischen Ebene die sowjetisdt.e dogmatische Haltung zu verhärten -, ein ver-
sudt.endes Bemühen, ein weniger starr dogmatisdt.es Image als früher in Hinblick
auf das Eskalationspotentiallokaler Konflikte zu bieten. Das läßt darauf schließen,
daß die Sowjets gerne die »Eskalationsschwellee erhöht sehen würden, vielleicht
um der lokalen Anwendung militärisdt.er Madt.t unterhalb der nuklearen Ebene
größere Flexibilität zu verschaffen und die dt.inesische Kritik zu entwaffnen, daß
68 KapitelllI
1 Für einen ausführlichen Vergleich der beiden Sokolowski-Ausgaben siehe Leon Goure,
Notes on the Second Edition 0/ Marshal V. D. Sokolovskii's »Military StrategY<r, The
RAND Corporation, RM-3872-PR, Februar 1964.
70 Kapitel IV
zu finden, während die Zweckmäßigkeit des Krieges selbst als Instrument der Poli-
tik zunehmend im Zweifel ist.
Hinsimtlim einer Anzahl anderer militärismer Fragen ist in beiden Auflagen ein
hohes Maß an übereinstimmung zu finden. Diese Kategorie enthielt zum Beispiel
folgende Gegenstände: der Vorrang strategismer Kernwaffen in der modernen
Kriegführung; ein Zieldenken, das die Zerstörung sowohl militärismer als aum
urban-industrieller Ziele betont und den Begriff der strategismen Zielbesdträn-
kung verwirft; Anerkennung der wirtsmaftlichen Schwierigkeit, ausreimend große
stehende Streitkräfte in Friedenszeiten aufremtzuerhalten; Betonung der Not-
wendigkeit qualitativer wie quantitativer überlegenheit; eine Doktrin der Krieg-
führung auf Kriegsschauplätzen, die ausgedehnte nukleare Schläge mit dem Nach-
stoß und der Besetzung durm Landstreitkräfte fordert; und die Vorstellung vom
Westen als eines aus militärismer Sicht gewaltigen Gegners, der nom immer von
der Furcht vor den Folgen einer sowjetischen Vergeltung in Schach gehalten wird.
Es gab eine dritte Kategorie militärischer Fragen, nämlim jene, auf die in der revi-
dierten Ausgabe des Sokolowski-Buches neuer Nachdruck gelegt wurde. Darunter
fanden sich: die vermehrte Beachtung des begrenzten Krieges; ein erhöhtes Ver-
trauen in die Leistungsfähigkeit der Frühwarnung und anderer Maßnahmen zur
Verminderung der Aussichten eines erfolgreichen überraschungsangriffs ; die stär-
kere Betonung der weiteren Härtung und Beweglimkeit strategischer Waffen; eine
Aufwertung der strategischen Rolle von raketenbestückten U-Booten; vermehrter
Nachdruck auf Anti-U-Boot-Operationen und den Fähigkeiten zum amphibischen
Anlanden; eine gewisse Abwertung der Funktionen schwerer Bomber in der Zu-
kunft, aber eine Aufwertung solcher Bomber beim Einsatz gegen Seeziele; und die
Wichtigkeit der Entwicklung von Verteidigungssystemen zur Raketen- und SateJli-
tenabwehr.
Ein anderer interessanter neuer Zug des revidierten Sokolowski-Bandes war eine
Analyse der amerikanischen »counterforce«-Strategie oder Strategie der »Aus-
klammerung der Städte«, die von Argumenten gegen ihre Durchführbarkeit be-
gleitet wurde. Das ist ein typisches Beispiel für den sowjetischen Widerstand gegen
das, was die Autoren als eine »Art Vorschlag an die Sowjetunion über ,Regeln<
der Atomkriegführung« beschrieben 2. Der neue Band hat die Vorstellungen Chru-
schtschows vom Jahre 1960 über die Ersetzung von Menschenpotential durch Ra-
ketenfeuerkraft nicht speziell erneuert, doch spiegelte er den wachsenden Nachdruck
wider, den Chruschtschow und die modernistische Schule auf die strategischen Ra-
ketenstreitkräfte als Hauptelement der sowjetischen Militärrnacht legten.
überall in dem überarbeiteten Sokolowski-Band war - wie in den meisten Darle-
gungen sowjetischen strategischen Denkens - eine deutliche Zwiespältigkeit hin-
sichtlich des militärischen Weges zum Sieg in einem modernen Krieg, besonders
gegen einen starken überseeischen Gegner, zu finden. In der neuen Ausgabe wie in
ihrem Vorgänger wechselte die Konzeption vom Sieg als Folge der Schockwirkung
eines strategischen nuklearen Angriffs ab mit der herkömmlichen Vorstellung, daß
ein Sieg nur durch Operationen kombinierter Waffen, die zur Eroberung und Be-
2 Militär-Strategie, S. 117.
Tragweite des Sokolowski-Bandes 71
setzung des gegnerischen Mutterlandes führen, gesichert werden kann. Ein abwei-
chender Gedankengang in der sowjetischen Militärtheorie des letzten Jahres, der
besonderen Nachdruck auf die Möglichkeit eines sowjetischen Sieges in einem lang
andauernden Krieg infolge überlegener politism-moralischer Eigenschaften und
besserer wirtschaftlicher Organisation legte, wurde in der revidierten Sokolowski-
Ausgabe angedeutet, aber nicht als ein wichtiges neues Thema aufgegriffen.
Der revidierte Sokolowski-Band trug den Stempel von neuen politischen Trends
sowohl in den inneren sowjetismen Angelegenheiten als auch in der Außenpolitik.
Der neue Band ergänzte andere Hinweise auf ungelöste Spannungen in den Bezie-
hungen zwischen Politik und Militär innerhalb der Sowjetunion. Die revidierte
Ausgabe offenbarte eine starke Tendenz, von neuem den Vorrang der politischen
Führung in militärischen Angelegenheiten zu beteuern, ein Trend, der sim nach der
Veröffentlimung der ersten Sokolowski-Ausgabe im sowjetischen Militärschrift-
tum zeigte. Es scheint eine allgemeine interne Reaktion auf Bestrebungen des Mili-
tärs, für sich einen größeren Einfluß bei der Gestaltung der nationalen Sicherheits-
politik zu beansprumen, gegeben zu haben.
Die Unterzeichnung des Teststoppabkommens wurde in dem neuen Band als wich-
tiger Schritt bei der Verminderung internationaler Spannungen anerkannt, doch
durchzog der lOneue Geist von Moskau« keineswegs das ganze Werk. Tatsächlich
warnten die Autoren bei ihrer Besprechung des Teststoppabkommens davor, sich zur
Vermeidung eines neuen Krieges lOauf den guten Willen der Imperialisten zu ver-
lassen«, statt ,.auf die Stärke des sozialistischen Lagers« S.
Eine gewisse Anzahl kleinerer Schönheitskorrekturen war in dem neuen Text offen-
sichtlich. Die beiden unsdlmeichelhaften Anspielungen der ersten Fassung auf die
Jugoslawen waren in der neuen ausgelassen worden '. Diese änderung spiegelte
eine Verbesserung der sowjetisch-jugoslawismen Beziehungen während der ver-
gangenen Monate wider. Wie der alte, bewahrte der neue Band ein diskretes
Schweigen über den sino-sowjetischen Streit. Er bezog sim nur einmal, und da auch
nur indirekt, auf die Chinesen. Der Hinweis geschah bei einer Erklärung über den
Kampf ,.gegen den Revisionismus«, zu der lO ... und Dogmatismus« im neuen Text
hinzugefügt wurde 5. Die Dogmatiker, im gegenwärtigen sowjetischen Sprachge-
brauch, sind natürlich die Chinesen. Diese Behandlung der chinesischen Frage steht
im Gegensatz zu anderen sowjetischen Schriften über militärische Angelegenheiten,
die oft polemische Attacken gegen die chinesische Falschdarstellung der sowjetischen
Verteidigungspolitik und -strategie reiten S. Der Grund für die Ausschaltung der
S Ibid., S. 36.
, Ibid., S. 252, 225. Der ursprüngliche Hinweis auf Jugoslawien findet sich in Soviet Mili-
tary Strategy auf S. 273, 276.
5 Militär-Strategie, S. 480.
ft Als Beispiel siehe L. Glagolev und V. Larionov, »Soviet Defence Might and Peaceful
Coexistence«, International Affairs, Nr. 11, November 1963, S. 27, 29, 30, 32, 33. Siehe
auch den Leitartikel ,.Der leninistische Kurs unserer Außenpolitik, Roter Stern, 24. Sep-
tember 1963; Oberst P. Trifonenkow, ,.Das heute vordringlichste Problem und das
Abenteurertum der chinesischen Dogmatiker«, Der Kommunist in den bewaffneten Kräf-
ten, Nr. 21, November 1963, S. 23-29; D. Melnikov, N. Talenski, A. Iarmonskii, ,.The
main Problems of the 20th Century«, International Aff., Nr. 9, Sept. 1963, S. 10-17.
72 Kapitel IV
7 In der Chinafrage ging die neue Ausgabe in ihrer Neutralität so weit, einen früheren,
vollkommen unstrittigen Hinweis fortzulassen. Er handelte von Beiträgen zur Militär-
theorie, die vor einigen 2000 Jahren solche chinesische Denker wie Konfuzius, Sun Tsu
und Su Tsu machten. Siehe Soviet Military Strategy, S. 86, zu dem betreffenden Ab-
schnitt.
8 Militär-Strategie, S. 32.
• Der Kommunist in den bewaffneten Kräften, Nr. 20, Oktober 1963, S. 94.
10 Eine Erörterung der internen und externen (zum Ausland) Kommunikationsfunktionen
des ursprünglichen Sokolowski-Bandes und deren relativen Gewichtes in diesem Buch fin-
det sich in dem Bericht eines Symposions über Sowjetstrategie unter dem Titel Soviet
Nuclear Strategy: Critical Appraisal, des Center for Strategie Studies, Georgetown Uni-
versity, Washington, D.C., November 1963, insbesondere S. 2-7.
Kapitel V
Sowjetische Autoren, die sich mit strategischen Fragen befassen, bestehen heute dar-
auf, daß die militärische Stärke der Sowjets und ihre Bereitschaft, sie im Falle
aggressiver westlicher Schritte gegen den Sowjetblock anzuwenden, im Westen ernst
genommen werden sollten. Obwohl dies in keiner Weise ein neu es sowjetisches
Thema ist, wurde es seit dem Herbst 1962 mit größerer Bestimmtheit ausgespro-
chen. Eine weitere änderung des Akzents kann in der gegenwärtigen Tendenz ge-
funden werden, mit einer etwas größeren technischen Sophistikation als zuvor nach-
zuweisen, daß die Sowjetunion nach einem nuklearen Angriff zur Vergeltung mili-
tärisch imstande ist. Lassen Sie uns die Entwicklungen betrachten, die zu der lau-
fenden Bemühung, die Glaubhaftigkeit der sowjetischen Abschreckungshaltung zu
verstärken, geführt haben.
In den Augen der Sowjetführung war einer der Hauptwerte der sowjetischen
Militärrnacht schon lange ihre mutmaßliche Abschreckungswirkung auf die kapita-
listischen Länder. Um das Gewicht dieses Faktors im sowjetischen Denken zu wür-
digen, muß man sich ins Gedächtnis rufen, daß die sowjetischen Führer es bis vor
kurzem als gegeben hinnahmen, daß die kapitalistischen Staaten früher oder später
Krieg gegen die Sowjetunion führen würden, um ihr System vor dem Gang der
»Geschichte« zu bewahren. Dementsprechend suchte die sowjetische Politik ständig
seit den ersten Tagen des Sowjetregimes einen militärischen Zusammenstoß zwischen
dem kapitalistischen und dem kommunistischen System, der als unvermeidlich ange-
sehen und erwartet wurde, aufzuschieben, bis die Sowjetunion sich selbst stärker
machen konnte als alle Kräfte, die gegen sie aufgestellt werden könnten. Die zeit-
weilige Waffenpartnerschaft mit einigen kapitalistischen Staaten im Zweiten Welt-
krieg haben diese langfristige Politik nicht verändert.
Nach sowjetischer Ansicht war das Widerstreben der Vereinigten Staaten, ihr Kern-
waffenmonopol nach dem letzten Krieg auszubeuten, weniger das Ergebnis ameri-
kanischer guter Absichten, als das der durch die sowjetische Militärrnacht aufge-
zwungenen Zurückhaltung. In den ersten Nachkriegsjahren fiel die Bürde, die USA
davon abzuhalten, ihre nukleare überlegenheit auszunutzen, im wesentlichen auf
die großen einsatzfähigen Landstreitkräfte, mit denen die Sowjetunion gewisser-
maßen imstande war, Westeuropa als »Geisel« zu benutzen. Die Dauerhaftigkeit
dieses indirekten Hemmnisses war jedoch im Zeitalter der Nukleartechnologie in
keiner Weise sicher. Es war deshalb ein Hauptanliegen der sowjetischen Politik im
74 Kapitel V
warnen« '. Daraufhin erläuterten sie: ,.Aus diesem Grund legen wir in dem Werk
Militärstrategie unsere Ansichten über den Charakter eines zukünftigen Krieges und
über Methoden der Kriegführung in einem solchen Krieg offen dar.«
Ein breites sowjetisches Sc:hrifttum ist inzwischen zu dem Thema der sowjetischen
Raketenmacht als Hauptstütze der Abschreckung entstanden. Dieses Thema geht
zurück auf die späten fünfziger Jahre, als Chruschtschow behauptete, die Sowjet-
union habe ,.die Serienproduktion interkontinentaler ballistischer Raketen aufge-
nommen« und besitze ,.die Mittel, dem Aggressor an jedem Punkt der Erde einen
vernichtenden Schlag zuzufügen« 6. Während es der größte Teil des Schrifttums ver-
mieden hat, spezifische Aussagen über die sowjetische zahlenmäßige Raketenüber-
legenheit zu machen, hat es besonderen Nachdruck auf den qualitativen Vorsprung
gelegt, den angeblich die Sowjetunion dank größeren Gefechtskopfgewichts, glo-
baler Reichweite und so fort genießt 8. Nach der Erprobung von Kernwaffen mit
besonders großer Sprengkraft gegen Ende des Jahres 1961 machte die Sowjetunion
weithin die zerstörerischen Eigenschaften von Waffen der 50- und 100-Megaton-
nen-Klasse bekannt 7. Indem sie dieses neue Element im sowjetischen Abschrek-
kungsimage soweit als möglich ausschlachteten, erinnerten sowjetische Sprecher den
Westen häufig daran, daß er keine Waffen dieser Art besitze 8. Gelegentlich ließen
sie Andeutungen fallen, daß die Sowjetunion ,.sogar noch furchtbarere« Waffen
auf Lager haben könnte, so zum Beispiel im Jahre 1960, als Chruschtschow von
einer ,.phantastischen Waffe« sprach, die sich bei den Sowjetwissenschaftlern im
Entwurf befinde', und 1963, als Malinowski die Möglichkeit einer ,.grundsätzlich
neuen Waffe« erwähnte 10.
Im Herbst 1963 erneuerten und intensivierten die sowjetische allgemeine Presse
und die Militärpresse den Nachdruck, mit dem sie die strategischen Raketenstreit-
kräfte belegten. Eine Flut von Artikeln, die meisten gemeinverständlicher Art,
erschienen zu dieser Zeit im Zusammenhang mit der Militärparade auf dem Roten
4 lbid., S. 33. Die Brosmüre war Stets auf der Wacht für den Frieden, S. 25.
6 Abschließende Rede an den 21. Parteikongreß, Prawda, 6. Februar 1959.
6 Siehe z. B. Marsmall K. S. Moskalenko, ,.Die Raketentruppen wamen über die Simerheit
des Vaterlandes«, Roter Stern, 13. September 1961; Marsmall Malinowski in: Kommu-
nist, Nr. 7, Mai 1962, S. 14; Marsmall N. I. Krylow, ,.Die strategismen Raketen«, lswes-
tija, 17. November 1963; Generaloberst V. F. Tolupko, ,.Die hauptsächlime Raketen-
stärke des Staates«, Roter Stern, 19. November 1963; Oberst I. Mareew, »Der unzerstör-
bare Smild der sozialistismen Länder«, Der Kommunist in den bewaffneten Kräften,
Nr. 3, Februar 1964, S. 11; Marsmall N. I. Krylow, »Immer auf der Hut«, lswestija,
23. Februar 1964.
1 Es ist jetzt eine übliche Formel der Sowjets geworden, sich des Besitzes von Waffen von
»50 bis 100 und mehr Megatonnen« zu rühmen. Siehe Marsmall S. Birjusow, »Ein neuer
Absmnitt in der Entwicklung der Streitkräfte und Aufgaben der Indoktrination und
Truppenausbildung«, Der Kommunist in den bewaffneten Kräften, Nr. 4, Februar 1964,
S.20.
8 Siehe beispielsweise Chrusmtsmows Rede an den Weltfriedenskongreß, Prawda, 11. Juli
1962; Krylow in: lswestija, 23. Februar 1964.
9 Rede an eine Sitzung des Obersten Sowjet, Prawda, 15. Januar 1960.
10 Marsmall R. Malinowski, »Die Revolution in militärismen Angelegenheiten und die
Aufgaben der Militärpresse«, Der Kommunist in den bewaffneten Kräften, Nr. 21,
November 1963, S. 8.
Die sowjetische Abschreckungshaltung 77
Platz am 7. Oktober und der Feier des Tages der Artillerie in der zweiten Hälfte
des Monats. Diese Artikel waren aus mehreren Gründen bemerkenswert. Erstens
stürzten sie sich auf das Thema, daß nun die Sowjetunion dank ihrem Besitz
moderner Waffen, den »die Militärparade auf dem Roten Platz augenfällig be-
stätigt« habe 11, eine Vergeltungsfähigkeit besitze, die dazu beigetragen hätte,
»das Sicherheitsproblem des Landes zu lösen« 12. Zweitens reagierte der stellver-
tretende Kommandeur der strategischen Raketenstreitkräfte selbst auf die west-
lichen Schätzungen der sowjetischen Unterlegenheit hinsichtlich des Umfangs der
sowjetischen strategischen Trägerwaffen mit der Behauptung, daß die Sowjet-
union auf einen Angriff jeder Größenordnung mit »einer noch größeren Anzahl
von Raketen« antworten würde 13. Drittens legten die Artikel auf eine Art und
Weise Nachdruck auf die Fähigkeiten der strategischen Raketenstreitkräfte und
auf die außergewöhnlichen Qualitäten des sowjetischen Raketenpersonals, daß man
annehmen könnte, sie zielten darauf ab, psychologisch den Weg für weitere Ver-
minderungen der mehr traditionellen Zweige der sowjetischen Streitkräfte zu
ebnen. Chruschtschow deutete später - zum Abschluß des Plenums des Zentral-
komitees im Dezember 1963 - an, daß er eine derartige Verminderung im Sinne
habe. Endlich betonten die sowjetischen Militärsprecher nicht nur, daß die sowjeti-
schen Kern- und Raketenwaffen ihrem Lande einen »zuverlässigen Schild« ver-
schafften, sondern daß, im Falle einer westlichen Aggression, »unsere Hände nicht
zögern werden, sie zu gebrauchen« 14. Später - als es Zeit wurde, am 23. Februar
1964 den 46. Jahrestag der Sowjetstreitkräfte zu feiern - war es wieder ein
zentrales Thema in der Presse, daß die »Kern- und Raketenmacht der UdSSR« die
Imperialisten abschrecke und das sozialistische Lager mit einem »unzerstörbaren
Schild« versehe 15.
Die sowjetische Betonung der Vergeltungskraft der Sowjetunion ist trotz ihrer
Intensität nicht besonders überzeugend gewesen. In der Regel sind die sowjetischen
Beweise bei breiten Beteuerungen stehengeblieben, die dazu tendierten, viele Pro-
bleme zu vertuschen, die mit der Sicherstellung eines erfolgreichen Vergeltungs-
schlages zusammenhängen. Wie einige der bemerkenswert offenen Enthüllungen
des Verteidigungsministers Robert McNamara über den Zustand der sowjetischen
Verteidigungsanlagen andeuteten, begann die UdSSR beispielsweise erst vor kur-
11 Prawda, 8. November 1963. Siehe auch Roter Stern, 6. November, lswestija, 8. Novem-
ber, Prawda, 19. November 1963.
12 Krylow in: lswestija, 17. November 1963.
13 Tolupko in: Roter Stern, 19. November 1963. Siehe die weitere Erörterung in Kapi-
tel VII.
14 Marschall K. A. Verschinin, »Die Generallinie der sowjetischen Außenpolitik«, Der
Kommunist in den bewaffneten Kräften, Nr. 19, Oktober 1963, S. 16.
15 »Zur Einleitung des 46. Jahrestages der sowjetischen Armee und Marine«, Roter Stern,
21. Februar 1964; Krylow in lswestija, 23. Februar 1964; Mareew in: Der Kommunist in
den bewaffneten Kräften, Nr. 3, Februar 1964, S. 12-14.
78 Kapitel V
19 Ibid.
20 Eine ähnliche Behauptung der sehr kurzen Reaktionszeit der sowjetischen strategischen
Raketen machte im November 1963 der Befehlshaber der sowjetischen strategischen
Raketenstreitkräfte, Marschall N. Krylow, der sagte, zu »den hervorragenden technischen
Eigenschaften« der sowjetischen Raketen gehöre auch jene, daß »es nur weniger Minuten
bedarf, um sie einsatzbereit zu machen«. Iswestija, 17. November 1963; siehe auch Iswes-
tija, 23. Februar 1964.
11 International Affairs, November 1963, S. 32.
80 Kapitel V
deutete damit eine der Vorwegnahme (pre-emption) sehr nahe kommende Vorstel-
lung an, die wir gleien behandeln werden. Dann argumentierten die Verfasser, daß
der Angreifer auf einen kleinen ersten Sdtlag beschränkt wäre, wenn er auen nur
ein geringes Maß an Oberrasdtung zu erzielen wünsene. Wahrseneinlidt würden
die Bomberstreitkräfte der USA nidtt als ein Faktor in einem Anfangsangriff an-
gesehen werden, mit der Begründung, daß mit ihrer Anwendung der Vorteil der
Oberrasdtung geopfert werden würde.
Wenn der Angreifer ein gewisses Maß auch nur relativer überraschung erreichen soll -
einen Vorteil von wenigen Minuten, so müßte er in seiner ersten Salve einen kleinen, aber
höchst wirksamen Teil seiner Angriffsmittel gebrauchen. Deshalb würden die a~enbliddich
vorhandenen Bomber, die nur einen Bruchteil der Geschwindigkeit von Raketen erreichen,
kaum ein Element der überraschung im modernen Sinne herstellen. Auf der anderen Seite
könnte der Angegriffene nach dem Schlag (strike) des Aggressors auf das überraschungs-
moment verzichten, und er würde alle seine Waffen zum Gegenschlag einsetzen, sofern er
sie vor der ersten Explosion auf seinem Gebiet in Bewegung gesetzt hat, oder soweit sie nach
dem Beginn des gegnerischen Bombardements noch intakt sind 11.
Nadtdem er endlich behauptet hatte, daß die Sowjetstreitkräfte in einem Zustand
erhöhter Bereitsmaft gehalten werden, um einen »sofortigen Gegensdtlag« zu füh-
ren, »der an Stärke der Wirkung von mehreren tausend Millionen Tonnen TNT
gleichkommen würde«, kam der Glagolev-Larionov-Artikel zu dem Sdtluß, daß
ein Angreifer keinen wirtsmaftUmen oder politismen Vorteil aus einem nuklearen Krieg
ziehen kann, weil dieser lediglim seine eigene Vernichtung besiegelt . .. Die grundlegende
Änderung des Gleimgewichts der Kräfte in der Welt und die neuen Eigensma/ten der der
Sowjetunion zur Verfügung stehenden Waffen sind ein weiteres Abschreck.ungsmittel gegen
die Entfesselung eines weiteren Krieges auch durch die aggressivsten Kreise des Imperialis-
mus 118. (Schrägdruck. im Original.)
22 Ibid.
23 Ibid., S. 33.
Die sowjetische Abschreckungshaltung 81
Konsequenzen gibt es einen sehr großen Unterschied zwischen einer Politik, die
einen vorwegnehmenden Schlag versuchen würde - sie würde darauf abzielen,
einen gerade anlaufenden Angriff des Feindes zu zerschlagen oder abzustumpfen -
und der Politik eines lediglich vergeltenden Schlages, der erst in Gang gesetzt wer-
den würde, nachdem man die ungehinderte Wucht des gegnerischen ersten Schlages
hingenommen hat. Darüber hinaus sind der abschreckende und der politische Wert
der sowjetischen Streitkräfte zu einem gewissen Grade von der Ansicht des Gegners
über ihre vorwegnehmende Funktion betroffen. Wenn die Sowjetunion beispiels-
weise sich entschließt, politisch eine Vorwärtspolitik zu verfolgen, und wenn sie es
fertigbringt, ihre Absicht und Fähigkeit zur Vorwegnahme glaubhaft zu machen,
dann könnten in einer Krise ihre Aussichten, den USA einen Rückzug oder Kompro-
rniß aufzuzwingen, besser sein. Obwohl die Möglichkeit einer vorwegnehmenden
Aktion der Sowjets in der Kuba-Krise von 1962 ihre Glaubhaftigkeitsprüfung
nicht bestanden hat, könnten die sowjetischen Führer zu der überzeugung kom-
men, daß die Aussichten für eine erfolgreiche Reaktion der Amerikaner nicht nur
in Kuba, sondern vielleicht auch in Berlin und anderswo geringer gewesen wären,
wenn es ihnen - den Sowjets - gelungen wäre, tatsächlich eine Raketenstreit-
macht in Kuba aufzustellen, und sie dadurch ihre Fähigkeit zur Vorwegnahme
verbessert hätten 25.
Obwohl eine vorwegnehmende Politik dem Westen eine politisch nützliche War-
nung übermitteln und dazu beitragen könnte, das sowjetische Abschreckungsimage
zu verstärken, erzeugt sie auch Schwierigkeiten. Neben den militärischen Erforder-
nissen der Fähigkeit zur Vorwegnahme - wie zum Beispiel eine hohe Bereitschaft,
schnelle Reaktion und ein unzweideutiges Warnsystem - erhebt sich auch die
Schwierigkeit, daß eine offensichtlich vorwegnehmende Haltung in manchen Situa-
tionen die andere Seite dazu veranlassen kann, selbst Vereitelungsvorbereitungen
zu treffen; das wieder würde die Gefahr eines fahrlässigen nuklearen Schuß wechsels
erhöhen. Darüber hinaus hat eine erklärte Politik der Vorwegnahme auch insofern
unerwünschte politische Nebentöne, als sie das Image von der Sowjetunion als Ver-
fechter der friedlichen Koexistenz, als Land, das niemals - auch nicht infolge
irgendeiner Provokation, es sei denn, es handele sich um einen tatsächlichen Angriff
- einen Krieg beginnen würde, beeinträchtigt. Aus allen diesen Gründen dafür
21 Es mag nützlim sein, klarzustellen, was die ,.vorwegnehmenden« Streitkräfte von den
für den ,.ersten Smlag« (first strike) bestimmten untersmeidet. Die grundsätzlime Unter-
smeidung besteht darin, daß die Streitmamt des ersten Smlages ausreimend stark sein
würde, um einen vorsätzlimen Angriff auf den Feind so zu gestalten, daß angenommen
werden kann, man selbst werde im Gegensmlag nimt zu sehr besmädigt, wohingegen
die vorwegnehmenden Kräfte nam der landläufigen Definition ein solches Ergebnis nimt
garantieren könnten, sondern eher eingesetzt würden, einen unmittelbar bevorstehenden
Angriff des Feindes zu smwämen und zu zerrütten. Eine Streitkraft des ersten Smlages
kann, wenn sie remtzeitig mobilisiert wird, vorbeugend eingesetzt werden, jedom wäre
es kaum sinnvoll, eine zur Vorwegnahme bestimmte Streitkraft, so wie sie hier definiert
ist, zu einem ersten Smlag zu verwenden.
25 Für eine umfassendere Untersumung dieser Frage siehe: Arnold Horeli<:k, The Cuban
Missile Crisis: An Analysis 01 Soviet Calculatiom and Behavior, The RAND Corpora-
tion, RM-3779-PR, September 1963. Eine gekürzte Fassung dieses Aufsatzes ersmien
unter dem gleimen Titel in World Politics, Vol. XVI, Nr. 3, April 1964, S. 363-389.
82 Kapitel V
und dagegen ist und bleibt die sowjetisdte Einstellung zur Vorbeugung zwiespältig.
In sowjetisdten Aufsätzen werden gewöhnlidt die praktisdten Vorteile verkündet,
die man von einem vorwegnehmenden Sdtlag gegen einen Gegner, den man bei
seinen unmittelbaren Angriffsvorbereitungen überrasdtt, erwarten kann, aber
gleidtzeitig wird darin die Möglidtkeit zurückgewiesen, die Sowjetunion würde
jemals mit dem Gedanken spielen, einen anderen als einen Vergeltungssdtlag durdt-
zuführen. Die resultierende Ungewißheit darüber, wo die Sowjets in dieser Frage
stehen, kann genau der Eindruck sein, den sie hervorzurufen wünsdten. Dieses
wurde in ihren Bemerkungen zur Frage eines vorwegnehmenden Sdtlages von vier
der Sokolowski-Autoren in ihrem Artikel im Roten Stern vom 2. November 1963,
darin sie auf westlidte Kommentare zur ersten Sokolowski-Ausgabe antworteten,
ansdtaulidt herausgearbeitet.
Als sie auf die Bemerkungen, die Marsdtall Malinowski auf dem 22. Kongreß der
KPdSU im Oktober 1961 madtte, anspielten, stritten die sowjetisdten Autoren ab,
daß Malinowski im Sinne eines vorwegnehmenden Sdtlages gedadtt habe, als er
von »der Bereitsdtaft der Sowjetstreitkräfte, einen überrasdtungsangriff der Impe-
rialisten zu zersdtlagen«, spradt. Ohne genau zu spezifizieren, was Malinowski
im Sinne gehabt haben könnte, oder was ihre eigene Darstellung seiner Bemerkun-
gen in ihrem Budt aussagen solle, erklärten die Sowjetautoren, daß »auch nur der
Gedanke an einen derartigen Sdtlag von der friedliebenden Politik des Sowjet-
staates zurückgewiesen wird«. Sie sträubten sidt audt gegen die Vermutung, daß die
Zufludttnahme der Sowjets zu versdtwommenen Warnungen vor der Vorweg-
nahme ein Mittel zur Erhöhung der sowjetischen Absdtreckungshaltung sein und
daß dem eine relative Schwäche zugrunde liegen könnte 26.
Während die vier Sokolowski-Autoren in ihrem Artikel im Roten Stern sich offen-
sichtlich bemühten, abzustreiten, daß Äußerungen über die sowjetische Bereitschaft,
einen Feindangriff zu zerschlagen, eine Vorwegnahme andeuten sollten, ist es inter-
essant, daß die zweite Auflage des Sokolowski-Buches noch an einer nicht weniger
unklaren Formel festhält, wie sie in der ersten Ausgabe zu finden war. Der be-
treffende Passus in der neuen Ausgabe, der im wesentlichen von dem ersten Text
nicht abweicht, lautet wie folgt:
Da die modernen Kampfmittel die Möglichkeit bieten, innerhalb kürzester Zeit außer-
ordentlich große strategische Erfolge zu erzielen, wird für den Ausgang des ganzen Krieges
seine Anfangsphase von entscheidender Bedeutung sein. Dabei gilt als das Hauptproblem der
Anfangsphase die Erarbeitung von Methoden zur einwandfreien Abwehr eines nuklearen
Oberraschungsangriffs und zur Vereitelung der aggressiven Pläne des Gegners durch einen
rechtzeitig geführten Vernichtungsschlag !7. (Schrägdruck im Original.)
Variationen zu dem Thema der sowjetischen »Bereitschaft, den Angriff und die
kriminellen Absichten eines Gegners zu zerschlagen«, tauchen weiterhin regelmäßig
im sowjetischen Gespräch auf, ohne jemals genau zu sagen, welche Umstände man
in Aussidtt nimmt 28. Es war vielleidtt in einem sdton erwähnten Absatz des
Glagolev-Larionov-Artikel in International Affairs, daß sowjetisdte Autoren in
der letzten Zeit tatsädtlidt wenn audt nidtt ausdrücklidt dem Hinweis am nädtsten
gekommen sind, die Sowjetunion erwäge eine sidt der Vorwegnahme annähernde
Strategie.
Die ersten Raketen und Bomber der Seite, die in der Defensive ist [d. h. der sowjeti-
schen Seite], würden sogar abheben, bevor die ersten Raketen des Angreifers, ganz zu
schweigen von seinen Bombern, ihr Ziel erreicht hätten 20.
Nimmt man diese Besdtreibung bei ihrem Nennwert, so trennt in der Tat nur eine
sehr dünne Linie die sowjetisdten Konzeptionen von einem vorwegnehmenden und
einem vergeltenden Schlag. Der Passus scheint dazu bestimmt, die Vorstellung zu
vermitteln, daß die sowjetisdte Reaktion auf die Warnmeldung von einem strate-
gischen Angriff eine unmittelbare und automatische sein würde und daß sie nidtt
versdtoben werden würde, bis zweifelsfreie Beweise eines Angriffs gegen sowje-
tische Ziele vorlägen. Der Eindruck einer extrem reaktionssdtnellen und -freudigen
sowjetisdten Haltung ist - ob mit Absidtt oder nidtt - durdt wiederholte Erklä-
rungen erhöht worden, wonach - weil die überrasdtung von grundsätzlicher
Widttigkeit in einem modernen Krieg ist - die sowjetischen Streitkräfte »geschickt
die überraschung anwenden« so und versuchen müssen, »den Gegner unvermutet
anzupacken« 31.
ist auch möglich, daß die Sowjetführer noch immer einen tief eingewurzelten Ver-
dacht gegenüber den Absichten des Westens hegen, der Tatsache zum Trotz, daß
dieser keinerlei Neigung gezeigt hat, einen Krieg gegen die Sowjetunion zu führen,
selbst als er sich eines Kernwaffenmonopols erfreute.
Ohne Zweifel bietet der Heimat die wiederholte Behauptung der Undurchdring-
lichkeit der sowjetischen Verteidigungsanlagen einige Beruhigung. lthnlidt kann sie
dazu dienen, die Satellitenregime zu versidtern, daß sie nidlt länger Umsturz oder
,.rollbackc durch westlidte Aktionen fürchten müssen. Paradoxerweise jedoch sind
die Satellitenstaaten, je sicherer sie sich fühlen, desto mehr geneigt, vom schützenden
Arm der Sowjetunion abzurücken und einen breiteren Umgang mit dem Westen zu
suchen.
Die wiederholte Hervorhebung der Macht des sowjetischen Militärs, einen Krieg
abzuschrecken und den Frieden zu garantieren, kann einer nützlichen psychologi-
schen Funktion innerhalb der stehenden Streitkräfte selbst dienen. Die Betonung
der Abschreckungsrolle kann ein Kunstgriff sein, mit dem die sowjetischen Militärs
ermutigt werden sollen, in einer Epodte bei ihrem Beruf zu bleiben, in der viele der
herkömmlichen Beiträge des Soldatenberufs in Frage gestellt werden und der poli-
tische Nutzen eines Krieges selbst mehr und mehr im Zweifel ist.
Endlich ist es möglich, daß die sowjetischen Führer in ihrem Bestreben, den Eindruck
unangreifbarer militärischer Stärke zu vermitteln, noch immer einen Rest Hoffnung
unterhalten, der Westen könne zum politisdten Rückzug gezwungen werden. Sie
geben zumindest vor zu glauben, daß eine furchterregende militärische Haltung
ein notwendiger Kugelfang für die Spielarten politischen und ideologischen Kamp-
fes ist, die die Politik der friedlichen Koexistenz auslöst. In der Tat, die erneute
Hervorhebung der sowjetischen militärischen Stärke und Bereitschaft kann den
Sowjetführern als ein kluger Begleitumstand der Entspannungsouvertüren erschei-
nen, die sie auf Grund der Umstände der frühen sechziger Jahre gegenüber dem
Westen machen mußten.
Kapitel VI
Heute ist häufig in der Welt die Ansicht zu hören, daß die wissenschaftlich-techno-
logische Revolution, mit den Worten eines amerikanischen Wissenschaftlers, »Kriege
unvernünftig gemacht und die Diplomatie ihres wichtigsten Werkzeugs - den
plausiblen Kriegsdrohungen - beraubt hat« 1. üb die Sowjetführung sich allmäh-
lich zu solch einer Ansicht durchgerungen hat - ob sie begonnen hat zu spüren, daß
die sowjetische Politik nicht nur die Gefahr eines großen militärischen Konflikts
mit dem Westen, sondern auch Drohungen mit sowjetischen militärischen Aktionen
vermeiden muß - das ist eine Frage, zu der die endgültigen Ergebnisse noch nicht
eingetroffen sind. Doch scheint es bis zu diesem Punkt sicher, daß das sowjetische
politische und militärische Denken nicht den zutiefst umwälzenden Konsequenzen
der Idee entgangen ist, daß es sich als unmöglich herausstellen kann, einen nuklea-
ren Krieg in irgendeinem bedeutungsvollen Sinne zu gewinnen.
Seit Malenkows kurzlebiger These aus dem Jahre 1954, derzufolge ein nuklearer
Krieg auf die »gegenseitige Vernichtung« der kapitalistischen und der kommu-
nistischen Gesellschaft hinauslaufen könnte 2, hat die Sowjetführung mit einer un-
gelösten dogmatischen Krise über die Frage des Krieges als Mittel der Politik gelebt.
Ein Symptom dieser Krise war, im Jahre 1956, Chruschtschows Revision des lange
geglaubten kommunistischen Dogmas von der Unvermeidbarkeit eines schließlichen
Krieges auf Leben und Tod zwischen den kapitalistischen und kommunistischen
Systemen 3. Ein anderes Symptom ist die allmähliche Abnutzung des Dogmas von
dem zwangsläufigen kommunistischen Sieg im Fall eines neuen Weltkrieges, obwohl
dieses Dogma nur schwer vergeht und noch ganz und gar nicht aus dem sowjeti-
schen Denken verschwunden ist. Es scheint am meisten Geltung unter den sowjeti-
schen Ideologen und Militärs zu finden. Wie in dem ersten Kapitel gezeigt wurde,
ist zunehmend Zweifel über seine Gültigkeit in das Bewußtsein der höchsten Füh-
rung eingesidtert, und der Zweifel hat dazu beigetragen, die Perspektive ihrer An-
sichten über fundamentale Fragen des Krieges und des Friedens abzuändern. Ein
drittes Symptom der dogmatischen Krise über die Frage des Krieges als Mittel der
Politik war die Meinungsverschiedenheit darüber in dem facettenreichen Streit
zwischen Moskau und Peking.
In der sino-sowjetischen Polemik kroch verständlicherweise ein gewisses Maß an
Verzerrungen in die Behauptungen jedes Disputanten bezüglich der Ansichten des
anderen über das Verhältnis zwischen Krieg und Politik. Die sowjetische Seite
neigte dazu, kategorischer als die Tatsachen es rechtfertigen können zu behaupten,
China sei für den Krieg, und die Sowjetunion sei für den Frieden. Sie hat China
beschuldigt, mit seiner dogmatischen Interpretation von Lenins Auffassung vom
Krieg als Mittel der Politik einen nuklearen Massenmord zu riskieren. Die Chinesen
dagegen haben die Sowjets beschuldigt, sie hätten Lenins Lehre vom Krieg als
Fortsetzung der Politik vergessen. Etwas zu weit getrieben haben sie ihre Anschul-
digung, die Sowjet union habe es zugelassen, daß die Furcht vor einem nuklearen
Krieg sie in einen ,.Kapitulationismus« gegenüber dem Westen treibt, und sie habe
es versäumt, ihre militärische Macht in einem politischen Sinne auszunutzen, um die
Interessen des kommunistischen Lagers in seiner Gesamtheit zu fördern. Von der
Polemik einmal abgesehen ist aller Wahrscheinlichkeit nach keine der disputierenden
Parteien darauf bedacht, einen nuklearen Krieg herauszufordern, doch unterschei-
den sie sich in ihren Beurteilungen der Frage, inwieweit man gefahrlos Druck auf
den Westen ausüben kann, ohne das ernste Risiko eines Krieges heraufzubeschwören.
Nach der Kuba-Krise, in der Zeit der verschärften Polemiken mit den Chinesen,
ist die Auseinandersetzung über den Krieg als Mittel der Politik zu einer Angele-
genheit interner Erörterungen innerhalb der Sowjetunion geworden. Diskussionen
werden in den öffentlichen Massenmedien geführt, und die Diskutierenden fallen
unter zwei ungefähr abgegrenzte Gruppen, davon die eine von politischen, die
andere von miltärischen Sprechern beherrscht wird. Chruschtschows eigene gele-
gentliche Bemerkung zur Unglaubwürdigkeit der Vorstellung, man könne den
Kommunismus auf dem radioaktiven Schutt eines nuklearen Krieges aufbauen 4,
haben für Xußerungen der politischen Seite den Ton angegeben. In diesen 1\ußerun-
gen wurde Lenins Ausspruch - nach Clausewitz -, daß der Krieg eine Fortsetzung
der Politik mit gewaltsamen Mitteln ist, in Frage gestellt. Andere haben Lenins
Aphorismus noch freimütiger verworfen, so zum Beispiel der politische Kommenta-
tor Boris Dimitriev, der die Formel folgendermaßen abänderte: »Der Krieg kann
nur eine Fortsetzung der Torheit sein«. 5
Auf der anderen Seite haben Militärautoren beharrlich die dogmatische Gültigkeit
4 Siehe beispielsweise Chrusmtsmows Rede über die internationale Lage an den Obersten
Sowjet der UdSSR, Prawda, 13. Dezember 1962.
5 »Hohe Tiere: Peking und Klausewitz«, lswestija, 24. September 1963.
Krieg als ein Mittel der Politik 87
von Lenins Formulierung verteidigt. Sie haben fortgefahren zu behaupten, daß der
Krieg als eine Fortsetzung der Politik und als ein Mittel der Politik anzusehen sei.
Die neue Auflage des Sokolowski-Buches versicherte beispielsweise von neuern:
Bekanntlich ändert sich das Wesen des Krieges als Fortsetzung der Politik mit dem Wandel
der Technik und der Waffen nicht 6.
Tatsächlich gingen die Sokolowski-Autoren über ihre ursprüngliche Behandlung
dieser Frage hinaus, indem sie an einer anderen Stelle ein neues Zitat von Lenin
vorstellten, das die Wirkung hat, die Rolle, die militärische Operationen bei der
Veränderung der politischen Landschaft spielen, besonders hervorzuheben.
Um das Wesen des Krieges ridltig als eine Fortsetzung der Politik, und zwar mit gewalt-
samen Mitteln, d. h. durch einen Krieg, verstehen zu können, ist folgender Leitsatz Lenins
von großer Wichtigkeit: »Der Krieg ist eine Fortsetzung jener Politik mit gewaltsamen
Mitteln, die die herrschenden Klassen der kriegführenden Staaten schon lange vor dem
Krieg betrieben haben. Der Friede ist die Fortsetzung derselben Politik, und zwar unter
Berücksichtigung jener Veränderungen im Kräfteverhältnis der Gegner, die durch die Kriegs-
handlungen entstanden sind.« 7 (Schrägdruck im Original.)
Nicht alle sowjetischen Militärautoren haben sich der Verteidigung von Lenins
Formulierung angeschlossen. Eine augenfällige Ausnahme ist der im Ruhestand
lebende Generalmajor Nikolai Talenski, ein prominenter Militärtheoretiker, der
viel über den Charakter nuklearer Kriegführung und seine Folgen für die inter-
nationale Politik geschrieben hat, und der auch ein stetiger Teilnehmer an den
informellen ,.Pugwash<,-Begegnungen von Wissenschaftlern über Abrüstungsfragen
war. Talenski, dessen veröffentlichte Auffassungen dazu tendierten, denen Chru-
schtschows weitgehend zu entsprechen 8, brachte schon 1960 und dann wieder 1962
die Vorstellung zur Sprache, daß »die Zeit vorüber ist«, in der ein Krieg noch als
Mittel der Politik angesehen werden konnte 9. Doch auch Talenski scheint sich in
dieser Frage nicht völlig entschieden zu haben. Auf der einen Seite hat er im Gegen-
satz zu einigen Sowjetideologen und vielen Militärautoren eine ziemlich negative
Ansicht über die Aussichten eines Landes geäußert, sich nach Erleidung eines nuklea-
ren Angriffs zu erholen und mobil zu machen. Diese Haltung scheint ihn unter jene
einzureihen, die glauben, daß die Wahrscheinlichkeit, als Sieger aus einem nuklea-
ren Krieg hervorzugehen, für jeden gering ist. Auf der anderen Seite hat er sich
ebenfalls mit der Auffassung identifiziert, nach der das kommunistische System
damit rechnen kann, besseres in einem nuklearen Krieg zu leisten als die andere
Seite. Er hat beispielsweise gesagt:
Im Grunde ... würde der Ausgang eines nuklearen Krieges ... auf solchen maßgeblichen
Faktoren wie der überlegenheit des sozialen und wirtschaftlichen Systems, der politischen
Gesundheit des Staates, dem moralismen und politismen Verstand der Massen, ihrer Orga-
nisation und Einheit, und dem Prestige der nationalen Führung beruhen 10.
In dieser Hinsicht ist nach Talenski das Sowjetsystem dem kapitalistischen System
,.ohne Zweifel« überlegen, und daher würde ein dritter Weltkrieg die Vernichtung
des letzteren bedeuten. Es bleibt unklar, welche der beiden von Talenski ausgespro-
chenen Ansichten seine eigenen überzeugungen widerspiegelt, und welche sich
dem tatsächlichen Standpunkt der Sowjetpolitik nähert. Gleichwohl spiegeln Ver-
sicherungen, daß das Sowjetsystem der Prüfung eines Krieges besser standhalten
würde als das kapitalistische System, nicht notwendig ein solides Vertrauen in einen
derartigen Ausgang wider. Sie können wahrscheinlich eher als eine patriotische
Beteuerung angesehen werden, die Zwecken der Kampfmoral und Propaganda
dienen soll.
Einige sowjetische Militärschriftsteller haben nach einer Formel gesucht, die die
leninsc:he Doktrin mit der ihr offensichtlich widersprechenden Behauptung in Ein-
klang bringen könnte, daß ein nuklearer Krieg ein zur Erreichung politischer Ziele
nicht gangbarer Weg sei. So machte ein Autor, dessen Ansehen als Militärhistoriker
in den letzten Jahren im Aufstieg begriffen ist, nämlich der Oberst P. Trifonenkow,
geltend, daß »die These vom Krieg als Fortsetzung der Politik niemals von einem
Marxisten-Leninisten in Frage gestellt werden kann« 11. Tatsächlich äußerte er
aber auch, die Gültigkeit dieser These brauche nicht nachgeprüft zu werden, weil
die großen nuklearen Verluste einen Weltkrieg »unrealistisch« gemacht haben, und
weil die Stärke des kommunistischen Lagers die Verhinderung eines Krieges mög-
lich mache 12.
Eine etwas ähnliche Ansicht wurde von Marschall Sergej Birjusow, dem Chef des
sowjetischen Generalstabs, in einem Artikel vom Dezember des Jahres 1963 vor-
gebracht. Dessen Eintritt in die Diskussion über den Krieg als Mittel der Politik
läßt vermuten, daß diese Streitfrage zu etwas mehr geworden war als eine bloße
Angelegenheit dogmatischer Haarspalterei. Marschall Birjusow warnte davor, die
leninistische Definition »dogmatisch, ohne die nötige Rücksicht auf die weltweiten
historischen Veränderungen, die stattgefunden haben, zu interpretieren«. Nachdem
er auf diese Weise von den chinesischen »Dogmatikern« abgerückt war, bestätigte er
das Prinzip, daß auch ein nuklearer Krieg zumindest für potentielle Gegner der
Sowjetunion ein Mittel der Politik bleibt, fügte aber hinzu, daß »aggressive Kreise
unbesonnen handeln würden, wenn sie nach diesem Prinzip handelten:
Der nukleare Krieg ist wie jeder andere Krieg aum ein Mittel der Politik, aber einer unbe-
sonnenen, sinnlosen Politik, weil sein ganz und gar verheerender Charakter aggressiven
Kreisen nicht die Erreichung ihrer reaktionären Ziele garantieren kann. Die Menschheit steht
vor einem Dilemma: entweder einen neuen Weltkrieg zu vermeiden, oder sim in einer Lage
zu finden, deren Konsequenzen sdlwerlich ganz vorauszusehen sind 13.
10 Ibid., S. 26.
11 Oberst P. Trifonenkow, »Krieg und Politik«, Roter Stern, 30. Oktober 1963. Es ist be-
achtenswert, daß Trifonenkow in diesem Artikel die These vom Kriege als Fortsetzung
der Politik gegen chinesische Anwürfe, die Sowjets hätten sie aufgegeben, verteidigte.
12 Ibid.
13 »Politik und Kernwaffen«, Iswestija, 11. Dezember 1963.
Krieg als ein Mittel der Politik 89
An einer anderen Stelle seines Exkurses über Krieg und Politik äußerte Birjusow,
»die nukleare Form der Fortsetzung der Politik« würde ungeheuer zerstörerisch
sein. Dies schien anzudeuten, daß es nach Birjusows Auffassung noch Spielraum für
nichtnukleare Formen der Kriegführung zur Verfolgung politischer Ziele geben
könnte, die sich nicht dem Vorwurf der Unbesonnenheit aussetzen würden; doch
dieser Punkt wurde nicht weiterentwickelt. Der Hauptnachdruck lag in Birjusows
Artikel auf der Notwendigkeit, einen Kriegsausbruch zu verhindern: »Je stärker
und je besser ausgerüstet unsere Streitkräfte sind, desto zuverlässiger werden sie als
Garanten eines dauernden Weltfriedens sein.«
Die anhaltende Gärung im sowjetisdten Denken über das Verhältnis vom Krieg zur
Politik wurde Anfang 1964 unterstridten, als Generalmajor N. Suschko und Major
T. Kondratkow einen gewundenen theoretischen Artikel zu dem Thema veröffent-
lidtten 14. Audt dieser Artikel stellte einen ziemlidt mühsamen Versudt dar, beide
Wege möglidt sein zu lassen. Auf der einen Seite madtten die Autoren geltend, daß
»die marxistisch-leninistisdte These vom Krieg als Fortsetzung der Politik durch
gewaltsame Mittel ihre Gültigkeit in Hinblick auf einen thermonuklearen Krieg
behält«, und auf der anderen Seite meinten sie, »ein thermonuklearer Krieg kann
nidtt als Mittel der Politik dienen«. Die letztere Ansidtt wurde durdt die Feststel-
lung akzentuiert, moderne Waffen hätten »den Krieg zu einem außergewöhnlich
gefährlidten und riskanten Werkzeug der Politik gemadtt« 15.
Zwei Züge dieses Artikels waren von besonderem Interesse. Der eine war ein hitzi-
ger Angriff auf die »Erdidttungen bourgeoiser Theoretiker«, des Inhalts, daß
nukleare Waffen ,.den Krieg seiner praktischen Bedeutung >beraubt< « 18 und »die
These vom Krieg als Fortsetzung der Politik >obsolet< gemacht hätten« 17. Unter
dem Deckmantel soldter Kritik, so lautete der Vorwurf des Artikels, »wurde ein
tollwütiger Angriff gegen die marxistisch-Ieninistisdte Lehre vom Krieg geführt«.
Es ist möglich, daß diese Bemerkungen mehr gegen sowjetisdte Kritiker von Lenins
Aussprudt über Krieg und Politik gerichtet waren als gegen »bourgeoise Theoreti-
ker«. Diese Vermutung wird durdt die Tatsadte erhärtet, daß Susdtko und Kon-
dratkow die »bourgeoisen Theoretiker« etwas widersprudtsvoll bezidttigt haben,
sie hätten »die Unvermeidbarkeit und die >Annehmbarkeit< eines Krieges mit
Kern- und Raketenwaffen propagiert« 18. Es spricht kaum für Folgeridttigkeit,
wenn man behauptet, das bourgeoise Denken sehe den nuklearen Krieg gleidtzeitig
als »obsolet« und als »annehmbar« an.
Der zweite besonders interessante Punkt in dem Artikel von Suschko und Kon-
dratkow war die Haltung, die er im Hinblick auf »nationale Befreiungskriege«
einnahm. Zusätzlidt zu der Wiederholung der herkömmlidten sowjetisdten Ansicht,
daß soldte Kriege »geredtt« und »zulässig« sind, hob der Artikel audt ihre »Un-
vermeidbarkeit« hervor; sodann hieß es darin, daß es in einem soldten Kriege »ganz
selbstverständlich ist, daß die Frage des Gebrauchs von Kem- und Raketenwaffen
nicht aufkommen wird.. 18. Hier scheinen sich die sowjetischen Autoren einem
Trend zu größerer Toleranz gegenüber der These, daß kleine Kriege ohne die Ge-
fahr der Eskalation geführt werden können, angeschlossen zu haben. Dieses Thema
wird ausführlicher in einem folgenden Kapitel über den begrenzten Krieg behandelt
werden.
Zu einem gewissen Grade kann der äußere Widerspruch zwischen sowjetischen poli-
tischen und militärischen Xußerungen zu der Frage des Krieges als Mittel der
Politik von den Unterschieden des institutionellen Blickwinkels herrühren. Die
politischen Sprecher, die in der Polemik mit Peking nach neuer Munition suchen,
haben es vorgezogen, die Vemunftwidrigkeit eines Krieges im Gegensatz zu dem
Nutzen der friedlichen Koexistenz herauszustellen. Im Verlauf sind sie mit dem
Ausspruch Lenins ziemlich ungezwungen verfahren. Das Militär dagegen, das sich
von Berufs wegen mit der Frage befaßt, wie Kriege - sollte es dazu kommen - er-
folgreich geführt werden können, ist von Natur aus zu der Annahme geneigt, daß
mit ihren Bemühungen, in einem künftigen Krieg den Sieg zu sichern, einem nütz-
lichen Zweck gedient ist. Als sie sich der Verteidigung des Leninwortes anschlossen,
schienen sie gespürt zu haben, daß seine Aufgabe die Grundlagen ihres Berufes als
solchen und seinen Beitrag zum Leben der Nation in Frage stellen könnte 20. Das
sowjetische Militär hat jedoch auch das Argument aufgegriffen, wie Marschall
Birjusows Xußerung zur Sinnlosigkeit eines Krieges andeutet, daß, wenn die raison
d'etre des Soldaten nicht mehr im Führen und Gewinnen eines Krieges gesehen
werden kann, sie doch auf der Funktion beruhen könnte, Kriege zu verhindern.
Diese Erklärung allein erschöpft jedoch nicht alle Verwicklungen des internen
sowjetischen Gesprächs über Lenins Rezept über Krieg und Frieden. Es zeigt sich,
daß praktische Fragen, die den Kern des sowjetischen Sicherheitsproblems berühren,
unter der Oberfläche liegen. Die Meinungsverschiedenheit dreht sich nicht nur um
die Frage, ob der Krieg seine Bedeutung als Mittel der Politik verloren hat, son-
dern auch darum, was man unter den Grenzen der militärischen Macht im Atom-
zeitalter verstehen sollte. Sie schließt auch die Frage in sich ein, ob die Sowjetunion
- wie sie das seit längerer Zeit getan hat - fortfahren kann, in einer Stellung
strategischer Unterlegenheit gegenüber ihrem Hauptgegner zu leben.
19 lbid., S. 23.
20 Ein interessantes Symptom dieser Sorge war ein Artikel, den Marschall N. I. Krylow im
Juni 1963 auf Wunsch der Redakteure des Roten Sterns schrieb, um Zweifel bezüglich der
heutigen Rolle des Soldatenberufes zu beheben. Krylow geißelte »jene, die man manchmal
bei uns trifft, die die Pose des ,kühnen Freidenkers< annehmen« und von der ,.abnehmen-
den Wichtigkeit« des Militärs sprechen. Krylow argumentierte, »der Soldatenberuf ist
nicht ein Ding der Vergangenheit«, und »Pazifismus ist eine uns fremde bourgeoise Ideo-
logie. Wir müssen ihm, seinem geringfügigsten Auftauchen in unseren Reihen, kompro-
mißlos gegenübertreten«. Marschall N. I. Krylow, »Ein ehrenwerter Beruf, den die
Nation braucht«, Roter Stern, 9. Juni 1963.
Krieg als ein Mittel der Politik 91
Wenn es auf der einen Seite noch immer eine Aussicht gäbe, einen Krieg auf eine
vernünftige Weise zu gewinnen oder zu verlieren, dann könnte es die Mühe lohnen,
daß man sich um eine krieggewinnende Strategie bemüht und um überlegene, dieser
Aufgabe angemessene Streitkräfte. So unerwünscht ein nuklearer Krieg sein mag,
es würde immer noch einen Sinn geben, dementsprechend »ein nuklearer Krieg
sich bezahlt macht«. Wenn es dagegen in einem nuklearen Krieg zwischen Sieger
und Besiegtem keinen Unterschied mehr gäbe, dann könnte der einzuschlagende
Kurs ganz anders aussehen. Was die sowjetische Militärpolitik angeht, sie könnte
unschwer eine Erklärung dafür finden, daß die zweitbeste Lösung die beste ist. Daß
heißt, die Sowjetführung könnte sich auf unbestimmte Zeit mit einer Strategie der
Abschreckung begnügen und mit sowjetischen strategischen Streitkräften abfinden,
die zur Aufrechterhaltung der Glaubwürdigkeit ausreichen, aber eindeutig denen
des Gegners unterlegen sind.
Neben dem der Abschreckung des nuklearen Krieges besteht auch das Problem, die
zweckmäßigen Grenzen militärischer Macht in einer nuklearen Welt zu bestimmen.
Gewissermaßen scheint sich die Sowjetführung seit einiger Zeit von einer potentiel-
len Krise zur anderen getastet zu haben, als versuche sie herauszufinden, welches
diese Grenzen sind. Kann die Anwendung militärischer Macht, oder die Drohung
mit ihrer Anwendung, eine Seite befähigen, die politische Situation zu ihrem Vor-
teil zu verändern, oder erreicht sie nicht mehr, als zu verhindern, daß die andere
Seite einen Vorteil erlangt? Und wenn es sich zeigt, daß auf der strategischen Ebene
die Machtverhältnisse zunehmend stabil werden, gibt es Aussichten, daß die mili-
tärische Macht auf anderen Konfliktsebenen dazu beitragen könnte, wieder ein
wenig Bewegung in die politische Situation hineinzubringen? Wenn endlich die
Grenzen der militärischen Macht eine Art formeller Hinnahme der Fortdauer der
»friedlichen Koexistenz« 21 verlangen, auf welche Weise soll in einer solchen Welt
der Kommunismus den Kapitalismus ersetzen?
Dieser Art sind die Probleme, die vermutlich der dogmatischen Krise über die Frage
des Krieges als Mittel der Politik zugrunde liegen. Man kann wahrscheinlich sagen,
daß weder die politischen noch die militärischen Führer der Sowjetunion sich bis-
her entschlossen haben, wie sie diese Probleme anpacken wollen, wenn sie tatsäch-
lich die entscheidenden Fragen in dieser Weise gestellt haben. Gleichwohl, das Le-
ben selbst - wie Chruschtschow es manchmal ausdrückt - wird diese Dinge
wahrscheinlich in irgendeiner Form auf die Tagesordnung setzen. Wenn das ge-
schieht, dann wird die sowjetische Politik voraussichtlich eine Krise der Unsicher-
heit und der Unruhe durchmachen. Zu einem gewissen Grade könnte ein derartiger
21 Daß die »friedliche Koexistenz« permanent sei, wird von sowjetischen Interpretationen
hartnäckig verneint. So haben zum Beispiel kürzlich zwei sowjetische Autoren versichert,
daß die Politik der friedlichen Koexistenz »keinesfalls die >Erhaltung< der bourgeoisen
Ordnung bedeutet; sie erkennt die Unveränderbarkeit (dieser Ordnung) nicht an, die
bourgeoise Ideologen erfolglos nachzuweisen versuchen«. Suschko und Kondratkow in:
Der Kommunist in den bewaffneten Kräften, Nr. 2, Januar 1964, S. 22. Siehe auch
G. Staruschenko, ,.The National-Liberation Movement«, International Affairs, Nr. 10,
Oktober 1963, S. 3-4; Oberst N. Woroschilow, "Probleme des Krieges und des Friedens
in der heutigen Epoche«, Der Kommunist in den bewaffneten Kräften, Nr. 6, März 1964,
S.14-15.
92 Kapitel VI
Prozeß - wenn wir die Zeimen rimtig gelesen haben, smon begonnen haben. Ge-
genwärtig ist er - und das ist verständlim - durm die erneute Betonung sowohl
der Glaubhaftigkeit der sowjetismen Absdtredtungshaltung als aum der Doktrin
der sowjetismen militärismen überlegenheit bemäntelt. Die letztere ist die nächste
Frage, der wir uns zuwenden werden.
Kapitel VII
Wenn man lediglich nach dem Volumen der i\ußerungen zu dem Thema urteilt,
dann ist der Glaube der Sowjets an die Notwendigkeit der Erreichung der militäri-
schen überlegenheit über den Westen unerschütterlich.. Wahrscheinlich beruht diese
Bindung im allgemeinen auf einer zugrunde liegenden Annahme, die so alt ist wie
das Sowjetregime selbst, daß die Sowjetunion ihre führenden kapitalistischen Riva-
len hinsichtlich der militärischen, wirtschaftlichen und politischen Machtfaktoren
übertreffen müßte, wenn sie die Geschichte in eine kommunistische Zukunft hinein-
führen soll. In einem direkteren Sinne hat Chruschtschow selbst einmal deutlich
werden lassen, die gegenwärtige Politik der friedlichen Koexistenz beruhe auf der
Prämisse, daß die Länder des Sowjetblocks - wie er es hinstellte - »eine rasch
wachsende Wirtschaft haben und das kapitalistische Lager an Kriegsmaterial und
Streitkräften übertreffen« 1. Aus sowjetischer Sicht bleibt natürlich die UdSSR der
harte Kern der militärischen Stärke des Blocks, und auf sie fällt die Hauptlast der
Erreichung der überlegenheit über den Westen. In den letzten zwei oder drei Jah-
ren hat es jedoch im sowjetischen Gespräch eine bemerkenswerte Verschiebung des
Akzents in die Richtung der gemeinsamen Stärke des »sozialistischen Staaten-
bundes« (sodruschestwo), insbesondere der Warschauer Pakt-Staaten, gegeben 2.
Das sowjetische Militär ist schon lange auf die Doktrin der militärischen überlegen-
heit festgelegt. In einer Diskussion, die die Militärtheorie in den 20er und 30er
Jahren behandelt, wies beispielsweise unlängst ein wichtiges sowjetisches Werk dar-
auf hin, daß die sowjetische Politik jener Zeit auf »die Stärkung des Wirtschafts-
potentials des Landes mit allen nur möglichen Mitteln (gerichtet war), um die un-
unterbrochene Versorgung der Streitkräfte mit allen Arten von Waffen und sonsti-
gem Kriegsmaterial zur Erreichung der quantitativen und qualitativen militärischen
überlegenheit über den wahrscheinlichen Gegner sicherzustellen« 3. Wahrschein-
lich als eine Art Reflex auf die Ereignisse in der Karibischen See nahm in der jüng-
sten Vergangenheit der Nachdruck, mit dem das Militär das überlegenheitsthema
betonte, im Herbst 1962 4 und das ganze Frühjahr und den Sommer des Jahres
1963 hindurch sehr zu. Eine typische militärische i\ußerung dieser Sorge war die
folgende Behauptung von Marschall A. Gretschko, dem sowjetischen ersten stellver-
tretenden Minister der Verteidigung und Kommandeur der Warschauer Pakt-
Streitkräfte:
Die Kommunistisme Partei und die Sowjetregierung gründen ihre Militärpolitik auf die
Tatsame, daß die Streitkräfte des sowjetismen Staatenbundes immer denen der Imperia-
listen überlegen sein müssen, solange die Abrüstung nom nimt durmgeführt ist 5.
Einige Tage später folgte dieser Kußerung ein wimtiger Leitartikel zum 8. Jahres-
tag des Warsmauer Paktes im Roten Stern, der den gleichen Punkt hervorhob 6.
Die Erklärung Gretsmkos zur Politik fand weiterhin bis in den Herbst 1963 hin-
ein Beachtung. Sie wurde in fast identischer Form in einem Artikel im Roten Stern
vom September wiederholt, der sich mit dem marxistism-Ieninistismen Standpunkt
über Krieg und Frieden befaßte 7.
Es ist interessant, daß Chruschtsmow seinen Ansichten zu dem Thema ziemlim
zurückhaltend Ausdruck gab, als von 1962 bis 1963 die Betonung der sowjetismen
Verpflimtung zur militärischen überlegenheit seitens des Militärs heftig war. Zum
Beispiel wies er in einer Ansprame, in der er im Dezember 1962 sein Verhalten in
der Kubakrise verteidigte, zweimal auf die Tatsame hin, daß die Sowjetunion eine
»ausreimende Menge« interkontinentaler Raketen habe, um einen Aggressoren ab-
zuwehren. Diese Ausdrucksweise war etwas weniger als eine Prahlerei über die so-
wjetisme überlegenheit 8. Chrusmtschow und die Militärführer haben ansmei-
nend schon vorher verschiedene Meinungen zur Frage der militärismen überlegen-
heit vertreten. So betonte beispielsweise Chrusmtsmow im Januar 1960 und wieder
auf dem 22. Parteikongreß im Oktober 1961 die sowjetisme militärisme überlegen-
heit eindeutig um seine Behauptung zu stärken, daß der sowjetisme Verteidigungs-
apparat in guter Form sei 9. Im Gegensatz dazu unterließ es der Berimt des Mar-
smalls Malinowski an den Parteikongreß, spezifisme Behauptungen sowjetischen
militärismen übergewimts über die - oder auch nur der militärismen Gleimheit
mit den - USA vorzubringen 10. Soweit die Frage der militärismen überlegenheit
als ein Prüfstein der sim untersmeidenden Auffassungen der Politiker und des Mili-
tärs über die sowjetisme militärisme Bereitsmaft dient, könnte möglimerweise
Marsmall Malinowski im Herbst 1961 eine feine Mahnung an die sowjetisme poli-
tische Führung übermittelt haben, daß die sowjetischen Streitkräfte auf eine mili-
tärisme Kraftprobe um Berlin, auf die die sowjetisme Politik zu jener Zeit dem
Ansmein nach zugesteuert sein könnte, nimt genügend vorbereitet seien.
Die neue Sokolowski-Ausgabe, die die öffentlimkeit im November 1963 erreimte,
zeigte eine Bindung an die Doktrin der militärismen überlegenheit, die nicht weni-
ger eindringlim war als jene, die in der ersten Ausgabe fast 18 Monate früher zu
finden war 11. Es waren nimt nur die Smlüsselpassagen zu diesem Thema beibehal-
5 ,.Die Heldentat der Nation«, lswestija, 9. Mai. 1963.
8 .. Der wahre Besmützer der Simerheit des Volkes«, Roter Stern, 14. Mai 1963.
7 Oberst S. Sidelnikow und Oberst V. Smitrenko, ,.Die gegenwärtige Epome und die Ver-
teidigung der Errungensmaften des Sozialismus«, Roter Stern, 19. September 1963.
8 Chrusmtsmows Rede an den Obersten Sowjet über die internationale Lage, Prawda,
13. Dezember 1962.
9 Rede an eine Sitzung des Obersten Sowjet, Prawda, 15. Januar 1960, Prawda, 18. Okto-
ber 1961.
10 Prawda, 25. Oktober 1961.
11 Für eine Bespremung der Behandlung des Themas der militärismen überlegenheit siehe
die Analytical Introduction der amerikanismen Herausgeber von Soviet Military Stra-
tegy, S. 67-69.
96 Kapitel VII
ten worden, wie zum Beispiel die Behauptung, es sei wesentlidt, .. daß bei den widt-
tigsten Teilstreitkräften und bei den widttigsten Mitteln und Methoden der Krieg-
führung die überlegenheit über den Feind erhalten bleibt« 11, sondern in dem
gleidten Sinne wurden einige zusätzlidte Feststellungen gemadtt. Beispielsweise füg-
ten die Autoren zu der Diskussion der Faktoren, auf denen die sowjetisdte Hoff-
nung auf einen Sieg in einem zukünftigen Krieg beruhen würde, einen neuen Ab-
satz hinzu:
Eines der Hauptprobleme besteht darin, daß auf militärtedmischem Gebiet die qualitative
und quantitative überlegenheit über den wahrscheinlichen Aggressor gesichen werden muß,
wozu eine entsprechende militärische Grundlage und der Einsatz einer möglichst großen
Zahl wissenschaftlicher und technischer Kräfte bei der Lösung des Problems erforderlich
sind 11.
Der Nadtdruck, den das Militär auf die überlegenheitsdoktrin legte, begann erst
nadt der Haushaltsankündigung vom Dezember Zeidten der Unsdtlüssigkeit zu
zeigen.
Malinowski hob auch die Entschlossenheit der Sowjets hervor, in dem Wettlauf der
Waffenweiterentwidclung nicht zuruduubleiben. Nachdem er erklärt hatte, die
,.Entwidclung superstarker nuklearer Bomben und auch globaler Raketen durch
unsere Wissenschaftler« sei ein Zeichen für die sowjetische überlegenheit über wahr-
scheinliche Feinde, fuhr Malinowski fort:
Sie sollen wissen, daß wir nicht vorhaben, auf unseren Lorbeeren auszuruhen. Dieses all-
gemeine Laster aller siegreichen Armeen ist uns fremd. Wir beabsichtigen nicht, in der Ent-
wicklung zurückzubleiben, und wir haben nicht vor, in irgendeiner Weise unseren wahr-
scheinlimen Feinden unterlegen zu sein 10.
Wie wir schon in unserer Diskussion des sowjetischen Abschredtungsimages gezeigt
haben, vermittelt das gegenwärtige sowjetische Gespräch die Folgerung, daß Waf-
fen mit dem sehr hohen Detonationswert der 50-100-Megatonnen-Klasse, die im
sowjetischen Sprachgebrauch eine »qualitative« überlegenheit bewirken, jede zah-
lenmäßige überlegenheit der Vereinigten Staaten in anderen Waffengattungen aus-
gleichen. Dennoch zögern einige Sowjetsprecher nicht, bei Gelegenheit ziemlich all-
gemeine Behauptungen über ihre zahlenmäßige überlegenheit aufzustellen. Mali-
nowski selbst reagierte Anfang 1963 auf eine vorangegangene Kußerung des ameri-
kanischen Verteidigungsministers mit der Behauptung, daß die Sowjetunion auf
»McNamaras 344 Raketen mit einem Mehrfachen« antworten würde 21. Einige
Monate später wiederholte Generaloberst V. F. Tolubko, der stellvertretende Kom-
mandeur der sowjetischen strategischen Raketenstreitkräfte, die Warnung Mali-
nowskis:
Auf die Anzahl der Raketen, mit denen wir bedroht sind, werden wir mit der gleich-
zeitigen Salve einer nom größeren Anzahl von Raketen antworten, die so stark sind, daß
sie alle industriellen und administrativen Ziele und politischen Zentren der USA ausradie-
ren und die Länder völlig zerstören werden, auf deren Gebiet sich amerikanische Militär-
stützpunkte befinden 22.
In beiden Fällen waren die sowjetischen Behauptungen nicht auf ICBMs (interkon-
tinentale ballistische Raketen) beschränkt, sondern sie berücksichtigten offenbar die
erhebliche Anzahl sowjetischer Mittelstreckenraketen, die auf Länder gerichtet wer-
den würden, die weniger weit von der Sowjetunion entfernt liegen als die Ver-
einigten Staaten. Selbst als er vor einer »noch größeren Anzahl von Raketen« 23
warnte, behauptete General Tolubko nur die Fähigkeit zur Bekämpfung urban-
20 lbid.
21 Roter Stern, 23. Februar 1963.
22 »Die hauptsächliche Raketenstärke des Staates«, Roter Stern, 19. November 1963. Siehe
die weitere Erörterung der Raketenzahlen in Kapitel VIII.
23 General Tolubkos Vorgesetzter, Marschall N. I. Krylow, Befehlshaber der sowjetischen
strategischen Raketenstreitkräfte, vertrat Anfang 1964 unter Bezugnahme auf amerika-
nische Erklärungen über den zahlenmäßigen Vorsprung der Vereinigten Staaten hinsicht-
lich der Raketen eine andere Ansicht. Anstatt zu behaupten, die UdSSR könnte mit grö-
ßeren Zahlen antworten, sagte Krylow: »Wenn die Vereinigten Staaten solche Mengen an
Raketen haben, dann kann man zu dem berechtigten Schluß kommen, daß die Strategie
der USA nicht auf der nationalen Verteidigung basiert, sondern aggressive Ziele ver-
folgt.« »Immer auf der Hut«, lswestija, 23. Februar 1964.
Die Doktrin der militärischen Oberlegenheit 99
Wie wir gesehen haben, tendiert die sowjetische Haltung dazu, zwischen Behaup-
tungen, daß die überlegenheit eine vollendete Tatsache sei, und Feststellungen, die
darauf hinauslaufen, daß eine derartige überlegenheit zwar erwünscht aber in kei-
ner Weise schon gesichert ist, zu schwenken. Ein bemerkenswertes Beispiel für das
sowjetische Schwanken hinsichtlich dieser Frage brachte ein von der Prawda am
24. Januar 1962 veröffentlichtes Interview mit Marschall Malinowski. Das Inter-
view behandelte ausdrücklich das Gleichgewicht der militärischen Stärke, brachte es
jedoch nichtsdestoweniger fertig, den Eindruck erheblicher Unklarheit zu hinter-
lassen. Malinowski zitierte zunächst eine frühere Erklärung des Präsidenten
Kennedy vom Jahre 1961 in Wien des Inhalts, daß die militärische Stärke der Ver-
einigten Staaten und der Sowjetunion gleichwertig sei, als »mehr oder weniger rich-
tig«. Malinowski sagte, es sei »höchste Zeit«, daß die amerikanischen Militärführer
aus diesem Eingeständnis die angemessenen Schlüsse zögen. Nach seiner eigenen
Meinung als sowjetischer Verteidigungsminister sei das sozialistische Lager stärker
als die Vereinigten Staaten und ihre NATO-Verbündeten; jedoch würde er, »um zu
vermeiden, daß eine Kriegspsychose entfacht wird«, willens und bereit sein, beide
Seiten einander gleich zu nennen. Vor dem Ende des Interviews versicherte Mar-
schall Malinowski nochmals, die sowjetische Seite sei militärisch überlegen. Auch
Chruschtschow hat gelegentlich zwischen der Inanspruchnahme der sowjetischen
überlegenheit und dem Beharren auf der Tatsache, daß die USA die sowjetische
strategische Stärke als der ihren ebenbürtig anerkannt hatten, geschwankt 24.
Das neuere sowjetische Gespräch hat auch weiterhin glatte Behauptungen, daß »die
Sowjetunion die militärische überlegenheit besitzt und sie nicht aufgeben wird« 25
mit .i\ußerungen über die Notwendigkeit einer Stärkung der sowjetischen Streit-
kräfte durchsetzt, wie auch mit anderen Kommentaren, die auf viel weniger Zuver-
sicht bezüglich der Spanne des sowjetischen Vorsprungs schließen lassen. In der revi-
dierten Sokolowski-Ausgabe wurde zum Beispiel folgende Behauptung wiederholt:
24 Ein jüngeres Beispiel hierfür liefert Chrusdmchows Erklärung am Schluß der Sitzung
über Landwirtschaftsfragen des Plenums des Zentralkomitees im Februar 1964, als er zu-
nächst sagte: "Wie Führer der imperialistischen Mächte zugegeben haben, haben die so-
zialistischen Staaten Streitkräfte aufgestellt, die denen der kapitalistischen Welt entspre-
chen«, und dann fortfuhr, »wir glauben, daß unsere Streitkräfte die stärkeren sind.«
Prawda, 15. Februar 1964. Siehe auch Prawda, 8. August, 18. Oktober 1961; 11. Juli
1962; 17. Januar 1963.
25 Kommentar von A. Leont'ew zur Parade am 7. November, Radio Moskau (Inlandspro-
gramm), 12. November 1963. Siehe auch Oberstleutnant A. Leont'ew in: Roter Stern,
30. August 1963; Leitartikel »Kommunistische Stoß front« , Roter Stern, 18. Februar 1964.
100 Kapitel VII
"Wir betrachten unsere überlegenheit über den westlichen Block auf dem Gebiet
der Kernwaffen als unbestreitbar« 28, und diese neue Behauptung hinzugefügt:
Hinsichtlich des entscheidenden Kampfmittels - der Raketenwaffen und des Detonations-
wertes der Atomsprengkörper - ist heute die Sowjetunion ihrem wahrscheinlichen Gegner
überlegen 17.
Andererseits bestand die neue Ausgabe, wie die alte, weiterhin darauf, daß die so-
wjetische Politik der Stärkung »des sozialistischen Weltsystems« ... »eine unent-
wegte Stärkung der militärischen Macht der Sowjetunion und des gesamten soziali-
stischen Lagers« einschließen müsse 28. Die neue Auflage enthielt auch eine erwei-
terte Beschreibung der westlichen Militärmacht, die darauf angelegt schien, der Stär-
kung der sowjetischen militärischen Stellung als Begründung zu dienen. Die revi-
dierte Sokolowski-Ausgabe behielt den größeren Teil einer früheren Diskussion bei,
die darauf hindeutete, daß etwas wie ein Zustand strategischer Gleichheit zwischen
der Sowjetunion und den Vereinigten Staaten bestehe.
Die im allgemeinen milden Behauptungen beider Ausgaben des Sokolowski-Buches
hinsichtlich des strategischen Gleichgewichts standen in einem ziemlich interessanten
Gegensatz zu den üblichen sowjetischen Behauptungen der völligen überlegenheit.
Obwohl die Annahme der annähernden Gleichheit »amerikanischen Strategen« zu-
geschrieben wurde, lag die Folgerung nahe, daß die sowjetischen Autoren diese An-
nahme nicht ablehnten. Das Hauptargument ging dahin, daß die amerikanischen
Strategen, indem sie die Existenz eines »Gleichgewichts« auf dem Gebiet der strate-
gischen Waffen und eine ȟberlegenheit der UdSSR auf dem Gebiet der konventio-
nellen Streitkräfte« anerkannt hätten, zu dem Schluß gekommen seien, daß die
gegenseitige Abschreckung nunmehr funktioniere. Nichtsdestoweniger war dieses
Argument in dem neuen Text etwas verstümmelt durch die Weglassung eines Passus
der ersten Auflage, der auf die Aussicht der »vollständigen gegenseitigen Vernich-
tung« hinwies und ferner konstatierte: »Je größer die Anhäufung der Massenver-
nichtungswaffen wird, desto größer wird die überzeugung, daß es unmöglich ist, sie
einzusetzen. Somit ist die Zunahme der Kernwaffen- und Raketenmacht umgekehrt
proportional zu der Möglichkeit ihrer Anwendung.« Die Wirkung dieser Auslas-
sung läßt denken, daß große Waffenvorräte auf beiden Seiten nicht notwendig die
Stabilität fördern. Das ursprüngliche Argument wurde jedoch in einer weniger kate-
gorischen Form beibehalten:
Es ergab sich, wie man im Westen sagt, eine »Kernwaffen-Sackgasse«: einerseits die größt-
mögliche Anhäufung von Kern- und Raketenwaffen, andererseits, die nicht sehr wahr-
scheinliche Gefahr ihrer Anwendung. In dieser Situation kristallisierte sich nach Meinung
der politischen und militärischen Kreise der USA und der NATO auf beiden Seiten die
Position der sogenannten »gegenseitigen Abschreckung« heraus 28.
Man wird, wie das vielleicht die Absicht der Autoren ist, mit dieser Feststellung im
Unsicheren darüber gelassen, ob im sowjetischen strategischen Denken die »gegen-
seitige Abschreckung« als eine dauerhafte Konzeption akzeptiert oder lediglich als
ein vorübergehendes Phänomen aufgefaßt wird 30.
Im großen und ganzen vermittelt die Behandlung der Frage der militärischen über-
legenheit in dem Sokolowski-Buch, wie allgemein in der sowjetischen Militärlitera-
tur, den Eindruck, daß zumindest die sowjetischen Militärtheoretiker noch nicht
bereit sind, die Aussicht abzuschreiben, sie könnten das militärische Gleichgewicht
zu ihrem Vorteil verändern und folglich den Zustand gegenseitiger Abschreckung
über den Haufen werfen.
Spiel setzen, denen die Entspannung ansmeinend dienen soll, wie zum Beispiel die
Weizeneinkäufe im Ausland, die westliche technisme Unterstützung und Kredithilfe
für das Expansionsprogramm der chemismen Industrie und so fort.
Einige tastende Anzeichen von Unschlüssigkeit, ob es klug sei, eine Politik der mili-
tärismen Oberlegenheit zu verkünden, taumten im sowjetischen Gespräch gegen
Ende des Jahres 1963 auf. Einer dieser Hinweise war ein Artikel desselben Mar-
sc:halls Gretschko, der sim sechs Monate zuvor kategorism für eine Politik der mili-
tärismen Oberlegenheit ausgesprochen hatte. In diesem Artikel äußerte er seine Zu-
stimmung zu den Erklärungen Chrusmtschows vor dem Plenum im Dezember, die
die memisme Industrie besonders hervorhoben. Gretsmko zog Bemerkungen des
amerikanismen Verteidigungsministers Robert McNamara über »die Zahl amerika-
nismer Langstreckenraketen und die Zahl alarmbereiter Bomber« 31 heran und
sagte, die amerikanismen militärismen Vorbereitungen seien dazu bestimmt, »die
militärisme überlegenheit über die Sowjetunion zu erlangen«. Statt in seinem frühe-
ren Tonfall zu antworten, daß die Sowjetunion beabsimtige, Streitkräfte zu unter-
halten, die denen des Westens überlegen sind, wählte Gretsmko einen bemerkens-
wert zurückhaltenden Ton. Die Sowjetunion, sagte er, »hat genügende Mittel, um
jeden Aggressor zurückzuhalten, gleimgültig welme Art nuklearer Mamt er besit-
zen mag«. Gretsdtko sagte ferner, die Sowjetunion sei nimt .im geringsten an einem
Wettrüsten interessiert«, sondern sie habe lediglim im Sinn, ihre Verteidigung »auf
der zur Friedenssimerung notwendigen Höhe« zu halten 32.
Ob diese Zurückhaltung lediglim eine vorübergehende Erweimung der sowjetismen
Linie bezüglich der militärismen überlegenheit oder zugleim eine tiefere Neuein-
smätzung ihres Für und Wider bedeutet, bleibt nom abzuwarten. Mehrere Artikel
in militärismen Famzeitsmriften vom Ende des Jahres 1963 und Anfang des Jahres
1964 smeinen jedom zu verraten, daß die Doktrin der militärismen überlegenheit
in keiner Weise zu den Akten gelegt worden ist. In einem dieser Artikel wurde an-
gemerkt, Stalin sei der Formulierung eines falsmen »objektiven Gesetzes« schuldig,
demzufolge der Aggressor immer besser als der Verteidiger vorbereitet sei. Sollte die
Sowjetunion ein derartiges Gesetz heute anerkennen, so wurde - vielleicht für die
Ohren von Stalins Nachfolger - argumentiert, dann würden die sowjetischen
Streitkräfte nicht in der Lage sein, einen Aggressor zu besiegen. Diesem merkwürdi-
gen Hinweis auf einen von Stalins angeblichen Fehlern folgte eine gezielte Anspie-
lung auf eine Äußerung von Malinowski, danach die sowjetische »überlegenheit
noch weiter erhöht werden wird«, wenn das Wettrüsten nimt beendet wird 33.
In einem anderen Artikel wurde unterstrichen, die Erhaltung des Friedens sei heute
der sowjetischen ,.überlegenheit über das imperialistische Lager auf militärischem
Gebiet« zu verdanken, und es sei die wirtschaftliche und wissenschaftlich-technische
Aufgabe der Sowjetregierung, ,.die Aufrechterhaltung und weitere Steigerung der
militärischen überlegenheit der Sowjetunion über das imperialistische Lager« zu
gewährleisten 34. Eine besonders eindringliche Erklärung gab Marschall Birjusow,
Chef des Generalstabs, ab: »Die Aufrechterhaltung unserer überlegenheit über
wahrscheinliche Feinde auf dem Gebiet neuer Waffen und der Militärtechnologie ist
gegenwärtig eine der wichtigsten Aufgaben bei der Entwicklung der Streit-
kräfte.« 35 Birjusow hob hervor, daß in einem modernen Krieg der Sieg der Seite
zufallen würde, die »nicht nur ihre neuen Waffen meistert, sondern auch in der
Raketenproduktion die Führung übernimmt« 36. Diese Ansicht scheint fast eine in-
direkte Herausforderung an jene Mitglieder der Sowjethierarchie zu sein, die ge-
neigt sein könnten, eher »ausreichenden« als überlegenen Raketenmengen den Vor-
zug zu geben.
Was auch immer die Zukunft der theoretischen Auseinandersetzungen hinsichtlich
der militärischen überlegenheit sein mag, die praktische Frage, wie bedeutend die
anzustrebende militärische überlegenheit über einen starken Gegner wie die USA
sein muß - wenn man den relativen Vorteil der Vereinigten Staaten bezüglich
der Ressourcen und ihre Abneigung, auf ihren Lorbeeren auszuruhen, als gegeben
ansieht - wird wahrscheinlich für die sowjetischen Politiker ein beunruhigendes
Problem bleiben.
1963 erschien. Der Autor, Oberst Krupnow, erklärte, daß Stalins Behauptung, daß »Ag-
gressornationen notwendig besser vorbereitet sind als friedliebende Völker ... den histori-
schen Tatsachen widerspricht und der militärischen Entwicklung eine falsche Ausrichtung
gibt.« Obgleich jedermann wisse, daß die Sowjetunion eine »friedliebende Nation« sei,
müsse sie, erläuterte Krupnow, nichtsdestoweniger »die Stärkung ihrer militärischen
Macht fortsetzen... solange die Gefahr einer imperialistischen Aggression besteht«.
Oberst S. I. Krupnow, Dialektika i Vojennaja Nauka (Dialektik und Militärwissenschaft),
Voenizdat Ministerstva Oborony SSSR, Moskau 1963, S. 40.
S4 Oberst 1. Mareew, "Der unzerstörbare Schild der sozialistischen Länder«, Der Kommu-
nist in den bewaffneten Kräften, Nr. 3, Februar 1964, S. 14-15. Eine Behauptung, das
sowjetische Produktionssystem bewirke »günstige Bedingungen zur Erreichung einer ent-
scheidenden überlegenheit über den Kapitalismus, hinsichtlich sowohl der Güte der Waf-
fen als auch der Ausbildung«, findet sich bei Generalleutnant N. A. Sbytow, »Das We-
sen und die Gesetze eines mit Kern- und Raketenwaffen ausgefochtenen nuklearen Welt-
krieges«, Marine-Zeitschrift, Nr. 3, März 1964, S. 10.
35 Marschall S. Birjusow, "Ein neuer Abschnitt in der Entwicklung der Streitkräfte und
Aufgaben der Indoktrination und Truppenausbildung«, Der Kommunist in den bewaff-
neten Kräften, Nr. 4, Feburar 1964, S. 19.
38 Ibid., S. 18.
Kapitel VIII
Seit den Anfängen des Sowjetregimes waren die Beziehungen zwischen der politi-
schen Führung und dem Militär von einer Anzahl ursprünglicher Spannungen und
Kontroversen gekennzeichnet. Im Grunde sind diese Spannungen dem Prozeß ent-
wachsen, mit dem die Partei versucht hat, die bewaffneten Kräfte in die totalitäre
Struktur des Staates zu integrieren und sie daran zu hindern, eine gesonderte Iden-
tität zu entwickeln. Die Tatsache, daß das Militär de facto eine Macht zur Ausübung
von Zwang hat, die weitergeht als die jedes anderen Elements des sowjetischen
Staatsapparates, hat das Interesse der Partei verschärft, es sich als ein ergebenes In-
strument der politischen Gewalt zu erhalten.
Obwohl die sowjetische Militärführung nicht geeignet ist, die grundlegenden Befug-
nisse der Partei zur Bestimmung der Politik anzuzweifeln, hat sie dazu tendiert,
ein größeres Maß an Selbständigkeit hinsichtlich solcher Fragen anzustreben, die in
den Bereich ihrer fachlichen Kompetenz fallen, und eine übertriebene parteipoliti-
sche Einmischung in militärische Angelegenheiten als eine Bedrohung der militäri-
schen Wirksamkeit anzusehen. Man kann deshalb die Geschichte der Beziehungen
zwischen der sowjetischen Führung und dem Militär gewissermaßen als die Suche
nach einer Formel bezeichnen, die die politische Kontrolle mit der fachlich militäri-
schen Leistungsfähigkeit in Einklang bringen soll; den Hintergrund dieser Suche
bildet die allgemeine Frage nach dem angemessenen Umfang militärischer Einfluß-
nahme auf die Formulierung der sowjetischen Politik und Strategie 1.
Neuere Entwicklungen haben besonders seit der Kuba-Krise vom Oktober 1962
aufschlußreiche Beweise für die fortdauernde Vitalität der alten Probleme des Ver-
hältnisses zwischen Politik und Militär geliefert und das Auftauchen neuer Schwie-
rigkeiten im Gefolge der Politik und Technologie des Zeitalters der Kern- und
Raketenwaffen angedeutet. Obwohl man nicht vergessen darf, daß eine grundsätz-
liche übereinstimmung die verschiedenen Elemente der sowjetischen Führung noch
immer verbindet, sind die gegenwärtigen Anzeichen der Spannung in den Beziehun-
1 Die Literatur zur Geschichte des Verhältnisses zwischen der politischen und der militä-
rischen Führung in der Sowjetunion ist zu umfangreich, um hier ausführlich aufgeführt
zu werden, doch sind folgende Arbeiten besonders erwähnenswert: D. Fedotoff-White,
The Growth 0/ the Red Army, Princetown University Press, Princetown, New Jersey
1944. S. 76-100, 384-407; Merle Feinsod, How Russia Is Ruled, Harvard University
Press, Cambridge, Mass., 1954, S. 411-418, 500; John Erickson, The Soviet High Com-
mand, St. Martin's Press Inc., New York, S. 113-178, 187-191, passim; Louis Nemzer,
»The Officer Corps as a Political Interest Group«, ein Aufsatz, der auf dem 39. Jahres-
treffen der American Political Science Association vorgetragen wurde, New York,
4. September 1963. S. 1-38; Raymond L. Garthoff, Soviet Strategy in the Nuclear Age,
Frederick A. Praeger, Inc., New York 1958, S. 18-40.
Spannung im politisch-militärischen Bereich 105
gen zwisc:hen dem politisc:hen und dem militärisc:hen Bereic:h in der UdSSR nic:ht
ohne Interesse als Beweis dafür, daß keine dauerhafte Lösung für das Verhältnis
dieser beiden Bereic:he zueinander bisher erarbeitet worden ist.
der Politik in militärischen Dingen und um die Akzentuierung der Wichtigkeit von
marxistisch-leninistischen Einstellungen unter dem Militärpersonal ist sogar die Tat-
sache gewesen, daß höchste Militärführer die Aufgabe übernommen haben, ihre
eigenen Kollegen zurechtzusetzen. Obwohl der Anstoß zu diesen Bemühungen von
den politischen Behörden gekommen sein kann, ist es möglich, daß die Militärführer
in einem gewissen Umfang einen Prozeß der Selbstreinigung begonnen haben, um
strengere Maßnahmen der Art abzuwehren, die sich Chruschtschow im Fall SdlU-
kows im Jahre 1957 durchzuführen verpflimtet glaubte.
Ein anderer wichtiger Militärführer, der sein Prestige zu der Kampagne für den
Parteiprimat hergab, war Marsmall Malinowski, der sowjetische Außenminister.
Eine mit dem Namen Malinowskis unterzeimnete Broschüre ging Ende November
des Jahres 1962 in die Presse. Einer der bemerkenswerten Züge dieses Dokuments
war seine Behauptung der völligen Vorherrsmaft der Partei allgemein und Chru-
smtschows persönlich in Angelegenheiten des Militärs und bei der Formulierung der
Militärdoktrin. In der Broschüre wurde ausdrücklich unterstrichen, daß »die Militär-
doktrin von der politischen Führung des Staates entwickelt und bestimmt wird«,
und Chruschtschows persönliche Rolle bei diesem Vorgang hervorgehoben. In der
Broschüre wurde konstatiert, daß Chruschtschows Rede vom Januar 1960 »die erste
entwickelte Exposition« der sowjetischen Militärdoktrin »von sowohl einem politi-
schen als auch einem temnischen Standpunkt aus« darstelle 8. Diese Huldigung
war um so auffälliger, weil Malinowskis eigene wichtige Formulierung der neuen
Militärdoktrin auf dem 22. Parteikongreß im Oktober 1962 nimt besonders er-
wähnt wurde. Obgleich Malinowski die Novemberbroschüre aus eigenem Antrieb
geschrieben haben könnte, um Parteikritik von dem Militär abzulenken, legt der
Charakter des Dokuments nahe, daß mehrere Autoren daran beteiligt gewesen sein
könnten. Es ist zum Beispiel nicht unwahrscheinlich, daß die Partei und Chru-
smtschow eine Broschüre besaßen, die nach einem Autor verlangte, und daß ihre
Wahl auf Malinowski fiel 7.
Interessen auf bei den Seiten, die kollidieren können und sich in verschiedenen Formen des
bürokratischen Nahkampfes manifestieren. In diesem begrenzten Konfliktbereich, sozu-
sagen, kommt es zu Spannungen in den Beziehungen zwischen der politischen und mili-
tärischen Führung.
S Marschall R. Malinowski, Stets auf der Wacht für den Frieden, Voenizdat Ministerstva
Oborony SSSR, Moskau 1962.
6 Ibid., S. 22-23. Die Tatsache, daß hier Chruschtschow der Verdienst zugeschrieben wird,
steht in krassem Gegensatz zu der Stellungnahme in der ersten Ausgabe des Sokolowski-
Werkes, Vojennaja Strategia (Militär-Strategie), deren Verfasser dazu tendierten, den
Militärs einen größeren Teil der Verdienste an der Entwicklung der neuen sowjetischen
Militärdoktrin zuzuschreiben, und die im Zusammenhang hiermit den Anspruch der Mili-
tärs auf größeren Einfluß auf die staatliche Politik anmeldeten. Siehe Soviet Military
Strategy, S. 33 H.
7 In diesem Zusammenhang hat Chruschtschow in seinem Gespräch mit dem ehemaligen
Vizepräsidenten Nixon einen Präzedenzfall zugegeben, als er nämlich erwähnte, er selbst
habe einen weit verbreiteten, dem Luftmarschall Verschinin zugeschriebenen Artikel über
sowjetische Militärpolitik - Prawda, 8. September 1957 - geschrieben. Siehe auch den
Aufsatz von Earl Mazo über Nixons Reise in die Sowjetunion im Jahre 1959, New York
lierald Tribune, 14. September 1960, S. 8.
Spannung im politisch-militärischen Bereich 107
Der Trend zur besonderen Betonung des Vorrangs des Politischen auf militärischem
Gebiet gewann im Jahre 1963 an Stoßkraft. Im Februar veröffentlichte der Armee-
general A. A. Epischew, der Chef der politischen Hauptverwaltung des Verteidi-
gungsministeriums und vermutlich die wichtigste Stimme der Partei in den Streit-
kräften 8, einen Artikel, der die Führung der Partei bei der Entwicklung der
Militärdoktrin und -politik und bei der Stärkung der sowjetischen militärischen
Stellung hervorhob 9. Im Frühjahr 1963 äußerten mehrere sowjetische Rezensio-
nen des Sokolowski-Buches über Militärstrategie eine ähnliche Bestätigung der
Parteioberhoheit. Im Gegensatz zu früheren Besprechungen des Buches, die sich mit
dem Thema nicht beschäftigt hatten, kritisierte eine der Besprechungen von 1963
das Buch, weil darin unterlassen worden war, Lenins ausdrücklichen Befehl zu be-
folgen, »den militärischen Standpunkt unter den politischen Standpunkt unterzu-
ordnen«; ferner machte sie den Vorwurf, das Buch hätte den Spielraum von
Militärdoktrin und Strategie »auf Kosten der Politik« erweitert, gleichgültig, ob
die Autoren »das im Sinn hatten oder nicht« 10. Eine andere Besprechung gab zu
verstehen, die Sokolowski-Autoren hätten die Rolle der militärischen Führung bei
der Ermittlung der Strategie übertrieben. Sie meinte, das Buch tendiere dazu, das
Wort von Frunse: »Strategie ist nicht das Vorrecht allein der militärischen Füh-
rung«, zu übersehen. Man sollte nicht vergessen, bemerkte der Rezensent, daß die
Regierungsführung »die endgültigen und vorläufigen Ziele der Kriegführung be-
stimmt... und die Mittel, sie zu erreichen«, während die Aufgabe der Militär-
führung »hauptsächlich darauf hinausläuft, konkrete Operationen zur Erreichung
dieser Ziele durchzuführen« 11.
Während diese Kritiken das Sokolowski-Buch wegen der übertreibung der Vor-
rechte des Militärs bei der Formulierung der Strategie ins Gebet nahmen, schnitten
andere sowjetische Militärschriften vom Jahre 1963 die Frage des Parteivorrangs
in bezug auf die Formulierung der Militärdoktrin an. Es gab kaum Zweifel, daß
die neuen Richtlinien zu dieser Frage entworfen worden waren. Während eine
Unterströmung des Widerstands fortdauerte, empfanden es viele Militärautoren als
zweckmäßig, sich dem neuen Trend anzupassen. So stellte eine Konferenz über so-
wjetische Militärdoktrin, die in Moskau im Mai 1963 stattfand (aber nicht vor
8 Die politisme Hauptverwaltung in den Streitkräften ist immer ein Zweig des Famperso-
nals des Zentralkomitees der Partei gewesen. Eine Bemerkung hierüber in: Der Kommu-
nist in den bewaffneten Kräften. Nr. 6, März 1963, S. 8, lautete wie folgt: »Die
Parteiarbeit in den Streitkräften erfolgt unter der Führung des Zentralkomitees der
KPdSU, durm die politisme Hauptverwaltung ... die mit den Remten einer Abteilung
des Zentralkomitees der KPdSU tätig ist.« Bevor er eine Uniform anlegte um seine ge-
genwärtige Stellung anzutreten. war Epismew Botsmafter in Jugoslawien. Früher in sei-
ner Laufbahn ist er ein hoher Beamter der Geheimpolizei gewesen.
9 General des Heeres A. A. Epismew, ,.Die wamsende Rolle der KPdSU in der Leistung
der Streitkräfte«, Woprosi Istori KPSS. (Probleme der Gesmimte der KPdSU), Nr. 2,
Februar 1963, S. 3 ff.
10 Oberst V. Zemskow und Oberst A. Jakimowski, »Militär-Strategie«, Militär-Herold,
Nr. 1, Januar 1963, S. 124.
11 A. Golubew, »Einige Probleme der Kriegsgesmimte in dem Bum >Militär-Strategie<<<.
Journal für Militärgeschichte, Nr. 5, Mai 1963, S. 90.
108 Kapitel V/lI
Oktober gemeldet wurde) 12, einstimmig fest, daß »die Militärdoktrin von der
politischen Führung des Staates entwickelt und bestimmt wird« 13. Derselbe Punkt
wurde s~gar noch ausdrücklicher im Mai 1963 in einer Broschüre von Generaloberst
N. A. Lomow, Sowjetische Militärdoktrin, unterstrichen. Ein Jahr zuvor hatte ein
anderer Artikel desselben Autors in einer sowjetischen Militärzeitschrift einen An-
spruch auf bedeutenden militärischen Einfluß auf die Formulierung der Politik in
den folgenden Worten erhoben:
Die Formung unseres militärisdten Weltbildes hat in einer sdtöpferisdten Atmosphäre statt-
gefunden ... und ist das Ergebnis der gemeinsamen Bemühungen von Militärtheoretikern
und -praktikern. Dank dieser Tatsadte haben wir einen Stamm von vereinheitlidtten theo-
retischen Ansichten entwickelt, auf deren Grundlage ein umfassendes staatliches Programm
zur Vorbereitung der Streitkräfte auf die Verteidigung des Vaterlandes durchgeführt wor-
den ist u.
Dieser Passus fehlte auffällig in der Broschüre Lomovs über dasselbe Thema, die
ein Jahr später veröffentlicht wurde. Die Broschüre vom Mai 1963 bot eine neue
Formel an:
Die Grundlagen der Militärdoktrin werden von der politisdten Führung des Landes be-
stimmt, denn sie allein hat die Befähigung und die Zuständigkeit, die Probleme, die mit
der Entwicklung der Streitkräfte zusammenhängen, zu lösen ... 15
Die Zeitschrift Der Kommunist in den bewaffneten Kräften, die das Organ der
politischen Hauptverwaltung des Verteidigungsministeriums ist, war besonders be-
strebt, ihren Leserkreis daran zu erinnern, daß die Partei sowohl der Schöpfer als
auch der Führer der Streitkräfte ist. Eine sehr bemerkenswerte Ausarbeitung in die-
sem Sinne war ein Artikel von den Obersten S. Baranow und E. Nikitin vom April
1963, der Lenin zitierte:
Die Politik des Militärs wird - wie die aller anderen Einrichtungen und Institutionen - auf
der genauen Grundlage der allgemeinen Direktiven, die das Zentralkomitee der Partei aus-
gibt, und unter seiner Kontrolle betrieben 16.
Im Herbst 1963 gewann die politisch-militärische Frage erneutes Interesse, als
nämlich die sowjetische Kritik begann, eine merkliche Empfindlichkeit gegenüber
ausländischen Interpretationen der ursprünglichen Sokolowski-Ausgabe an den Tag
zu legen, in denen das Buch als ein Dokument, das den Widerstreit der Auf-
fassungen und Interessen zwischen den sowjetischen politischen und militärischen
Führern widerspiegelt, aufgefaßt wurde. Der Glagolev-Larionov-Artikel in der
Septemberausgabe von International Affairs bemerkte zum Beispiel, westliche
Autoren hätten versucht, das Sokolowski-Werk als Beweis greller Widersprüche
12 Berichtet in einem Artikel von Oberst L. Belusow, »Konferenz über sowjetische Militär-
doktrin«, Journal für Militärgeschichte, Nr. 10, Oktober 1963, S. 121-126.
13 I bid., S. 122.
14"über sowjetische Militärdoktrin«, Der Kommunist in den bewaffneten Kräften,
Nr. 10, Mai 1962, S. 12.
15 Sowjetische Militärdoktrin, Isdatelstwo »ZNANIE«, Moskau, Mai 1963, S. 5.
16 "KPdSU-Führung: Die fundamentale Basis der sowjetischen militärischen Entwicklung«,
Der Kommunist in den bewaffneten Kräften, Nr. 8, April 1963, S. 27.
17 L. Glagolev an V. Larionov, "Soviet Defence Might and peaceful Koexistencc«, Inter-
national Affairs, Nr. 11, November 1963, S. 27.
Spannung im politisch-militärischen Bereich 109
Hier smienen die Sokolowski-Autoren der Kritik, sie hätten es unterlassen, »den
militärismen Standpunkt dem politismen unterzuordnen«, eine gewisse Konzession
zu mamen. Doch beließen sie in der neuen Ausgabe einen Satz, der unzweideutig
angab:
Es kommt zuweilen vor, daß der militärisme Faktor entsmeidende Bedeutung erlangt 13.
Die Partei hat traditionsgemäß die Auffassung vertreten, daß die Streitkräfte nimt
nur ein wirksames Kriegspotential bereitstellen, sondern aum eine »Smule für
Kommunismus« sein sollten 24. Durm das Mißlingen des Versumes, diese beiden
Ziele miteinander völlig in Einklang zu bringen, ist ziemlim viel Reibung in den
Beziehungen zwischen den politischen und den militärismen Führern hervorgerufen
worden. Als eine seiner Missetaten war Marschall Smukow zur Last gelegt worden,
er hätte die Smulung und andere Tätigkeiten der politismen Organe innerhalb der
Streitkräfte »untersmätzt« und zu »beseitigen« versumt 25. Gleimzeitig mit der
Wiederbelebung der Kampagne für den Partei primat gewann aum diese Frage neue
Geltung. Verschiedene sowjetische Namrimtenmittel hielten es für zweckmäßig, das
unglückliche Smicksal von Smukow zu beschwören und daran zu erinnern, daß er
»eine Linie der Nichtberücksichtigung und Abschaffung der Führung und Kontrolle
der Streitkräfte durch Partei und Regierung verfolgt« 26 und versucht habe, »das
Militär von der Partei und dem Volk loszureißen« 27.
Auf einer Militärkonferenz in Moskau im Oktober 1963 gab Marschall Malinowski
- als wolle er den Fehlern seines Vorgängers aus dem Wege gehen -, eine Warnung
an die Militärkader von sich, sie sollten es vermeiden, zu ausschließlich in fachlich-
militärischen Begriffen zu denken und statt dessen »ihre Fähigkeiten entwickeln,
Erscheinungen und Tatsachen von einer marxistisch-leninistischen Einstellung her zu
analysieren« 28. Seine Ermahnung kam im Kielwasser eines jahrelangen Dialogs, in
dem eine Seite im wesentlichen Einwände dagegen erhob, in den Streitkräften zuviel
Zeit auf Propaganda und politische Orientierungstätigkeiten zu verwenden, da
23 lbid.
24 Siehe N. M. Kiriajew, »Der 22. Kongreß der KPdSU über die Stärkung der Streitkräfte
und Verteidigungsfähigkeit der Sowjetunion«, Probleme der Geschichte der KPdSU, Nr. 1,
Januar 1962, S. 74.
25 Leitartikel in Prawda, 3. November 1957; Roter Stern, 5. November 1957.
26 Moskauer Rundfunksendung nach Nordamerika, 10. November 1963.
27 Baranow und Nikitin in: Der Kommunist in den bewaffneten Kräften, Nr. 8, April
1963, S. 19.
28 Bericht der Konferenz der ideologischen Arbeiter in den gesamten Streitkräften, Roter
Stern, 1. November 1963. Artikel ähnlicher Richtung tauchten um diese Zeit in: Der
Kommunist in den bewaffneten Kräften auf. Siehe zum Beispiel Oberst A. Tuvlew,
»Forderung des 22. Parteikongresses und des Programms der KPdSU in Hinblick auf die
militärischen Kader«, Nr. 15, August 1963, S. 14-45; Leitartikel, »Die militärischen
Kader ideologisch stärken«, Nr. 19, Oktober 1963, S. 6.
Spannung im politisch-militärischen Bereich 111
doch die wachsende Komplexität der neuen Militärtechnologie mehr Zeit für eine
intensive Ausbildung fordere 29, während die andere Seite sich gegen die Tendenz
hoher Offiziere wandte, ideologischen und Parteiangelegenheiten nur oberflächliche
Beachtung zu schenken und somit ein schlechtes Beispiel abzugeben 30. Die Anstren-
gungen der Partei, diesen Dialog in die richtige Richtung zu lenken, wurden gegen
Ende des Jahres 1962 und Anfang 1963 durch einen Hagel von Versammlungen
deutlich gemacht, die dazu bestimmt waren, die ideologische Gesundheit des
Offizierskorps zu untersuchen und Wege zur Verbesserung der Arbeit der politischen
Organe innerhalb des Militärs zu ersinnen. Auf einer dieser Versammlungen be-
drängte Epishew, der Parteizerberus im Verteidigungsministerium, die politischen
Organe, sie sollten »das Leben und Treiben von Generalen, Admiralen und Offi-
zieren bis in die Tiefe erforschen und ihre beruflichen und politisch-moralischen
Qualitäten auf der Grundlage ihrer Betätigungen beurteilen« 31.
Diese Warnung war augenscheinlich nicht vollkommen wirksam, denn Beschwerden
von einigen hochgestellten Militärpersonen über eine übermäßige politische Ein-
mischung in militärische Angelegenheiten und das Privatleben von Offizieren fan-
den weiterhin ihren Weg in die Druckerpressen. Zum Beispiel unternahm es im
Januar 1963 der Generaloberst Tolubko, der stellvertretende Kommandeur der
strategischen Raketenstreitkräfte, die politischen Organe wegen der »Belastung der
Offiziere« mit politischen Anforderungen, die ihre militärischen Aufgaben beein-
trächtigten, zu kritisieren 32. Auch sonst gab es Kritik von seiten des Militärs an
den politischen Arbeitern in den Streitkräften 33. Daher unterstrich einige Monate
später, nämlich im Oktober, Malinowskis Forderung, der militärische Professiona-
lismus dürfe nicht auf Kosten der politischen Indoktrination übertrieben werden,
lediglich ein altes und offensichtlich ungelöstes Dilemma. Einen weiteren Beweis
dafür, daß es mißlungen war, ein glückliches Gleichgewicht zwischen den An-
forderungen der militärisch-technischen Ausbildung und denen der politischen Schu-
lung zu finden, ergab ein ziemlich langatmiger Exkurs vom Marschall Malinowski
zu diesem Thema, der im März des Jahres 1964 im Roten Stern erschien. In dem
Artikel, der eine Serie über das Bedürfnis nach »Einheit von Theorie und Praxis«
abschloß, nahm Malinowski sowohl Berufsmilitärs als auch politische Arbeiter ins
Gebet, weil sie nicht eng genug zusammenarbeiteten. Die Kommandeure und Berufs-
offiziere im Stabe sollten bei der Ermittlung von Mängeln in der Ausbildung und
Indoktrination mehr Hilfe von den Parteiorganen in Anspruch nehmen, sagte
29 General I. Pliew, »Die neue Technologie und Probleme der Verstärkung der Disziplin«,
Der Kommunist in den bewaffneten Kräften, Nr. 19, Oktober 1962, S. 21-28.
30 Siehe Roter Stern, 18. November, 8. Dezember 1962. Generalmajor D. Raschetow, »Das
höchste Niveau marxistisch-leninistischer Offiziersausbildung«. Der Kommunist in den
bewaffneten Kräften, Nr. 20, Oktober 1962, S. 21-23.
31 A. A. Epischew, »Die Kampfbereitschaft der Streitkräfte erhöhen: die Hauptaufgabe
der Partei arbeit«, Roter Stern, 1. Dezember 1962.
82 Generaloberst V. Tolupko, »Kenne die strategischen Waffen genau«, Roter Stern, 8. Ja-
nuar 1963.
88 Siehe, zum Beispiel, Oberstleutnant P. Baranow, ,.Am Straßenrande«, Roter Stern,
20. März 1963; Generaloberst A. 1. Getman, »Der sympathische Kommandeur«, Roter
Stern, 29. März 1963.
112 Kapitel Vlll
Malinowski, während die politisdlen Arbeiter ihrerseits eine bessere Kenntnis der
modemen Militärangelegenheiten und -tedlnologie erwerben müßten, wenn sie
einen nützlidlen Beitrag zur Vorbereitung der Streitkräfte auf die Aufgaben der
modernen Kriegführung leisten wollten 84.
Ein neuer Zug des alten Konflikts zwisdlen militärisdlem Professionalismus und
Parteiarbeit in den Streitkräften verdient Beadltung. Er bezieht sich auf den Auf-
stieg einer neuen Generation von .Militärspezialisten«, der mit der fortgesdlritte-
nen Tedlnik der Raketenstreitkräfte und anderer Teile des sowjetischen Berufs-
militärs zusammenhängt 85. Zwisdlen diesen Offizieren, die ihre Befreiung von den
politischen Aktivitäten betreiben, damit sie mehr Zeit ihren komplexen militäri-
schen Aufgaben widmen können, und dem Parteiapparat in den Streitkräften sind
offensichtlich außergewöhnlidle Spannungen entstanden. Das läßt die Tatsadle ver-
muten, daß die Besdlwerden der Parteiarbeiter dazu tendierten, die .Militärted1no-
logen« zusammen mit einigen »Stabsoffizieren« als die Hauptquelle von »Obstruk-
tionismus« und Widerstand gegen Parteibetätigungen in den Streitkräften auszu-
sondern 88.
Auf der praktischen Seite läuft der Streit über den Primat der Politik auf die Frage
hinaus, welches die angemessenen Grenzen des militärisdlen Einflusses auf dem
Gebiet der Strategie und der nationalen Sidlerheitspolitik sein sollten. Ungeachtet
der Tatsache, daß die sowjetisdle Militärhierarchie es als angebracht empfand, in
der Kampagne für den Vorrang der Partei eine behilfliche Rolle zu spielen, ist auf-
fällig, daß gleichzeitig der vorsichtige Versuch im Gange war, sich der Einengung
der Einflußsphäre des Militärs zu widersetzen. Bevor wir uns einigen Beispielen für
3' Marsdtall R. Malinowski, "Die ideologische und organisatorische Tätigkeit der militä-
rischen Kader«, Roter Stern, 3. März 1964. Für einen Artikel, der die Serie im Roten
Stern eröffnete, siehe Generaloberst A. Getman, »Einheit von Wort und Tat: Wie man
sie verwirklicht«, Roter Stern, 10. Oktober 1963. Unter den beipflichtenden Artikeln in
den Militärzeitschriften sind z. B. die folgenden: General des Heeres A. Kasakow, "Die
Vorbereitung der Offiziere auf die Führung: eine tägliche überlegung«, Der Kommunist
in den bewaffneten Kräften, Nr. 23, Dezember 1963, S. 20-23; Hauptmann 1. Klasse
V. Stukalow, "Bewaffne politische Arbeiter mit tiefem militärisch-technischem Wissen«,
ibid., S. 24-29. Weiterer Beweis dafür, daß Malinowskis Ratschläge von manchen noch
immer nicht beachtet wurden, sind die Ermahnungen Anfang 1964, die Indoktrinations-
tätigkeit der Partei zu verbessern und die Militärpresse zu diesem Zweck besser auszunut-
zen. Oberst 1. Korotkow, ,. Worauf der militärische Leser wartet«, Roter Stern, 23. Ja-
nuar 1964.
35 Die »militärischen Spezialisten«, Offiziere mit technischer und ingenieursmäßiger Vor-
bildung, sind in den Raketentruppen besonders zahlreich. Marschall N. Krylow, Kom-
mandeur der strategischen Raketenstreitkräfte, gab Anfang 1964 die Zahl derartiger Spe-
zialisten unter seinen Offizieren mit .. über 70 0/0« an. »Im Interesse der höchsten militä-
rischen Bereitschaft«, Roter Stern, 11. Januar 1964.
36 Siehe Oberst D. Lewtschenko, »Der Kommandeur und die neue Technologie«, Roter
Stern, 10. November 1960; Pliew in: Der Kommunist in den bewaffneten Kräften,
Nr. 19, Oktober 1963, S. 26.
Spannung im politisch-militärischen Bereich 113
Militär als eine Art »Ausgleicher« auf die politische Bühne. Zur Zeit von Berijas
Festnahme im Jahre 1953 und Chruschtschows Kampf gegen die »Anti-Partei-
Gruppe« Mitte 1957 suchte offensichtlich eine interne politische Clique gegen die
andere Unterstützung beim Militär, und das Eingreifen der Generäle erwies sich als
wichtig 37. Schukows Sturz, der zumindest zum Teil mit Chruschtschows Sorge im
Zusammenhang gestanden zu haben schien, er könnte in Zukunft politisch auf der
Seite eines anderen eingreifen, brachte einen Rü<kgang im politischen Einfluß des
Militärs. Gleichwohl, das allgemeine Muster für die Einbezogenheit des Militärs in
politische Angelegenheiten war begründet. Sollte Chruschtschows Stellung von an-
deren politischen Führern ernsthaft angefochten werden, oder sollte eine Nach-
folgekrise seinem Abgang von der Bühne folgen, dann scheint es wahrscheinlich, das
die eine oder andere Clique sich wiederum um die Unterstützung des Militärs be-
mühen wird. Die bekannte Fähigkeit der Militärs, die interne sowjetische Politik zu
beeinflussen, könnte dazu führen, ihr Gewicht in Angelegenheiten der Staatspolitik
und der grundlegenden Strategie zu vermehren.
Das sowjetische Militär hat zweifellos mit einem Prozeß stiller übergriffe versucht,
seinen Einfluß in ein graues Gebiet auszudehnen, das zwischen den politischen Be-
langen der militärisch-technischen Ebene einerseits und der Ebene des Parteistaats
andererseits liegt. Es gab zwei wichtige Zugänge zu diesem Terrain, das traditionell
den politischen Führern vorbehalten war. Soweit die sichtbaren Zeugnisse einem das
Urteil erlauben, bestand der erste davon in einer Bewerbung des Militärs um größe-
ren Einfluß bei der Formulierung der Militärdoktrin und -strategie, die beide in
einem kleineren oder größeren Maße - das hängt da von ab wie man sie definiert
- an das Gebiet der Staatspolitik anstoßen. Nach der gegenwärtig vorherrschenden
sowjetischen Definition ist die Doktrin fundamentaler als die Strategie. Die erstere
verkörpert »die offiziell anerkannten Staatsansichten ... über Fragen des Krieges
und der Landesverteidigung«; der Inhalt der Militärstrategie, wenngleich eine an-
erkannte Sache der Generäle, ist gewissermaßen vorläufig bis zu seiner Billigung
durch die politische Führung 38.
37 R. Conquest, Power and Policy in the USSR, St. Martin's Press, Inc., New York 1961,
S. 330 H.; Myron Rush, The Rise of Chrushchev, Public AHairs Press, Washington,
D. C., 1958, S. 80-81. Siehe auch Zbigniew Brzezinski and Samuel P. Huntington,
Political Power: USAIUSSR, The Viking Press, New York 1964, S. 252, 339-352.
Eine Studie der Krise vom Juni 1957, in der die Ansicht vertreten wird, daß das Militär
»eine kleine aber entscheidende Rolle« spielte, ist Roger Pethybridges A Key to Soviet
Politics: The Crisis of the Anti-Party Group, Frederick A. Praeger, Ine., New York
1962, insbesondere die Seiten 89-90, 103-106, 128-132.
38 Belusow in Zeitschrift für Militärgeschichte, Nr. 10, Oktober 1963, S. 121-123; General-
oberst N. A. Lomow, »Die Hauptthesen der sowjetischen Militärdoktrin«, Roter Stern,
10. Januar 1964, und von demselben Autor Sowjetische Militärdoktrin, S. 5,18; Militär-
Strategie, S. 84; Generalmajor S. Koslow, »Militärdoktrin und Militärwissenschaft«, Der
Kommunist in den bewaffneten Kräften, Nr. 5, März 1964, 9-15.
Der Koslow-Artikel ist besonders interessant wegen seiner sorgfältigen Ausarbeitung
des Bereiches und des relativen Einflusses von Militärdoktrin, Militärwissenschaft und
Militärstrategie. Nach Koslow basiert die Militärdoktrin auf »einem vereinheitlichten
System staatlicher Ansichten« und kann daher nicht aus »zwei sich widersprechenden
Doktrinen« bestehen. Einmal akzeptiert, ändere sich die Doktrin ziemlich langsam und
Spannung im politisch-militärischen Bereich 115
Je breiter der anerkannte Bereich von Militärdoktrin und Strategie, und je größer
die dem Militär zugestandene Teilhabe an ihrer Formulierung ist, desto mehr Raum
gibt es für eine Einflußnahme seitens der Militärführung auf die Politik - sei es,
um das nationale Interesse, so wie die Generäle es sehen, zu fördern, oder um
engeren militärischen Interessen zu dienen. Dies trägt dazu bei zu erklären, warum
der Streit über den Parteiprimat dazu tendiert, sich so häufig auf die Frage der
»Jurisdiktion« über Militärdoktrin und -strategie zu konzentrieren. Wenn die
Partei nicht aus dieser Richtung eine unausgesprochene Herausforderung gespürt
hat, dann ist es schwierig, die gemeinsame Anstrengung zur Wiederherstellung eines
Punktes zu verstehen, der gemeinhin als selbstverständlich betrachtet wurde -
nämlich, daß der Vorrang bei der Formulierung der Militärdoktrin und -strategie
der politischen Führung gehört.
Der zweite Weg stillen militärischen Eindringens in die traditionellen Vorrechte der
politischen Führung ist die mehr oder weniger subtile Behauptung gewesen, daß die
militärisch-technische Revolution des nuklearen Zeitalters einen höheren Preis als
je zuvor auf militärische Sachkenntnis gesetzt und somit den Beitrag erhöht habe,
den das Berufsoffizierskorps zur komplexen und vielseitigen Aufgabe der Sicher-
steIlung der Landesverteidigung zu leisten imstande ist. Dies ist eine moderne Spiel-
art älterer Ansprüche, die auf dem militärischen Professionalismus beruhen. Die
Kraft der Beweisführung ist durch die Debatte zwischen Modernisten und Traditio-
nalisten innerhalb des sowjetischen Militärs selbst etwas geschwächt worden. Die
Verfechter des Modernismus haben auf Chruschtschow und die Partei sehen müssen,
um die Konservativen unter den Militärs und die veralteten Vorstellungen, die die-
sen offensichtlich noch immer teuer waren, zu bekämpfen. Ein anderer Faktor, der
dazu beigetragen hat, die auf die besonderen Qualitäten der Militärführung ins-
gesamt gegründete Beweisführung zu verwischen, ist das Auftreten der sogenannten
»Stalingradgruppe« militärischer Führer gewesen. Die Laufbahnen dieser Männer
waren mit der Chruschtschows eng verknüpft, und sie haben auf Kosten jener Offi-
ziere, deren früherer Dienst sie nicht in engen Kontakt mit Chruschtschow gebracht
hatte, viele der Spitzenpositionen in der Militärhierarchie inne. Im großen und
sollte nicht dauernd in Frage gestellt werden, da eine Ablehnung der feststehenden An-
sichten, auf denen sie begründet ist, "einen ernsten Riß in dem ganzen militärischen Ge-
bäude hervorruft«. Koslow macht nicht klar, auf welche Weise genau Xnderungen in der
Doktrin hervorgebracht werden könnten, deutet aber an, daß Xnderungen nur auf er-
heblichen Drulk folgen. Die Doktrin, sagt er, »ist gezwungen, neue Phänomene in den
militärischen Angelegenheiten zu ignorieren, bis diese Durchschlagskraft gesammelt
haben«.
Andererseits hat, nach Koslow, die Militärwissenschaft »nicht das Recht, es abzulehnen,
neue Phänomene zu analysieren«. Die Militärwissenschaft sieht weiter in die Zukunft als
die Doktrin, und sie kann abweichende Vorschläge und Hypothesen umfassen, von denen
nur einige mit der Zeit von der Militärdoktrin aufgenommen werden. Was die Militär-
strategie betrifft, so stellt sie nach Koslow praktisch »das grundlegende Werkzeug der
Doktrin zur Erarbeitung von Kriegsplänen und zur Vorbereitung des Landes und der
Streitkräfte auf einen Krieg« dar. Die strategische Theorie hat außerdem einen reziproken
Einfluß auf die Doktrin. Im Kriege ist die Doktrin der Strategie untergeordnet, »oder
genauer, der strategischen Führung, die die Fragen löst, vor die die konkrete Situation
stellt«.
116 Kapitel Vlll
ganzen hat Chrusmtsmow die Stalingradgruppe wohlbelohnt, und er hat dafür mit
ihrer Unterstützung bei Politiken geredlnet, die großen Sektoren militärismer Mei-
nung unangenehm gewesen sein können .e. Nichtsdestoweniger hat es bei den
Militärführem als Gruppe - trotz der militärinternen Cliquen - einen spürbaren
Hang gegeben, nam Einfluß auf die Politik zu begehren, indem sie von sich be-
hauptete, einzigartige Funktionen zu erfüllen, die außerhalb der Fähigkeiten der
politischen Führung lägen.
In dem Zeitraum seit der zweiten Hälfte des Jahres 1962, als der Primat der
Politik in militärismen Angelegenheiten gesimert war, smeinen die sowjetismen
Berufsmilitärs eine Anzahl von Nadlhutgefemten geführt zu haben, gleimsam als
wollten sie die Frage nam den angemessenen Grenzen des Einflusses der Militärs
auf dem Gebiet der Verteidigungspolitik am Leben erhalten. In der Streitfrage über
die Militärdoktrin und Strategie erlitt die Sache der Militärs - wie die voran-
gegangene Diskussion angedeutet hat - einen merklimen Rülkschlag. Gleimwohl
behauptete das Militär, während es in einigen Punkten namgab, in anderen seine
Stellung. Ein interessantes Beispiel dafür lieferte die revidierte Sokolowski-
Ausgabe.
Im Vorwort dieser Ausgabe beugten sim die Autoren der Kritik, sie hätten der
Rolle der politismen Führung bei der Formulierung der Strategie nicht genügend
Gewicht beigemessen. Sie taten das mit einem interessanten Kunstgriff, indem sie
nämlich sagten, manche sowjetischen Kritiker hätten an ihnen etwas auszusetzen
gehabt, weil sie die Strategie auf einer klassenorientierten Grundlage definiert hät-
ten, die »mit ihrem tatsächlichen Charakter als Wissenschaft unvereinbar« sei. Diese
Kritik, meinten sie, bezog eine »objektivistische Position«, mit der sie nicht überein-
stimmen könnten, weil »die Strategie von der Politik abhängig ist« und ihre
»Parteilichkeit« unbestreitbar sei 40. Nachdem sie sich jedoch derart von jeder Nei-
gung zu einer unpoliti5chen oder rein fachlichen Auffassung von der Strategie los-
gemacht hatten, wiesen die Autoren darauf hin, sie seien nicht bereit, »die Unter-
suchung der Probleme, welche die Führung bei der Vorbereitung des Landes auf
einen Krieg betreffen, aus dem Bereich der Militärstrategie auszuklammern«, wie
andere Kritiker es vorgeschlagen hätten. Dieser Vorsmlag, sagten sie, basiere auf
der Vorstellung, »daß die Militärstrategie sich nur mit den Problemen befassen
solle, die mit der Führung der Streitkräfte zusammenhängen«, während die militä-
rische Vorbereitung des Landes Sache der Politik sei«. Dann fragten die Autoren:
Kann man diese heiden eng miteinander verknüpften Aspekte eines einzigen Führungspro-
zesses aher so mechanisch voneinander trennen 41?
39 Unter den prominenten Mitgliedern der Stalingrad-Gruppe sind die Marschälle Mali-
nowski, Tschuikow, Birjusow, Krylow, Eremenko und Gretschko. Für eine ausführliche
Erörterung der Stalingrad-Gruppe siehe Kolkowicz, Con/licts, S. 37-45.
40 Militär-Strategie, S. 32-33.
41 Ibid., S. 33.
Spannung im politisch-militärischen Bereich 117
Sie beantworteten diese Frage verneinend und zeigten auf, daß die Verteidigungs-
fähigkeit eines Landes unlösbar mit der Kampfbereitsdtaft der Streitkräfte selbst
verbunden sei. Daher habe
die sowjetisme Militärstrategie die Aufgabe, neben den Problemen, die die Führung der
Streitkräfte betreffen, durm die Fragen zu untersumen, die mit der Leitung der Vorberei-
tung des Landes auf die Abwehr einer Aggression zusammenhängen 42.
Bezüglidt des Ansprudts der sowjetisdten Militärführung auf ein größeres Maß an
Einfluß auf die Politiken, die die Verteidigungsvorbereitungen des Landes beherr-
sdten, scheinen in diesem Passus die Sokolowski-Autoren mit der einen Hand das
zurüdtzunehmen, was sie mit der anderen zugestanden hatten. Wie schon vorher
erwähnt, taten sie audt so ziemlidt das gleiche in Hinblidt auf das Verhältnis von
politisdten und strategisdten überlegungen während eines Krieges. Sie milderten
ihre ursprünglidte Haltung etwas ab, ermahnten aber gleidtzeitig die politisdte Füh-
rung, daß es in Kriegszeiten zuweilen vorkommt, «daß der militärisdte Faktor ent-
scheidende Bedeutung erlangt« 43.
Bemühungen, die militärisdte Seite der politisdt-militärischen Waage durch die be-
sondere Betonung der einzigartigen Beiträge des Berufsoffizierskorps abzustützen,
haben selbst während der Kampagne zur Wiederherstellung des Vorrangs der Par-
tei periodisch im sowjetischen Gespräch Ausdrudt gefunden. Ein typisches Beispiel
dafür wurde in der Broschüre Sowjetische Militärdoktrin von Generaloberst Lomov
geboten, die Mitte des Jahres 1963 veröffentlicht wurde. Lomow, der die Befehls-
kader in den Streitkräften diskutierte und dabei vermerkte, daß mehr als 90 Ufo des
Offizierskorps aus Partei- und Komsomolmitgliedern bestehen - was als solches
schon ein Weg war, um anzudeuten, daß die politische Gesundheit der Sowjet-
offiziere nicht in Frage gestellt zu werden brauche -, Lomow also hob hervor, daß
das reguläre Offizierskorps in der Epoche einer Revolution in Dingen der Militär-
technologie eine besondere Rolle zu spielen habe. »Die Vorbereitung des Offiziers-
korps hat eine besonders wichtige Bedeutung«, schrieb er,
denn es ist das Rückgrat der Streitkräfte, der Smöpfer und Träger der Kriegskunst und Leh-
rer der breiten Masse der Soldaten 44.
Lomow betonte weiter das hohe Niveau technischer Befähigung, das von dem Offi-
zierskorps in einem modernen Berufsmilitär verlangt werde 45. Diese Passagen, die
übrigens in seinem früheren Artikel über die Militärdoktrin vom Mai 1962 nicht
auftauchten, waren nahe daran, eine Ermahnung dafür zu sein, daß das Berufsoffi-
zierskorps einer Aufgabe dient, für die die Partei allein kein Ersatz ist. Weitgehend
denselben Standpunkt hat Lomow im Januar 1964 in einer Artikelserie im Roten
Stern vertreten, in der er auch anbrachte, daß in einem Krieg selbst die beste Tech-
nik nicht gut genug ist, wenn nicht gut ausgebildete Kommandeure und Truppen
42 I bid., S. 33.
43 lbid., S. 60.
44 Lomow, Sowjetische Militärdoktrin, S. 19.
45lbid, S. 20. Siehe aum Oberst V. Konoplew, »Ober wissensmaftlime Voraussimt in
militärismen Angelegenheiten«, Der Kommunist m den bewaffneten Kräften, Nr. 24,
Dezember 1963, S. 34.
118 Kapitel VIII
vorhanden sind, die sie anwenden. Dieses Thema, das gleichzeitig in anderen sowje-
tischen Militärschriften entwickelt wurde 46, hat Obertöne, die über die enge Frage
der sowjetischen Beziehungen zwischen politischer Führung und Militär hinaus-
gehen. Es wurde von den Chinesen in die sino-sowjetischen Polemiken hinein-
getragen, die aus eigenen Gründen Chruschtschow vorgeworfen haben, er betreibe
»Nuklearfetischismus« und hebe einseitig die Technologie statt des Menschen her-
vor 47. Im Roten Stern sagte Lomow:
Besonders in den Führungskadern der sowjetismen Streitkräfte sind qualitative Änderun-
gen im Militärpersonal, Änderungen im »Mensmenmaterial«, wie Engels sagen würde, der
wimtigste Zug der Revolution in militärismen Angelegenheiten. Der Marxismus-Leninis-
mus lehrt, daß der Mensm der Hauptfaktor in einem Krieg ist, da der Krieg von Mensmen
geführt wird, die ihre Waffen beherrsmen. Die Ausstattung moderner Streitkräfte mit
modernsten Waffen und Gerätsmaften hat die Wimtigkeit des Mensmen und die Rolle sei-
ner vielseitigen Fähigkeiten bei der Erlangung des Sieges über den Feind sogar nom weiter
erhöht 48.
Auch die revidierte Ausgabe des Sokolowski-Buches trug ihren Teil dazu bei, das
Image der sowjetischen Militärelite als eines Aktivpostens zu bestätigen, den zu ver-
kleinern keinem Herumreiten auf dem Parteiprimat erlaubt sein sollte. Aus der
ersten Ausgabe übernahm sie praktisch unverändert einen langatmigen Kommentar
zu der Rolle und den Qualitäten der höchsten sowjetischen berufsmäßigen Militär-
führung. Dies schloß einen Passus mit ein, in dem die Feststellung getroffen wurde,
daß es in der Geschichte keine Beispiele für eine Armee gäbe, die »von einem uner-
fahrenen militärischen Befehlshaber geführt wurde (und) erfolgreich gegen eine
Armee unter der Führung eines erfahrenen Militärs gekämpft hätte« 49.
Eine weitere Reihe der Geschichte entnommener Argumente, die zumindest einen
indirekten Bezug auf die Beziehungen zwischen der politischen Führung und der
militärischen Führung gehabt haben, wurde im späten Januar und Anfang Februar
des Jahres 1963 - etwa um die Zeit des Jahrestages der Schlacht um Stalingrad
(heute Wolgograd) - in das sowjetische Gespräch eingeführt. Mehrere Artikel pro-
minenter Militärs verteilten die Verantwortung für die Planung und Organisation
dieses Schlüsselsieges des zweiten Weltkrieges auf eine Weise, die die Auffassung der
Autoren von dem jeweiligen Gewicht des Einflusses von Militär und Politik in
46 Siehe Oberst V. Siniak und Oberst V. Vare, »Die Rolle des Menschen und der Tech-
nologie in der Führung und Kontrolle von Truppen«, Der Kommunist in den bewaff-
neten Kräften, Nr. 18, September 1963, S. 50.
47 Am schärfsten drü~te sich die chinesische Kritik an Chruschtschows militärischen Theo-
rien in einem der Artikel - dem vom 18. September 1963 - über die si no-sowjetischen
Beziehungen, die sowohl im Tageblatt des Volkes als auch in der Roten Fahne erschienen,
aus. Obwohl die Betonung der Wichtigkeit von »Mensch über Technologie« seitens der
Chinesen zweifellos mit ihrem Mangel an einer fortgeschrittenen Militärtechnologie, in-
klusive Kernwaffen, zusammenhing, ist es gleichwohl wahrscheinlich, daß die Angriffe
gegen Chruschtschow auch darauf abzielten, die Beziehungen zwischen der politischen
und militärischen Führung innerhalb der Sowjetunion zu verschärfen, denn zweifelsfrei
wußten die Chinesen um ein gewisses Widerstreben im Sowjetmilitär, Chruschtschows
Vorstellungen ganz zu folgen. Siehe die weitere Erörterung dieser Frage in Kapitel XVII.
48 Roter Stern, 10. Januar 1964.
49 Militär-Strategie, S. 520; Soviet Military Strategy, S. 496.
Spannung im politisch-militärischen Bereich 119
einem aktuelleren Zusammenhang smließen ließ 50. Eine Gruppe, darunter die
Marsmälle Eremenko, Tsmuikow und Birjusow, zollte hauptsämlim örtlimen
Partei- und Militärbehörden in Stalingrad Anerkennung 51. Das bedeutete, daß sie
einen großen Teil des Verdienstes Chrusmtsmow zuremneten, der zu jener Zeit
Politkommissar des Stalingrader Militärrates war. Die zweite Gruppe, darunter
die Marschälle Woronow, Rotmistrow und Malinowski, hob Berufsoffiziere der
Stawka, des militärischen Oberkommandos in Moskau, als Hauptarchitekten des
Planes, der in Stalingrad zum Siege verhelfen sollte, hervor 52.
Malinowskis Artikel in der Prawda vom 2. Februar war vielleicht der Kühnste
unter denen, die einen Standpunkt vertraten, demzufolge der Beitrag des Berufs-
militärs weit über den der politischen Führung hinausging, denn er ließ den Namen
von Marschall Schukow zusammen mit den Marschällen Wasilewski und Woronow
als die Stawka- Vertreter wiederaufleben, die die Schlüsselrolle bei der Entwicklung
und Planung der Stalingrad-Operation gespielt hatten. Warum Malinowski diese
Gelegenheit wählte, um Chruschtschows Rolle herabzumindern und Schukow, des-
sen Name gleichbedeutend mit Mißachtung der Parteihoheit durch Berufsmilitärs
geworden war, in der öffentlimkeit günstig zu erwähnen, bleibt eines der kleinen
Rätsel der internen sowjetischen Politik. Man muß jedoch beachten, daß Mali-
nowskis Einstellung zu den schwierigen und heiklen Problemen der Beziehungen
zwischen Militär und Politik niemals völlig klar und gleichmäßig gewesen ist. Zu-
mindest in einem bildlichen Sinne scheint er unter einer Persönlichkeitsspaltung zu
leiden, da er gleichzeitig der nominelle Hüter militärischer Interessen innerhalb der
Sowjetbürokratie und Hauptvollstrecker von Chruschtschows Politiken innerhalb
der Streitkräfte ist. Obwohl er selbst Mitglied der »Stalingrad-Gruppe« ist, hat er
sim - wie das der oben genannte Artikel zeigte - nicht immer besonders ange-
strengt, Chrusmtschow zu huldigen 53. Seine mürrisme Anwesenheit an Chru-
50 Für die Art und Weise, auf die die sowjetische Geschichtsschreibung zum Zweiten Welt-
krieg als Mittel in dem Disput über das jeweilige Gewicht der Funktionen von Politikern
und Militärs gedient hat, siehe Matthew P. Gallagher, The Soviet History 0/ World
lVar ll, Frederick A. Praeger, Ine., New York 1963, insbesondere S. 169-175.
51 Marschall A. Eremenko in Prawda, 27. Januar 1963; Marschall V. Tschuikow in Praw-
da, 30. Januar 1963; Marschall S. Birjusow in Komsomolskaja Prawda, 2. Februar 1963.
52 Marschall P. A. Rotmistrow in Roter Stern, 16. Januar 1963; Marschall N. Voronow in
Prawda, 31. Januar 1963; Marschall R. Malinowski in Prawda, 2. Februar 1963; Mar-
schall V. Kasakow in Iswestija, 1. Februar 1963.
53 Malinowskis grollende Haltung im Februar 1963 gegen Chruschtschows Rolle in Stalin-
grad hatte sich in wenig mehr als einem Jahr, zu Chruschtschows 70. Geburtstag im
April 1964, ganz erheblich geändert. Unter einigen lobenden Artikeln zu Chruschtschows
Geburtstag war auch einer von Marschall Malinowski, in dem der sowjetische Verteidi-
gungsminister bemerkte, Chruschtschow habe die Militärkommandeure in Stalingrad
»ermutigt und angefeuert«. Außerdem sprach Malinowski Chruschtschows Nachkriegs-
rolle bei der Entwicklung der Streitkräfte seine Hochachtung aus, und sprach ihm unter
anderem das Verdienst zu, »die Anpassung der gesamten Militärtheorie und -praxis an
die Erfordernisse der heutigen Zeit ... geführt und gesteuert« zu haben. Siehe: »In der
Führung unserer Partei - Unsere Kraft und Unüberwindlichkeit«, Roter Stern, 17. April
1964. Es ist interessant, daß, obgleich Malinowskis Artikel Chruschtschow positiv behan-
delt, er etwas zurückhaltender ist als ein gleichzeitiger Artikel eines anderen hohen Mili-
tärführers, Marschall Gretschkos, Kommandeur der Streitkräfte des Warschauer Paktes.
120 Kapitel VIII
Gretschko unterstrich Chruschtschows persönliche Rolle bei der Ausführung »der radikalen
Umformungen in der Organisation unserer Streitkräfte« und bei der »Ausarbeitung der
modernen Militärdoktrin unseres Staates«. Siehe »Der mächtige Hüter des Friedens«,
Iswestija, 17. April 1964. Man sollte nicht zuviel in die unterschiedlichen Würdigungen
von Chruschtschows Rolle seitens dieser bei den Militärführer hineinlesen. Wenn man je-
doch von den erwähnten Artikeln ausgeht, so schien Malinowski etwas mehr als Gretschko
daran interessiert, anzudeuten, daß die verteidigungspolitischen Entscheidungen auf hoher
Ebene eher nach Beratung des Parteipräsidiums mit Militär als auf Grund Chruschtschows
persönlicher Initiative und militärischer Sachkenntnis gefällt wurden.
54 »Kunst triumphiert«, Iswestija, 26. Dezember 1963.
Kapitel IX
Die Architekten der sowjetischen strategischen Politik sehen sich einer Aufgabe
gegenüber, die nicht grundsätzlich unähnlich der ist, vor die in der Welt von heute
die Führung jeder Großmacht gestellt ist. Erstens müssen sie entscheiden, welche im
Bereich des dem Lande Möglichen liegende strategische Haltung am besten den Aus-
bruch eines nuklearen Krieges verhindern und die politische Strategie des Landes
allgemein fördern kann. Zweitens müssen sie überlegen, wie das Land einen Krieg
- sollte es zu einem solchen kommen - führen könnte, und welche Kräfte und
Maßnahmen für diesen Zweck notwendig sein würden.
Die Sowjets haben von sich aus - um sich zu orientieren und um der Vielzahl der
nötigen praktischen Entscheidungen eine theoretische Grundlage zu geben - dazu
geneigt, besonderen Nachdruck auf die Entwicklung einer einheitlichen Doktrin
über Probleme des Krieges und der Strategie zu legen. Wie schon in dem voran-
gehenden Kapitel angedeutet wurde, hat die Formulierung der sowjetischen Militär-
doktrin gewisse wichtige Folgen für die Beziehungen zwischen dem politischen und
dem militärischen Bereich innerhalb der Sowjetunion. Aber abgesehen davon hat sie
in den Augen der Sowjets einen ursprünglichen Eigenwert »von großer technischer
und geistiger Bedeutung« 1. Diese Doktrin macht die harmonische Verschmelzung
von marxistisch-leninistischer Theorie, Politik, militär-technischen Faktoren und
anderen überlegungen nötig. Wenngleich man durchaus in Frage stellen kann, ob
eine glückliche Verbindung dieser Teile jemals tatsächlich erreicht werden wird, und
ob die dabei herauskommende Doktrin notwendig die sowjetische Entscheidungs-
bildung in einem bedeutsamen Maß bestimmen wird, falls praktische Faktoren ein-
mal auf die Situation einwirken, scheint nichtsdestoweniger eine dogmatische Unter-
mauerung wichtig zu sein für die Evolution der sowjetischen strategischen Politik.
Zu den dogmatischen Fragen, die nach sowjetischer Ansicht von grundsätzlicher
Bedeutung sind, gehört das Problem der richtigen theoretischen Analyse des Wesens
eines künftigen Krieges. Malinowski drückte das einmal so aus:
Die sowjetische Militärdoktrin, die sich auf die Politik unserer Partei gründet und ihre
Hauptempfehlungen auf die Schlußfolgerungen der Militärwissenschaft stützt, hilft uns,
tief in das Wesen eines nuklearen Krieges und seiner Anfangsphase einzudringen, hilft uns,
die zweckmäßigsten Operationsmöglichkeiten darin festzustellen, und weist den Weg für die
Entwicklung und Vorbereitung unserer Streitkräfte 2.
Nur von dem Ausgangspunkt einer derartigen dogmatischen Analyse aus können, so
nehmen die Sowjets an, geeignete Politiken zur Vorbereitung der Streitkräfte und
des Landes auf die etwaige Möglichkeit eines Krieges entwidtelt werden. Wie die
beiden Sokolowski-Ausgaben und weiteres Sowjetschrifttum zu dem Thema zeigen,
unterstellt heute die sowjetische Militärstrategie die theoretische Möglichkeit von
drei Arten von Kriegen - dem allgemeinen Weltkrieg, imperialistischen Kriegen
und nationalen Befreiungskriegen 8. Im sowjetischen Militärschrifttum und im all-
gemeinen Gespräch über die Frage des Krieges liegt weiterhin der Schwerpunkt
der Aufmerksamkeit auf der ersten Kategorie, dem Weltkrieg, obwohl es gegen-
wärtig einige interessante Gewidltsverschiebungen hinsichtlich der letzten zwei
Kategorien gibt, die wir behandeln werden, sobald wir die Frage des begrenzten
Krieges besprechen.
Im Hinblidt auf das Wesen eines zukünftigen Krieges, in dem nach sowjetisdler Auf-
fassung das »imperialistische und das sozialistische Lager« einander gegenüber-
stehen würden, gibt es bei den sowjetischen Militärtheoretikern einen großen Bereidl
der übereinstimmung. Gleichzeitig gibt es einige bedeutsame Meinungsversdlieden-
heiten, die anscheinend ungelöst bleiben. Diese betreffen zum Teil das Wesen eines
möglidlen zukünftigen Krieges, insbesondere die Frage der Kriegsdauer, doch im
großen und ganzen konzentrieren sie sich mehr auf die Methoden und Erforder-
nisse der Kriegführung, und auf die unterschiedlichen Kriterien für Absdlreckungs-
kräfte während des Friedens einerseits und für solche Streitkräfte, die für den Ein-
satz im Rahmen eines Krieges nötig sind. In den folgenden Kapiteln sollen unter-
schiedliche sowjetische Auffassungen zu diesen Fragen untersucht werden.
Krieges, um »den Feind sdmell, mit einem Minimum an Verlusten, zu smlagen« und
»Fehler zu vermeiden«, die zu »nimt wieder gutzumachenden Konsequenzen« führen
könnten, siehe Oberst V. Konoplew, ,.über wissenschaftlime Voraussicht in militärischen
Angelegenheiten. Der Kommunist in den bewaffneten Kräften, Nr. 24, Dezember 1963,
S. 28-29. Siehe auch den Leitartikel »Alles Neue und Fortschrittlime in der militä-
rismen Vorbereitung«, ibid., Nr. 2, Januar 1963, S. 3-4.
3 Militär-Strategie, S. 263; Soviet Military Strategy, S. 282-283. Im sowjetischen Spram-
gebraum befinden sich gemeinhin beide, der "imperialistische Krieg« und der »nationale
Befreiungskrieg« in der Kategorie der kleinen Kriege. Der Unterschied zwismen den bei-
den ist hauptsämlim einer der politismen Definition, d. h., ein »imperialistischer Krieg«
ist ein von einer imperialistischen Mamt gegen ein Kolonialland geführter »ungerechter«
Krieg, wohingegen ein »nationaler Befreiungskrieg« ein »gerechter« Krieg in umgekehr-
ter Richtung ist. Die gegenwärtige Sowjetdoktrin räumt die vage Möglimkeit von Kriegen
zwischen imperialistischen Mämten ein, smeint aber keinen Platz für Kriege zwismen
»nicht-imperialistischen« Ländern zu haben. Siehe aum Chrusmtsmows Rede am 6. Ja-
nuar 1961 zur 81-Parteien-Konferenz in Moskau, Prawda, 25. Januar 1961; General-
oberst N. A. Lomow, Sowjetische Militärdoktrin Isdatelstwo »2NANIE«, Moskau
1963, S. 21.
Wesen und Wahrscheinlichkeit des Krieges 123
würde, in dem erstmals in der Geschichte eine Gruppe von sozialistischen Staaten
auf der einen Seite zusammengeschlossen sind; und daß er um unbegrenzter Ziele
willen ausgefochten werden würde, nämlich das Fortbestehen des einen Systems
oder des anderen. Es wird auch die Möglichkeit erkannt, daß sich einige nichtkom-
munistische Länder im Verlauf des Krieges auf seiten des Sowjetblocks einreihen
könnten ". Weiter ist es ein unbestrittenes Merkmal eines künftigen Krieges, daß
er außerordentlich zerstörend sein würde, weil darin nukleare Angriffe nicht nur
gegen militärische Ziele geführt werden würden, sondern ebenso gegen Industrie-,
Bevölkerungs- und Kommunikationszentren. Die Vorstellung, man könnte Maß-
nahmen ergreifen, die die Zerstörungswut eines nuklearen Krieges - sollte er sich
ereignen - begrenzen würden, findet keine öffentliche Unterstützung unter sowje-
tischen Militärtheoretikern oder politischen Sprechern, und die gegenwärtige sowje-
tische Doktrin bleibt abweisend gegenüber solchen Konzeptionen wie dem kontrol-
lierten Gegenschlag oder der beschränkten nuklearen Zielplanung. Zusätzlich zu
diesen Merkmalen eines künftigen Krieges ist das sowjetische Denken einmütig
hinsichtlich der besonderen Bedeutung der Anfangsphase des Krieges, die nach all-
gemeiner sowjetischer Ansicht einen entscheidenden Einfluß auf sowohl den Verlauf
wie das Ergebnis des Krieges haben kann 5.
Detaillierte Darstellungen der verschiedenen Möglichkeiten des Verlaufs eines zu-
künftigen Weltkrieges fehlen in der sowjetischen Militärliteratur, obwohl dem
Thema im allgemeinen große Aufmerksamkeit geschenkt und der »gründlichen
wissenschaftlichen Analyse« des Wesens eines Krieges besondere Wichtigkeit bei-
gemessen wird. Das kann zum Teil an den vielen nicht vorhersagbaren Faktoren
liegen, die die sowjetische Strategie für einen allgemeinen Krieg beeinflussen könn-
ten, wie auch an einer Abneigung, Einzelheiten zu diskutieren, die sowjetische
Kriegspläne berühren .. Gleichwohl kann man nach der offen zugänglichen Literatur
die typische sowjetische Vorstellung von einem zukünftigen Weltkrieg etwa nach
den folgenden Grundsätzen rekonstruieren.
In Hinblick auf die Umstände eines Kriegsausbruchs bleibt es die von den Sowjets
am meisten bevorzugte Ansicht, daß ein künftiger Krieg wahrscheinlich während
einer Krisenperiode mit einem nuklearen überraschungsangriff auf die Sowjetunion
beginnen würde. Die Eskalation eines lokalen Krieges ist nach sowjetischer Meinung
4 Militär-Strategie, S. 268; Soviet Military Strategy, S. 287.
5 Für eine Behandlung der hier erwähnten allgemeinen Züge eines zukünftigen Weltkrie-
ges durch maßgebliche sowjetische Quellen siehe: Soviet Military Strategy, 298-315; Mili-
tär-Strategie, S. 276-296; Generaloberst N. A. Lomow, »Die neue Waffe und der Cha-
rakter des Krieges«, Roter Stern, 7. Januar 1964; Marschall P. Rotmistrow, »Die Ursachen
moderner Kriege und ihre Charakteristiken«, Der Kommunist in den bewaffneten Kräf-
ten, Nr. 2, Januar 1963, S. 29-32; Generaloberst S. Shtemenko, "Der wissenschaftlich-
technische Fortschritt und sein Einfluß auf die Entwicklung militärischer Angelegenhei-
ten«, lbid., Nr. 3, Februar 1963, S. 26-28; Konoplew, ibid., Nr. 24, Dezember 1963,
S. 28-34; Oberst P. Derewianko, »Einige Züge der gegenwärtigen Umwälzungen in mi-
litärischen Angelegenheiten«, ibid., Nr. 1, Januar 1964, S. 17-25; Generalmajor N.
Suschko und Major T. Kondratkow, »Krieg und Politik im Atomzeitalter«, ibid., Nr. 2,
Januar 1964, S. 15-23; Generalleutnant N. A. Sbytow, »Das Wesen und die Gesetze
eines mit Kern- und Raketenwaffen ausgefochtenen nuklearen Krieges«, Marine-Zeit-
schrift, Nr. 3, März 1964, S. 9-16.
124 Kapitel IX
eine weitere Möglidtkeit, wie audt ein zufälliger Krieg, oder der Krieg als Folge
von Fehleinschätzungen 8. Bezüglidt des zu erwartenden Laufs der Entwiddungen
unmittelbar beim Ausbrudt eines Krieges ist das sowjetisdte Sdtrifttum versdtwom-
men, obwohl es anerkennt, daß ein Krieg, der mit einem überrasdtungsangriff be-
ginnt, und einer, der sidt aus einem lokalen Konflikt ergibt, sehr versdtiedene
Folgen haben 7. Die Fragen der Warnung und der Vorwegnahme tragen audt dazu
bei, das Bild an dieser Stelle zu umnebeln.
Hinsidttlidt der Warnung sind die sowjetisdten Ansidtten geteilt. Während der spä-
ten fünfziger Jahre herrsdtte die Ansidtt vor, daß die Sowjetunion, da ein Krieg
wahrsdteinlich nadt einer Krisenperiode kommen würde, damit eine ausreidtende
strategische Warnung bekommen sollte, um Vorbereitungen zur Bekämpfung eines
Angriffs zu treffen. In den letzten paar Jahren ist die Gültigkeit dieser Annahme
in Frage gestellt worden, und es gibt zumindest eine Denkridttung, derzufolge ein
Aggressor versuchen könnte, aus heiterem Himmel und ohne vorhergehende Krise
einen Angriff zu führen, was - sieht man einen dauernd hohen Bereitsdtafts-
zustand der strategischen Trägerwaffen als gegeben an - einen Kriegsausbrudt
ohne Anzeidten einer Mobilmachung und anderer herkömmlicher Vorbereitungen
bedeuten könnte 8. Andererseits existiert, wie es scheint, in einigen sowjetischen
Kreisen die wachsende überzeugung, daß die modernen Warnsysteme zuzüglich der
anderen Faktoren, die im Kapitel V diskutiert wurden, das westliche Vertrauen
in die Durdtführbarkeit eines erfolgreidten überraschungsangriffs verringert und
daher die Gefahr eines Kriegsausbruchs dieser Art gesenkt hätten 9.
Was die Vorwegnahme anbetrifft, so ist die Zwiespältigkeit der sowjetischen Ein-
stellung zu dieser Frage auch schon früher diskutiert worden. In Anbetracht sowjeti-
scher Außerungen über die ernsten Folgen eines nuklearen ersten Schlages, von dem
6 In der zweiten Ausgabe enthielt eine neue Beschreibung der verschiedenen technischen
und befehlsmäßigen Fehler, die einen Krieg auslösen könnten, auch die Behauptung, daß
der Kommandeur des SAC (das strategische Bomberkommando der USA), General Tho-
mas Power, seinen Bombern im November 1961 auf Grund falscher Radarsignale und
ohne präsidentielle Ermächtigung befohlen habe, gegen die Sowjetunion zu starten. Mili-
tär-Strategie, S. 401.
7 Ibid., S. 417.
8 Siehe Oberst S. Lipitski, »Die Unternehmungen eines Aggressors in dem Zeitraum, in
dem Krieg droht«, Journal für Militärgeschichte, Nr. 8, August 1963, S. 11-24. Nach-
dem er das Für und Wider eines Oberraschungsangriffs, der ohne einleitende Krise und
warnende Hinweise erfolgt, besprochen hatte, folgerte Lipitski in dieser Diskussion, daß
man einer Warnung nicht sicher sein könne, und daß deshalb die sowjetischen Streitkräfte
in höchster Aktionsbereitschaft sein müßten, »und zwar nicht innerhalb von Tagen und
Wochen, sondern von Minuten und Sekunden«. Er kommentierte außerdem die Notwen-
digkeit, in Krisenzeiten Gefechtsköpfe an die Raketen- und Luftstützpunkte zu bringen,
was einen »normalen« sowjetischen Bereitschaftszustand vermuten läßt, der weniger hoch
ist, als nötig wäre, um in »Minuten und Sekunden« zu reagieren.
9 Die Sokolowski-Autoren gehören zu jenen, die dazu geneigt haben, ihre Ansichten über
die westliche Bereitschaft, einen Angriff ohne Warnung einzuleiten, abzuschwächen. In
dieser Hinsicht hat die zweite Ausgabe einen Absatz der ersten Ausgabe ausgelassen,
der besagte, die Imperialisten seien heute auf Grund der weiten Streuung und hohen
Kampfbereitschaft ihrer Streitkräfte in einer viel besseren Position, einen Oberraschungs-
schlag gegen die Sowjetunion zu führen, als Hitler es gewesen ist. Siehe Soviet Military
Strategy, S. 397.
Wesen und Wahrscheinlichkeit des Krieges 125
einige sowjetische Fachleute gesagt haben, er könne ihr Land »in eine außer-
gewöhnlich schwierige Lage« bringen und sogar »zur Niederlage führen« 10, ist
man vielleicht berechtigt anzunehmen, daß der sowjetische Entwurf für die
Anfangsphase eines zukünftigen Krieges auch die Bemühung enthält, jeden ersten
nuklearen Angriff, den die andere Seite durchzuführen versucht, vorwegzunehmen
und zu vereiteln. Das war sicherlich die eigentliche Bedeutung der Argumente eines
sowjetischen Militärautoren vom Jahre 1963 gegen die Vorstellung, man könnte sich
eine strategisch defensive Haltung in der Anfangsphase eines modernen Krieges
zu eigen machen. Er sagte von einer derartigen Vorstellung, sie bedeute »sich selbst
von vornherein zu unwiederbringlichen Verlusten und zur Niederlage zu ver-
dammen« 11.
Welcher Art auch immer die Ausbruchsumstände tatsächlich sein werden, immerhin
würde nach sowjetischer Ansicht ein zukünftiger Krieg »nicht nur in den ersten
Tagen, sondern sogar in den ersten Minuten des Krieges« mit einem nuklearen
Schußwechsel verbunden sein 12. Es wird angenommen, daß die meisten der be-
stehenden strategischen Streitkräfte in der Anfangsphase des Krieges verbraucht
sein werden 13, was schwere gegenseitige Zerstörungen mit sich bringen, jedoch
wahrscheinlich nicht - zumindest nicht nach der am häufigsten geäußerten sowjeti-
schen Auffassung - der Kampffähigkeit der Hauptgegner dann und dort ein Ende
setzen würde. Obwohl die sowjetische Vorstellung von dem entscheidenden Charak-
ter der Anfangsphase die Möglichkeit zuläßt, daß der Krieg zu einem plötzlichen
und abruptem Schluß kommt, geht die allgemeine Tendenz dahin, sich auf diesen
Punkt nicht festzulegen und daher anzunehmen, der Krieg könnte jetzt in eine
zweite Phase übergehen. Die Mehrheit der sowjetischen Militärautoren gibt zu ver-
stehen, daß nach der Anfangsrunde der strategischen Angriffe Kampfhandlungen
auf Kriegsschauplätzen in Europa und anderswo zu Land, zu Wasser und in der
Luft folgen würden. Diese würden sowohl mit nuklearen wie mit konventionellen
Waffen ausgefochten werden, und ihre Heftigkeit würde zwischen unerbittlich aus-
gefochtenen Schlachten unter Einbeziehung starker Streitkräfte mit kombinierten
Waffen einerseits und Säuberungsaktionen andererseits variieren 14. In der sowjeti-
schen Literatur wird die schnelle Besetzung Europas und seine Isolierung von ameri-
kanischer Unterstützung durch sowjetische Operationen gegen die Vereinigten Staa-
ten und die Luftverbindungen zwischen diesen und Europa als eine der strategischen
Hauptaufgaben angesehen, die bei diesen Kampfhandlungen erreicht werden müs-
10 Rotmistrow in Der Kommunist in den bewaffneten Kräften, Nr. 2, Januar 1964, S. 30.
Siehe auch Malinowskis Rede beim 22. Kongreß der KPdSU, 21. Oktober 1961, Prawda,
25. Oktober 1961; Soviet Military Strategy, S. 308; Militär-Strategie, S. 288.
11 Major D. Kasakow, ,.Die theoretische und methodologische Grundlage der sowjetischen
Militärwissenschaft«, Der Kommunist der bewaffneten Kräfte, Nr. 10, Mai 1963, S. 11.
Siehe auch Konoplew in ibid., Nr. 24, Dezember 1963, S. 28.
I! Chruschtschows Rede an eine Sitzung des Obersten Sowjets der UdSSR, 14. Januar 1960,
Prawda, 15. Januar 1960. Siehe auch Lomow in Roter Stern, 7. Januar 1964, und Dere-
wianko in Der Kommunist in den bewaffneten Kräften, Nr. 1, Januar 1964, S. 20.
18 Shtemenko in Der Kommunist in den bewaffneten Kräften, Nr. 3, Februar 1963, S. 27.
l' Soviet Military Strategy, S. 302, 305-306; Generalmajor W. Resnitschenko und Oberst
A. Sidorenko, "Die Revolution im Kriegswesen«, Roter Stern, 12. Februar 1964, auszugs-
weise in Wehrkunde, München, Nr. 4/1964, S. 225 f.
126 Kapitel IX
rasdtungsangriff auf den Sowjetblock vor, solange eine ständige Stütze der sowjeti-
sdten Außen- und Innenpolitik gewesen, daß, obgleich die Ansdtuldigungen mit den
unmittelbaren Erfordernissen einer Situation zu- und abnehmen können, sie auf-
gehört haben, viel Lidtt darauf zu werfen, wie die Sowjetunion die Aussichten auf
einen großen militärisdten Zusammenstoß zwischen Ost und West einschätzt.
Die Frage der Kriegsgefahr hat außerdem gewisse umstrittene Begleiterscheinungen
in der internen sowjetisdten Politik. Je realer die Gefahr ausgemalt werden kann,
desto stärker ist die Sache jener, die es für notwendig halten, daß mehr Ressourcen
dem Verteidigungshaushalt zugeführt 'werden - ein Punkt, in dem, wie wir sdton
angedeutet haben, Chruschtschow und das Militär nicht immer übereingestimmt
haben. Die Frage ist audt auf eine sehr komplizierte Weise mit der Auseinanderset-
zung zwischen Moskau und den chinesischen Kommunisten verstrickt. Die sowjeti-
sdte taktisdte Stellung bei der Auseinandersetzung erfordert sowohl die Bagatelli-
sierung als audt die Akzentuierung der Frage der Kriegsgefahr, je nadt dem Zu-
sammenhang, in dem darüber argumentiert wird. Auf der einen Seite müssen die
sowjetisdten Führer die Gefahr untertreiben, wenn sie sich nämlich gegen die
dtinesischen Vorwürfe verteidigen, daß sie die Verteidigung des kommunistischen
Lagers gegen räuberische imperialistische Anschläge vernachlässigten. Andererseits
sind die Sowjets gezwungen, das Gespenst eines Krieges und seine zerstörerischen
Folgen zu besdtwören, wenn sie geltend machen, daß gewagte chinesische Politiken
einen kapitalistischen Angriff herausfordern könnten.
Im gegenwärtigen sowjetischen Gespräch ist weiterhin eine unklare Haltung zur
Wahrscheinlidtkeit eines Krieges offensichtlich. Der allgemeine Ton ist der - über-
einstimmend mit Bemühungen, eine Atmosphäre der Entspannung in den Ost-West-
Beziehungen zu fördern -, daß die Gefahr eines Krieges sidt etwas vermindert hat,
Dank im wesentlichen dem Respekt im »imperialistischen Lager« vor der sowjeti-
sdten Militärmadtt. Obwohl es somit eine gewisse Tendenz gegeben hat, die frühere
Betonung der wadtsenden Kriegsgefahr abzuschwächen 19, taucht die Frage insbe-
sondere im Militärschrifttum mit der Hartnäckigkeit eines wohlerlernten Reflexes
noch immer auf. Die revidierte Ausgabe des Sokolowski-Buches weist beide Tenden-
zen auf. Da sie ihre neue Ausgabe zu einer Zeit vorbereiteten, als die allgemeine
sowjetische Politik in Hinblick auf eine begrenzte Entspannung mit dem Westen ge-
staltet wurde, scheinen die Sokolowski-Autoren nach einer etwas gemäßigten For-
mel über die Wahrscheinlichkeit eines Krieges in unserer Zeit gesucht zu haben. So
wurde eine Behauptung, in der es zuvor hieß »in der letzten Zeit (in den sechziger
Jahren) ist die Gefahr des Ausbruchs eines Weltkrieges besonders groß gewor-
den« 20, in dem revidierten Text dahingehend geändert, daß er lautete: »... ist...
größer geworden« 21.
19 Die sowjetische Propaganda über die wachsende Kriegsgefahr hatte sich seit der Verkün-
dung des neuen Paneiprogramms im Sommer 1961 fonlaufend bis zum Hervortreten des
Entspannungsgeistes im Jahre 1963 spürbar erhöht. Siehe Soviet Military Strategy, S. 42,
286,312.
28 Soviet Military Strategy, S. 286.
21 Militär-Strategie, S. 267.
128 Kapitel IX
Die verhältnismäßig magere Behandlung der Frage des Führens begrenzter Kriege
im sowjetischen Militärschrifttum steht in auffälligem Gegensatz zu der Aufmerk-
samkeit, die einem allgemeinen nuklearen Krieg geschenkt wird. In einem Sinne
spiegelt die Elaboration einer umfangreichen Doktrin über das Wesen und die Füh-
rung eines allgemeinen Krieges vielleicht die Sorge der Sowjets vor jener Eventuali-
tät wider, die sie am meisten fürchten. In einem anderen Sinne dient die dogmati-
sche Vorstellung der Sowjets von einem solchen Krieg - die seinen heftigen globa-
len Charakter betont und jeden Gedanken an eine Begrenzung seines Umfangs und
seiner Zerstörungskraft ablehnt, sobald der Krieg einmal begonnen hat - zweifel-
los in dem strategischen Gespräch einem Abschreckungszweck, indem nämlich diese
Vorstellung eine unbedingte und automatische sowjetische Nuklearreaktion bei
jeder kriegerischen Auseinandersetzung zwischen den Atommächten auf strategi-
scher Ebene vermuten läßt. In ähnlicher Weise ist die sowjetische Doktrin in Hin-
blick auf die Frage der Verkettung zwischen kleinen Kriegen und einem globalen
Krieg von einem ziemlich hohen Maß an Starrheit gekennzeichnet. Diese Starrheit
wird durch die oft wiederholte Eskalationsformel veranschaulicht, derzufolge sich
jeder bewaffnete Konflikt »zwangsläufig zu einem allgemeinen Krieg entwickeln
wird, wenn die Atommächte in ihn hineingezogen werden« 1.
Diese Einstellung zur Eskalationsträchtigkeit lokaler Kriege enthält anscheinend
sowohl eine sowjetische Sorge als auch eine sowjetische politische List, die den
Westen von der Anwendung militärischer Machtmittel gegen »nationale Befreiungs-
bewegungen« abhalten soll. Es hat sich während etwa des letzten Jahrzehnts eine
erhebliche Menge sowjetischen Schrifttums angesammelt, das nicht die sowjetischen
Ansichten darüber behandelt, wie begrenzte Kriege zu führen wären, sondern viel-
mehr die Möglichkeit, unter modernen Bedingungen einen Krieg zu lokalisieren,
herabsetzt und geringschätzt 2.
Heute allerdings gibt es einige Anzeidten, die darauf hindeuten, daß die sowjeti-
sdte dogmatisdte Einstellung in Hinblick auf lokale und begrenzte Kriege eine
Wandlung durchmadten könnte. Zwar gibt es nodt immer viele Unklarheiten und
innere Widersprüdte in der sowjetisdten Behandlung dieser Materie, und in keiner
Weise ist bisher eine vereinheitlidtte Doktrin des begrenzten Krieges im offen zu-
gänglidten Sdtrifttum aufgetaudtt, die auf die Sowjetstreitkräfte Anwendung fin-
det. Gleidtwohl wird der Möglidtkeit lokaler Kriege mehr Beadttung gesdtenkt,
und es sdteint einige Hinweise auf eine geringere Starrheit gegenüber der Frage der
Eskalation in Gebieten lokaler Auseinandersetzungen zu geben. Diese Tendenzen
sind im Militärsdtrifttum etwas deutlidter als in den Äußerungen politisdter Spre-
dter, die bei Gelegenheit - wie etwa in Chrusdttsdtows Neujahrsbotsdtaft an die
Staatsoberhäupter vom Januar 1964 - weiterhin die Gefahr der Eskalation her-
ausstreichen 3.
Man sollte diese Diskussion der jüngsten Anzeidten eines Wandels in der sowjeti-
sdten dogmatisdten Einstellung zum begrenzten Krieg mit der Klarstellung ein-
leiten, daß das sowjetische Schrifttum vorwiegend nodt immer die Gefahr betont,
kleine Kriege könnten sidt zu einem allgemeinen Krieg ausweiten. Die revidierte
Sokolowski-Ausgabe bietet ein treffendes Beispiel. Obwohl sie der Möglichkeit
lokaler Kriege erhöhte Anerkennung zollte, lieferte sie doch wenig Anlaß für die
Annahme, daß kleine Kriege in Grenzen gehalten werden könnten. So war zum
Beispiel ein erweiterter Abschnitt dieses Buches, der westlidte Theorien über den be-
grenzten Krieg behandelte, weitgehend der Entkräftung solcher Punkte gewidmet,
auf denen die westliche Doktrin des begrenzten Krieges angeblich basiert. In diesem
Abschnitt, der sich übrigens eng an die Behandlung dieser Materie durch General
A. Newski in dem schon erwähnten Artikel der World Marxist Review 4 anlehnte,
behaupteten die Sokolowski-Autoren, daß in kleinen Kriegen - trotz der Behaup-
tung ihres bescheidenen Ranges - die politischen und strategischen Ziele der USA
nicht begrenzt seien; daß die Festsetzung geographischer Grenzen bei lokalen Krie-
gen durch das westliche Bündnissystem »kompliziert« werde; daß eine Unterschei-
dung zwischen taktischen und strategischen Zielen unzweckmäßig sei; und daß
nukleare Waffen, wenn sie einmal eingesetzt seien, nicht auf taktische Gattungen
oder nach ihrer Sprengwirkung beschränkt werden könnten 5. Die Sokolowski-
Autoren verknüpften auch die westlichen Theorien über den begrenzten Krieg mit
der amerikanischen Strategie der »flexiblen Reaktion« (flexible response) und mein-
ten, das sei ein »abenteuerlicher« Versuch amerikanischer Theoretiker, einen siche-
ren Weg zu ergründen, »um den Krieg auf fremdem Territorium zu führen« 6.
Es war das Bestreben dieses neuen Abschnitts, zu erklären, daß »die Vorstellung
vom begrenzten Krieg viele Widersprüche enthält«, und daß die Gefahr der Eskala-
tion zum allgemeinen nuklearen Krieg sehr groß bleibt, insbesondere wenn taktische
Kernwaffen gebraucht würden, die unvorhersehbare »politische, militärische und
psychologische Folgen« mit sich bringen würden 7. Auch frühere Hinweise auf die
Eskalationsgefahr wurden in der revidierten Ausgabe beibehalten, darunter eine
Behauptung, daß »ein aggressiver lokaler Krieg gegen ein nichtsozialistisches Land,
wenn dieser Konflikt die grundlegenden Interessen der sozialistischen Staaten be-
rührt«, zu den Fällen gehört, die »wahrscheinlich einen neuen Weltkrieg zur Folge«
haben 8.
Im Gegensatz zu dieser wiederholten Betonung der Aussichten der Eskalation ent-
hielt die neue Sokolowski-Ausgabe jedoch einige Erörterungen lokaler und be-
grenzter Kriege, die ein sowjetisches Interesse sowohl an militärischen Vorbereitun-
gen zur Führung solcher Kriege als auch an der Erhöhung der Schwelle vermuten
lassen, bei der lokale Konflikte nach der sowjetischen Doktrin möglicherweise zum
allgemeinen Atomkrieg eskalieren könnten. Die erste Feststellung, nämlich über die
Notwendigkeit, die Streitkräfte des Sowjetblocks für lokale Kriege vorzubereiten,
war schon in der ersten Sokolowski-Ausgabe getroffen worden 9. Sie wurde in der
neuen Auflage in zwei fast unveränderten Absätzen übernommen, davon der eine
hier wiedergegeben sei:
Gleichzeitig mit der Vorbereitung auf den Entscheidungskampf mit dem Aggressor im Ver-
lauf eines Weltkrieges müssen die Streitkräfte der sozialistischen Länder auf lokale Kriege
von geringerem Ausmaß vorbereitet sein, die von den Imperialisten möglicherweise entfes-
selt werden. Wie die Erfahrung zeigt, werden solche Kriege, die in der Nachkriegszeit ver-
schiedentlich zum Ausbruch kamen, mit anderen Mitteln und Methoden geführt als Welt-
kriege. Die sowjetische Militärstrategie hat daher die Aufgabe, auch solche Methoden der
Kriegführung zu untersuchen, um eine Ausweitung dieser. Kriege zu einem Weltkrieg zu
verhindern und einen raschen Sieg über den Gegner zu erringen 10.
8 Ibid., S. 128. Siehe auch S. 92, wo eine neuerliche Darlegung behauptet, daß die amerika-
nischen Theorien über den begrenzten Krieg ein Versuch seien, das amerikanische Volk
zu überzeugen, daß der Krieg »nicht so schrecklich« sei, und daß sogar Kriege mit Atom-
waffen »normalisiert« werden könnten.
7 Ibid., S. 127.
8 Ibid., S. 267; Soviet Military Strategy, S. 286-287.
9 Es muß darauf hingewiesen werden, daß in der sowjetischen Militärliteratur einzelne Er-
klärungen über die Notwendigkeit, das Problem der lokalen Kriege zu beachten, der
ersten Sokolowski-Ausgabe vom Jahre 1962 vorausgingen. Siehe, zum Beispiel, Mark-
sism-Leninism 0 Vojine i Armi (Marxismus-Leninismus über Krieg und die Armee),
Voenizdat Ministerstva Oborony SSSR, Moskau 1956, S. 145; Oberst I. S. Bas', »Die So-
wjetische Militärwissenschaft über den Charakter des modernen Krieges«, Militär Herold,
Nr. 6, Juni 1958, S. 24; Oberst S. Koslow, »Der schöpferische Charakter der sowjetischen
Militärwissenschaft«, Der Kommunist in den bewaffneten Kräften, Nr. 11, Juni 1961,
S.55.
10 Militär-Strategie, S. 269, siehe auch S. 355. Soviet Military Strategy, S. 288, 356. Andere
sowjetische militärische Erörterungen in der Zeit zwischen den beiden Sokolowski-Auf-
lagen wiesen gleichermaßen darauf hin, daß es für die sowjetische Militärdoktrin und
132 Kapitel X
Eine noch bestimmtere ltußerung über das dringende Bedürfnis der Sowjetstreit-
kräfte, darauf vorbereitet zu sein, einen konventionellen sowie lokalen Krieg zu
führen, während Kernwaffen zum sofortigen Einsatz bereitgehalten werden für
den Fall, daß der Gegner sie anwenden sollte, kam in einer sowjetischen Militär-
zeitschrift im Mai 1963 vor, also in dem Zeitraum zwischen den beiden Sokolowski-
Ausgaben. Der Autor des Artikels, der Major D. Kasakow, sprach zunächst von der
Wahrscheinlichkeit, daß die IOImperialistenc einen zukünftigen Krieg mit einem
nuklearen Oberraschungsangriff beginnen würden. Dann wandte er sich der Mög-
lichkeit, die Sowjetunion könnte zunächst mit einem lokalen Krieg konfrontiert
werden, zu und sagte:
Man sollte die Tatsache nicht aus den Augen verlieren, daß die Imperialisten, die einen
zwangsläufigen Gegenschlag unter Verwendung von Kern- und Raketenwaffen fürchten,
auf die eine oder andere Weise einen Krieg gegen uns beginnen könnten, ohne daß sie Kern-
waffen einsetzen. Daraus folgt der praktische -Schluß - unsere Streitkräfte müssen darauf
vorbereitet sein, eine geeignete Abfuhr auch mit konventionellen Mitteln zu erteilen, wäh-
rend Kern- und Raketenwaffen in einem Zustand höchster Bereitschaft gehalten werden 11.
Diese Erklärung deutet auf eine ziemlich hoch angesetzte Eskalationsschwelle hin,
jedenfalls bis zu dem Punkt, an dem Kernwaffen eingesetzt werden könnten.
Ebenso scheint ein neuer Passus in der revidierten Sokolowski-Ausgabe die Eskala-
tionsschwelle im sowjetischen Denken für zumindest einige lokale Kriegssituationen
auf eine etwas höhere Ebene als zuvor zu rü<Xen. Der Passus ging mit der An-
deutung der Möglichkeit eines begrenzten Krieges, der auf breiter Grundlage unter
Landkriegsschauplatzbedingungen geführt wird, über alles in der ersten Ausgabe
Gesagte hinaus. Mitten in eine Erörterung strategischer Kriegshandlungen während
eines Weltkrieges eingefügt, brachte er eine Beschreibung lokaler Kriege mit den
folgenden Worten:
In einem lokalen Kriege können sich die Ereignisse anders entwickeln. In einem solchen
Krieg werden die Kampfhandlungen in erster Linie auf Land- und Seekriegsschauplätzen
stattfinden. Objekte dieser Kampfhandlungen sind die Streitkräfte, obwohl Versuche, mit
den Luftstreitkräften Schläge auch gegen Objekte im Hinterland zu führen, nicht aus-
geschlossen sind. Auf den Landkriegsschauplätzen werden Angriffs- und Verteidigungs-
operationen der Land- und Luftstreitkräfte durchgeführt. Die Gefechtshandlungen werden
beweglich sein, und zwar in stärkerem Maße als im vergangenen Kriege, weil sich sowohl
die Landstreitkräfte auch als die Luftwaffe von Grund auf geändert haben 12.
-strategie notwendig sei, sich mit dem lokalen Kriege zu befassen. Ein Beispiel dafür war
das Aufwerfen dieser Frage auf der Konferenz über Militärdoktrin in Moskau, Mai 1963,
wo man bemerkte, daß »die Möglichkeit, lokale und begrenzte Kriege zu führen, nicht
ausgeschlossen werden kann«. Siehe Oberst L. Belusow, »Konferenz über sowjetische Mi-
litärdoktrin«, Journal für Militärgeschichte, Nr. 10, Oktober 1963, S. 123. In einem be-
merkenswerten Artikel von Oberst I. Korotkow im April 1964 wird ausdrücklich an-
erkannt, daß die sowjetische Militärtheorie in der Vergangenheit »dem Studium begrenz-
ter (lokaler) Kriege zu wenig Aufmerksamkeit gewidmet hat«. Korotkow äußerte, daß
»erst vor kurzem mit der Behebung dieses Mangels begonnen wurde«. Siehe: »Die Ent-
wicklung der sowjetischen Militärtheorie in den Nachkriegsjahren«, Journal für Militär-
geschichte, Nr. 4, April 1964, S. 48.
11 »Die theoretische und methodologische Grundlage der sowjetischen Militärwissenschaft«,
Der Kommunist in den bewaffneten Kräften, Nr. 10, Mai 1963, S. 11-12.
12 Militär-Strategie, S. 412.
Der begrenzte KTleg 133
13 1bid., S. 412-413.
14 lbid.
15 Generaloberst N. A. Lomow, Sowjetische Militärdoktrin, Isdatelstwo »2NANIE«,
Moskau 1963, S. 15.
16 »Historie Victory«, Moscow News, 11. Mai 1963.
17 Generalmajor I. Anurew, »Physik und neue Waffen«, Roter Stern, 21. November 1963.
General Anurew bemerkte ferner in diesem Artikel, daß die Sowjetunion »augenblick-
lich über eine große Auswahl an Kernwaffen verfügt, angefangen mit Gefechtsköpfen
geringer Detonationswirkung bis hin zu Bomben von mehr als 50 Megatonnen«.
134 Kapitel X
Derartige vereinzelte Andeutungen bedeuten nimt unbedingt, daß sim ein grund-
sätzlimer Wandel in der sowjetismen Einstellung zur Verwendung taktismer Kern-
waffen in einem lokalen Krieg ereignet hat. Die Tendenz geht nom immer dahin,
den Einsatz taktismer Kernwaffen in lokalen Kriegen als den Punkt herauszustel-
len, an dem die Eskalation wahrsmeinlim eintreten wird. Man beamte beispiels-
weise die lapidare Erklärung von Marsmall Malinowski im November des Jahres
1962: »Gleimgültig wo eine >taktisme< Atomwaffe gegen uns gebraumt werden
könnte, sie würde einen vernichtenden Gegensmlag auslösen.« 18 Gleichwohl ist es
möglim, daß andere Faktoren am Werk sind, die eine allmähliche 1\nderung der
sowjetismen Auffassung bewirken könnten. Die Möglichkeit, daß die sowjetischen
Bereitstellungen spaltbaren Materials für taktische Waffen in der Zukunft reimli-
cher sein können als bisher, und eine sowjetische überzeugung, daß auf der strategi-
smen Ebene die gegenseitige Abschreckung stabiler geworden ist, sind zwei derartige
Faktoren, die die herkömmliche sowjetische Einstellung zur Zweckmäßigkeit der
Anwendung taktischer Kernwaffen auf der Ebene des lokalen Krieges ändern
könnten.
Das vielleicht interessanteste Zeugnis für einen Versuch, die übliche sowjetische
dogmatische Haltung zum begrenzten Krieg und zur Eskalation neu zu definieren,
gibt ein Artikel von vier der Sokolowski-Autoren im Roten Stern vom 2. Novem-
ber 1963 ab. In diesem Artikel haben die Autoren sim ziemlich ungewöhnlich be-
müht, das Argument anzubringen, die sowjetische Doktrin predige nicht die »Un-
vermeidbarkeit« der Eskalation eines begrenzten Krieges zu einem allgemeinen
Krieg. Die Sokolowski-Autoren kritisierten die amerikanischen Herausgeber ihres
Buches und sagten, sie selbst hätten lediglich warnend festgestellt, daß sich ein loka-
ler Krieg »zu einem Weltkrieg ausweiten kann«. Sie zogen einige 70 begrenzte
Konflikte seit dem Zweiten Weltkrieg als Beweis dafür heran, daß eine Eskalation
nicht unvermeidlich war und klagten, die amerikanischen Herausgeber hätten be-
wußt einen wichtigen Vorbehalt in ihrem Buche ignoriert, der die Eskalation mit
der Beteiligung der Atommächte an lokalen Konflikten verknüpfe.
Tatsächlich wurde in dieser Anklage nur ein Strohmann aufgerichtet und dann zer-
rissen, denn die betreffenden amerikanischen Herausgeber hatten die einschlägige
Passage des Sokolowski-Bandes vollständig zitiert. Sie besagte:
Man muß betonen, daß das gegenwärtige internationale System und der gegenwärtige Stand
der Militärtechnologie es bewirken werden, daß sich jeder bewaffnete Konflikt zwangs-
läufig zu einem allgemeinen Krieg entwickeln wird, wenn die Atommächte in ihn hinein-
gezogen werden 19.
Um das Argument, das sie anbringen wollten, zu bekräftigen, nahmen die Soko-
lowski-Autoren dann in ihrem Artikel im Roten Stern zu dem eigenartigen Mittel,
sich selbst falsch zu zitieren, Zuflucht. Als sie den oben genannten Passus ihres Bu-
ches wiedergaben, ließen sie das Schlüsselwort »zwangsläufig« weg 20. Diese Aus-
18 Marschall R. Malinowski, Stets auf der Wacht für den Frieden, Voenizdat Ministerstva
Oborony SSSR, Moskau 1962, S. 39.
19 Dieser Absatz erscheint auf Seite 299 in Soviet Military Strategy. Das Zitat und der
Kommentar der Herausgeber sind auf S. 44.
20 Nebenbei bemerkt verbleibt das Wort »zwangsläufig« in demselben Absatz auch in der
zweiten Ausgabe. Siehe Militär-Strategie, S. 277.
DeT begTenzte KTieg 135
Die dogmatisme Position der Sowjets bezüglim begrenzter Kriege ist smon lange
durm die politisme Notwendigkeit des Namweises ersmwert worden, daß die
Sowjetunion ein energismer Förderer der sogenannten nationalen Befreiungskriege
ist. Obwohl sie einerseits geltend machen, daß lokale Kriege die Gefahr der Eskala-
tion mit sich bringen und deshalb vermieden werden sollten, haben sim sowjetisme
Politiker von Chrusmtsmow abwärts gleichwohl für die sowjetisme Unterstützung
»nationaler Befreiungskriege« verbürgt 21. Da sich diese Kriege in vieler Hinsimt
von lokalen Kriegen als nimt untersmeidbar erweisen können, hat diese versmwom-
mene Formel erheblime dogmatisme Verwirrung aufkommen lassen 22 und die
Sowjetunion in die ziemlim mißlime Lage gebramt, ein Verspremen gemamt zu
haben, dessen logisme Folge - gemäß ihrer eigenen Definition - die Ausweitung
eines lokalen Konflikts zu einem globalen Atomkrieg sein könnte.
Praktisch hat die Sowjetunion versumt, diesen Widersprum dadurm aufzulösen,
daß sie einen vorsimtigen Untersdtied mamt zwismen Kriegen zwismen Regierun-
gen (die nach Chrusmtsmows Definition »lokale« Kriege sind) 23, und nationalen
Befreiungskriegen, die man aum Kriege durm einen Bevollmämtigten nennen könn-
te. Die ersteren, die möglimerweise eine förmlime Konfrontation zwismen amerika-
nismen und sowjetismen Streitkräften zur Folge haben, sind gefährlim und sollten
wenn möglim vermieden werden, während die letzteren mit einem geringeren Risi-
ko betrieben werden können, nämlim durm die Gewährung moralismer Unter-
stützung und anderer Formen der Hilfeleistung für Guerillakräfte und bevoll-
mämtigte Kräfte. Im Limte der tatsämlimen Ereignisse hat es den Ansmein, daß
diese Formel etwas hinter den sowjetismen Erwartungen zurückbleiben kann, und
daß die Konkurrenz mit den Chinesen um den Einfluß auf nationale Befreiungs-
bewegungen die Sowjetunion zwingen könnte, ihre Haltung neu zu überdenken und
nam Wegen für eine wirkungsvollere Unterstützung nationaler Befreiungskriege
zu sumen 24.
Ein Hinweis darauf, daß dieses Problem hier die Frage nam dem Umfang und der
Art bewaffneter Unterstützung, die die Sowjetunion zu liefern bereit ist, einbezie-
hen kann, kann in dem bemerkenswert defensiven Ton gesehen werden, den sowje-
tisme Xußerungen zu dem Thema annehmen. Chrusmtsmows Bemerkungen in Mos-
kau gegenüber einer Gruppe von Verlegern aus Ghana, Algerien und Burma - an
dem Tage, an dem Tschu-En-Iai im Dezember des Jahres 1963 seinen Besuch in
Algier begann - sind ein treffendes Beispiel. Im Verlauf seiner Verteidigung des
sowjetischen Rufes gegen bestehende minesische Vorwürfe der nur zögernden und
unwirksamen Unterstützung nationaler Befreiungsbewegungen in Asien, Afrika
Lateinamerika versicherte Chruschtschow zum erstenmal definitiv, die Sowjet-
union habe »große Mengen an Waffen kostenlos den algerischen Patrioten« ge-
schickt 25. Zahlreiche Erklärungen, die sowohl die früheren sowjetischen Hilfelei-
stungen verteidigten, als auch für die Zukunft eine entschlossene sowjetische Unter-
stützung der nationalen Befreiungsbewegungen verbürgten, wurden häufig wäh-
rend der letzten Hälfte des Jahres 1963 und Anfang 1964 in anderen sowjetischen
Quellen und insbesondere in der sowjetischen Militärpresse ausgesprochen 26.
Es ist jedoch beachtenswert, daß der sowjetische Kommentar absichtlich ungenau
bezüglich der zentralen Frage geblieben ist, ob die Art materieller Unterstützung,
!4 Auf einen anderen Faktor, der in der größeren Aufmerksamkeit, die man den nationa-
len Befreiungskriegen widmet, enthalten sein kann, deutete der Suschko-Kondratkow-
Artikel über die Frage des Krieges als Mittel der Politik im Februar 1964 hin. Wie vor-
her in Kapitel VI bemerkt wurde, nahm dieser Artikel den Standpunkt ein, daß natio-
nale Befreiungskriege »nicht nur zulässig, sondern unvermeidlich« seien, und er ignorierte
die Gefahr der Eskalation, indem er behauptete, daß die Frage des Gebrauchs von Kern-
waffen in solchen Kriegen gar nicht aufkommen würde. Das läßt ein sowjetisches militä-
risches Interesse an einer aktiveren Unterstützung nationaler Befreiungskriege vermuten,
um die Tendenz, alle Kriege im Atomzeitalter als zu gefährlich anzusehen, als daß sie
politischen Zwecken dienen könnten, auszugleichen. Siehe Generalmajor N. Suschko und
Major T. Kondratkow, »Krieg und Politik im Atomzeitalter«, Der Kommunist in den
bewaffneten Kräften, Nr. 2, Januar 1964, S. 23.
25 Prawda, 22. Dezember 1963.
28 Siehe, zum Beispiel, D. Wol'ski und V. Kudriawtsew, »Die praktische Wirklichkeit und
die Phantastereien der Spalter«, Roter Stern, 10. Oktober 1963; Leitartikel in Roter
Stern, 22. Oktober 1963, 18. und 24. Dezember 1963; »Marxismus-Leninismus - die
Grundlage der >Einheit der kommunistischen Bewegung«<, Kommunist, Nr. 15, Okto-
ber 1963, S. 17, worin sowjetische »bewaffnete Hilfe« an den nationalen Befreiungs-
kampf in Indonesien, im Jemen und Irak erwähnt wurden.
Der begrenzte Krieg 137
die die Sowjetunion zu gewähren bereit ist, auch den Einsatz sowjetischer Streit-
kräfte in Kriegssituationen, die aus einem nationalen Befreiungskampf entstehen,
einschließen könnte. Zum Beispiel sicherte die revidierte Sokolowski-Ausgabe etwas
verstärkt die Unterstützung nationaler Befreiungsbewegungen zu und war etwas
genauer in Hinblick auf die Natur dieser Unterstützung. Während die frühere
Ausgabe lediglich zum Ausdruck gebracht hatte, daß die Sowjets " ... es als ihre
Pflicht ansehen, den heiligen Kampf unterdrückter Nationen und ihre gerechten
Befreiungskriege zu unterstützten« 27, präzisierte die überarbeitete Ausgabe:
Dieser Pflimt kommt die Sowjetunion konsequent und unbeirrbar nam, indem sie die Völ-
ker in ihrem Kampf gegen den Imperialismus nimt nur ideologism und politism unterstützt,
sondern ihnen aum materielle Hilfe gewährt t8.
Obwohl die neue Ausgabe in Hinblick auf die Unterstützung nationaler Befreiungs-
kämpfe etwas weiter zu gehen scheint als die erste Ausgabe, unterließ sie es noch
immer, die Art der ins Auge gefaßten materiellen Unterstützung - und insbeson-
dere, ob diese den Einsatz sowjetischer Streitkräfte einschließen könnte - genau zu
bezeichnen.
Andere sowjetische Sprecher sind bezüglich dieser Frage gleichermaßen verschwie-
gen geblieben. Beispielsweise bemerkte im Dezember des Jahres 1963 der Marschall
Birjusow, Chef des Generalstabs, daß ,.das Sowjetvolk nicht gegen jeden Krieg ist«,
und daß es, wenn nötig, in einem gerechten Krieg ,.zu kämpfen weiß«. Gleichwohl
vermied Marschall Birjusow, obgleich er nationale Befreiungskriege in die Katego-
rie der ,.gerechten Kriege« einreihte, sorgfältig jede präzise Zusicherung militäri-
scher Unterstützung an nationale Befreiungskriege 29. Ein anderes Thema, das mit
dem sowjetischen Denken über das Problem lokaler Kriege zusammenhängt, und
das in die öffentliche Diskussion zu bringen die Sowjets emsig vermieden haben, be-
trifft die verschiedenen Fragen, die sich aus der Gegenwart sowjetischen Militär-
personals an Plätzen wie Kuba, Indonesien und einigen Teilen des mittleren Ostens
ergeben. Obwohl dieses Militär dort vorgeblich anwesend war, um auf Grund der
sowjetischen Militärhilfeprogramme die Streitkräfte des Landes auszubilden und zu
fördern, hat es sich in einer Stellung befunden, in der es durchaus in lokale militä-
rische Aktionen hineingezogen werden konnte. Jede Entwicklung der sowjetischen
Doktrin und Politik, die sich auf diese Situationen erstreckt, ist vermutlich etwas zu
delikat für eine Diskussion in der öffentlichkeit.
Der sichtbare Wunsch der Sowjets, einen Eindruck größerer Beweglichkeit hinsicht-
lich der Unterstützung lokaler Konflikte zu vermitteln, hat dazu tendiert, vor
Mitteleuropa haltzumachen. Wie ein sowjetischer Rundfunkkommentator es im
Jahre 1957 ausdrückte, ist der sowjetische Standpunkt während vieler Jahre gleich-
mäßig der gewesen, daß es unmöglich sei, kleine Kriege ,.im Zentrum Europas, ent-
lang den Grenzen zwischen den NATO-Mächten und den Mitgliedern des War-
schauer Paktes«, einzudämmen 30. Im Jahre 1964 wiederum gab Chruschtschow in
seiner Neujahrsbotschaft an die Staatsoberhäupter einer ähnlichen Vorstellung Aus-
drudt, daß nämlich ein lokaler Krieg ,.in solch einem Gebiet wie Europa« die große
Gefahr einer Ausweitung zu einem globalen Atomkrieg mit sich bringen würde 81.
Gleichwohl macht man sich jetzt - während sowjetische Sprecher noch immer die
Möglichkeit, einen lokalen Krieg in Europa in Schranken zu halten, herabsetzen
- einige Gedanken über die Möglichkeit, gewisse Konflikte der Drittmächte zu
isolieren, um die Gefahr der Eskalation bis zur Stufe eines strategischen nuklearen
Schußwechsels zwischen den USA und der UdSSR zu dämpfen. Anzeichen etwas
provisorischen Charakters, die in diese Richtung weisen, wurden von den Soko-
lowski-Autoren in ihrem Artikel im Roten Stern vom 2. November 1963 in das
strategische Gespräch eingeführt. Die Autoren besprachen eine Erklärung der ame-
rikanischen Herausgeber ihres Buches des Inhalts, daß die sowjetische Doktrin für
den Fall einer westlichen Aktion gegen ein anderes Mitglied des Sowjetblodts einen
ersten Schlag gegen die USA anzudeuten scheint, und stritten ab, daß das eine
gültige Interpretation der sowjetischen Einstellung sei 32.
Die Sowjetautoren sagten, sie hätten in ihrem Budt lediglidt den Fall »eines An-
griffs imperialistisdter Kräfte« auf ein sozialistisdtes Land behandelt, und die
»Vereinigten Staaten nidtt erwähnt«. Nur wenn die Vereinigten Staaten »selbst
einen derartigen Angriff ausführen« sollten - bemerkten sie sdtarf - würde die
Sowjetunion gezwungen sein, einen Gegensdtlag zu führen; »in diesem Fall würden
die Vereinigten Staaten der Aggressor gewesen sein« 33.
Die hier hervorgekehrte Umsdtreibung läßt mehr als einen semantisdten Seiten-
schritt vermuten, mit dem man der Folgerung ausweidten will, daß es Umstände
gibt, unter denen die Sowjetunion als erste zuschlagen würde. Vielmehr schienen
die sowjetisdten Autoren bestrebt den Gedanken zu vermitteln, daß es einige Situa-
tionen - wie in Mitteleuropa - gibt, in denen die Sowjetunion darauf bedacht
ist die Möglidtkeit einer automatisdten Eskalation dadurdt zu verringern, daß sie
zwischen den USA und dritten Mädtten im Falle eines lokalen Konfliktes unter-
scheidet. Auf das sowjetisdte Denken bezüglidt des Sdtauplatzes eines derartigen
Konfliktes deuten Chrusdttschows kürzliche Hinweise auf das hohe Eskalations-
potential eines lokalen Zusammenstoßes zwisdten Ländern im Herzen Europas
hin 34, wie audt Erklärungen anderswo, daß Westdeutsdtland aus eigenem Antrieb
einen lokalen Krieg gegen Ostdeutsdtland beginnen könnte 36.
Wenn man die Sokolowski-Autoren so verstehen muß, daß sie an möglidte Feind-
seligkeiten zwischen Westdeutsdtland und Osteuropa denken, dann könnte es ihre
Absidtt gewesen sein anzudeuten, daß in einem soldten Fall die Sowjetunion ver-
suchen würde, ein Ausweiten des Konflikts zu vermeiden, indem sie sich jedes stra-
tegisdten Angriffs auf die USA enthält, wenn die Vereinigten Staaten ihrerseits
keinen Angriff unternehmen. Abgesehen von der Tatsadte, daß eine derartige Ein-
stellung der Sowjets den USA Sidterheit gegenüber einem ersten sowjetisdten
Sdtlag unter Grenzbedingungen bietet, unter denen die Frage der Vorwegnahme
aufkommen könnte, soll diese Einstellung möglidterweise die politisdte »Botsdtaft«
an die Vereinigten Staaten vermitteln, sie sollten sidt nidtt von Westdeutsdtland
mitreißen lassen, falls dieses versudten sollte, eine eigene »abenteuerlidte« Politik
zu verfolgen. Ob tatsädtlidt diese Absidtten mit dem Kommentar der Sokolowski-
Autoren in Zusammenhang gebradtt werden können ist natürlich eine Frage, die
notgedrungen unbeantwortet bleibt.
Die Streitfrage:
Wird ein zukünftiger Krieg kurz oder lang sein
Es würde schwierig und vielleicht irreführend sein, wollte man aus dem jüngsten
sowjetischen Gespräch schließen, daß ein starker Trend zugunsten der einen oder
der anderen der oben genannten Ansichten verläuft. In dem Maße, in dem diese
Ansichten mit Einstellungen für oder gegen Chruschtschows Militärpolitik gleich-
gesetzt werden können, kann man sagen, daß die Chruschtschowsche Ansicht etwas
an Boden gewonnen zu haben scheint - auf Kosten der These, die einem langen
Krieg und großen Armeen das Wort redet, und die von vielen konservativen Mili-
tärs begünstigt wird.
Anfang des Jahres 1963, nach einer Periode relativer Stille hinsichtlich dieser Frage,
beteuerte Chruschtschow selbst wieder nachdrücklich seine überzeugung, daß ein
neuer Krieg wahrscheinlich rasch nach einem anfänglichen nuklearen Schuß wechsel
- tatsächlich »genau an dem ersten Tag« - enden würde 2. Diese Auffassung
wurde von einer Anzahl von Militärautoren und -kommentatoren übernommen.
Ein Artikel in einer sowjetischen Militärzeitschrift, auf den früher schon hingewie-
sen wurde, sprach im April 1963 von der Bereitschaft der sowjetischen Streitkräfte
»einen Blitzschlag (zu führen), um den Feind am allerersten Tage des Krieges ins
Wanken zu bringen und zu vernichten.« 3 Einen Monat darauf unterstrich ein
Artikel in der gleichen Zeitschrift, der der öffentlichen Wiederholung der strate-
gischen Ideen Chruschtschows vom Januar 1960 zusätzlichen Schwung gab, die
radikalen Veränderungen in militärischen Dingen, die dazu führten, daß strategi-
sche Kernwaffenangriffe größere Bedeutung bekämen, als die Bodenoffensiven der
zeitlich ausgedehnten Kriege der Vergangenheit 4. Später in demselben Jahr tauch-
ten in einigen der sowjetischen Kommentare zur jährlichen Parade auf dem Roten
Platz am 7. November ähnliche Themen auf, die die Fähigkeit der Sowjets, »den
Feind schon in den ersten Tagen des Krieges vernichtend zu schlagen«, betonten 5.
Inzwischen ließen die veröffentlichten Ansichten einiger prominenter Militärfüh-
rer eine Verschiebung nach Chruschtschows überlegung hin erkennen. Die An-
sichten Malinowskis waren wegen ihrer allmählichen Entwicklung in diese Rich-
tung von besonderem Interesse. In seinem Bericht an den Parteikongreß im Okto-
ber 1961 hatte Malinowski die Kriegsdauerfrage vermieden, obwohl - wie schon
dargestellt wurde - seine Bemerkungen andeuteten, daß er sich gegenüber der
Möglichkeit eines in die Länge gezogenen Krieges absicherte. In seiner Broschüre
Stets auf der Wacht für den Frieden vom November 1963 hob Malinowski die Aus-
sicht auf »entscheidende militärische Ergebnisse« in der Anfangsphase eines Krie-
ges besonders hervor und erklärte: »Niemand kann heute die Möglichkeit vernei-
nen, daß ein Krieg sdmell seinen Verlauf nehmen wirde '. Obwohl er anmerkte,
daß die sowjetische Doktrin die Möglichkeit eines langen Krieges in Betracht zieht,
führte er diesen Punkt nicht weiter aus 7. Ein Jahr später verzichtete Malinowski
in einem Interview vor einer Gruppe von Herausgebern von Militärzeitungen und
-zeitschriften überhaupt auf die Absicherung gegenüber der Möglichkeit eines lan-
gen Krieges. Vielmehr betonte er den drastischen Einfluß, den modeme Waffen
auf die Dauer eines Krieges haben könnten, und erklärte:
Neue Mittel der Kriegführung verändern radikal den Charakter des modernen Krieges •.•
Mit modernen Waffen könnte sehr wenig Zeit, vielleimt Stunden oder sogar Minuten, nötig
sein, um die grundsätzlimen Aufgaben eines Krieges zu erfüllen. All das wirkt sim deut-
lim auf die Operationen aller Teilstreitkräfte aus 8.
Ein anderer Militärführer, der ebenfalls die Ansicht geltend machte, daß Kern-
waffen wahrscheinlich die Dauer eines zukünftigen Krieges bedeutend verkürzen
würden, war Generaloberst S. Shtemenko, der Stabschef der sowjetischen Land-
streitkräfte. Seine Ansicht war von mehr als beiläufigem Interesse in Anbetracht
seiner Funktion innerhalb der Landstreitkräfte, jener Einrichtung, die zu einer
konservativen, einen langen Krieg betonenden Ansicht neigt. In einem größeren
Artikel schrieb Shtemenko im Frühjahr 1963: »Mit derart großen Vorräten an
Kernwaffen und unterschiedlich gestalteten Trägerwaffen könnte die Dauer eines
Krieges bedeutend verkürzt werden.« 8 Gleichzeitig schenkte er - obgleich er die
Gültigkeit der sowjetischen Doktrin der verbundenen Waffen wiederholte - in
diesem langatmigen Artikel den Aussichten auf einen langen Krieg keine Beach-
tung.
Die einem langen Krieg zuneigende Ansicht war jedoch nicht ohne Verfechter, ob-
wohl die meisten unter ihnen ihre Same eher im Sinne der Notwendigkeit von
Massenstreitkräften als auf der ausdrücklichen Grundlage des langen Krieges er-
örterten. Einer der prominentesten Vertreter dieser Richtung war der Panzerexperte
General Pavel Rotmistrow, der nüchtern die schweren Verluste beurteilte, die aus-
gedehnte feindliche Kernwaffenangriffe vermutlich der Sowjetunion und ihren
Streitkräften beibringen könnten, und der davon ausgehend geltend machte, daß
6 Marschall R. Malinowski, Stets auf der Wacht für den Frieden, Voenizdat Ministerstva
Oborony SSSR, Moskau 1962, S. 26. Siehe auch Malinowskis Namdruck auf den entsmei-
den den Ergebnissen der Anfangsphase, Roter Stern, 25. Oktober 1962.
7 Stets auf der Wacht für den Frieden, S. 26.
8 »Die Revolution in militärischen Angelegenheiten und die Aufgaben der Militärpresse«,
Der Kommunist in den bewaffneten Kräften, Nr. 21, November 1963, S. 9.
9 »Wissensmaftlich-technischer Fortsmritt und sein Einfluß auf die Entwicklung der mili-
tärischen Angelegenheiten, Der Kommunist in den bewaffneten Kräften, Nr. 3, Februar
1963, S. 27. Eine besonders eindringlime Darstellung des Standpunktes vom kurzen
Kriege gab im März 1964 ein sowjetismer Luftwaffengeneral, der sagte, daß die moder-
nen Waffen nicht nur »die Anfangsphase des Krieges sehr viel entscheidender« gemacht
haben, sondern auch »seine Dauer verkürzt« hätten. Derselbe Autor hob hervor, daß
unter modernen Bedingungen es »der wimtigste und wesentlichste Auftrag« der sowje-
tischen Streitkräfte sei, »die aggressiven Pläne der Imperialisten zu zerstören und ihren
militärischen Apparat innerhalb kurzer Zeit zu smlagen«. Generalleutnant N. A. Sby-
tow, »Das Wesen und die Gesetze eines mit Kern- und Raketenwaffen ausgefochtenen
nuklearen Krieges«, Marine-Zeitschrift, Nr. 3, März 1964, S. 13,14.
Wird ein zukünftiger Krieg kurz oder lang sein? 143
sowjetische Soldaten deshalb auf einen ziemlich langen und harten Krieg vorbereitet sein
müssen. Sie müssen im Namen des Sieges über den Feind bereit sein zu großem Heldentum
und zu jedem Opfer 10.
Eine weitere, umfassendere und theoretisch sorgfältig ausgearbeitete Beweisführung
zugunsten der These vom langen Krieg wurde in zwei Büchern vorgenommen, die
in der Sowjetunion nach der ersten Sokolowski-Ausgabe veröffentlicht wurden.
Eines davon, es erschien im Herbst 1962, war ein Buch von Oberst P. I. Trifonen-
kow, den wir zuvor schon erwähnt haben. Sein Werk trug den Titel: Ober die
grundlegenden Gesetze des Verlaufs und des Ergebnisses des modernen Krieges.
Das andere war ein Sammelband, der letzte in einer Reihe, die mit Unterbrechungen
in der Sowjetunion unter dem Titel Der Marxismus-Leninismus über den Krieg und
die Armee von einer Gruppe von zwölf Autoren veröffentlicht worden war. Beide
Bücher folgten im großen und ganzen den hauptsächlichen Lehren der sowjetischen
Doktrin und Strategie, wie sie in dem anderen aktuellen sowjetischen Militär-
schrifttum zu finden sind, einschließlich der Anerkennung des entscheidenden Ein-
flusses der Anfangsphase eines Krieges. Doch schwankten sie hinsichtlich der Dauer
eines Krieges nicht länger, sondern sie nahmen an, daß der Krieg sich sehr wahr-
scheinlich über die anfänglichen nuklearen Schußwechsel hinaus hinziehen würde.
Sie traten auch für eine Strategie des langen Krieges ein, in dem die wirtschaft-
liche überlegenheit des Westens ausgeglichen werden würde, weil dessen Industrie
und Bevölkerung verwundbarer sei. Danach, so führten sie weiter an, würden die
überlegenen politisch-moralischen Eigenschaften der sowjetischen Seite - zuzüglich
der ihr verbliebenen wirtschQftlichen und militärischen Fähigkeiten - wirksam
werden um den Sieg zu sichern 11.
Zwischen den beiden mehr oder weniger klar umrissenen Polen des Denkens über
die Kriegsdauerfrage gab es unterdessen auch eine Gruppe von überlegungen, die
wieder andere Auffassungen widerspiegelten. Die neue Ausgabe des Sokolowski-
Bandes fällt, ebenso wie ihr Vorgänger, in diese Kategorie. Obgleich die vorherr-
schende Ansicht in der zweiten Ausgabe weiterhin die war, daß Kern- und Raketen-
waffen es erlaubten, »die Kriegsziele innerhalb kurzer Zeit durchzusetzen« 12,
wurde etwas mehr Nachdruck als zuvor auf die Möglichkeit eines langen Krieges
gelegt. So wurde die kurze Erklärung in der ersten Ausgabe, es sei »notwendig,
ernsthafte Vorbereitungen für einen langen Krieg zu treffen«, wie folgt erweitert:
Der Krieg kann sich aber auch in die Länge ziehen, was für längere Zeit die Anspannung
aller Kräfte von seiten der Streitkräfte und des ganzen Volkes erfordert. Deshalb müssen
10 »Die Ursachen moderner Kriege und ihre Charakteristiken«, Der Kommunist in den be-
waffneten Kräften, Nr. 2, Januar 1963, S. 29-30.
11 Oberst P. I. Trifonenkow, Ob Osnowikh Sakonakh Khoda i Iskhoda Sowremmenoj
Vojeni, Voenizdat Ministerstva Oborony SSSR, Moskau, 1962, insbesondere S. 48, 53
bis 54; Oberst G. A. Fedorow, Generalmajor N. I. Suschkow et. al., Marksism-Leninism
o Vojine i Armii, Voenizdat Ministerstva Oborony SSSR, Moskau 1963, insbesondere
S. 187 H. Das Vorwort des Herausgebers des Trifonenkow-Buches weist übrigens darauf
hin, daß einige der Vorschläge des Autors »polemischer Art« seien und nicht unbedingt
das Einverständnis der prüfenden Behörden besäßen. Es wurde jedoch nicht angedeutet,
ob dieses die überlegungen zum längeren Krieg betraf oder nicht.
12 Militär-Strategie, S. 296; Soviet Military Strategy, S. 314.
144 Kapitel Xl
wir uns auf einen langen Krieg vorbereiten und für diesen Fall die erforderlichen Reserven
an Menschen und Material bereitstellen 13.
Bei der revidierten Sokolowski-Ausgabe wurde in einigen Punkten deutlich, daß
sie von den Auffassungen zum langen Krieg in dem Trifonenko-Buch und in: Der
Marxismus-Leninismus über den Krieg und die Armee beeinflußt worden war: Ob-
wohl die Sokolowski-Autoren mit ihrem Eintreten für die Sache des langen Krie-
ges bei weitem nicht so weit gegangen sind wie diese Bücher, verweilten sie etwas
mehr bei dem politisch-moralischen Faktor und gaben der Möglichkeit eines langen
Krieges etwas mehr Gewicht als in ihrer ursprünglichen Ausgabe.
Unter den Militärtheoretikern, deren Ansichten zur Kriegsdauerfrage von einigem
Interesse waren, befand sich Generaloberst Lomow. Seine Beurteilung wechselte in
dem Zeitraum von anderthalb Jahren erst in die eine Richtung und dann in die
andere, was ein typisches Beispiel für die Zwiespältigkeit bezüglich dieser Frage ist,
die man so oft in sowjetischen dogmatischen Schriften antrifft. Lomows Schrift über
die sowjetisme Militärdoktrin, die Mitte 1963 ersmien, legte zum Beispiel etwas
weniger Gewicht auf die Möglichkeit eines langdauernden Krieges als ein Jahr zu-
vor sein Artikel zu demselben Thema, der ausführlich bei der Wimtigkeit verweilt
war, den wirtschaftlichen Unterbau des Landes durm die Einleitung von Maßnah-
men für eine großangelegte Expansion der Industrie während eines Krieges auf
einen längeren Krieg vorzubereiten 14. Mitte 1963 erklärte Lomow dagegen:
Hinsichtlich dieser Frage wird die gegenwärtige sowjetische Militärdoktrin von der Vor-
stellung geleitet, daß die Kriegsziele innerhalb kurzer Zeit erreicht werden können, weil
machtvolle überraschungsschläge mit Kern- und Raketenwaffen und die wirksame Aus-
nutzung der Resultate durch die Streitkräfte schnell die strategischen Aufgaben des Krieges
entscheiden können 1,.
Ferner sagte Lomow Mitte 1963, die Aussicht auf einen kurzen Krieg basiere auf
»aktuellen Realitäten« - erstens auf dem wachsenden Vorteil des sozialistischen
Lagers in Hinblick auf die »Entspremung der Mämte in der Weltarena«, und zwei-
tens auf der überlegenheit der Sowjetunion über »ihren wahrscheinlichen Gegner
auf dem Gebiet der militärisch-technischen Bereitstellung nuklearer Waffen für die
Streitkräfte.« Als dritten Faktor brachte Lomow an, die weltweite Friedensbewe-
gung würde es zusammen mit den Fähigkeiten moderner Waffen ermöglichen, »die
Dauer eines Krieges bedeutend zu verkürzen und die Friedensschließung zu be-
schleunigen«. Nur nachdem er diese Gründe zugunsten der Wahrscheinlichkeit eines
kurzes Krieges zusammengestellt hatte, fügte Lomow den einzelnen Satz hinzu:
Es kann nicht ausgeschlossen werden, daß unter gewissen Bedingungen ein Krieg einen zeit-
lich ausgedehnten Charakter annehmen könnte; das wird dem Land und den Streitkräften
eine lange, maximale Anstrengung abfordern 16.
Jedoch schon Anfang 1964 hatte Lomow wieder den Standpunkt gewechselt. In
seiner Artikelserie über die Militärdoktrin, die im Januar im Roten Stern heraus-
kam, kehrte er zu der Wichtigkeit der Vorbereitung der Wirtschaft auf einen ver-
längerten Krieg zurück 17 - ein Punkt, den er 1962 hervorgehoben aber im Jahre
1963 wieder fallengelassen hatte. Obwohl er die Aussichten auf einen kurzen Krieg
anerkannte, indem er Malinowski zitierte, legte er jetzt in seiner Artikelserie auf die
Möglichkeit eines langen Krieges zusätzlichen Nachdruck. Statt zu sagen, daß die
Möglichkeit »nicht ausgeschlossen ist«, sagte er nun:
Es ist völlig klar, daß, je nach den Umständen, unter denen ein Krieg beginnt ... die Krieg-
führung nicht auf nukleare Schläge beschränkt sein wird. Sie könnte sich in die Länge ziehen
und dem Land und den Streitkräften eine lange, maximale Anstrengung abfordern 18.
Es ist nicht sicher, was Lomow dazu gebracht haben mag, in die Richtung des langen
Krieges zurückzuschwenken. Das ist auch nicht unbedingt wichtig, es sei denn um
anzudeuten, daß, obwohl Chruschtschows Ansicht vom kurzen Kriege unter den
Sowjetmilitärs Fortschritte gemacht haben mag, sie zumindest einige Militärs, die
weiterhin einen konservativen Standpunkt bevorzugten, anscheinend nicht für sich
gewonnen hatte. Lomows Sinnesänderung in der Kriegsdauerfrage kann ersichtlich
auch mit der Tatsache in Zusammenhang gebracht werden, daß seine Artikelserie
vom Januar im Roten Stern in ihrer Gesamtheit dazu bestimmt schien, einem stil-
len Lobby gegen Chruschtschows Ankündigung bevorstehender Kürzungen im
Mannschaftspotential der sowjetischen Streitkräfte vom Dezember 1963 Unterstüt-
zung zu bieten. Dieses ist ein Thema, das im nächsten Kapitel aufgenommen wer-
den soll.
19 Siehe die Erörterung dieser Frage in der Analytical Introduction der amerikanischen
Herausgeber, Soviet Military Strategy, S. 36-38.
20 Eine derartige Annahme wird in der sowjetischen Militärtheorie natürlich gemacht.
Siehe Soviet Military Strategy, S. 433-439; Militär-Strategie, S. 327,450-458.
21 Militär-Strategie, S. 546. Für eine gesonderte Erörterung von einem der Sokolowski-
Autoren der Veränderungen, die moderne strategische Waffen in der Kriegführung her-
vorgebracht haben, wie auch der Wichtigkeit "des wirksamen Einsatzes der maximalen
Stärke des Staates gleich am Anfang eines bewaffneten Konfliktes«, siehe Oberst
V. Larionov, »Neue Kampfmittel und Strategie«, Roter Stern, 8. April 1964. Dieser
Artikel ist einer der Serie, die im Frühjahr 1964 im Roten Stern unter dem allgemeinen
Titel »Die Umwälzung in militärischen Angelegenheiten: ihre Bedeutung und Folgen«,
begonnen wurde.
22 Rede an die Konferenz aller Streitkräfte über ideologische Fragen, Roter Stern,
25. Oktober 1962.
23 Soviet Military Strategy, S. 338, 437-438; Militär-Strategie, S. 336.
Wird ein zukünftiger Krieg kurz oder lang sein? 147
er zu dieser Folgerung gelangt sein kann 24. Vielmehr haben sich die Militärautoren
weiterhin mit solchen Dingen wie Mobilmachungsmethoden beschäftigt 25 und sich
den Anschein gegeben, als zögen sie einigen Mut aus der Aussicht, daß der Gegner
vor ähnliche Probleme wie sie selbst gestellt sein würde. In diesem Zusammenhang
enthielten beide Sokolowski-Ausgaben einen Passus in dem es heißt:
Beim Einsatz von Raketen- und Kernwaffen werden beide kriegführenden Parteien bereits
in den ersten Stunden des Krieges nuklearen Smlägen ausgesetzt sein und hinsichtlich der
temnischen Durmführung der Mobilmamung und der Truppentransporte zu den Kriegs-
schauplätzen wahrsmeinlim in etwa die gleime Lage geraten 26.
In bezug auf die Frage der Lebensfähigkeit der Industrie nach den Anfangsschlägen
eines nuklearen Krieges haben die sowjetischen Militärtheoretiker ebenfalls dazu
geneigt, einer weniger düsteren Ansicht Ausdruck zu geben, als sie in einigen politi-
schen Aussagen zu finden ist. Das gilt insbesondere im Falle der Militärsprecher,
die man mit der traditionellen Auffassung oder selbst der Mittelmeinung identifi-
zieren kann, denn ihre allgemeine Vorstellung von einem Weltkrieg, der sich nach
den anfänglichen nuklearen Schlägen zu ausgedehnten Landkriegshandlungen von
Massenstreitkräften entwickelt, hängt zum Teil von der Fortsetzung der Produktion
während des Krieges ab. Die modernistische Richtung könnte dagegen zu ihrer
Vorstellung von einem ziemlich anderen Kriegsverlauf - wahrscheinlich kurz aber
unerbittlich - zum Teil aus der überzeugung gelangt sein, daß die Auseinander-
setzung am Anfang mit den vorhandenen Mitteln beigelegt werden würde.
Alle Richtungen des sowjetischen Militärdenkens sind sich jedoch einig hinsichtlich
der Wichtigkeit der Vorbereitung der Wirtschaft und der Streitkräfte während des
Friedens, um bei Ausbruch eines Krieges bereit zu sein, »das gesamte vor dem
Kriege aufgespeicherte Potential des Staates« zur Erreichung des Sieges einzuset-
zen 27. Das hauptsächliche neue Bestreben in der jüngsten dogmatischen Diskussion
war es, die Beweisführung dahingehend zu erweitern, daß unter den Bedingungen
eines Atomkrieges die Bedeutung des wirtschaftlichen Potentials nicht nur für einen
langen Krieg, sondern auch für einen kurzen Krieg erhöht worden ist. Die revidierte
Sokolowski-Ausgabe bot eine Formel an, die die allgemeine Ansicht wie folgt
zusammenfaßt :
Zweifellos ist die wirtschaftliche Vorbereitung des Landes auf einen zukünftigen Krieg
heute außerordentlich wichtig. Dennoch wird in einem Kriege, auch wenn er kurz ist, die
Bedeutung der Rüstungswirtsmaft nimt nur erhalten bleiben, sondern sogar noch größer
werden 28.
Die Frage des Umfangs der sowjetischen Streitkräfte stand im Mittelpunkt der
Debatte über die Militärpolitik in der Sowjetunion, seit Chruschtschow gegen Ende
der fünfziger Jahre den konservativer denkenden Elementen der sowjetismen
Militärelite zu predigen begann, daß die moderne Temnik es ermöglichen sollte,
einen übergroßen traditionellen Militärhaushalt zu beschneiden und einige Res-
sourcen für andere dringende Bedürfnisse frei zu machen, ohne die sowjetische Simer-
heit zu gefährden. Mit dieser wimtigen Frage ist wie mit der Kriegsdauerfrage
etwas mehr verknüpft, als es zunächst den Anschein hat. Sowohl die Verteidigungs-
wirtsmaft als auch die Verteidigungspolitik der Sowjets sind so eng mit dieser Frage
verwoben gewesen, daß man sie kaum als bloß temnismes Problem der Bestimmung
dessen ansehen kann, was die angemessene Größe und Zusammensetzung der Streit-
kräfte sein sollte, um den sowjetismen militärismen Erfordernissen zu entsprechen.
Beispielsweise ist der Meinungsstreit unter der Sowjetführung über das Problem der
Res~ourcenverteilung vermutlim häufiger um die Frage der Größe der Streitkräfte
ausgebromen, als um irgendeine andere Frage im Bereim der sowjetismen Militär-
debatte.
In der Sprache der internen Militärdebatte sind die Forderungen des Militärs auf
seinen Anteil an den nationalen Ressourcen oft nimt nur im Sinne der allgemeinen
Notwendigkeit der Erhaltung der Stärke der Streitkräfte oder der Sicherung ihrer
überlegenheit über den Feind geltend gemacht worden, sondern auch in der Form
von Standpunkten, die zu gewissen dogmatischen Fragen eingenommen wurden.
Einer davon ist die Frage, ob »Massenstreitkräfte in der Stärke von mehreren Mil-
lionen Mann« im Atomzeitalter weiterhin notwendig sein werden; damit hängt
eng die Frage zusammen, ob der Sieg nur durch Gefechtshandlungen mit »verbun-
denen Waffen« erzielt werden kann. Weiter gehört dazu aum die Kriegsdauerfrage,
die wir schon erörtert haben. Gewissermaßen hat die Debatte über diese Fragen als
ein Ersatz für direktere, aber politisch beunruhigendere Erörterungen gedient, die
die Verteilung der Ressourcen unter die verschiedenen Bewerber betreffen.
Allgemein haben die Forderungen der Militärs auf einen größeren Anteil an den
Ressourcen die Form einer Befürwortung der Doktrin der »Multi-Millionen-Mann«
und der »kombinierten Waffen« angenommen. Doch ist das Militär der politischen
Führung hierin nicht als eine vollkommen geeinte Front gegenübergetreten. In dem
Dialog zwischen Modernisten und Traditionalisten über Doktrin, Strategie und
Aufbau der Streitkräfte hat die modernistische Einstellung häufig zu Chruschtschows
Standpunkt mit seiner besonderen Hervorhebung der Raketenstreitkräfte gegen-
über sehr großen Landstreitkräften, die zum Einsatz auf Landkriegsschauplätzen
dienen, geneigt. Die Modernisten zeigten deshalb weniger Sorge vor Maßnahmen,
Debatte über den Umfang der Streitkräfte 149
die die Größe der Streitkräfte berühren, als die mehr oder weniger mit den Land-
streitkräften zu identifizierenden Traditionalisten, deren Interessen eine größere
Beeinträchtigung erdulden müßten, falls Truppenverringerungen durchgeführt wer-
den, als es bei den weniger »arbeitskraftintensiven« strategischen Raketen- und
Luftverteidigungsstreitkräften, der U-Bootwaffe und so fort der Fall ist. In der Tat,
die Multi-Millionen-Mann-Doktrin hat dazu tendiert, im internen Dialog das Kenn-
zeichen für die traditionalistische Haltung zu werden. Gleichzeitig hatten jedoch die
Modernisten - deren Bedürfnisse wohl hinsichtlich des Menschenpotentials, nicht
aber unbedingt in Hinblick auf andere Arten von Ressourcen geringer sein mögen
- mit den Traditionalisten ein gemeinsames Anliegen in der Aufrechterhaltung
eines besonderen Vorranges der Militäransprüche insgesamt auf die nationalen
Ressourcen; daher sind auch sie zu einem gewissen Grade bereit gewesen, die Sache
des Militärs unter die dogmatische Rubrik der »Multi-Millionen-Mann«-Streitkräfte
und der Operationen mit »kombinierten Waffen« einzuordnen. überdies, obwohl
Vertreter der Modernisten wie der Traditionalisten den sowjetischen Angeboten
von Truppenreduktionen als einem Verhandlungspunkt im west-östlichen Abrü-
stungsdialog Lippendienst geleistet haben, schienen das weder die einen noch die
anderen mit einem übermaß an Enthusiasmus zu tun.
Nachdem Chruschtschows Programm vom Januar 1962, das eine Verminderung der
Sowjetstreitkräfte von einer bekanntgegebenen Zahl von 3,6 Millionen auf 2,4 Mil-
lionen Mann vorsah, suspendiert und das sowjetische Militärbudget unter dem
Druck der Ereignisse im Sommer 1961 um 500 Millionen Rubel erhöht worden
war 1, bemerkte Chruchtschow bei mehreren Anlässen, daß diese Maßnahmen »vor-
übergehend« und »ihrer Natur nach eine Antwort« auf verschiedene amerikanische
Schritte seien 2. Die Folgerung war, daß Chruschtschow zu seinem früheren Pro-
gramm zurü<kkehren könnte, falls eine Beruhigung der internationalen Spannun-
gen erreicht werden sollte. Ende des Jahres 1963 war ein Zustand beschränkter Ent-
spannung zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion bis zu einem
Punkte fortgeschritten, an dem Chruschtschow wiederum eine Kürzung des Militär-
haushalts um etwa die Summe der Erhöhung vom Jahre 1961 ankündigte und an-
deutete, daß die Mannschaftsverminderungen bald wiederaufgenommen werden
könnten 3. In dem Zeitraum zwischen diesen Entwi<klungen versuchten einige Ele-
mente des Sowjetmilitärs - deren Sache eine Art vorübergehenden Aufschwung
durch die Ereignisse in Kuba im Jahre 1962 erhielt - die Notwendigkeit zu be-
weisen, daß die Sowjetunion »ihre bewaffneten Kräfte stärken« und »Massen-
armeen unterhaltene müsse '. Obwohl es diesen Bemühungen nicht gelang, gegen
Chruschtschows Politik und ihre Verfechter den Sieg davonzutragen, gab es An-
fang 1964 Anzeichen dafür, daß zumindest gewisse Elemente im Sowjetmilitär
ihre Anstrengungen nicht aufgegeben hatten. Einige Aspekte des laufenden Streites
über Massenstreitkräfte bis zum Zeitpunkt von Chruschtschows Andeutung bevor-
stehender Truppenkürzungen im Dezember 1963 werden unten besprochen.
Die erste Sokolowski-Ausgabe vom Spätsommer 1962 tendierte dazu, in dem dog-
matischen Streit über die Massenstreitkräfte beide Seiten zu unterstützen, obwohl
sie - wenn man alles erwägt, und nach der Kritik der Traditionalisten zu urteilen,
die dem Werk eine Vernachlässigung insbesondere der Rolle der Landstreitkräfte
vorwarfen - wahrscheinlich wenig zur Beruhigung der Verfechter der Sache der
Massenarmeen beitrug 5. In der Militärpresse wurde die Formel der Massenstreit-
kräfte im Herbst 1962 und Anfang 1963 bevorzugt behandelt 8, obwohl die höchste
Persönlichkeit der Militärhierarchie, der Marschall Malinowski, sich bemerkens-
werterweise nicht unter ihren Vertretern befand. In der Tat hob er in seiner weit-
verbreiteten Schrift vom November 1962 die »die besondere Aufmerksamkeit, die
der Präsident des Zentralkomitees für die Raketen-, die Luftstreitkräfte und die
U-Boot-Waffe zeigte« in einer Weise hervor, die eine Prioritätenverschiebung von
den Streitkräften, die mit der herkömmlichen Landkriegführung verknüpft sind,
zu denen mit neueren Aufgaben anzudeuten schien 7. Später, am Tag der Streit-
kräfte im Februar 1963, bemerkte Malinowski, daß der Umfang der Landstreit-
kräfte im Vergleich zu dem der Vergangenheit »erheblich reduziert«, aber ihre
Fähigkeiten durch die moderne Ausrüstung erhöht worden seien 8.
Es zeigte sich, daß der prominenteste Fürsprecher des Massenstreitkräfte-Stand-
punktes der Marschall Rotmistrow war - ein ehemals »Fortschrittlicher« in Mili-
tärangelegenheiten, der allmählich ein eifriger Vertreter einer Einstellung gewor-
den war, die man als »aufgeklärt konservativ« in der Militärdebatte bezeichnen
könnte 9. In einem Artikel vom Januar 1963, der unter anderem wegen seiner Ver-
teidigung der Rolle des Militärs bei der Formulierung der Militärdoktrin bemer-
kenswert war, unterstrich Rotmistrow die Notwendigkeit von Vorbereitungen auf
einen langen wie auch auf einen kurzen Krieg, und lenkte ferner die Aufmerksam-
keit auf die Tatsache, daß ein moderner Krieg, trotz seines nuklearen Charakters,
4 Generalmajor V. Krutschinin, ,.Warum Massenstreitkräfte?« Roter Stern, 11. Januar
1963.
5 Siehe die Besprechung durch den General des Heeres P. Kurotschkin, Roter Stern,
22. September 1962. Siehe auch Soviet Military Strategy, S. 34-39, S. 523-529.
8 General Krutschinins Artikel vom 11. Januar 1963 im Roten Stern, mit dem er auf eine
»Leseranfrage« antwortete, folgten andere, die die lebenswichtige Funktion der Land-
streitkräfte und »Multimillionen-Mann«-Heere in einem zukünftigen Krieg hervorhoben.
Siehe Roter Stern, 12., 15. Februar 1963. Siehe auch Oberst M. Skirdo, »Die Rolle der
Volksmassen und des Individuums im heutigen Kriege«, Der Kommunist in den bewaff-
neten Kräften, Nr. 5, März 1963, S. 10.
7 Marschall R. Malinowski, Stets auf der Wacht für den Frieden, Voenizdat Ministerstva
Oborony SSSR, Moskau 1962, S. 43.
8 Roter Stern, 23. Februar 1963.
9 Siehe die Analytical Introduction der amerikanischen Herausgeber, Soviet Military Stra-
tegy, Fußnote auf S. 13.
Debatte über den Umfang der Streitkräfte 151
nicht als ein »Knopfdru<.kkrieg dargestellt werden kann, der ohne Massenarmeen
zu führen ist«. Außerdem, so argumentierte Rotmistrow, verfolgten sogar die
bürgerlichen Mächte »in der Praxis den Kurs, Massenstreitkräfte in der Stärke
mehrerer Millionen Mann aufzustellen« 10. Der letztere Grund, der dazu tendiert
hat, eins der Hauptargumente des Lobbys der Befürworter von Massenstreitkräften
zu werden, wurde von einem anderen Autoren in einem Artikel, der am 21. März
1963 in der Presse erschien, aufgegriffen. Der Verfasser, Oberst A. Asotsew, ver-
sicherte, daß Lenins Ansichten über die Notwendigkeit eines regulären stehenden
Heeres für die Sowjets »unter den gegenwärtigen Verhältnissen« noch immer gül-
tig seien, »solange die Imperialisten starke stehende Heere unterhalten« - und
stellte auf diese Weise Lenins Autorität in den Dienst der Verfechter von Massen-
streitkräften 11.
Im Februar 1963 zeigte sich eigenartigerweise, daß das Lobby für die Massenstreit-
kräfte eine unvermutete Verstärkung in der Person des Generals Epishev gewonnen
hatte, dem Chef der politismen Hauptverwaltung im Verteidigungsministerium
und vermutlim Chrusmtschows Wahl als Hauptspremer der Partei in den Streit-
kräften. Ein Artikel von Epishev, den wir zuvor smon erwähnt haben, kam um
diese Zeit in einer Parteizeitsmrift heraus. Obwohl Epishev darin tatsächlim nam-
drücklim die Führung der Partei in Militärangelegenheiten betonte, nahm er zur
Größe der Streitkräfte eine Haltung ein, die im Widerspruch zu jener stand, die
Chrusmtsmow unterstützte, und die allgemein von der modernistismen Rimtung
bevorzugt wurde. Er smrieb, »die Auffassungen einiger Theoretiker von der Not-
wendigkeit, die Entwi<.klung von Massenstreitkräften zu beenden und statt dessen
die Mensmenkraft durm die Temnik zu ersetzen, haben sim als unbegründet er-
wiesen«, und tatsämlim »ist die Funktion der Massenstreitkräfte mit der vermehr-
ten Wimtigkeit der Temnik in einem modernen Kriege gewamsen« 12. Dieser An-
simt eines Spitzenspremers der Partei hat Chruschtsmow selbst fast augenbli<.klich
unserer Zeit«, so hob Chruschtschow hervor, »wird die Verteidigungs fähigkeit des Landes
nicht dadurch bestimmt, wie viele SoLdaten wir unter Waffen haben oder wie vielen Leuten
wir Soldatenmäntel überziehen. Wenn wir einmal von allgemeinen politischen und wirt-
schaftlichen Faktoren absehen ... , dann wird die Verteidigungsfähigkeit eines Landes von
der ihm zur Verfügung stehenden Feuerkraft und seinem Trägerpotential bestimmt.« 18
(Schrägdruck und Auslassung im Original.)
Diese Erneuerung der früheren Ansidlt von Chruschtschow zu dem dogmatischen
Streit über die Massenarmeen mit seinen praktischen Folgen für den Verteidigungs-
haushalt ist von besonderem Interesse, wenn man sie vor dem Hintergrund einer
Konferenz über die sowjetische Militärdoktrin betrachtet, die in Moskau im Mai
1963 abgehalten wurde. Wie schon erwähnt, wurde über die Verhandlungen dieser
Konferenz nicht vor Oktober berichtet, was als solches schon nahelegt, daß dort
umstrittene Fragen behandelt worden sein können. Auf der Konferenz wurden
viele Fragen diskutiert, darunter der Vorrang strategischer Gefechtshandlungen in
einem zukünftigen Kriege, die kritische Natur der Anfangsphase, die andauernde
Bedeutung von Gefechtshandlungen auf Landkriegsschauplätzen, die Beziehung
zwischen Angriff und Verteidigung, die Möglichkeit lokaler Kriege, und eine Reihe
anderer Themen 19. Merkwürdigerweise erwähnten jedoch die Berichte der Konfe-
renzverhandlungen den Streit über die Massenstreitkräfte überhaupt nicht, und
ebensowenig die eng damit zusammenhängende Frage der Dauer eines zukünftigen
Krieges. Die Auslassung jedes Hinweises auf derartige Grundsatzfragen möchte
vermuten lassen, daß man sie für politisch zu umstritten hielt, um sie öffentlich
bekanntzumachen.
Im Herbst 1963 spiegelte die überarbeitete Sokolowski-Ausgabe - jenes nützliche
Barometer für Veränderungen im sowjetischen Denken - interessanterweise einen
leichten neuen Hang zur Doktrin der Massenstreitkräfte wider. Weil der Satz des
Buches am 18. April 1963 beendet war und am 30. August 1963 zum Druck kam,
blieb wohl nicht viel Zeit, um auf die wachsende Betonung der Formel Chru-
schtschows zu reagieren; vielleicht blieben auch die Sokolowski-Verfasser selbst ge-
teilter Ansicht bezüglich der Frage der Massenstreitkräfte. Auf jeden Fall blieb die
neue Ausgabe in bezug auf dieses Thema zwiespältig. Auf der einen Seite trat sie
wie zuvor dafür ein, daß selbst im Atomzeitalter Massenstreitkräfte in Stärke meh-
rerer Millionen Mann notwendig sein würden. Tatsächlich war das Argument sogar
etwas ausgeschmückt worden. An einer Stelle zum Beispiel, an der beide Ausgaben
die »berüchtigte« Theorie von der Möglichkeit, einen modernen Krieg mit zahlen-
mäßig schwachen aber technisch gut ausgerüsteten Streitkräften zu führen, verwar-
fen, stellte die erste Ausgabe lediglich fest:
Die Anhänger solcher Streitkräfte lassen die Tatsache außer acht, daß die neuen Waffen und
technischen Mittel den Personalbedarf der Streitkräfte nicht verringert, sondern im Gegen-
teil erhöht haben. Aus diesem Grunde werden Massenarmeen in Stärke von mehreren
Millionen Mann nötig sein, um einen zukünftigen Krieg zu führen 20.
18lbid.
18 Oberst L. Belousow, »Konferenz über sowjetische Militärdoktrin«, Journal für Militär-
geschichte, Nr. 10, Oktober 1963, S. 121 H.
20 Soviet Military Strategy, S. 338.
154 Kapitel XII
Im wesentlichen wiederholte die revidierte Ausgabe den ersten Satz dieser Beweis-
führung in den gleichen Worten, um dann jedoch das Argument sehr ausführlich
auszufüllen:
Die Notwendigkeit der Unterhaltung von Massenheeren ergibt sich auch daraus, daß inner-
halb kurzer Zeit große, durch Kernwaffenschläge eintretende Verluste beträchdiche Reser-
ven zur Auffüllung der Truppen und zur Wiederherstellung ihrer Kampffähigkeit erfor-
derlich machen werden. Außerdem wird durch die größere räumliche Ausdehnung des
Krieges und die Entstehung riesiger verwüsteter und aktivierter Zonen infolge von Kern-
waffenschlägen eine große Anzahl von Truppen für die Verteidigung der Staatsgrenzen,
für den Schutz von Objekten und Verkehrswegen im Hinterland und für die Beseitigung
der Folgen von feindlichen Kernwaffenschlägen benötigt werden. Daher kann kein Zweifel
darüber bestehen, daß ein zukünftiger Krieg von Massenstreitkräften in Stärke von meh-
reren Millionen Mann geführt werden wird 11.
Neben diesen und anderen Argumenten zugunsten der Massenstreitkräfte, die über
das ganze Buch verstreut zu finden sind, offenbarte die revidierte Sokolowski-
Ausgabe auch einige Auffassungen, die in die andere Richtung tendierten. Insbeson-
dere zollte der neue Band den wirtschaftlichen Problemen, die mit der Aufrecht-
erhaltung von Massenstreitkräften zusammenhängen, vermehrte Anerkennung.
ersten Teiles des zweiten Weltkrieges in einer jüngeren sechsbändigen Reihe aus-
drücklich und freimütig die mangelhafte Vorbereitung der sowjetischen militä-
rischen Stellung behandelt hat 23. Der Vorwurf dafür trifft bequemerweise Stalin,
doch die Moral von der Geschichte ist, daß jeder politische Führer, der entschlossen
ist, den gesunden Rat des Militärs zu mißachten, in denselben Fehler verfallen kann.
Dieses sind nur einige der Faktoren, die zu der Erklärung beitragen, warum die
Vorstellung von großen, stehenden, kriegsbereiten Streitkräften das sowjetische
Militär so zäh in seinen Bann schlägt. Große Heere und Kampfbereitschaft sind
natürlich in einem technischen Sinne keineswegs gleichbedeutend, doch hat in einem
emotionellen Sinne das Denken vieler Sowjetmilitärs dazu tendiert, die bei den
Begriffe miteinander zu verschmelzen. Es ist schwer zu sagen, wie weitgehend heute
der tatsächliche Stand der sowjetischen Verteidigung der Vorstellung der Militär-
führung von dem, was nötig ist, entspricht. Aber zweifellos ist die Idee der Ver-
minderung der Streitkräfte, selbst solcher Kräfte, die offensichtlich überflüssig sein
mögen, auf erheblichen instinktiven Widerstand gestoßen. Es ist ohne Zweifel eines
der großen politischen und psychologischen Probleme von Chruschtschows Verwal-
tung der sowjetischen Angelegenheiten gewesen, die traditionellen Konzeptionen
der sowjetischen Militärs zu ändern, um ihre Billigung einer militärischen Stellung
zu erreichen, die den strategischen Träger- und Luftverteidigungskräften den Vor-
rang einräumt, während sie um der Wirtschaft willen die Verminderung der großen
stehenden Landstreitkräfte erfordert 24.
Der Stand des sowjetischen militärischen Denkens über die wirtschaftlichen Folgen
großer Streitkräfte zeigt - wie man an der neuen Sokolowski-Ausgabe und ande-
ren sowjetischen Schriften sieht - eine Bereitschaft, die Vorstellung von Zwängen
zu akzeptieren, die vom Standpunkte der Erfordernisse von Chruschtschows Politik
als ein Schritt in die richtige Richtung angesehen werden kann. Er offenbart auch
eine Tendenz, die vermuten läßt, daß es Auswege aus dem wirtschaftlichen Dilemma
gibt, die nicht vergessen werden sollten. So wiederholt Kapitel sieben der neuen
Sokolowski-Ausgabe, daß, wie sehr es auch ratsam sei im Frieden Streitkräfte zu
unterhalten die genügen, um alle Ziele »der Anfangsphase des Krieges ohne zusätz-
liche Mobilmachung zu erreichen«, dieses »für jeden, selbst für den stärksten Staat
wirtschaftlich nicht tragbar« ist 25.
Gleidlzeitig findet man in der neuen Ausgabe eine vermehrte Tendenz zu dem
Standpunkt, daß ein Land mit einer Planwirtschaft und einem höchst disziplinierten
Gesellschaftssystem wie die Sowjetunion von den verfügbaren Hilfsmitteln besseren
Gebrauch machen und sie klüger unter die ,.Streitkräfte und die Volkswirtsdlaft«
verteilen kann als kapitalistische Länder .8. Diese Beweisführung könnte als feine
Mahnung der Militärs an die Politiker gedeutet werden, daß trotz des Vorsprungs
des Westens hinsichtlich seiner wirtsdlaftlichen Stärke die Sowjetführung sidl nicht
gezwungen fühlen müsse, ein Wettrüsten mit dem Westen aufzugeben. Wenngleidl
diese Diskussion sich auf Vorbereitungen während des Friedens bezog, war daneben
- wie schon bemerkt wurde - eine Andeutung ähnlich der des Trifonenkow-Bu-
ches erkennbar, des Inhalts, daß in einem ausgedehnten Krieg die überlegene wirt-
schaftliche Organisation und die politisch-moralischen Merkmale des Sowjetsystems
sich gegenüber einem weniger dauerhaften kapitalistischen System als ausschlag-
gebend erweisen könnten 27.
Neben seiner Anerkennung der Belastung, die das sowjetische Verteidigungspro-
gramm für die Wirtschaft bedeutet, hat das sowjetische Schrifttum ein wachsendes
Gespür für die Notwendigkeit an den Tag gelegt, die großen Militärausgaben
zu rechtfertigen. Beispielsweise wurde in der revidierten Sokolowski-Ausgabe ver-
merkt, die Erfordernisse des Militärs hätten es notwendig gemacht, »beträchtliche
wirtschaftliche Hilfsquellen in Anspruch (zu) nehmen und erhebliche Geldmittel
auf(zu)wenden«, die sonst anderen Zwec:ken dienen könnten 28. Gleichwohl, so
wurde argumentiert, sind die sowjetischen Militärausgaben geringer als die der Ver-
einigten Staaten.
Zur Rechtfertigung der großen sowjetischen Investierungen in die Verteidigung
wiesen die Sokolowski-Verfasser auf die westlichen Militärhaushalte hin. Gleich-
zeitig argumentierten sie, die Aufrechterhaltung ,.aktiver Streitkräfte in Stärke von
mehreren Millionen Mann« durch die »imperialistischen Staaten« zwinge die
Sowjetunion und andere sozialistische Länder, »starke Streitkräfte zu unterhalten,
von denen ein Teil ständig gefechtsbereit ist«. Doch vermieden sie, wie im weiteren
sowjetischen öffentlichen Gespräch exakt darzustellen, welcher Größenordnung die
stehenden Kräfte sein sollten und vermerkten lediglich, daß derartige Kräfte »für
die Führung eines Krieges nicht ausreichen« und deshalb »nach dem Mobilma-
chungsplan aufzustellen sind« 29.
Selbst während sie die Grenzen, die die Wirtschaft im Frieden den aktiven Streit-
kräften aufzwingt, anerkannten, haben die Sokolowski-Autoren wie sehr viele
ihrer Kollegen weiterhin darauf bestanden, daß der Krieg selbst eine große Erwei-
terung der bewaffneten Kräfte notwendig machen würde. Diese Haltung war selbst-
26 Ibid., S. 322.
27 Einige sowjetische Militärtheoretiker, die nicht mit der These langer Kriege zu identifi-
zieren sind, haben außerdem eingewandt, daß man die Stärke des Feindes nicht nur da-
nach beurteilen sollte, wie sie vor dem Kriege dasteht, sondern auch aus dem Blickwinkel
der »zukünftigen Veränderungen im Kräftegleichgewicht und der Fähigkeiten, wie sie
durch Gefechtshandlungen hervorgerufen werden«. Siehe Konoplew in: Der Kommunist
in den bewaffneten Kräften, Nr. 24, Dezember 1963, S. 33.
28 Militär-Strategie, S. 311.
29 Ibid., S. 327.
Debatte über den Umfang der Streitkräfte 157
30 Iswestija, 15. Dezember 1963. ChruschtsdlOws Vorschlag wurde mit ähnlichen Worten in
seinem Interview mit dem UPI-Korrespondenten Henry Schapiro wiederholt. Roter
Stern, 31. Dezember 1963.
31 Prawda, 16. Dezember 1963. Die angekündigte Kürzung war von 13,9 Milliarden Rubel
im Jahre 1963 auf 13,3 Milliarden für das Jahr 1964, also um etwa 5 Ofo. Die tatsäch-
lime Wirkung der angekündigten Kürzung des sowjetismen Verteidigungsprogramms ist
smwierig festzustellen, da innere Versmiebungen im Budget ausgleichende Wirkungen
haben könnten, so z. B. eine Erhöhung der Ausgaben für wissensmaftlime Forsmung um
etwa den Betrag, den die Kürzung der Verteidigungsausgaben ausmamt.
32 Wie in Kapitel III aufgezeigt wurde, war Marsmall Eremenko die Ausnahme, der ein-
zige ranghohe Soldat, der den Truppenkürzungsvorsmlag in einer Zeit von mehr als
einem Monat nam Chrusmtsmows Erklärung erwähnte. Eremenko berührte die bevor-
stehende Verringerung der sowjetismen Streitkräfte, ohne Zustimmung oder Ablehnung
auszudrücken, in der englismspramigen Zeitung Moscow News, Nr. 2,11. Februar 1964.
33 Zum Beispiel Marsmall A. Gretsmko, »Auf einem leninistismen Kurs«, Roter Stern,
22. Dezember 1962; Marsmall V. Tsmuikow, »Moderne Landstreitkräfte«, Iswestija,
22. Dezember 1963; Marsmall S. Birjusow, »Die großen Errungensmaften besmützend«,
Roter Stern, 8. Januar 1964.
34 Leitartikel, »Ein großer Smritt«, Roter Stern, 21. Dezember 1963.
35 Leitartikel, »Arbeite nom selbstloser«, Roter Stern, 25. Dezember 1963.
36 Leitartikel in Prawda, 18. Dezember 1963; Berimt des 20. Parteikongresses der schwe-
dismen kommunistismen Partei, Prawda, 8. Januar 1964.
158 Kapitel XII
Das bezeidmendste Anzeichen der Sorge unter den Militärs erschien am 22. Dezem-
ber in einem Artikel von Marschall Tschuikow, dem Kommandeur der sowjetischen
Landstreitkräfte, deren Bereich das wahrscheinlichste Ziel jeder Maßnahme zur
Verringerung der Zahl der unter Waffen stehenden Männer war. In seinem Artikel,
der mit »Modeme Landstreitkräfte« überschrieben war, äußerte Tschuikow
keine direkte Mißbilligung des Vorschlages von Chruschtschow; in der Tat, er
erwähnte ihn überhaupt nicht. Doch war der Artikel als solcher ein unverkennbarer
Fall besonderer Fürbitte. In der ersten Hälfte entwidtelte er das neue Lieblings-
thema der Verfechter der Massenstreitkräfte - daß nämlich die westlichen Länder,
obwohl sie »Vorbereitungen für einen nuklearen Krieg treffen, ihre Landstreit-
kräfte nicht nur nicht liquidieren, sondern ganz im Gegenteil sie ständig weiterent-
widteIn« 37. Tschuikow arbeitete seinen Standpunkt, daß die westlichen Staaten
»ihre Landstreitkräfte dauernd vervollkommnen, um mit den modemen Anforde-
rungen Schritt zu halten« weiter aus, indem er nicht nur technische Verbesserungen,
sondern auch Zahlen zitierte - 5 Millionen Mann in den NATO-Streitkräften, da-
von 3,2 Millionen Landstreitkräfte; 1,2 Millionen allein in den Landstreitkräften
der USA. Und diese Streitkräfte, sagte er und betonte damit einen zentralen Punkt
seiner Beweisführung, sind jetzt »während des Friedens ... in dem entscheidenden
Gebiet von Europa« konzentriert. Indem er seine Beweise für den Eifer des Westens
bezüglich seiner Landstreitkräfte ordnete, wies Tschuikow überdies darauf hin, daß
gewisse »einseitige« ausländische Theorien, die »eine schädliche Wirkung auf die
Entwicklung von Streitkräften« ausgeübt hätten, nunmehr anscheinend von west-
lichen Militärführern aufgegeben worden seien, die »erkennen, daß sie in einem
zukünftigen Kriege nicht ohne Massenstreitkräfte werden auskommen können.«
In der zweiten Hälfte seines Artikels beschäftigte sich Tschuikow mit der Stellung
der für den Einsatz auf Landkriegsschauplätzen bestimmten sowjetischen Land-
streitkräfte. Hier beschrieb er ihr tedmisches Können und ihre guten Eigenschaften,
als wolle er dem Westen raten, er solle sich seine vorangehende Lobrede nicht zu
Kopfe steigen lassen - doch gab er keine Zahlen über die sowjetische numerische
Stärke an. Der Hauptnachdruck lag auf der fortgesetzten Gültigkeit der sowjeti-
schen Doktrin der kombinierten Waffen und der unentbehrlichen Rolle der Land-
streitkräfte in einem zukünftigen Kriege. Obwohl er der Vorstellung, daß "bei der
Erreichung der hauptsächlichen Kriegsziele die strategischen Raketenstreitkräfte
eine entscheidende Rolle spielen« mit einem einzelnen Satz huldigte, krönte er seine
These mit der Erklärung:
Daher sind unter modernen Bedingungen die Landstreitkräfte nicht nur ein wichtiges,
sondern auch ein im höchsten Maße unerläßlicher Teil der Streitkräfte.
Andere Kommentare von geringeren Figuren aus dem Militär folgten dem Bei-
spiel, das Tschuikow gegeben hatte, und verwiesen auf die westliche Bestätigung
der Konzeption der Massenstreitkräfte und gegenwärtige umfangreiche westliche
Truppenübungen mit »millionenstarken Heeren« 38, um damit vor jedem Herum-
37 lswestija, 22. Dezember 1963.
3B Major V. Koslow, »Der Soldat und die nukleare Bombe«, Roter Stern, 28. Dezember
1963; Oberst B. Aleksandrow, »Zu Lande, zu Wasser und in der Luft«, Roter Stern,
29. Dezember 1963.
Debatte über den Umfang der Streitkräfte 159
Militärausgaben als auch der Truppenstärke vermuten. Diese Hinweise wurden von
der Warnung begleitet, die ausländischen Feinde sollten nicht die »Hoffnungen
hegen«, daß die Budget- und Truppenkürzungsmaßnahmen wirtschaftliche Schwie-
rigkeiten andeuteten oder auf eine Schwächung der sowjetischen Streitkräfte hinaus-
liefen 4a.
Dem außenstehenden Beobachter dieser fortlaufenden Phase der sowjetischen De-
batte über die Militärpolitik fiel ein Faktor durch seine Abwesenheit auf. Die Sache
der Befürworter von Massenstreitkräften wurde von westlichen Trends auf dem
Gebiet der Massenstreitkräfte abhängig gemacht, doch gab es nirgends einen öffent-
lichen Hinweis, daß die sowjetischen Militärführer auch ein Auge auf Entwicklun-
gen im Osten gehabt haben könnten. Es überspannt jedoch nicht die Glaubwürdig-
keit, wenn man annimmt, daß die potentielle Drohung von seiten Chinas ein wei-
teres Element der Sorge gewesen ist. Das alte militärische Problem der Sowjets,
nach bei den Seiten der riesigen sowjetischen Landmasse auf Schwierigkeiten vorbe-
reitet zu sein, könnte sehr wohl die bösen Ahnungen vieler sowjetischer Militärs
vermehrt haben, als sie über die Aussichten auf eine Verminderung ihrer Truppen
nachsannen.
Vom Standpunkt der Doktrin her wird der Vorrang, der den Kernwaffen und stra-
tegisdten Raketen im sowjetisdten Denken sowohl von Traditionalisten als audt von
Modernisten zuerkannt wird, nidtt mehr in Frage gestellt. Die Verlagerung in diese
Ridttung fand nidtt dramatisdt an einem bestimmten Punkt des Entwicklungsgangs
des sowjetisdten strategisdten Denkens der letzten adtt oder zehn Jahre statt. Sdton
Mitte der 50er Jahre begann sidt der Gärungsprozeß in der Doktrin bezüglidt der
Bedeutung nuklearer Waffen in der Sowjetunion abzuzeidtnen 2. Damals ging es
jedodt hauptsädtlidt darum, wie man diese neuen Vernichtungswaffen vertrauten
sowjetisdten Konzeptionen eingliedern könne. Am häufigsten betradttete man
Kernwaffen als ergänzend zu den Operationen der traditionellen Streitkräfte,
deren Vorrang nicht in Frage gestellt wurde. Die Vorstellung, Kernwaffen könnten
von strategisdt entscheidender Bedeutung sein, wurde nicht gebilligt, sdtien sie dodt
das strenge Gebot der traditionellen sowjetisdten Doktrin gegen alle »Einwaffen«-
Theorien zu verletzen.
Wie sehr sidt diese Einstellung geändert hat, läßt sidt aus einem Vergleidt einiger
typischer hußerungen aus der Mitte der 50er Jahre und repräsentativen Erklärun-
gen der Gegenwart ersehen. Im Jahre 1954 schrieb Marschall K. Moskalenko (da-
mals General): »Die sowjetisdte Militärwissenschaft weist alle künstlichen Erdich-
tungen ... man könne sozusagen durch den Einsatz der einen oder anderen neuen
Waffe den Sieg erringen, aufs entsdtiedenste zurück. Es gibt keine derartigen Waf-
fen, die außergewöhnliche und allmädttige Eigensdtaften besäßen.« 3 Im gleichen
Jahr sagte Generalmajor B. Olisow: »Strategische Atombomben, die für Städte und
Zivilbevölkerungen eine Quelle großer Gefahren sind, haben auf dem Schlachtfeld
geringe Wirkung. Nicht strategisme Bombardierung wird den Ausgang eines Krie-
ges entscheiden, sondern die Soldaten auf dem Schlachtfeld.« 4 Ein Jahr später
schrieb Generalmajor Pokrowski, ein angesehener Militärexperte, der damals einer
der führenden sowjetischen Autoritäten auf dem Gebiet der fortentwickelten
Militärtechnologie war:
Beim gegenwärtigen Stand der Entwicklung unterstützen Atomwaffen und thermonukleare
Waffen nur die Feuerkraft der alten Typen der Bewaffnung. Artillerie, Handfeuerwaffen,
Panzer, Flugwaffen und andere Formen der Bewaffnung waren und sind die Grundfeuer-
kraft der Streitkräfte 5.
Im Gegensatz dazu stellte Generalmajor Lomows Serie über sowjetische Militär-
doktrin vom Januar 1964 im Roten Stern, die sich in bezug auf modernistische oder
traditionalistische Haltungen ziemlich in der Mitte hält, unzweideutig fest: »Der
2 Herbert S. Dinerstein, War and the Soviet Union, revised edition, Frederick A. Praeger,
Ine., New York 1961, S. 180-212; Raymond L. Garthoff, Soviet Strategy in the Nuclear
Age, revised edition, Frederick A. Praeger, Ine., New York 1962, S. 61-81.
3 »Lernt, wie man einen starken und technisch ausgerüsteten Feind besiegt«, Roter Stern,
25. September 1954.
4 »Atomwaffen und atomare Verteidigung«, Roter Stern, 3. August 1954.
5 »Waffen in einer modernen Armee«, in: Der Marxismus-Leninismus über den Krieg und
die Armee, Voenizdat Ministerstva Oborony SSSR, Moskau 1955, S. 168.
Vorrang strategischer Streitkräfte 163
6 »Die Hauptthesen der sowjetischen Militärdoktrin«, Roter Stern, 10. Januar 1964
(Europa-Archiv, Frankfurt, Folge 10/1964).
7 Generaloberst N. A. Lomow, Sowjetische Militärdoktrin, Izdatelstvo ,.Znanie«, Moskau
1963, S. 24.
B Bericht von Oberst L. Belousow, »Konferenz über sowjetische Militärdoktrin«, Journal
für Kriegsgeschichte, Nr. 10, Oktober 1963, S. 125.
9 Kapitän zur See W. Kolesnikow, »Einige Kategorien der Marinetaktiken«, Marine-Zeit-
schrift, Nr. 11, November 1963, S. 19.
10 Marschall P. Rotmistrow, ,.Die Ursachen moderner Kriege und ihre Charakteristiken«,
Der Kommunist in den bewaffneten Kräften, Nr. 3, Januar 1963. S. 31.
164 Kapitel XIII
sowjetischen Militärführern geteilt wird 11. Rotmistrow hat jedoch, wie wir in die-
sem Kapitel noch weiter zeigen werden, seitdem seine Ansichten etwas modifiziert
in einer Weise, die vermuten läßt, er stimme nicht völlig der massiven Schwer-
gewichtsverlagerung auf strategische Raketenwaffen zu, die in den letzten Jahren
in der sowjetischen Doktrin eingetreten ist.
Sucht man den Hauptfaktor, von dem diese Änderung der Doktrin abhing, so ist
er wahrscheinlich der, daß die Sowjetunion fortentwickelte Waffen und die Mittel
erwarb, sie in genügend großer Zahl einzusetzen um eine Strategie ihres Gebrauchs
eine nicht mehr rein akademische Angelegenheit sein zu lassen. Im sowjetischen Fall
ereignete sich das Ende der SOer Jahre, gleichzeitig mit Chruschtschows Macht-
ergreifung. Vor diesem Zeitpunkt, als die Sowjetunion erst über sehr beschränkte
Kernwaffenbestände verfügte, konzentrierte sich die Diskussion zur Doktrin ver-
ständlicherweise darauf, wie man die neuen Kampfmittel den traditionellen Kon-
zeptionen anpassen solle. Danach, vor allem seit dem Aufkommen von ICBM-Waf-
fen, ergab sich das Problem, die sowjetische Doktrin von Grund auf zu revidieren
und die Streitkräfte zu reorganisieren und umzurüsten 12.
Es gibt zahlreiche Anzeichen dafür - viele wurden in diesem Buch bereits erörtert
- daß Chruschtschows Ideen und politischen Verfahrensweisen bei verschiedenen
Teilen der Militärbürokratie auf Widerstand trafen. Die Entscheidung der Sowjets,
auf dem Gebiet der Raketen, auf das sie seitdem ihre Doktrin und ihre Kräfte
orientiert haben, ein Schwerpunktprogramm zu betreiben, war offenbar eines der
11 Vertreter der modernistischen Auffassung setzten die Akzente gern etwas anders. So
stellte z. B. Major D. Kasakow, einer der Autoren, der an der Wiederbelebung der
strategischen Ansichten Chruschtschows Mitte des Jahres 1963 teilhatte, in seinem Arti-
kel vom Mai 1963 fest, daß »die vereinte Anstrengung aller Streitkräfte« zur Erreichung
des Sieges beitragen würde. Er fügte jedoch dann hinzu: »Der Marxismus-Leninismus
lehrt aber, daß man in dieser vereinten Anstrengung das hauptsächliche, entscheidende
Element auswählen muß. Dieses Element sind gegenwärtig die Kern- und Raketenwaffen
bei den Raketenstreitkräften.« »Die theoretischen und methodischen Grundlagen der so-
wjetischen Militärwissenschaft«, Der Kommunist in den bewaffneten Kräften, Nr. 10, Mai
1963, S. 12. Zu einer ähnlichen Betonung auf strategische Raketenoperationen als »die
Hauptverbindung« siehe Oberst W. Konoplew, »über die wissenschaftliche Voraussicht
bei militärischen Angelegenheiten«, ibid., Nr. 24, Dezember 1963, S. 31.
12 Zu einer offenen sowjetischen Beschreibung dieser Phasen der Entwicklung der sowjeti-
schen Militärdoktrin und -theorie siehe Oberst 1. Korotkow, »Die Entwicklung der sowje-
tischen Militärtheorie in den Nachkriegsjahren«, Journal für Kriegsgesehichte, Nr. 4, April
1964, besonders S. 43-45. Diese Darstellung, die die Werke zahlreicher sowjetischer
Militärtheoretiker aufführt, legt auf Chruschtschows persönliche Beiträge zur sowjeti-
schen Militärtheorie nicht über Gebühr Gewicht, wenngleich seine Rolle auch nicht gänz-
lich ausgeklammert wird. Tatsächlich war nicht Chruschtschow allein die Quelle der Neue-
rung und Reform der sowjetischen Militärangelegenheiten. Die technische Grundlage der
Veränderungen, die er förderte, war durch die Entscheidungen zu Stalins Zeiten gelegt
worden, Forschungsarbeiten und Entwicklungsprogramme auf den Gebieten der Kern-
energie, Düsenjäger, Raketen usw. zu unternehmen. In gewissem Sinn war dies die mili-
tärische Parallele des Vorgangs, durch den vieles in der Politik Chruschtschows das Wei-
terwirken von 1i.nderungen war, die schon unter Stalin eingesetzt hatten. Eine gute Er-
örterung dieses Themas findet sich bei Marschall D. Shulman, Stalin's Foreign Poliey
Reappraised, Harvard University Press, Cambridge, Mass. 1963, besonders S. 104-138,
255-271.
Vorrang strategischer Streitkräfte 165
Themen, bei denen Chruschtschow auf Opposition stieß. Fidel Castro machte zu
diesem Punkt in einem weitschweifigen Fernsehinterview in Havanna am 5. Juni
1963 bei der Rückkehr von seiner ersten Rußlandreise eine aufschlußreiche Aus-
sage. Er lobte Chruschtschow unter anderem, weil er »die Notwendigkeit eingesehen
hat, daß die Streitkräfte der Sowjetunion maximale Kampfvorbereitung haben
müssen um der Möglichkeit eines Krieges zu begegnen« und fuhr fort:
An eines müssen wir denken: die Tatsache, daß die sowjetische Regierung, die sowjetischen
Führungskräfte und Genosse Chruschtschow an der Entscheidung, Raketen zu bauen, großes
Interesse gezeigt haben - ich hatte eine besondere Gelegenheit, das in meinen Gesprächen
mit sowjetischen Offizieren über strategische Angelegenheiten zu sehen. Dies war eine Ent-
scheidung, zu der Chruschtschow mit seiner Führung beitrug. Er verteidigte diese Politik
beharrlich, d. h. die Entwiddung von Raketen - eine Waffe, die es der UdSSR ermöglicht,
vom militärischen Standpunkt aus der Gefahr einer imperialistischen Aggression zu begeg-
nen 13 •
Gegen wen Chruschtschow seine RaketenpoIitik verteidigen mußte, sagte Castro
nicht deutlich; jedoch sprechen andere Anzeichen dafür, daß die Kritiker unter den
Militärs zu finden waren und vielleicht noch sind. So betonte z. B. einer der Artikel,
die sich im Mai 1963 für Chruschtschows strategische Linie einsetzten, ganz un-
gewöhnlich stark, daß »bei der Bestimmung der Rolle der Kern- und Raketenwaf-
fen mehrere Ansichten vorgebracht wurden« und daß, während einige Genossen
solche Waffen »überschätzten«, andere darauf »bestanden«, daß sie nur dazu die-
nen würden, Truppenoperationen zu unterstützen. »Letzteren«, sagt Kazakow,
>,kann man unmöglich zustimmen.« 14 Ein weiterer Beweis dafür, wie schwierig es
ist, bei einigen Militärs eine richtige Einschätzung der Raketen zu erreichen, bringt
Oberst I. Korotkow, Verfasser eines kürzlich erschienenen Artikels über die Nach-
kriegsentwicklung der sowjetischen Militärtheorie. Selbst Anfang der 60er Jahre,
sagt Korotkow, nachdem es im sowjetischen Militärschrifttum weithin anerkannt
war, daß die Rakete »die Methoden und Formen der Kriegführung von Grund auf
geändert hat ... betrachteten einige Genossen die Rakete immer noch nicht als ein
entscheidendes Instrument zum Sieg«. Um das zu beweisen, sagte er, »verwiesen sie
wieder auf die Erfahrung des letzten Krieges« 15. Auch die revidierte Sokolowski-
Ausgabe stellte - wie die erste 16 - fest, daß einige sowjetische Militärs immer
noch zuviel Gewicht auf die Erfahrung des letzten Krieges legten und sie mecha-
nisch auf moderne Verhältnisse übertrugen. Die ausführliche Erörterung die-
ses Punktes in der revidierten Ausgabe läßt vermuten, daß man zwar der Dok-
trin des Vorrangs der strategischen Waffen allgemein huldigte, der neuen Linie des
strategischen Denkens jedoch in einigen Winkeln noch Widerstand leistete. In dem
erweiterten Absatz heißt es:
Der Irrtum eines solchen Gesichtspunkts liegt darin, daß er die Rolle der strategischen Rake-
ten und Kernwaffen herabsetzt und ihre ungeheuren Kampfmäglic:hkeiten unterschätzt.
Dies führt zu einer Orientierung auf die Landstreitkräfte und auf die traditionellen Arten
der Kriegführung. Die Imperialisten haben jedoch nicht vor, den Krieg gegen die sozia-
listischen Länder mit Landstreitkräften zu führen. Grundsätzlich verlassen sie sich auf stra-
tegische Kernwaffen 17.
Daß die Sowjetstrategie immer mehr auf strategische Kernwaffen setzt, geht daraus
hervor, daß in der gegenwärtigen Militärliteratur strategischen Operationen und
der sich entwickelnden Autonomie solcher Operationen neben den traditionellen
Sdtladttfeldoperationen auf einzelnen Kriegssdtauplätzen ein so großes Maß von
Aufmerksamkeit gewidmet wird.
17 Militär-Strategie, S. 406.
18 Soviet Military Strategy, S. 94. Man sollte sich vergegenwärtigen, daß die erste Soko-
lowski-Ausgabe dieser Frage gegenüber eine ambivalente Haltung einnahm. An anderer
Stelle vertrat sie die Meinung, der Sieg könne nur durch Operationen mit verbundenen
Waffen errungen werden. Die zweite Ausgabe war von ähnlicher Widersprüchlichkeit.
Diese Fragen werden in Kapitel XVII ausführlicher erörtert.
19 Militär-Strategie, S. 50.
20 lbid., S. 416 (377). Das ist auch in anderen sowjetischen Erörterungen aufgekommen, be-
sonders bei solchen über Probleme der Befehlsgewalt und der Kontrolle, die sich in einem
modernen Krieg ergeben. Generaloberst S. Shtemenko schrieb z. B. im Februar 1963, daß
man, trotz der großen Bedeutung der strategischen Raketen, der vereinten Aktion aller
VOTTang stTategischeT StTeitkTäfte 167
anzeigen, daß Alternativpläne und Optionen für eine Anzahl möglicher Situationen
nicht entworfen wurden. Dieser Eindruck steht jedoch in gewissem Widerspruch
zu einer anderen Stelle der gleichen Erörterung, die in einiger Ausführlichkeit das
vielseitige Wesen eines zukünftigen Krieges und die Notwendigkeit, die strategisch-
operative Planung einer Reihe möglicher Entwicklungen anzupassen, betont:
Der Krieg war immer eine komplizierte und vielgestaltige Erscheinung. Diese Feststellung
trifft in ganz besonderem Maße auf einen künftigen Atomkrieg zu. Bei der Ausarbeitung
der Formen und Methoden der zukünftigen Kriegführung muß eine ganze Reihe von Fra-
gen berüduichtigt werden; was für einen Charakter wird er haben, wer wird der Haupt-
gegner sein, werden Kernwaffen bereits zu Beginn oder erst im Verlauf des Krieges ein-
gesetzt werden, wird es sich dabei um strategische oder operativ-taktische Atomwaffen
handeln, in welchem Raum oder auf welchem Kriegsschauplatz werden die Hauptereignisse
stattfinden usw. Nur wenn alle diese Faktoren berüdtsichtigt werden, kann die Frage nach
den Formen und Methoden der Kriegführung konkret gelöst werden. Die Formen der
strategischen Operationen können in einem atomaren Weltkrieg, der infolge eines über-
raschenden überfalls durch den Feind ausbricht, anders sein als in einem atomaren Welt-
krieg, der sich aus einem lokalen Krieg zu einem Weltkrieg entwidtelt, und die Operationen
in einem lokalen Krieg werden wiederum eine ganz andere Form haben!1.
Strategische Operationen, so sagten die Autoren ferner voraus, »werden sich über
große Räume erstrecken und zu gleicher Zeit alle Kontinente und Bereiche der Welt-
meere erfassen. Außerdem werden die strategischen Operationen sehr schnell ablau-
fen und von kurzer Dauer sein« 22. Jedoch fügten die Autoren dann mit einer
Zurückhaltung, die in auffallendem Gegensatz steht zu den kühneren Erwartungen,
denen sie an anderer Stelle des Buches Ausdruck geben, hinzu, daß das Resultat
solcher Operationen »heute noch kaum vorstellbar« sei 23. Ebenso wie andere Mili-
tärveröffentlichungen der Sowjets in letzter Zeit gibt das neue Sokolowski-Werk
keinen Anhaltspunkt dafür, daß in bezug auf die sowjetische Zielwahldoktrin für
die strategischen Mittel eine Revision geplant sei. Diese Doktrin hat in den letzten
paar Jahren durchgängig nach nuklearen Schlägen sowohl gegen militärische als
auch gegen nichtmilitärische Ziele tief im Gebiet des Feindes verlangt, um »ihn
gleichzeitig der militärischen, politischen und wirtschaftlichen Fähigkeit der Kriegs-
führung zu berauben« 24. Während die Gleichzeitigkeit des Angriffs auf sowohl
militärische als auch auf nichtmilitärische Zielsysteme praktisch in der gesamten
sowjetischen militärischen und politischen Diskussion der Materie betont wurde,
Waffen »unter einem einzigen zentralen Plan und einer Führung zum Gewinnen eines
Krieges« bedürfe. Ob dieses Argument gegen einen Trend in der sowjetischen Planung
auf die Autonomie der strategischen Streitkräfte hin vorgebracht wurde, ist nicht klar.
»Wissenschaftlich-technischer Fortschritt und sein Einfluß auf die Entwidtlung der mili-
tärischen Angelegenheiten«, DeT Kommunist in den bewaffneten KTäften, Nr. 3,
Februar 1963, S. 28.
21 MilitäTstTategie, S. 416 f.
12 Ibid.
23 Ibid .
•, Ibid., S. 285 (250). Generaloberst V. F. Tolubko, ,.Die hauptsächliche Raketenstärke des
Landes«, RoteT Stern, 19. November 1963; Lomow im Roten Stern, 10. Januar 1964.
Generalmajor N. Suschko und Major T. Kondratkow, ,.Krieg und Politik im
)Atomzeitalter<<<, DeT Kommunist in den bewaffneten KTäften, Nr. 2, Januar 1964,
S.21.
168 Kapitel XllI
25 Soviet Military Strategy, S. 298, 400, 408-410; Militär-Strategie, S. 276, 402, 417-421.
26 Marscltall S. Birjusow, "Ein neuer Abschnitt in der Entwicklung der Streitkräfte und
Aufgaben der Indoktrination und Truppenausbildung«, Der Kommunist in den bewaff-
negen Kräften, Nr. 4, Februar 1964, S. 19.
21 Soviet Military Strategy, S. 399-400. Militär-Strategie, S. 403 f.
28 Vom historischen Standpunkt aus hat eine Doktrin, die die Streitkräfte des Gegners als
das vorrangige Zerstörungsobjekt in einem Krieg betrachtet, eine lange Tradition im
sowjetischen Militärdenken. In gewissem Sinn ist daher die Ausdehnung der Doktrin auf
strategische counter-force-Operationen, die durch die neuen Waffen ermöglicht wird, kein
grundlegender Bruch der Konzeption.
29 Militär-Strategie, S. 285. Soviet Military Strategy, S. 305.
Vorrang strategischer Streitkräfte 169
In dieser Einfügung "für uns« mag sich widerspiegeln, daß die Sokolowski-Autoren
meinten, in der Zeitspanne von 1962 bis 1963, die zwischen den beiden Ausgaben
liegt, hätten die sowjetischen Kräfte genügend zugenommen, um eine stärkere Her-
vorhebung der »Möglichkeit«, von der sie sprachen, zu rechtfertigen. Welche Ver-
änderungen der Stärke der sowjetischen strategischen Streitkräfte tatsächlich statt-
gefunden haben, können wir natürlich nur vermuten. Nichts wird in der sowjeti-
schen Diskussion sorgfältiger vermieden als die Veröffentlichung tatsächlicher Zah-
lenangaben zur sowjetischen Raketenstärke. Allgemeine Feststellungen, daß »die
Sowjetunion strategische Raketen in solcher Quantität und solcher Qualität besitzt,
daß sie gleichzeitig die erforderliche Anzahl von Objekten des Aggressors zerstören
kann« 30, gibt es reichlich; sie bieten jedoch schwerlich eine solide Grundlage für ein
Urteil darüber, ob die sowjetische Raketenstärke auch nur annähernd dafür aus-
reicht, die fragliche Zieldoktrin zu stützen 31.
Diese Gewohnheit der Sowjets, über ihre Raketenstärke verschwiegen zu sein, trägt
wahrscheinlich, in sowjetischer Sicht, zu ihrem »Geheimnis Vorrat« bei und wird
daher als ein militärischer Pluspunkt betrachtet. Sowjetische Sprecher reagieren aber
bekanntlich sehr empfindlich auf die Folgerung, dies lasse auf eine schwächere stra-
tegische Position schließen. Ein Beispiel dafür war in einem Artikel vom Februar
1963 die parenthetische Feststellung eines sowjetischen Luftwaffengenerals, der
sagte: »In letzter Zeit hat die bürgerliche Propaganda begonnen, über die >militä-
rische Schwäche< der Sowjetunion noch größeren Unsinn zu reden. Sie unterstellt
uns, man denke sich, wir besäßen Raketenstreitkräfte ohne strategische Raketen und
nukleare Sprengköpfe dafür.« 32 Im folgenden Jahr zeigte sich der Oberbefehls-
haber der strategischen Raketenstreitkräfte, Marschall N. I. Krylow, in einem Auf-
satz in der Iswestija ungewöhnlich darum bemüht, klarzustellen, daß die Sowjet-
union an Raketen zahlenmäßig stark sei; er brachte jedoch keine genauen Zahlen-
angaben. Nachdem er versichert hatte, daß die sowjetischen Raketen den amerikani-
30 Militär-Strategie, S. 276. Soviet Military Strategy, S. 298. Siehe auch ibid., Anm. 26,
S. 24, in der die doppeldeutige Bezugnahme Chruschtschows vom 19. Januar 1963 auf
die Zahl von »80 bis 120« Langstreckenraketen als die mögliche Größe der sowjetischen
ICBM-Kräfte erörtert wird. Die einzigen tatsächlichen Zahlenangaben, die von einem
sowjetischen Führer in Zusammenhang mit den sowjetischen Raketenstreitkräften viel-
leicht gemacht wurden, waren die, die Marschall Malinowski im Oktober 1961 auf dem
22. Parteitag der KPdSU abgab, als er sagte, daß »gegenwärtig die Raketenstreitkräfte
ungefähr 1800 hervorragende (militärische) Einheiten umfassen«. Diese Zahl war, da sie
nicht mit einer Angabe über die Anzahl der Raketen oder deren Typen verbunden war,
relativ sinnlos. Prawda, 25. Oktober 1961.
31 Eine ziemlich ungewöhnliche Erklärung, die behauptete, die Sowjets hätten genügend
Kernwaffen, um »die Stützpunkte des Aggressors, seine Abschußrampen und Militär-
zentren in Asche zu verwandeln«, wurde Anfang 1964 von einem sowjetischen General
abgegeben, ohne Erwähnung eines Angriffs auf zivile Ziele. Diese Erklärung, die offen-
bar eine »counter-force«-Zielwahl beinhaltete, in einer Veröffentlichung, die zur Ver-
breitung außerhalb der Sowjetunion bestimmt ist, hat vielleicht widergespiegelt, daß man
auf Anschuldigungen, die UdSSR habe eine »Städte-Vernichtungs«-Strategie gewählt,
empfindlich reagierte. Siehe General Pawel Kurochkin, »War must be outlawed«,
Moscow News, 2. Februar 1964, S. 3.
32 Generalleutnant N. Sbytow, »Die Revolution in den militärischen Angelegenheiten und
ihre Folgen«, Roter Stern, 15. Februar 1963.
170 Kapitel XIII
sm.en in jeder Beziehung qualitativ überlegen seien, wendete sich Krylow der Frage
der Quantität wie folgt zu:
Es muß hinzugefügt werden, daß unsere Streitkräfte eine solche Quantität von nuklearen
Sprengköpfen und eine solche Quantität von Raketen besitzen, daß sie es uns erlaubt, falls
die Imperialisten einen Krieg beginnen sollten, jeden Angreifer, wo auch immer er sein
möge, einschließlich eines Angreifers, der über nukleare Waffen verfügt, zu vernichten aa.
(Hervorhebung wie im Original.)
Dieses Rüdtgreifen auf Schrägschrift illustriert das Handikap, unter dem sowje-
tische Autoren leiden, weil sie nicht einmal ungefähre Zahlenangaben über die
sowjetischen Raketen machen dürfen, wenn sie versuchen, sich im strategischen Dia-
log zu behaupten. Krylow spram. in diesem Interview übrigens nur davon, daß die
Sowjets in der Lage sind, Städte zu zerstören und ignorierte die Frage militärischer
Ziele völlig.
Thema der Beschränkungen der strategischen Kriegführung wurden heftig als ein
Versuch gebrandmarkt, »Regeln der Atomkriegführung« zu erfinden, die das kapi-
talistische System erhalten würden 36. Die sowjetische Mißbilligung der Konzep-
tionen eines kontrollierbaren strategischen Krieges wurden auch mit der Kritik der
amerikanischen counter-force Strategie oder Strategie der »Ausklammerung der
Städte« verbunden, ein Thema, das in einem der folgenden Kapitel behandelt wird.
Gleichzeitig gab es jedoch auch Anzeichen einer gewissen sowjetischen Reaktion auf
westliche Anregungen, daß Pläne zur Schadensbegrenzung ein passendes Diskus-
sionsthema seien. Der Glagolev-Larionov-Artikel vom November 1963, den wir
schon erwähnten, zeigte eine bemerkenswert defensive Haltung bezüglich dieser
Frage. Er griff westliche Kommentare auf, daß wie die sowjetischen Autoren es for-
mulierten, »die sowjetische strategische Konzeption starr sei und den Einsatz nukle-
arer Waffen im Falle eines Krieges keine Grenzen setze« 37. Der Artikel führte
dann an, daß die sowjetische Weigerung, Abmachungen zu erwägen, die die Wir-
kung hätten, den Kernwaffenkrieg zu »legalisieren«, tatsächlich »humanitärer sei
als die Haltung westlicher Fürsprecher der Schadenbegrenzungskonzeptionen«. An-
dere sowjetische Kommentare haben angedeutet, daß in der sowjetischen Haltung,
zwischen militärischen und nichtmilitärischen Zielen solle kein Unterschied gemacht
werden, zumindest ein Propaganda-Nachteil zu spüren sei. Verschiedentlich haben
sowjetische Autoren Protest dagegen erhoben - so z. B. ein gewisser Oberst Moro-
zow in der Kritik eines Artikels von Joseph Alsop -, daß die amerikanische Doktrin
»humaner« sein solle als die sowjetische, nur weil sie »die Betonung auf die Zer-
störung nur militärischer Ziele legt« 3B.
Bezüglich der hiermit zusammenhängenden Frage der Einführung verschiedener
Sicherheitsrnaßnahmen zu Verminderung der Möglichkeit eines zufälligen Aus-
bruchs eines Kernwaffenkrieges neigt die Sowjetunion dazu, die Angelegenheit
polemisch zu behandeln, ohne daß sich ein ernsthaftes Bestreben abzeichnen würde,
eine gegenseitige Verständigung auf diesem Gebiet zu erreichen - von der einen
Ausnahme des »heißen Draht«-Abkommens aus dem Jahre 1963 abgesehen. Die
sowjetische militärische Fachliteratur hat die Probleme und Techniken nuklearer
Sicherheitsrnaßnahmen nicht ernstlich erörtert. Auch hier gibt es aber einige An-
zeichen dafür, daß die Tatsache, daß die amerikanischen Vorschläge eine solche
Publicity erhalten, die Sowjets zu diesem Thema jedoch schweigen, einen empfind-
lichen Punkt trifft. So schlich sich z. B. in einen im übrigen prahlerischen Artikel des
Generaloberst Tolubko, Stellvertretender Befehlshaber der sowjetischen Raketen-
streitkräfte, vom November 1963 ein etwas defensiver Ton zu dieser Frage ein. Er
führte auf, wie bereit seine Raketenstreitkräfte seien, ihre Pflicht zu erfüllen und
39 Roter Stern, 19. November 1963. In einem folgenden Artikel im Roten Stern über die-
ses Thema wurde eine ganz entgegengesetzte Meinung vertreten. Der Befehlshaber einer
sowjetischen Raketeneinheit wurde dahingehend zitiert, daß »es unter seinen Unter-
gebenen einige gab, die schwache Nerven hatten. In einem falschen Angstgefühl baten
sie um ihre Versetzung«. Oberstleutnant A. Sgihnew und Major A. Shichalin, »Raketen-
Prosa«, Roter Stern, 8. Januar 1964.
40 Bericht vor dem 22. Kongreß der KPdSU, Prawda, 25. Oktober 1961. Chruschtschow
deutete in seiner Rede vom Januar 1960 vor dem Obersten Sowjet zuerst an, daß ge-
trennte Raketenstreitkräfte aufgestellt worden waren, aber erst Malinowski verkündete
das ausdrücklich. Die wörtliche übersetzung des sowjetisd!en Ausdrucks für die strategi-
schen Raketenstreitkräfte ist »Raketentruppen mit strategisd!er Bestimmung«.
41 Siehe Arnold L. Horelick und Myron Rush, The Politieal Use 0/ Soviet Strategie Power,
The RAND Corporation, RM-2831-PR, Januar 1962.
Vorrang strategischer Streitkräfte 173
'" "Eine mämtige Streitkraft«, Iswestija, 8. November 1963; »Strategische Raketen sind
immer alarmbereit«, Roter Stern, 21. Februar 1964.
4S Tolubko in: Roter Stern, 19. November 1963. Marschall V. Tsmuikow, »Der Smutz der
Bevölkerung ist die Hauptaufgabe der Zivilverteidigung«, Voennye Znaniia (Militär-
wissen), Nr. 1, Januar 1964, S. 3; Mareew in: Der Kommunist in den bewaffneten Kräf-
ten, Nr. 3, Februar 1964, S. 9-16.
44 Marsmall R. Ia. Malinowski, Stets auf der Wacht für den Frieden, Voenizdat Minister-
stva Oborony, SSSR, Moskau 1962, S. 43; Leitartikel, »Die Raketenstreitkräfte und die
Artillerie behüten das Vaterland«, Sovetskii Patriot, 18. November 1962; Generalmajor
D. Worobew, »Der Feuersmild des Vaterlands«, Sovetskii Patriot, 17. November 1963;
Malinowski in: Roter Stern, 23. Februar 1963; Birjusow in: Der Kommunist in den
bewaffneten Kräften, Nr. 4. Februar 1964, S. 19.
45 Glagolev und Larionov in: International Affairs, November 1963, S. 29.
46 Rede in Kalinin am 17. Januar 1964, Prawda, 18. Januar 1964.
174 Kapitel XIII
Interessanterweise smeint die außergewöhnliche Betonung, die jetzt sowohl auf die
militärismen als aum auf die psychologischen Aspekte der strategischen Raketen-
streitkräfte gelegt wird, bei einigen sowjetischen Militärs ein gewisses Maß an
erneutem dogmatischen Widerstand erzeugt zu haben. Das mag teilweise nur eine
Fortsetzung der bekannten Debatte sein, in der den Anhängern von Chruschtschows
modernistischen Theorien und Politik von Verteidigern traditionsorientierter Inter-
essen immer noch Widerstand entgegengebracht wird. Jedoch scheint auch ein neues
Element in den modernistisch-traditionalistischen Dialog eingebracht worden zu
sein. In letzter Zeit haben einige Verfasser militärischer Fachliteratur begonnen,
darauf hinzuweisen, solche modernistischen Vorstellungen wie der absolute Primat
der Kern- und Raketenwaffen seien zu weit getrieben worden und es bestehe die
Gefahr, daß sich so eine »neue Orthodoxie« bilde, die eine schöpferische Entwick-
lung der sowjetischen Militärtheorie und -kräfte lähmen würde.
Führend in dem Angriff gegen die neue Orthodoxie ist bis jetzt Marschall P. A. Ro-
tmistrow, der schon früher in eine Schrittmacherposition gebracht worden war. Die-
ser, eine farbige Persönlichkeit, Held des Panzerkriegs im Zweiten Weltkrieg und
darüber hinaus ein hervorragender Militärtheoretiker, war in der Mitte der fünfzi-
ger Jahre einer der ersten, der die stalinistische Militärdoktrin offen kritisierte. Wie
einige andere Fahnenträger einer »fortschrittlichen« Denkweise zur Zeit, als man
sich von Stalins veralteten militärischen Theorien löste, fand Rotmistrow sich später
oft bei der militärischen Debatte Anfang der sechziger Jahre auf der Seite der Kon-
servativen 48. Man kann Rotmistrow zwar nicht als ausgesprochenen Traditiona-
listen bezeichnen, er hat jedoch gern betont, daß trotz der wichtigen Rolle strategi-
49 Siehe Marschall P. Rotmistrow, »Moderne Panzer und Kernwaffen, Iswestija, 20. Okto-
ber 1962. Eine interessante Darlegung seiner Ansichten über die Beziehungen zwischen
den Trends moderner Waffen und traditionellen Werten und Methoden militärischer
Angelegenheiten findet sich in Rotmistrows Vorwort zu Geschichte der Kriegskunst, ein
großes zweibändiges Werk, das er herausgab und das bei Voenizdat Ministerstva Obo-
rony SSSR, Moskau, 1963 erschien. Rotmistrow betonte hier die Bedeutung des Studiums
der Geschichte der Kriegskunst als Hilfe zum Verständnis und zur Lösung gegenwärtiger
Militärprobleme. Er schalt ungenannte Kollegen, die »denken, daß das Studium der Er-
fahrung vergangener Kriege ... in der Gegenwart keine große Bedeutung hat, da ein
künftiger Krieg unter gänzlich anderen Umständen geführt werden wird«. Zwar »wäre
eine überbetonung dieser vergangenen Erfahrung ein großer Fehler«, nach Rotmistrows
Auffassung jedoch trifft auch zu, »was an den Erfahrungen der Kriege der Vergan-
genheit .... relevant geblieben ist, sollte verwendet werden und was veraltet ist, sollte ver-
worfen werden«. Rotmistrow argumentierte weiter, daß die Sowjetunion nunmehr eine
neue Generation von Offizieren habe, die »nicht durch die harte Schule des Krieges ge-
gangen sind und die keine persönliche Kampferfahrung haben. Das Studium der Ge-
schichte der Kriegskunst«, sagte er, »trägt dazu bei, diesen Mangel an persönlicher Kampf-
erfahrung in einem erheblichen Ausmaß auszugleichen«.
50 Die bei den Artikel waren: »Militärwissenschaft und die Akademien«, Roter Stern,
26. April 1964, und »Methodische Experimente oder die Suche nach Sensationen«, Roter
Stern, 20. Mai 1964.
~ Roter Stern, 26. Apra 1964. Im zweiten Artikel vom 20. Mai 1964 befaßte sich
Rotmistrow nid:!t mit aktuellen Problemen der Militärtheorie, sondern mit Lehrmethoden.
Der Artikel war eine Kritik des »programmierten Trainings« - eine kybernetische Lehr-
methode, für die die modernistisd:!en und fortgeschrittenen Rid:!tungen unter den militäri-
sd:!en Pädagogen eintraten. Anfang 1964 veröffentlid:!ten der Rote Stern und andere
Organe Artikel, in denen verbesserte Methoden des Trainings und die Annahme des
»programmierten Trainings« dringend gefordert wurden. Sie stammten vor allem von
Modernisten und Befehlshabern von Raketenstreitkräften, einsd:!ließlid:! Generaloberst
V. E. Tolubko, Stellvertretender Befehlshaber der strategisd:!en Raketenstreitkräfte; siehe
seinen Artikel »Raketen und Unterrid:!tsmethodenc, Roter Stern, 11. April 1964. Rot-
mistrow leugnete nid:!t, daß »programmiertes Training« eine Zukunft hätte. Er ver-
176 Kapitel X/li
Rotmistrow deutete an, Teile des modernistisdten Gedankenguts der jüngsten Ver-
gangenheit würden bereits in Frage gestellt. Er fuhrt fort: ,.Als Ergebnis bereits
durdtgeführter militärisdt-tedtnischer Untersudtungen ... beginnen heutzutage be-
reits gewisse eingeführte Auffassungen und Lehrsätze im Lidtte weiterer Entwick-
lung der Waffen und der militärisdten Tedtnologie ihre ursprünglidte Bedeutung
zu verlieren.« Zwar nannte Rotmistrow die fraglidten »eingeführten Auffassun-
gen« nicht bei Namen, er ließ jedodt später deutlidt erkennen, daß sidt seine Kritik
nidtt nur auf die modernistisdte Schule im allgemeinen bezog, sondern audt auf
Chrusdttsdtows eigene Stellungnahme zum Thema der modemen Waffen und ihres
Einflusses auf die Kriegführung:
Bei der Definition der Rolle (von Waffen und Streitkräften) im Krieg können Planungen,
die auf den erwarteten Ergebnissen des alleinigen Einsatzes eines einzigen neuen Waffen-
typs beruhen, zu irrigen Schlüssen führen.
Rotmistrow geißelte im weiteren soldte Ansdtauungen, die nadt seiner Meinung
offensichtlidt eine modernistische Betonung auf neue Waffen darstellen und be-
merkte an anderer Stelle:
Wir sollten uns durch keinerlei fruchtloses Theoretisieren ablenken lassen und die Realität
vergessen. Man sollte sich vergegenwärtigen, daß sowohl eine überschätzung als auch
eine Unterschätzung oder, schlimmer noch, eine verächtliche Haltung gegenüber dem alten
Streitkräftetypus oder gegenüber den alten Waffen nicht nur unstatthaft ist, sondern sogar
gefährlich, besonders im Rahmen taktischer Operationen, bei denen die Notwendigkeit
»alter« Waffen offenbar noch eine beträchtliche Weile bestehen wird.
Wie die Geschichte des Krieges lehrt, ersetzen neue Formen der Kriegführung die alten
nicht schlagartig, sondern schrittweise, da die neuen lange Zeit nicht ohne die alten aus-
kommen. Diese Situation trifft auch auf die Entwicklung von Waffen und Militärtechnolo-
gie zu.
.Khnliche Hinweise darauf, daß die neuen Waffen und Streitkräfte die alten nicht
sofort alle auf einmal ersetzen können, sind auch in anderen sowjetischen militäri-
schen Veröffentlichungen erschienen. In einem Buch, das Oberst S. I. Krupnow ver-
faßte (Dialektik und Militärwissenschaft), das Ende des Jahres 1963 erschien, wer-
den zwei Gründe für die Gültigkeit dieser Behauptung angeführt: »Erstens, selbst
alte Waffen sind sehr teuer, und keine Regierung kann es sich leisten, sie auf den
Schrotthaufen zu werden, ehe eine allgemeine und vollständige Abrüstung erfolgt;
zweitens, Kernwaffen und Raketen können nicht alle Aufgaben eines modernen
Krieges lösen, wie schlagkräftig sie auch sein mögen.« 52
sicherte jedoch, daß es konventionellere Methoden nicht ersetzen könne und erhob den
Vorwurf, daß es manchmal dazu führe, daß sensationelle, aber schädliche Ziele verfolgt
würden. In diesem Zusammenhang kritisierte er den Lehrkörper der Höheren Ingenieur-
schule für Radiotechnik in Kiew, der »allerlei ausgedachte Lehrapparate« verwende.
Diese Schule hat auf dem Gebiet der Forschung und Theorie der Kybernetik Pionierarbeit
geleistet, so auch bei dem Einsatz verschiedener Arten von Lehrmaschinen. Rotmistrows
Artikel schien im allgemeinen seine These vertreten zu sollen, traditionelle Werte und
Methoden sollten nicht über Bord geworfen werden. Das betrachtet er nämlich offenbar
als ein Laster der modernistischen Schule.
52 Oberst S. 1. Krupnow, Dialektika i Voennaia Nauka (Dialektik und Militärwissen-
schaft), Hrsg. Generalmajor S. N. Kozlow, Voenizdat Ministerstva Oborony SSSR, Mos-
kau, 1963, S. 109-110.
Vorrang strategischer Streitkräfte 177
Nicht die gesamte Reaktion, die neuerdings gegen die vorherrschende Betonung der
strategischen Raketenstreitkräfte auftritt, war speziell gegen modernistische Ten-
denzen als solche kritisch. Es ist bemerkenswert, daß einige Kritiker gerade dar-
über Beschwerde führen, daß die Befürworter der Raketen sozusagen davor halt-
machen, alle Möglichkeiten, die andere Arten der modernen Militärtechnologie
bieten, auszunutzen. Auch Rotmistrows Bemerkungen haben etwas von dieser An-
schauung an sich. Ein besseres Beispiel gibt vielleicht der Artikel des Generalmajor
W. Bolotnikow, der im April 1964 im Roten Stern erschien. Er wies sich deutlich als
Modernist aus durch seine Aussage:
Waffen und Einsatzmethoden haben sich gewandelt. Diese Wahrheit ist offenkundig, und
die meisten Befehlshaber haben sie klar erkannt. Man trifft aber immer nom Leute, die
über moderne Waffen sonderbare Ansimten haben. Sie werden bis zum bitteren Ende nimt
verstehen, daß man das Problem des Einsatzes der neuen Waffen nimt mit den alten Maß-
stäben messen kann 53.
An anderer Stelle seines Artikels, der von der Bedeutung der Revolution des Wehr-
wesens für die Luftfahrt handelte, legte Bolotnikow dar, daß die Anpassung an die
neuen Waffen eine volle Ausnutzung des Potentials der Luftwaffe umfassen solle.
In übereinstimmung mit Rotmistrows These betonte der Artikel, daß im Kern- und
Raketenzeitalter neben den strategischen Raketenstreitkräften auch noch andere
Waffen in der modernen Kriegführung eine wichtige Rolle beibehalten. Sowjeti-
sche Ansichten über die neue Rolle dieser Waffen werden im nächsten Kapitel be-
trachtet.
Obwohl es sidt als der auffallendste Trend des sowjetischen militärisdten Schrift-
tums abzeidtnet, daß auf die strategischen Raketenstreitkräfte ständig mehr Be-
tonung gelegt wird, hat die sowjetische Planung die anderen sowjetischen Teilstreit-
kräfte nidtt entsprechend vernachlässigt. Die Wirkung der neuen Raketenwaffe auf
die sowjetische Doktrin und Strategie hat wahrsdteinlich die Bemühungen, die Rolle
der anderen Teilstreitkräfte neu zu umreißen und einzuschätzen, sogar noch ange-
regt. Dieses Kapitel wird einige der Haupttrends der neuesten sowjetischen Diskus-
sion bezüglidt der veränderten Funktion der traditionellen Land-, Luft- und See-
streitkräfte berühren.
Die Landstreitkräfte
7 Militärstrategie, S. 343.
8 Ibid.
9 Generalleutnant V. Margelow, »Die Vorschriften eines Fallschirmjägers«, Roter Stern,
31. Januar 1963.
10 Soviet Military Strategy, S. 341; Militär-Strategie, S. 281; Generalleutnant N. Sbytow,
»Die Revolution in militärischen Angelegenheiten und ihre Folgen«, Roter Stern,
15. Februar 1963; Malinowski in: Roter Stern, 23. Februar 1963.
11 Nach sowjetischem Sprachgebrauch umschließen »strategische Raketen« ICBM-, IRBM-
und MRBM-Raketen. Diese stehen unter der Kontrolle der strategischen Raketenstreit-
kräfte, die unmittelbar unter dem Sowjetischen Oberkommando sind. Andere Raketen
mit geringerer Reichweite, im sowjetischen Sprachgebrauch als »operativ-taktische Rake-
ten« bezeichnet, finden sich in der Ausrüstung der Land-, Luft- und Seestreitkräfte.
»Taktische Raketen« bezieht sich hier auf die sowjetische Kategorie der »operativ-takti-
schen Raketen«. Siehe die Erklärung in Soviet Military Strategy, S. 51, 521.
12 Marschall S. Warentsow, »Die Raketen: gewaltige Waffe der Landstreitkräfte«, Iswestija,
2. Dezember 1962.
13 Soviet Military Strategy, S. 341; Militär-Strategie, S. 340.
Die neue Rolle der traditionellen Streitkräfte 181
Eine andere Xnderung trat an einer Stelle ein, wo festgestellt wurde, daß die takti-
schen Raketentruppen »das Hauptmittel sein werden, den Weg frei zu machen ...
für Panzer und motorisierte Truppen« 14. In der revidierten Ausgabe fehlt das
Wort »Hauptmittel«, und statt dessen heißt es, die Raketeneinheiten der Land-
streitkräfte werden.
dazu beitragen, den Weg frei zu madten ... durdt die Zerstörung ,der feindlichen Ziele und
Truppengruppierungen, die Sdtläge durdt die strategisdten Raketentruppen etwa überlebt
haben ... 15
Die Wirkung dieser Xnderungen legt nahe, daß etwa im Laufe des letzten Jahres
eine gewisse Neueinschätzung der Rolle der taktischen Raketeneinheiten innerhalb
der Landstreitkräfte möglicherweise stattgefunden hat, die zu einer Abwertung
ihres Beitrags in Schlachtfeldoperationen führte. Daß der Erwartung, strategische
Raketeneinheiten werden eine größere Rolle dabei spielen, für Operationen auf
Landkriegsschauplätzen »den Weg frei zu machen« Ausdruck gegeben wurde, trug
hierzu weiter bei. Jedoch vermitteln andere sowjetische Militärveröffentlichungen
den Eindruck, daß der Einsatz von taktischen Kernwaffen in Schlachtfeldoperatio-
nen immer noch eine vieldiskutierte Frage ist. Wie im Kapitel X in der Erörterung
des begrenzten Krieges dargelegt wurde, zeigen einige sowjetische Militärs ein ge-
steigertes Interesse an dem Wert von Handfeuerwaffen für taktische Zwecke. So
nahm Generaloberst Shtemenko z. B. im Februar 1963 bei einer Beurteilung be-
zeichnender Waffenentwicklungen auf die westliche Entwicklung von »Kernwaffen
mit kleinem und sehr kleinem Detonationswert« Bezug, obschon er sich hinsichtlich
der sowjetischen Aktivität auf diesem Gebiet nur unverbindlich äußerte 16. Ein
Artikel des Generalmajors Anureew im Roten Stern vom November 1963 legt auch
eine ziemlich ungewöhnliche Betonung auf den Wert von Handfeuerwaffen. Er
stellte fest:
Die Notwendigkeit soldter Waffen wird durdt die Umstände selbst diktiert. Es ist sdtwie-
rig, auf dem Schlachtfeld nukleare Sprengköpfe mit großem Detonationswert einzusetzen ...
ohne die Vernichtung der eigenen Streitkräfte zu riskieren 17.
Ebenso wie in anderen Ländern, die ein Kernwaffenpotential besitzen, ist die Frage
der Aufrechterhaltung doppelter Fähigkeit - sowohl nuklear als auch konventio-
nell - bei den sowjetischen Landstreitkräften unzweifelhaft eines der umfassendsten
und schwierigsten Probleme, mit denen die sowjetische Militärplanung fertig wer-
den muß. Es ist daher erstaunlich, daß eine Diskussion von Experten über die tech-
nischen und operationalen Probleme, die daraus entstehen, in nur sehr geringem
Umfang in dem sowjetischen Militärschrifttum auftauchte. Die übliche Abhandlung
des Problems geht kaum über die Feststellung hinaus, daß die sowjetischen Land-
streitkräfte bereit sein müßten, sowohl nukleare als auch konventionelle Waffen
einzusetzen, und daß die Verbesserung der konventionellen Waffen parallel mit
der Entwiddung der neuen Waffenarten vorangehen werde 18.
Die zugrunde liegende dogmatisme Annahme im heutigen sowjetism.en Smrifttum
ist, daß in einem allgemeinen Krieg der Einsatz konventioneller Waffen im Rahmen
von Operationen stattfmden werde, die von Kernwaffen bestimmt sind. Einige
Äußerungen geben jedom. zu erkennen, daß konventionelle Streitkräfte in einer
Reihe möglim.er Gegebenheiten unabhängig eingesetzt werden können. Beide Aus-
gaben des Sokolowski-Werks stellen z. B. fest, daß konventionelle Waffen ,.in loka-
len und Weltkriegen in großem Umfang eingesetzt werden, entweder unabhängig
oder zusammen mit neuen Waffentypenc 11. Zwar gibt es gegenwärtig in der offen
zugänglimen sowjetism.en Literatur keine Doktrin für einen rein konventionellen
Krieg großen Ausmaßes, es haben sim aber, wie smon erwähnt, neuerdings Anzei-
men für ein erwamendes Interesse an der Frage lokaler Kriege, die konventionelle
Operationen ziemlim. großen Umfangs umfassen könnten, erkennen lassen 20.
Die Luftwaffe
Wie bei den sowjetism.en Landstreitkräften hatten aum bei der Luftwaffe der tem-
nologisme Wandel und andere Faktoren auf die traditionellen Funktionen und die
Doktrin einen starken Einfluß. Diese Teilstreitkraft war im sowjetismen Schema
weniger verwurzelt als die Landstreitkräfte. So wurde z. B. die Luftwaffe erst nach
dem Krieg mit den Landstreitkräften und der Marine auf die gleim.e Stufe gestellt
und somit zu einer der drei Grundteilstreitkräfte der Streitkräfte 21. Infolgedessen
hatte die Luftwaffe es vielleimt nom smwerer als die Landstreitkräfte, sim gegen
die Konkurrenz der Raketentemnologie zu behaupten. Dies legt eine Stelle der
ersten Sokolowski-Ausgabe nahe, wo es heißt:
Heute ist die Luftwaffe in einer besonderen Lage. In den letzten Jahren gab es eine scharfe
Konkurrenz zwischen Bombenflugzeugen, Raketen und Luftwabwehrwaffen. In dieser
Konkurrenz siegten Luftabwehrwaffen über Bombenflugzeuge ... folglich treten die Lang-
streckenbomber schnell ihren ersten Platz an interkontinentale Bomber und Mittelstrecken-
raketen ab 22.
Den Eindruck der ersten Sokolowski-Ausgabe, daß viele Entscheidungen be-
züglich der künftigen Entwicklung der Luftwaffe wahrsm.einlich nom ausstehen
oder in der Diskussion sind, haben die zweite Ausgabe oder andere sowjetische Ver-
öffentlichungen in der Zwischenzeit nicht geändert. Das Gebiet, das in der sowjeti-
schen Luftstreitmacht-Doktrin am stärksten umstritten ist, scheint die Rolle der
Langstreckenbomber zu betreffen, obschon auch das relative Gewicht der taktischen
Raketen und der taktischen Luftwaffe bei der Durchführung von Operationen auf
den Kriegsschauplätzen umstritten ist.
Der Fall der Langstreckenbomber, durch die die Sowjetunion die ersten interkonti-
nentalen Träger hatte, ehe die ballistischen Raketen aufkamen, ist nicht nur durch
die Konkurrenz anderer Waffensysteme betroffen oder könnte es werden, sondern
auch durch die jüngsten Abrüstungsvorschläge, soweit sie sich auf strategische Träger
beziehen. Diese reichten von einem amerikanischen Vorschlag, den gegenwärtigen
Stand aller Arten strategischer Träger »einzufrieren« bis zu einem sowjetischen
Vorschlag, die gesamten Bomberbestände zu verschrotten 23. ChruschtschoW hat
außerdem angekündigt, daß die Sowjetunion die Herstellung strategischer Bomber
und überwasserkriegsschiffe einstellen werde 24, was zweifellos die Möglichkeiten
der Militärexperten, sich zur Bomberfrage zu äußern, beschränkt.
Nach der revidierten Sokolowski-Auflage und anderen Fachveröffentlichungen zu
schließen, zeichnete sich seit ungefähr einem Jahr ein weiterer Trend ab, den Wert
von Langstreckenbombern geringer einzuschätzen - der jedoch bis zu einem gewis-
sen Grad durch die weiterhin bestehende Erkenntnis, daß durch Luft-Boden-Rake-
ten die Lebensfrist der Bomber verlängert wird, eine Abschwächung erhält 25. So
stellten z. B. die erste und die zweite Sokolowski-Ausgabe fest, daß für strategische
Missionen in der Tiefe des feindlichen Gebietes Raketen besser geeignet seien als
Bomber 26. In beiden Auflagen wurde auch bemerkt, daß der Gebrauch von Luft-
Boden-Raketen die Kampfeinsatzmöglichkeiten der strategischen Bomber ver-
längern kann 27. In der zweiten Auflage heißt es, daß Luft-Boden-Raketen die
»Einsatzmöglichkeiten der Langstreckenbomber wesentlich erhöhen«, indem sie es
ihnen gestatten, »Schläge gegen Objekte des Gegners führen zu können, ohne in
seine Luftverteidigungszone einzudringen«. Die Autoren führen dann jedoch aus:
Aber auch unter diesen Umständen werden die strategischen Bomber ihre frühere Bedeu-
tung nicht wiedererlangen können. Ihre Geschwindigkeit ist im Vergleich zu den ballisti-
schen Raketen zu gering 28.
23 In seiner Botschaft vom 21. Januar 1964 an die Genfer Abrüstungskonferenz drang
Präsident Johnson darauf, daß die USA und die Sowjetunion ihre Zustimmung dazu
gäben, ein kontrolliertes Einfrieren der Zahl und der Charakteristiken der strategischen
Angriffs- und Verteidigungsnuklearträger zu erkunden. New York Times, 22. Januar
1964. Die Sowjetunion verlangte im Gegenzug die Zerstörung aller Bomber, ohne daß
man ein übereinkommen über eine allgemeine und völlige Abrüstung abwarte. New
Y ork Times, 29. Januar 1964.
24 New York Times, 11. Juni 1963.
25 Sbytow in: Roter Stern, 15. Februar 1963; Malinowski in: Roter Stern, 23. Februar 1963.
26 Militär-Strategie, S. 346; Soviet Military Strategy, S. 346.
27 Militär-Strategie, S. 346; Soviet Military Strategy, S. 346.
28 Militär-Strategie, S. 347. In der zweiten Ausgabe wurden Beispiele genannt von Luft-
Boden-Raketen von ,,400-500 km und mehr Reichweite« im sowjetischen Fall, verglichen
mit Hound-Dog- und Blue-Streak-Raketen mit jeweils »800 und 600-1000 km« im
Westen.
184 Kapitel XIV
Es gab in der Sokolowski-Auflage des Jahres 1963 auch noch andere Anzeichen
dafür, daß die Autoren die Rolle der Langstreckenbomber nun etwas anders ein-
schätzten als Mitte des Jahres 1962. So legten sie in einem Absatz über Bomber-
einflüge im feindlichen Luftraum größere Betonung auf die Schwierigkeiten, Bom-
beranflüge »vor den modemen Mitteln der Funkmeßaufklärunge H geheimzuhal-
ten. An anderer Stelle ließ die zweite Auflage in einer Erörterung der Möglichkeiten
künftiger Entwidcl.ung des Flugwesens, einschließlich solcher Flugzeuge, die keine
ausgebauten Start- und Landebahnen benötigen, eine Bezugnahme auf die Fest-
stellung weg, daß die Entwidcl.ungstrends die Bedeutung der Einsatzmöglichkeiten
von Flugzeugen ,.in der Tiefe« des feindlichen Gebietes zu erhöhen versprechen 10.
Diese Auslassung läßt darauf schließen, daß in bezug auf eine Verbesserung der
Einsatzmöglichkeiten von Flugzeugen, die - wie die Langstredtenbomber - Auf-
gaben in der Tiefe des feindlichen Gebietes haben, ein gedämpfterer Optimismus
herrscht.
Andererseits kommen bei einer Erörterung strategischer Operationen, wo auf künf-
tige Trends nicht besonders Bezug genommen wird, die strategischen Bomber in der
zweiten wie in der ersten Sokolowski-Auflage etwas besser weg. In beiden Auflagen
wird den Langstredtenbombern und der strategischen Raketenwaffe eine feste
Funktion als dem Hauptmittel zur Durchführung strategischer Angriffe zugeschrie-
ben 31. Dazu kommt, daß die neue Auflage größere Betonung auf die Rolle der
Langstredtenbomber bei »unabhängigen Schlägen gegen Objekte des Gegners, ins-
besondere auf hoher See«, legt 32. Diese Betonung mag die vermehrte Aktivität der
sowjetischen Langstredtenluftstreitkräfte des vergangenen Jahres, über deren Be-
schattung amerikanischer Flugzeugträger auf See mehrfach in der Presse berichtet
wurde, widerspiegeln 83. In einer Aufzählung der sowjetischen Kräfte, die bei der
Störung der Seeverbindungen des Gegners eine Rolle spielen würden, führte die
neue Auflage auch die Langstredten-Luftstreitkräfte an 34.
Die schwankende Haltung, die die beiden Sokolowski-Auflagen in der Behandlung
der Langstredtenbomber erkennen lassen, findet sich auch in anderen sowjetischen
Militärkommentaren, vor allem in der Einschätzung von Bombern, die als Luft-
Boden-Raketenträger ausgerüstet sind. Die Meinungsverschiedenheiten zu diesem
Thema sind unabhängig von der Zugehörigkeit zu den jeweiligen Teilstreitkräften 35.
28 Ibid., S. 346. Man möge sich an die Erröterung in Kapitel X erinnern, daß die
Sowjets betont haben, moderne Aufklärungsmittel seien einer der Faktoren, die die Aus-
sichten eines erfolgreichen ersten Schlags der Amerikaner gegen die Sowjetunion verrin-
gern würden. So auch im Glagolev-Larinov-Artikel in International Affairs.
30 Militär-Strategie, S. 348; Soviet Military Strategy, S. 347.
31 Militär-Strategie, S. 420, 421; Soviet Military Strategy, S. 406, 408, 410.
32 Militär-Strategie, S. 348.
33 Siehe Washington Post, 17. und 19. März, und New York Times, 5. Juni 1963.
U Militär-Strategie, S. 439.
85 Gewiß bestehen auch Auffassungen in der Sowjetunion, die sich nach der Truppen-
gattung richten, und sind ohne Zweifel ein Faktor in der internen Militärdebatte. Es ist
jedoch schwierig, zwischen irgendeinem besonderen Truppengattungs-Gesichtspunkt und
den modernistisch-traditionalistischen Richtungen eine enge Verbindung zu finden, mit
der Ausnahme vielleicht, daß die traditionalistische Richtung schon allein aus Gründen
Die neue Rolle der traditionellen Streitkräfte 185
der Zahl bei den Landstreitkräften weiter verbreitet ist. Bei der Luftwaffe mögen viele
Offiziere natürlich in die modernistische Richtung neigen, ihre Interessen liegen jedoch oft
denen der Traditionalisten näher. So sind z. B. die Raketenstreitkräfte, die zum Liebling
der Partei geworden sind und bei denen die modernistische Richtung blüht, ihrem Wesen
nach Rivalen um Gunst und Ressourcen gegenüber den Fürsprechern für Langstrecken-
bomber innerhalb der Luftstreitkräfte. Gleichzeitig finden Kreise der taktischen Flieger
in der Luftwaffe ihre natürlichen Verbündeten beim Ausbilden der Doktrin und Bereit-
stellen von Ressourcen unter den überzeugten Traditionalisten, die große Streitkräfte mit
verbundenen Waffen für Einsätze auf einzelnen Kriegsschauplätzen erhalten wollen.
36 Roter Stern, 23. Februar 1963.
37 Roter Stern, 10. Januar 1964.
38 A. Tupolew, "Das Flugzeug als Raketenträger«, Aviatsiia i Kozmonavtika (Das Flug-
wesen und die Raumfahrt), Nr. 6, Juni 1962, S. 4.
39 Der Kommunist in den bewaffneten Kräften, Nr. 3, Februar 1963, S. 24.
186 Kapitel XIV
wies darauf hin, daß weitere tedmologische Verbesserungen der Flugzeuge zum
Gefechtseinsatz zu erwarten seien:
Es gibt viele Spezialaufgaben, wie etwa die Vernichtung beweglicher Ziele, die besser von
Bombern oder Jagdbombern gelöst werden können als von Raketen. Durch eine weitere
Vervollkommnung der Flugzeugraketen wird die Wirksamkeit des Einsatzes von Bomben-
flugzeugen auf dem Gefechtsfeld wesentlidt erhöht werden "'.
Nicht nur die strategischen Langstred.ten- und taktismen Unterstützungsfunktionen,
aum andere Aufgaben der Luftwaffe wurden neu gewertet. Der Trend geht gegen-
wärtig dahin, für Jagdflugzeuge »im Verlauf der nächsten Jahre« eine bedeutende
Rolle im System der Luftverteidigung und die Notwendigkeit verbesserter Kampf-
fliegerfähigkeiten, einsmließlim der Reimweite, vorauszusehen 41. Die Bedeutung
der Luftaufklärung wird jetzt höher angesetzt und als eine der ,.wimtigeren Auf-
gaben der Flieger« bezeichnet 41. In diesem Zusammenhang legte die revidierte
Sokolowski-Auflage zusätzlimes Gewimt auf die Notwendigkeit von Luftaufklä-
rung sowohl zur Unterstützung der Raketentruppe als aum zur Ortung von
U-Boot-Basen und U-Booten auf hoher See 43. Aum der Unterstützung seitens der
Luftstreitkräfte beim Absetzen von Truppen, beim Transport von Material und bei
der Simerstellung von Namrimtenverbindungen wird in der gegenwärtigen sowje-
tisdlen Militärdiskussion eine wamsende Bedeutung beigemessen 44.
Die interessanteste Entwicklung im sowjetismen Militärdenken bezüglich der Dok-
trin zur künftigen Rolle der Luftmacht war vielleicht die Reaktion, die sich seit kur-
zem bei einigen Stellen gegen die einseitige Betonung auf Raketen, die im vorigen
Kapitel dargestellt wurde, abzeichnet. In einem Artikel vom April 1964, der schon
eine wachsende Unzufriedenheit mit der neuen Raketen-Orthodoxie anzukündigen
schien, zeichnete Marsmall Rotmistrow, der bis dahin nicht als ein besonders eifriger
Fürsprecher der Luftwaffe galt, die Luftfahrt mit einer besonderen Würdigung aus.
Rotmistrow sprach hauptsächlich von dem Einsatz der Luftstreitkräfte zur Unter-
stützung bei einzelnen Kampfhandlungen. Er sagte: ,. Trotz dem Einsatz von Rake-
ten wird auch die Luftwaffe eine wichtige Funktion haben, vor allem bei Operatio-
nen von Panzertruppen und anderen Kampfgruppen, die von den übrigen Streit-
kräften getrennt sind.«
In einem Bewegungskrieg wird die Luftwaffe nidtt nur ein unersetzliches Aufklärungs-
mittel sein, sondern auch ein zuverlässiges und hinreidtend wirkungsvolles Instrument zur
Zerstörung beweglicher Ziele durdt Einsatz von nuklearen und konventionellen Bomben 45.
Die Luftwaffe werde, so versicherte Rotmistrow, die Landstreitkräfte trotz der
Entwicklung der Fla-Raketen unterstützen können. ,.Folglich«, sagte er, ,.wird
40 Militär-Strategie, S. 347. Dieses Wiederaufleben der Betonung auf taktisdte Flieger für
Sdtladttfeldunterstützung ist in Zusammenhang mit einer möglidten Abwertung der Bei-
träge der taktisdten Raketen, die wir sdton erwähnten, von besonderem Interesse.
41 lbid., S. 345, 347.
421bid.
43 lbid., S. 348.
44Ibid., S. 348. Siehe audt Marschall K. A. Wersdtinin, "Die Stärke der Luftwaffe
wädtst«, Roter Stern, 1. Februar 1964; Margelow in: Roter Stern, 31. Januar 1963; Malin-
owski in: Roter Stern, 23. Februar 1963.
45 Marschall P. Rotmistrow, »Militärwissensdtaft und die Akademien«, Roter Stern,
26. April 1964.
Die neue Rolle der traditionellen Streitkräfte 187
trotz der schnellen Entwicklung der Raketen und der Raketentechnologie im all-
gemeinen der Luftwaffe in einem künftigen Krieg offensichtlich eine bedeutende
Funktion zukommen.« Rotmistrow riet dringend, daß Spezialisten der höheren
Luftwaffenakademien sich »der Ausarbeitung von Methoden des Einsatzes der
Luftwaffe unter den Bedingungen des modernen Krieges widmen sollten«. Weiter-
hin ermahnte er sie, darauf zu bestehen,
neue Fragestellungen auszuarbeiten, die eine wirkliche Bedeutung für die Zukunft haben
und sich von den fruchtlosen Wiederholungen selbst der »feststehenden Lehrsätze« der
Stabslehrbücher zu befreien.
Rotmistrow ignorierte weithin in seiner Argumentation für eine Zukunft des Flug-
wesens das Problem: Langstreckenbomber oder strategische Rakete. Nicht so hin-
gegen Generalmajor Bolotnikow, dessen Analyse der künftigen Möglichkeiten der
bemannten Luftwaffe ungefähr gleichzeitig mit Rotmistrows Kommentar im Roten
Stern erschien. Er legte dar, Flugzeuge seien bei der Durchführung wesentlicher mili-
tärischer Aufgaben ebensogut wie Raketen allein, in manchen Fällen sogar besser.
Bolotnikow zog es vor, die Interdependenz von Raketen und Flugzeugen zu be-
tonen, statt das eine oder das andere »absolut zu setzen«. Dazu sagte er:
Es ist einfach, Flugplätze mit Raketen zu zerstören. Es ist noch einfacher, Abschlußrampen
mit Flugzeugen zu treffen. Raketen bedürfen der Aufklärung durch Flugzeuge. Es bildet
sich eine sonderbare Zusammenarbeit. Dafür ist die Möglichkeit, Raketen von schweren
Flugzeugen aus abzufeuern, ein Beispiel 46.
Obwohl er der Zuversicht Ausdruck gab, daß die Fortschritte in der Technologie
und in Operationstaktiken - z. B. die Entwicklung von Luft-Boden-Raketen und
»Operationen aus sehr geringer Höhe« - dem bemannten Flugwesen neue Wege
öffnen würden, zeigte Bolotnikow doch einige Besorgnis, seine Zuversicht werde
nicht allgemein geteilt. Verschiedentlich bemerkte er kritisch, es gebe immer noch
»Leute, die sehr an der alten Art hängen«. An einer anderen aufschlußreichen Stelle
sagte er eher traurig: »Wie merkwürdig ist es doch, daß die triumphale Demon-
stration der fast unbegrenzten Möglichkeiten des Flugwesens zu einem sonderbaren
Pessimismus ihm gegenüber geführt hat. Einige ausländische Persönlichkeiten z. B.
neigen zu der Festellung, daß das Flugwesen seinen eigenen Bankrott erklärt hat;
daß bei den heutigen Geschwindigkeiten und Höhen der Vorteil der Anwesenheit
von Menschen an Bord eines Flugzeugs sehr zweifelhaft ist.« Wenn Bolotnikow
diese pessimistischen Gedanken »ausländischen Skeptikern« zuschrieb - wie sowje-
tische Autoren das oft tun, wenn sie umstrittene Fragen behandeln -, so ist es doch
gut möglich, daß er dabei an einige Eigenprodukte von Skeptikern dachte.
Die Seestreitkräfte
Der große Wandel, der durch den Zweiten Weltkrieg, bei dessen Ende die Sowjet-
union und ihre kontinentalen Satelliten sich einer weltweiten Koalition von See-
47 Im Jahre 1955 wurde Admiral N. G. Kuznetsow, Chef der Seestreitkräfte, entlassen, weil
er eine große überwasserflotte befürwortete, gegen die vielleicht auch Marschall Schu-
kow, damals Verteidigungsminister, war. Siehe Raymond L. Garthoff, Soviet Strategy in
the Nuclear Age, Rev. Ausg., Frederick A. Praeger, Inc., New York 1962, S. 37 f. Chru-
schtschow selbst wurde manchmal als» Vater der V-Boot-Flotte« bezeichnet, der angeb-
lich Schukow bezüglich der Notwendigkeit von V-Booten überstimmte. Schukow wurde
etwas tendenziös, als der Gegner nicht nur der überwasserschiffe, sondern auch der
V-Boote hingestellt. Siehe Val. Goltsev, »Atom-V-Boote auf Fahrt«, lswestija, 11. Ok-
tober 1961.
48 New York Times, 11. Juni 1963.
49 Zu amerikanischen Kommentaren dieses Punktes siehe die amerikanische analytische Ein-
leitung, Soviet Military Strategy, S. 55. Ein sowjetischer Kritiker war Admiral
w. A. Alafuzow, der im Januar 1963 in einem sowjetischen Marinejournal schrieb. Ala-
fuzow fand in der ersten Sokolowski-Ausgabe eine Tendenz, zu sicher mit der Verwund-
Die neue Rolle der traditionellen Streitkräfte 189
gabe hingegen bezeichnete dieses Problem als »eine sehr wichtige Aufgabe der Ma-
rine« 50. In einer ausführlicheren Erörterung der U-Boot-Bekämpfung stellten die
Sokolowski-Autoren fest, daß solche Operationen heutzutage aus großen Entfer-
nungen durchgeführt werden müssen und daß »das bisherige System der küsten-
nahen U-Boot-Bekämpfung gegen Raketen-U-Boote unwirksam sein wird« 51. Im
neuen Band wurde den Jagd-U-Booten eine wichtigere Funktion zugewiesen und
erklärt, sowjetische U-Boote, die zur U-Boot-Bekämpfung eingesetzt werden, seien
mit »zielsuchenden Raketen« und Torpedos ausgerüstet 52. Auch die sowjetischen
strategischen Raketentruppen, Fernfliegerkräfte und Überwasserschiffe sollen ihr
Teil gegen die Polaris-Bedrohung beitragen 53. Die Sokolowski-Autoren beurteilen
das Polaris-Problem zwar nüchterner als in der ersten Auflage, sie versicherten
jedoch erneut, solche U-Boote seien trotz gegenteiliger ausländischer Behauptungen
»verwundbar« 54. In diesem Zusammenhang sagen sie:
Atom-U-Boote mit Polaris-Raketen können in ihren Stützpunkten durch Schläge der stra-
tegischen Raketentruppen und der Fernfliegerkräfte vernichtet werden, während sie auf
See und in ihren Einsatzräumen durch Jagd-U-Boote, Fernfliegerkräfte und andere U-Ab-
wehrkräfte und -mittel vernichtet werden 55.
Andere sowjetische Erörterungen lassen abweichende Ansichten über das Problem
der U-Boot-Bekämpfung erkennen. Einige Sprecher, darunter Admiral S. G. Gor-
schkow, Befehlshaber der sowjetischen Seestreitkräfte, haben sich ziemlich zuver-
sichtlich über die »Erfolge« der sowjetischen U-Boot-Bekämpfung bei Übungen ge-
äußert 56. Im Oktober 1963 sagte ein sowjetischer Admiral, daß auf dem Gebiet der
U-Boot-Bekämpfung »Methoden und Ausrüstung jedes Jahr weiter verbessert wer-
den«. Er stellte allerdings fest, »Tarnung und das Überraschungsmoment« könnten
U-Boot-Bekämpfungsoperationen vereiteln 57. Ein Kommentar in einer militäri-
schen Zeitschrift vom Juli 1963 in der Beschreibung einer U-Boot-übung zur Durch-
dringung eines U-Boot-Sperrgürtels läßt auf eine Verbesserung der U-Boot-Be-
kämpfung schließen. Es wird nämlich festgestellt, der Kommandeur eines U-Bootes
sei »sehr beunruhigt gewesen durch den beispiellosen Aktionsradius eines U-Boot-
barkeit der Polaris-U-Boote zu rechnen und sah auch bei der Behandlung anderer
Marineprobleme Mängel. ,.Zur Veröffentlichung des Buchs >Militärstrategie<<<, Marine-
Zeitschrift, Nr. 1, Januar 1963, S. 94.
50 Militär-Strategie, S. 439.
51 lbid., S. 440; Soviet Military Strategy, S. 422.
52 Militär-Strategie, S. 420.
53 lbid., S. 440.
54 lbid., S. 439. Einige sowjetische Autoren über Marineangelegenheiten haben auch weiter-
hin versichert, daß Polaris-U-Boote aus verschiedenen Gründen verwundbar sind, ein-
schließlich dem »Geräusch«, das sie angeblich machen, wenn sie unter Wasser fahren.
Admiral A. Chabanenko, »Nukleare Pfadfinder des Pentagon«, lswestija, 1. Dezember
1963. Siehe auch Kapitän z. S. Y. Mamaew, »Ziele im Ozean«, Roter Stern, 4. April 1963;
Kapitän z. S. V. P. Rogow, »Amerikanische Imperialisten bilden ein >Polaris<-Oberkom-
mando«, Marine-Zeitschrift, Nr. 5, Mai 1963, S. 77-85.
55 Militär-Strategie, S. 440
56 »Große Aufgaben der sowjetischen Seestreitkräfte«, Roter Stern, 5. Februar 1963.
57 Flotillenadmiral F. Maslow, "Plötzlich und heimlich«, Roter Stern, 12. Oktober 1963.
190 Kapitel XIV
58 Kapitän z. S. N. Belous, »Herren der Tiefe«, Der Kommunist in den bewaffneten Kräf-
ten, Nr. 13, Juli 1963, S. 51. Es ist zu erwähnen, daß in diesem Bericht das U-Boot
schließlich, trotz Schwierigkeiten, die ASW-Sperre durchbrach.
59 Marine-Zeitschrift, Januar 1963, S. 95.
60 Militär-Strategie, S. 439.
61 lbid., S. 439; Soviet Military Strategy, S. 421.
62 Militär-Strategie, S. 439.
63 lbid., S. 438.
64 Leitartikel, »Die Hauptschlagkraft der Seestreitkräfte«, Roter Stern, 31. Oktober 1962.
65 lbid. Dieser Leitartikel und anderes Material zum gleichen Thema im Roten Stern, ein-
schließlich eines Interviews mit Admiral Groschkow, erschienen gleich nach der Kuba-
Krise. Hervorgehoben wurde die Verteidigungsaufgabe der Unterwasserflotte und nicht
die strategische Angriffsfunktion, wie man in Anbetracht des Rüd,schlags für die sowje-
tischen Fähigkeiten eines Offensivschlages, der sich aus dem Abzug der landstationiertc!1
Mittelstredtenraketen aus Kuba ergab, hätte erwarten können.
Die neue Rolle der traditionellen Streitkräfte 191
Die Kritik, die Admiral Alafuzow in der schon erwähnten Rezension an der ersten
Sokolowski-Auflage übte, beruhte zum Teil darauf, daß das Buch die strategische
Rolle der sowjetischen Raketen-U-Boote nicht ausreichend anerkannte 00, was auch
darauf hindeutet, daß dies ein umstrittener Punkt der sowjetischen Verteidigungs-
planung war.
Einen Anhalt dafür, daß dieser Punkt in dem einen Jahr, das zwischen den beiden
Sokolowski-Auflagen liegt, der Lösung nähergekommen ist, gibt die zweite Auf-
lage, die der strategischen Rolle der Raketen-U-Boote erheblich mehr Aufmerksam-
keit zukommen läßt. So spricht die Auflage von 1963 z. B. an vier Stellen von
Raketen-U-Booten als an strategischen Operationen teilnehmenden Elementen, zu-
sammen mit den strategischen Raketentruppen und Fernfliegereinheiten 07. Es ist
hierbei interessant, daß die Sokolowski-Autoren sich in ihrer Diskussion der Rake-
ten-U-Boote nicht über sowjetische Fähigkeiten, Raketen in getauchtem Zustand ab-
zuschießen, wie sie Polaris-U-Boote besitzen, verbreiteten. In anderen sowjetischen
Erklärungen wird seit Chruschtschows Besuch der Flottenübungen in nördlichen Ge-
wässern im Juli 1962 gelegentlich die Behauptung aufgestellt, die Sowjets besäßen
die Fähigkeit, Raketen in getauchtem Zustand abzuschießen 08.
In der Evolution der Funktionen der Marine ist die vermehrte Aufmerksamkeit,
die die militärische Fachliteratur der Fähigkeit des amphibischen Anlandens widmet,
eine interessante Entwiddung. Sowohl ausländische als auch sowjetische Kritiker
hatten bemerkt, wie wenig dieses Gebiet in der sowjetischen Militärdoktrin behan-
delt werde. Das ist um so auffallender, als die Doktrin vorschreibt, daß die Lan-
dung sowjetischer Streitkräfte zur Besetzung des Gebietes eines überseeischen Geg-
ners den Sieg erst konsolidieren werde 811. Auch hier übt Admiral Alafuzow wieder
die stärkste Kritik an diesem Punkt. Er bemängelte an der ersten Sokolowski-Auf-
lage, sie unterlasse, »sich zu vergegenwärtigen, daß im Falle einer >feindlichen See-
macht< deren endgültige Vernichtung und die Besetzung ihres Gebietes ohne amphi-
bische Operationen nicht bewerkstelligt werden kann« 70. Zur Unterstreichung sei-
ner These sagte Alafuzow, man dürfe die Seestreitkräfte nicht übersehen, »ohne die
die Landstreitkräfte bei einem Versuch einer Invasion überseeischen Gebietes ge-
linde gesagt in einer sehr verzwickten Lage wären« 71.
In der revidierten Sokolowski-Auflage versuchten die Autoren, ihre frühere Unter-
lassung durch einen Zusatz halbwegs auszugleichen:
Beim Aufbau der Seestreitkräfte muß auch berücksichtigt werden, daß gemeinsame Ein-
sätze mit den Landstreitkräften, vor allem das Anlanden von Landungstruppen, zu ihrem
Aufgabenbereich gehören 71.
Das strategische Denken der Sowjets im Atomzeitalter zeichnete sich durch ein star-
kes Vertrauen auf eine aktive Verteidigung gegen strategische Angriffe aus 1.
Hand in Hand mit dieser Betonung einer aktiven Verteidigung wurden in den letz-
ten zehn Jahren sehr erhebliche Mittel der Sowjetunion auf die Entwicklung eines
Luftverteidigungssystems gegen strategische Bomber verwendet 2 und es gibt in
der Doktrin eine starke Grundlage dafür, zumindest zu versuchen, gegen Raketen
eine ähnliche aktive Verteidigung aufzubauen.
Das sowjetische Luftverteidigungssystem 3 trat nach dem Koreakrieg in sein
Hauptwachstumsstadium ein, zu einem Zeitpunkt, als auch die amerikanische strate-
gische Bomberflotte sehr verstärkt wurde. Es gab immer eine unausgesprochene
Konkurrenz um Ressourcen und Beachtung zwischen den Offensiv- und den Defen-
sivkräften der Sowjetunion, in der meistens letztere gewannen, zumindest bis zum
Aufkommen der strategischen Raketen. In gewissem Sinn scheint die sowjetische
Führung den Kurs eingeschlagen zu haben, eine strategische Abschreckungsträger-
waffe aufzubauen und einerseits eine Außenpolitik mit kleinem Kriegsrisiko zu ver-
folgen, andererseits sich in Form einer umfangreichen Luftverteidigung gegen die
Möglichkeit eines unerwarteten Krieges abzusichern. Insofern solche Verteidigungs-
maßnahmen den Erfolg eines Luftangriffs auf die Sowjetunion unbestimmt erschei-
nen lassen können, würden sie ebenfalls zur Abschreckung beitragen.
Wieweit dieser Grundgedanke im Raketenzeitalter noch angemessen ist, ist einer
der Hauptfaktoren, der die Entwicklung der Funktion der sowjetischen strate-
gischen Verteidigungskräfte und auch die Zivilverteidigungsanstrengungen, die nach
sowjetischer Auffassung als »eines der wesentlichen Elemente der Gesamtvertei-
digungsvorbereitung des Landes« betrachtet wird, beeinflussen 4. Die Probleme,
denen sich die Sowjetunion bei der Vorbereitung auf Bomberangriffe gegenübersah,
werden durch die, die das Aufkommen des Raketenträgersystems eröffnete, in den
Schatten gestellt. Diese Probleme bringen - während die Diskussion: Angriff
oder Verteidigung? weitergeht - nicht nur schwierige technische und operationale
Fragen mit sich, sondern auch die Verwendung sehr großer zusätzlicher Resourcen.
Der jüngste Trend der sowjetischen Diskussion zielt darauf, daß auf diesem
Gebiet noch viele Probleme ungelöst sind, obschon man offensichtlich versucht hat,
den Eindruck zu erwecken, als werde ein Fortschritt erreicht.
1 Siehe Soviet Military Strategy, S. 55-57.
S.55-57.
Siehe Robert A. Kilmarx, A History of Soviet Air Power, New York 1962, S. 265-267.
3 Bekannt als PVO, von der offiziellen Bezeidmung Protivovozdushnaia Oborona Strany
oder Luftverteidigungssystem des Landes.
4 Ansprache an den 5. Allunion-Kongreß, gehalten von Marschall W. 1. Tschuikow,
Sovetskii Patriot, 26. Mai 1962.
194 Kapitel XV
Seit der vielzitierten Erklärung Chrusdltsdlows vom Juli 1962, die Sowjetunion
besitze eine Raketenabwehrstärke, die ,.eine Fliege im Weltraum treffen könne« 6,
haben sidl die öffentlidten Behauptungen der Sowjets auf diesem Gebiet smnell ver-
mehrt. Nadldem am 7. November 1963 bei einer Militärparade auf dem Roten
Platz ein neuer Typ von Boden-Luft-Raketen vorgeführt wurde, die in sowjetisdlen
Kommentaren zur Klasse der Fla-Raketen gezählt wurden, wurden sie besonders
deutlidl 7• Marschall Birjusow, Chef des Generalstabes, versidlerte am 8. Novem-
ber z. B., daß die sowjetisdlen Streitkräfte nunmehr Raketenabwehrwaffen besäßen,
die »jede Rakete im Flug abfangen können«. »Dieser Umstand«, sagte er, »erlaubt
es unserem Land, gegen jeden feindlidlen Angriff verteidigt zu sein.« 8 Eine
ebenso emphatisdle Behauptung wurde einige Tage später von einem sowjetisdlen
General der Artillerie aufgestellt, der sagte: »Diese Fernstrecken-Fla-Raketen kön-
nen jedes Mittel eines Luft- und Raumangriffs zerstören.« 9 Der Marsdtall der
Luftwaffe, W. Sudets, Befehlshaber der nationalen PVO und unmittelbar verant-
wortlidt für alle tatsädtlidten Operationen gegen einen Raketenangriff, war etwas
weniger kategorisch als er im Januar 1964 erklärte:
Die Kampffähigkeiten der Waffen dieser (PVO) Truppen gestatten die Zerstörung so gut
wie (prakticheskii) aller modernen Mittel für einen Luft- und Raumangriff in maximaler
Entfernung, großen und geringen Höhen und überschallgeschwindigkeiten 10.
mismus durch eine Reihe von ernüchternden überlegungen zu dem Verhältnis von
Angriff und Verteidigung im Raketenzeitalter beeinträchtigt wird.
Obschon der Wert einer aktiven Verteidigung ständig betont wird, gehört es auch
zur sowjetischen strategischen Doktrin, daß der Angriff in einem Atomkrieg stärker
sein kann als die Verteidigung. Dieses Urteil, aus dem sich Folgerungen ergeben,
die über die unmittelbare Frage, ob die Rakete verhältnismäßig leicht der Raketen-
abwehr überlegen bleiben kann, hinausgehen, ist implicite in der sowjetischen Hal-
tung zum Primat der strategischen Raketenwaffe enthalten 21. Es wurde aber auch
offen genannt. So wird z. B. in bei den Sokolowski-Ausgaben festgestellt:
Zugleich ist zu berücksichtigen, daß unter den gegenwärtigen Verhältnissen die Mittel und
Methoden des Kernwaffenangriffs zweifellos den Abwehrmethoden gegen sie überlegen
sind 22.
Beide Sokolowski-Auflagen vertraten auch bezüglich der Frage: Angriff oder Ver-
teidigung? die damit eng zusammenhängende Auffassung, die beinhaltet, daß ein
guter Angriff die beste Verteidigung sei. So wurde ausgeführt, daß die Aufgabe der
Verteidigung des Landes vor einem Kernwaffenangriff »vor allem durch Vernich-
tung der nuklearen Angriffswaffen des Gegners in ihren Basierungsräumen erreicht
werde« 23. Die Beibehaltung dieser Stelle ist um so bemerkenswerter angesichts der
Tatsache, daß man gegenüber jeder Andeutung, die Sowjetunion könne etwa einen
pre-emptiven Schlag planen, um einem feindlichen Angriff die Spitze zu nehmen,
sehr empfindlich reagierte. Es ist schwer zu argumentieren, die feindlichen Kernwaf-
fen sollten in ihren Basierungsräumen vernichtet werden, ohne zuzugestehen, daß
ein Angriff auf sie versucht werden müßte, ehe sie eben diese Basierungsräume ver-
lassen haben.
Malinowski in: Prawda, 23. Februar 1963; Baryschew in: Roter Stern, 13. November
1963. Baryschews Bericht ließ erkennen, daß »der Vorgang der Entwicklung der POV
nach dem 2. Parteitag noch intensiver voranging« - aus dieser Zeit mag eine neue
organisatorische Planung stammen. In welchem Ausmaß die Organisation der Raketen-
abwehr immer noch nur auf dem Papier steht und nidlt tatsächlich schon eingesetzt wird,
geht natürlich aus der sowjetischen Diskussion nicht hervor. Die westliche Presse hat zu
dieser Frage einige Kommentare gebracht, so z. B. die Erklärung in der New York Times,
10. November 1963, daß die Russen »eine Raketenabwehrstellung in der Nähe von
Leningrad gebaut haben sollen«.
21 In gewissem Maß ist das sowjetische Argument, daß die Luftabwehr Bombern überlegen
ist, mit der gegenteiligen Meinung schwer zu vereinbaren, daß Raketenbomber das Ver-
teidigungssystem zunichte machen können, indem sie außer halb seiner Reichweite bleiben.
Das ist in der sowjetischen Presse gelegentlich stillschweigend eingestanden worden. z. B.
mit der Beschreibung von Luftverteidigungsübungen, in denen sich die Situation zum
Nachteil der Abwehr »schnell veränderte«, als einer der »feindlichen« Bomber »aus gro-
ßer Entfernung eine Rakete abschoß«. Major M. Makarow, »Der Schlag gegen Raketen-
träger«, Roter Stern, 10. September 1963.
22 Soviet Military Strategy, S. 307, Militär-Strategie, S. 288.
23 Soviet Military Strategy, S. 417; Militär-Strategie, S. 431;
198 Kapitel XV
Das soll nicht heißen, daß das Denken der Sowjets das Beginnen eines Krieges for-
dert. Bei dem Gleichgewicht der Kräfte in der Welt ist es tatsächlich schwer, sich
Umstände auszumalen, in denen eine Politik des Kriegsbeginns für die Sowjetunion
attraktiv aussehen könnte. Doch gibt es in der Politik von Staaten anormale Be-
reiche, wo die politische Strategie in die eine Richtung arbeitet und die militärische
Strategie in die andere. Dies scheint bei der sowjetischen Doktrin bezüglich der
Frage: Angriff oder Verteidigung? der Fall zu sein. Die überlegung, zu Beginn
eines modernen Krieges eine strategische Verteidigung einzunehmen und sich darauf
zu verlassen, daß aktive und passive Verteidigungsmaßnahmen das Land durchbrin-
gen bis eine Gegenoffensive begonnen werden kann, findet im derzeitigen militä-
rischen Denken der Sowjets keinen Anklang 24. Dies war zwar ein annehmbarer
Grundsatz der Militärtheorie in der ersten Nachkriegszeit, hat sich aber seit dem
Beginn des Atomzeitalters überlebt. Die strategische Verteidigung, die den ~owjets
in der Anfangsphase des Zweiten Weltkriegs aufgezwungen war, wird jetzt in der
sowjetischen militärischen Literatur als ein notwendiges aber kostspieliges Vorspiel
zur Gegenoffensive behandelt. Die Errungenschaften der sowjetischen Waffen im
Zweiten Weltkrieg in der Zeit der strategischen Verteidigungsmaßnahmen werden
- zu Recht - gepriesen, gleichzeitig wird aber auch zugegeben, daß dabei Fehler
gemacht wurden - aber all das gehört nunmehr der Geschichte an 25. Heute ist die
Lage anders, wie Generaloberst Shtemenko, Chef des Generalstabs der sowjetischen
Landstreitkräfte, betont:
Die Schlagkraft und der Radius der modernen Waffen stellen die Frage der strategischen
Verteidigung in ein anderes Licht als ehedem. Unsere derzeitige Militärdoktrin entspringt
der Bestimmtheit der Ziele in einem Krieg. Das Kampfpotential der modernen Streitkräfte
äußert sich am stärksten in der Offensive und nicht in der Defensive. Daher betrachtet die
sowjetische Militärdoktrin die strategische Verteidigung als eine unannehmbare Form stra-
tegischer Operationen in einem modernen Krieg 26.
24 Die Beziehung von Offensive und Defensive im sowjetischen Denken wurde im Jahre
1963 von einem Autor zusammengefaßt, der sagte: » ••• es ist unbestreitbar, daß der
Angriff heutzutage von den ersten Stunden des Krieges an mit Höchstgeschwindigkeit
entwickelt werden muß«; er fügte hinzu, daß zur Verteidigung »des eigenen Landes ge-
gen mögliche gegnerische Schläge« der Angriff mit »modernen Luft- und Raketen-
abwehrsystemen verbunden sein muß ... ohne die es unmöglich ist, einen Krieg zu ge-
winnen«. A. Golubew, »Einige Probleme der Kriegsgeschichte« in dem Buch »Militär-
Strategie«, Journal für Kriegsgeschichte, Nr. 5, Mai 1963, S. 94.
25 Siehe die Diskussion dieses Themas in Soviet Military Strategy, S. 246-258; Militär-
Strategie, S. 219-233; Golubew in Journal für Kriegsgeschichte, Nr. 5, Mai 1963,
S. 100 f. Siehe auch Matthew P. Gallagher, The Soviet History of World War II, Fre-
derick A. Praeger, Inc., New York 1963, S. 128-135.
25 »Wissenschaftlich-technischer Fortschritt und sein Einfluß auf die Entwicklung der mili-
tärischen Angelegenheiten«, Der Kommunist in den bewaffneten Kräften, Nr. 3, Februar
1963, S. 27 f.
Strategische Verteidigung der Sowjetunion 199
Zivilverteidigung
30 Marschall V. I. Tschuikow, »Der Schutz der Bevölkerung ist die Hauptaufgabe der
Zivilverteidigung«, Militärwissen, Nr. 1, Januar 1964, S. 3
34 Generaloberst o. Tolstikow, »Ein Unternehmen, das für den Staat von großer Bedeu-
tung ist«, Militärwissen, Nr. 2, Februar 1962, S. 22. Siehe auch die Ansprache Marschall
Tschuikows in So'Vietskii Patriot, 26. Mai 1962; Generalleutnant L. Winogradow, ,.Der
dreißigste Jahrestag der Zivilverteidigung«, So'Vetskii Patriot, 7. Oktober 1962.
32 Siehe Leon Goure, Ci'Vil Defense in the So'Viet Union, University of California Press,
Berkeley and Los Angeles, 1962, vor allem S. 38--t,1. Sowjetische Quellen setzen den
Beginn einer Bemühung um Zivilverteidigung auf das Jahr 1932 an, aber die Reorganisa-
tion und Orientierung auf Probleme der Zivilverteidigung im Atomzeitalter fällt in den
Anfang der SOer Jahre. Siehe Winogradow in So'Vetskii Patriot, 7. Oktober 1962.
83 So'Vetskii Patriot, 18. September 1963. Der gegenwärtige 19stündige Ausbildungskurs
für Zivilverteidigung, der am 30. September 1962 in So'Vetskii Patriot verkündet wurde,
begann offenbar im Sommer 1962.
34 So'Vetskii Patriot, 12. April 1961.
85 So'Vetskii Patriot, 9. Oktober 1963.
Strategische Verteidigung der Sowjetunion 201
38 Soviet Military Strategie, S. 462; Goure, Civil De/ense 0/ the Soviet Union, S. 32.
S7 Marsmall V. I. Tsmuikow, »Die neuen Standortdienst- und Wamvorsmriften«, Roter
Stern, 8. Oktober 1963.
38 Tolstikow in Militärwissen, Nr. 2, Februar 1962, S. 22; Tolstikow, "Verbessert die Aus-
bildung der Bevölkerung in jeder Weise«, ibid., Nr. 4, April 1963, S. 33. In diesem Zu-
sammenhang wurden zwei Grundhandbümer für die Ausbildung in der Zivilverteidi-
gung hart kritisiert in Militärwissen, Nr. 7, Juli 1963, S. 39, weil sie in der ,.Erörterung
der Zerstörungseffekte. von Kernwaffen nimt ausreimend waren und aum andere Mängel
aufwiesen«. Die fraglimen Handbümer waren: N. N. Iwanow, et al., Grazhdanskaia
Oborona (Civil Defense), Umpedgiz, Moskau 1962; P. T. Egorow et al., Grazhdanskaia
Oborona (Civil Defense), Gosudarstvennoe Izdatelstvo ,. Vysshaia Shkola«, Moskau
1963.
39 Militärwissen, Nr. 2, Februar 1962, S. 22. Siehe aum Leon Goure, The Resolution 0/
the Soviet Controversy Over Civil De/ense, The RAND Corporation, RM-3223-PR,
Juni 1962.
40 ltußerungen, in denen der Wert von Bunkern herabgesetzt wird, wurden u. a. gemamt
von Anastas Mikojan, Frau Chrusmtsmow und Marsmall Malinowski. Siehe Bulletin 0/
the Atomic Scientists. Mai 1959, S. 191; New York Times, 7. Oktober 1961; Prawda,
24. Januar 1962.
41 Siehe Goure, Civil De/ense in the Soviet Union, S. 106-110.
202 Kapitel XV
Gebrauch von Luftschutzräumen verwiesen wird ", ist es weiterhin unklar, wieweit
die Sowjetunion in dem Aufbau eines Massen-Bunkerprogramms ist oder wieweit
sie ein solches plant. Diese Frage interessiert besonders im Zusammenhang mit so-
wjetischen Plänen, umfangreiche Raketenabwehrsysteme einzusetzen da, wie aus
einer Diskussion analoger Fragen in den Vereinigten Staaten hervorgeht, die Wirk-
samkeit aktiver Verteidigungsmaßnahmen gegen Raketen zur Herabsetzung von
Bevölkerungsverlusten zum großen Teil von dem Vorhandensein eines ausreichen-
den Bunkersystems gegen radioaktiven Niedersmlag abhängt 43. Die sowjetisme
Führung sieht sim also gezwungen zu entsmeiden nimt nur, ob sie die sehr großen
Mittel, die zu einem Raketenabwehrsystem gebraumt werden, bereitstellen, sondern
auch, ob sie gleichzeitig für ein Bevölkerungssmutzprogramm Vorsorge treffen soll.
der psychologischen Wirkung, die die »ersten Kernwaffenschläge mit ihren großen
Zerstörungen« ausüben können - nicht nur auf die Zivilbevölkerung, sondern
selbst auf diszipliniertes Personal der Streitkräfte - Aufmerksamkeit 45. Solchen
Zeichen der Besorgnis ist zu entnehmen, daß folglich eine bessere psychologische
Vorbereitung nötig ist. Auch bezüglich der Evakuierung von Stadtbevölkerungen
vor einem Angriff ist eine gewisse Unentschlossenheit nicht zu verkennen. Eines der
neuen Handbücher zur Luftverteidigung, das Ende 1962 veröffentlicht wurde,
widmete Evakuierungsmaßnahmen 48 nur sehr beschränkte Aufmerksamkeit, im
Gegensatz zu den ausführlichen Abhandlungen über dieses Thema in früheren Ver-
öffentlichungen zur Zivilverteidigung. Auch die revidierte Sokolowski-Ausgabe
schloß sich diesem Trend an und strich eine Stelle der Auflage von 1962 über das
Thema einer Evakuierung von Städten und Grenzgebieten vor einem Angriff 47.
Aus anderen Erklärungen geht jedoch hervor, daß die Evakuierung vor einem An-
griff immer noch Bestandteil der Zivilverteidigungsplanung ist. In einem Artikel
in Voennye Znaniia vom August 1963 hieß es, daß »während der Gefahr eines geg-
nerischen Angriffs die Entscheidung getroffen werden kann, die Bevölkerungen
einiger Städte in ländliche Gebiete zu evakuieren«. Der Artikel gab Ratschläge,
wie man sich in einem solchen Fall zu verhalten habe, wozu das Mitnehmen eines
dreitägigen Proviants gehörte 48. In der gleichen Zeitschrift erklärte Marschall
Tschuikow im Jahre 1964, Dezentralisierung und Evakuierung aus den Städten
seien »die grundlegenden Methoden des Bevölkerungsschutzes«, im Verein mit dem
Gebrauch von Bunkern 49. Im Gegensatz zu Tschuikows Beurteilung der Bunker
vertrat die revidierte Sokolowski-Ausgabe in einer Darstellung, in der es um eine
Kritik der amerikanischen »counter-force«-Strategie ging, eine etwas negativere
Meinung. Es wurde vorgebracht, die Funktion von Bunkern in einem künftigen
Krieg sei »problematisch« 50.
Bei der schnellen Entwicklung der Weltraumtechnologie ist der Zweck, zu dem der
Weltraum schließlich vielleicht einmal gebraucht wird, eines der neuesten und poten-
tiell unangenehmsten Probleme. Was nun konkrete Pläne und Absichten der Sowjets
bezüglich der militärischen Nutzung des Weltraums betrifft, so erfahren wir dar-
über sowohl aus dem sowjetischen Militärschrifttum als auch aus der Haltung, die
die Sowjetunion zu Fragen des Weltraums in verschiedenen internationalen Gre-
mien eingenommen hat, wenig. Die meisten militärischen überlegungen der Sowjets
z. B. sind weiterhin auf die Probleme des Krieges als eines Phänomens der Erdober-
fläche gerichtet. Obschon in den letzten Jahren der Aussicht, der Weltraum könnte
zu einer aktiven Dimension eines künftigen Krieges werden, immer mehr Aufmerk-
samkeit geschenkt wurde, hat sich die Sowjetunion innerhalb und außerhalb der
UNO bei internationalen Plänkeleien über eine Weltraumpolitik bemüht, sich als
den Vorkämpfer der friedlichen Nutzung des Weltraums darzustellen. Darüber hin-
aus legt die Zustimmung zu der UNO-Resolution vom 17. Oktober 1963 zur
Xchtung von Massenvernichtungsmitteln im Weltraum nahe 1, daß die Sowjets an
gemeinsamen Bemühungen, die Ausdehnung des Wettrüstens auf den Weltraum zu
verhindern, interessiert sind, zumindest in bezug auf kosmische Systeme zur
Bombardierung.
Gleichzeitig erheben die Sowjets jedoch laut und hartnäckig die Anschuldigung, die
USA hätten bereits ein ehrgeiziges Militärprogramm »zur Beherrschung des Welt-
raums« in die Wege geleitet, woraus das Argument abgeleitet wurde, daß die So-
wjetunion ihre Aufmerksamkeit Mitteln widmen müsse, den Weltraum für Vertei-
digungszwecke zu nutzen und das »imperialistische Lager« daran zu hindern, »eine
überlegenheit auf diesem Gebiet« zu gewinnen 2. Das hat alle Kennzeichen einer
sowjetischen Begründung für ein eigenes militärisches Weltraumprogramm, dessen
technische Grundlage bereits vorhanden ist 3. Außerdem haben die Sowjetführer
sich nicht dazu geneigt gezeigt, Gelegenheiten auszulassen, sowjetische Weltraum-
erfolge für politische und propagandistische Gewinne auszunutzen, sowohl auf in-
ternationaler Ebene als auch innenpolitisch 4. Die weitere Gelegenheit, die sich
durch die Entwicklung eines militärischen Weltraumprogramms dazu ergeben kann,
auf den Westen politischen und psychologischen Druck auszuüben, ist somit ein Fak-
tor, den die sowjetischen Führer im Verein mit den militärischen Vor- und Nach-
teilen eines solchen Programms und den Anregungen, die es für ein noch intensi-
veres Wettrüsten geben könnte, in Rechnung ziehen müssen. Alle diese überlegun-
gen führen dazu, daß über die Frage der sowjetischen Haltung gegenüber der mili-
tärischen Nutzung des Weltraums viele Spekulationen bestehen 5 - falls die so-
wjetische Führung zu diesem Zeitpunkt selbst weiß, welche Richtung ihren Interes-
sen am günstigsten ist.
Die Sowjets beschuldigen die USA der militärischen Nutzung des Weltraums
Der auffallendste Zug der sowjetischen Haltung gegenüber der militärischen Nut-
zung des Raumes war vielleicht der schon erwähnte Versuch zu zeigen, daß die
amerikanischen Tätigkeiten im Weltraum eine aggressive Richtung haben und daß
die Sowjetunion daher mit Recht auf ihre eigene Verteidigung sehen müsse. Sowje-
tische Militärautoren, Experten für Weltraumrecht und internationale Unterhänd-
ler sind alle dieser allgemeinen Linie gefolgt. Ein amerikanischer Autor drückte das
so aus: die Sowjets haben versucht, »eine moralische Kluft zwischen der amerika-
nischen und der sowjetischen Weltraumtechnologie zu schaffen« 8 um den Eindruck
zu erzeugen, die USA gebrauchten ihr Können im Weltall zur Anschürung des Kal-
ten Krieges und Verfolgung aggressiver Ziele, während die Sowjetunion ihre
Weltraumtechnologie im Interesse der »friedlichen Koexistenz« verwendet.
Seit der erste Sputnik im Jahre 1957 gestartet wurde, was die Sowjetunion ver-
anlaßte, ihre traditionelle Haltung zur Frage der unbegrenzten nationalen Sou-
veränität über den Luftraum zu revidieren 7, wurde die sowjetische Theorie zum
Weltraumrecht ständig improvisiert um die sowjetischen politischen Interessen mit
den sich wandelnden Perspektiven, die die Weltraumtechnologie eröffnete, in Ein-
klang zu halten 8. Das war einer der Gründe, weswegen die formale Haltung der
Sowjets zu der militärischen Nutzung des Weltraums sich etwas ungleichmäßig ent-
wickelte. Die Sowjets haben vorgebracht, daß die militärische Nutzung des Welt-
raums verboten werden müßte; sie haben aber auch versichert, der Weltraum könne
in übereinstimmung mit dem § 51 der Charta der Vereinten Nationen für einen
»Vergeltungsschlag gegen den Angreifer im Rahmen der legitimen Selbstverteidi-
gung« verwendet werden 9. Sie brachten vor, die »friedliche Nutzung« des Welt-
S Siehe Alton Frye, "Our Gamble in Space: The Military Danger«, The Atlantic
Monthly, August 1963, S. 47-49. Siehe auch Soviet Space Programms, S. 47.
ft Robert D. Crane, "The Beginnings of Marxist Space Jurisprudence?« The American
Journal of International Law, Vol. 57, Nr. 3, Juli 1963, S. 622. Siehe auch Soviet Space
Programms, S. 207 f.
7 G. P. Zadorozhnii, "Der künstliche Satellit und internationales Recht«, Sovetskaia Rosiia
(Sowjetrußland), 17. Oktober 1957.
8 Siehe Soviet Space Programs, S. 203. Siehe auch Robert D. Crane, "Soviet Attitude
Toward International Space Law«, The American Journal of International Law, Vol.
56, Nr. 3, Juli 1962, S. 694-704.
o G. P. Schukow, "Probleme des Weltraumrechts zum gegenwärtigen Zeitpunkt«. August
1962, S. 30, 35-36, zitiert bei Crane, The American Journal of International Law,
Juli 1963, S. 620; G. Schukow, "Practical Problems of Space Law«, International
Affairs, Nr. 5, Mai 1963, S. 29.
206 Kapitel XVI
10 Schukow in International Af/airs, Mai 1963, S. 28; E. A. Korowin, »Outer Spaee Must
Beeome a Zone of Real Peaee«, International Af/airs, Nr. 9, September 1963, S. 92.
11 Siehe Frye in The Atlantic Monthly, August 1963, S. 47.
12 B. Teplinskii, »The Strategie Coneepts of U. S. Aggressive Poliey«, International
Af/airs, Nr. 12, Dezember 1960, S. 39; G. P. Schukow, »Spaee Espionage Plans and
International Law«, ibid., Nr. 10, Oktoberr 1960, S. 53-57.
13 N. Kowalew und I. 1. Cheprow, Na Puti k Kosmicheskomu Pravu (Auf dem Weg zum
Weltraumrecht), Institut Mezhdunarodnykh Otnoshenii, Moskau 1962, S. 123; E. A. Ko-
rowin, »Peaeeful Cooperation in Spaee«, International Af/airs, Nr. 3, März 1962, S. 61.
14 Siehe Declaration 0/ Legal Principles Governing the Activities 0/ States in the Explora-
tion and Use 0/ Outer Space, A/RES/1962 (XVIII), 24. Dezember 1963.
15 International Af/airs, September 1963, S. 93; siehe auch G. P. Zadorozhnii, "Grund-
probleme der Wissenschaft vom Weltraum-Recht« in Kosmos i Mezhdunarodnoe Pravo
(Weltraum und Internationales Recht), Institut Mezhdunarodnykh Otnosheniie, Moskau
1962, S. 3\1.
Militärische Nutzung des Weltraums 207
Rahmen der militärismen Erklärungen zu dem Thema in gewissem Maß ein be-
sonderes Anliegen vorgebramt wird, vor allem, falls die sowjetisme politisme Füh-
rung sim zu diesem Zeitpunkt nom im unklaren darüber sein sollte, wieweit sie sim
in den militärismen Wettlauf im Weltraum einlassen soll.
Zu den ersten Erklärungen, die emphatism für die sowjetismen Militärinteressen im
Weltraum plädierten, weil die Sowjetunion es sim nimt leisten könne, die amerika-
nismen militärischen Vorbereitungen im Weltraum zu ignorieren, gehörte eine Folge
von zwei Artikeln im März 1962 im Roten Stern. Der Autor war W. Larionow,
damals Oberstleutnant, der seitdem eine Reihe beamtlicher Beiträge zur sowje-
tismen Militärliteratur geleistet hat. Im ersten Artikel führte Larionow an, daß die
USA ihre Hoffnung deswegen auf ein langfristiges Programm zur militärismen
Beherrsmung des Weltraums gesetzt hätten, weil sie nimt erwarten könnten, die
Sowjetunion »in den nämsten Jahren« einzuholen. Im ersten Artikel wurde eine
sowjetisme Antwort auf diese Herausforderung nimt erwähnt, obsmon Larionow
an einigen Stellen die sowjetisme Führung auf die Vorteile militärismer Weltraum-
fähigkeiten aufmerksam zu mamen smien. So sagte er z. B.:
Die Schaffung und der Einsatz verschiedener Weltraumsysteme und Ausrüstungen kann
unmittelbar zu erstrangigen strategischen Ergebnissen führen. Die Ausarbeitung wirksamer
Mittel, vom Weltraum aus Schläge auszuführen, und eines Kampfes mit Weltraumwaffen
gibt im Verein mit Kernwaffen der strategischen Führung ein neues, mächtiges Mittel in die
Hand, das militärisch-wirtschaftliche Potential und die militärische Stärke des Gegners zu
beeinträchtigen 18.
In einem zweiten Artikel, der einige Tage später erschien, drückte Larionow sim
deutlicher aus. Er bramte hier nimt nur vor, daß die Sowjetunion den USA mit
eigenen militärismen Weltraumunternehmen begegnen müsse, sondern wies auch
darauf hin, der Stand der sowjetismen Weltraumtemnologie gebe der Sowjetunion
in einem solmen Wettbewerb eine günstigere Ausgangsbasis. Larionow beschuldigte
die Vereinigten Staaten, sie bereiteten ein großes Aufgebot militärismer kosmismer
Systeme von Satellitenbombern bis Satellitenabwehr-Waffen vor und sagte dann,
die Sowjetunion
kann alle Vorbereitungen der amerikanischen Imperialisten nicht ignorieren und ist gezwun-
gen, entsprechende Maßnahmen zu ergreifen, um ihre Sicherheit gegen einen Angriff aus
dem Weltraum zu wahren. Es ist kein Geheimnis, daß die technische Grundlage zum Ab-
schuß von Satelliten und Raumschiffen die ballistisme Rakete und ihr Lenksystem darstellt.
Eine solche komplexe, perfektionierte technische Ausrüstung, die der amerikanischen Tech-
nologie vielfach überlegen ist, befindet sich im Besitz der Sowjetunion 17.
Das Larionow-Rezept ist seitdem aum von anderen aufgegriffen worden. Beide
Sokolowski-Ausgaben z. B. stellten die amerikanismen Weltraumpläne ausführlim
dar als Grundlage für die Erklärung: ,.Es ist notwendig, den Imperialisten wirk-
samere Mittel und Verfahren zur Nutzung des Weltraums zu Zwecken der Ver-
teidigung entgegenzustellen.« 18 In beiden Ausgaben wurde aum versimert: »Es
wäre ein Fehler, in irgendeiner Hinsimt eine überlegenheit des imperialistismen
Lagers auf diesem Gebiet zuzulassen.« 18 In der Auflage des Jahres 1963 wurden
die USA in mehreren Zusätzen beschuldigt, sie hätten ihr Programm zur militä-
rischen Nutzung des Weltraums verstärkt und der Vorwurf erhoben, daß das ame-
rikanische Programm der Nutzung des Mondes für militärische Zwecke eine beson-
dere Bedeutung zumesse:
Es werden Forschungsarbeiten zur Bestimmung des militärischen Potentials des Mondes
durchgeführt, und es wird untersucht, ob es möglich ist, den Mond für die Nachrichtenüber-
mittlung, für die Aufklärung und als Basis für Raumwaffen zu benutzen 10.
Eine weitere Anschuldigung, die auf einem Artikel in einem amerikanischen Maga-
zin basiert, geht dahin, daß die USA in Erwägung ziehen, Satellitenbomber, die mit
Kernwaffen ausgerüstet sind, in »über die UdSSR führende« Umlaufbahnen zu
bringen 21. Da die neue Sokolowski-Ausgabe gedruckt wurde, ehe die Resolution
der UNO gegen Massenvernichtungsmittel im Weltraum im Oktober 1963 an-
genommen wurde, ist es nicht klar, ob die Sokolowski-Autoren bei einer überarbei-
tung nicht vielleicht diese spezielle Anschuldigung entschärfen würden. Jedoch wie-
derholte später im November 1963 Generalmajor Baryschew eine ähnliche Anschul-
digung 22 und in einem Artikel vom Dezember 1963 erhob ein weiterer sowjetischer
Militärautor die Anschuldigung, das amerikanische Dyna-Soar-Programm »bestä-
tigte erneut die heimtückischen Absichten der Imperialisten ... den Kosmos in eine
Kampfstätte zu verwandeln« 23, obschon das amerikanische Verteidigungsministe-
rium vorher angekündigt hatte, das Dyna-Soar-Programm sei rückgängig gemacht
worden 24.
Mit der ständig wiederholten Behauptung, daß die amerikanischen militärischen
Unternehmungen im Weltraum entsprechende Maßnahmen von sowjetischer Seite
rechtfertigen, haben sowjetische Sprecher regelmäßig das Begleitthema verkündet,
die Sowjetunion werde in jeder militärischen Konkurrenz im Weltraum, die sich
19 Ibid., S 447.
20 Militär-Strategie, S. 445; Sowjetische Anschuldigungen, daß »amerikanische Militari-
sten« planten, den Mond zu besetzen, wurden schon im Jahre 1960 erhoben. Siehe P. S.
Romaschkin, »Technischer Fortschritt und sowjetisches Recht«, Sovetskoe Gosudarstvo i
Pravo (Sowjetstaat und Recht), Nr. 1, Januar 1960, S. 21.
21 Militär-Strategie, S. 445.
22 »Kernwaffen und PVO«, Roter Stern, 13. November 1963. Marschall Sudets beschul-
digte die USA im Januar 1964 auch, sie »verwendeten den Weltraum weiterhin für mili-
tärische Zwecke«, einschließlich der »Entwicklung von Systemen auf Umlaufbahn«. »Ein
zuverlässiger Schild«, Iswestija, 5. Januar 1964. Im Frühjahr 1964 setzte die sowjetische
Militärpresse ihre Anschuldigungen, die amerikanische Tätigkeit im Weltraum sei militä-
risch orientiert, fort. Ein Autor versicherte, daß »die amerikanische Politik zur Eroberung
des Weltraums ... ein ausgeprägt militärisches, genauer, aggressives Wesen hat«. Oberst
G. Terentiew, »Mercury-Gemini-Apollo: Amerikanische Pläne zur Eroberung des Welt-
raums«, Roter Stern, 26. März 1964. Ein anderer Autor erhob die Anschuldigung, die
USA führten trotz der UNO-Resolution weiterhin "ein Programm zur Schaffung offen-
siver Weltraumwaffen fort, einschließlich ... Raketen auf Umlaufbahnen, das bis 1970
erfüllt sein solle«. Oberst B. Trofimow, »Raketen in Erdumlaufbahnen«, Roter Stern,
15. April 1964.
23 Oberstleutnant N. Wasil'ew, »Vom Flugzeug zum Raketenflugzeug«, Sovetskii Patriot,
22. Dezember 1963.
24 New York Times, 11. Dezember 1963.
Militärische Nutzung des Weltraums 209
etwa entwickelt, überlegen sein. So wies z. B. im Januar 1963 ein sowjetischer Wis-
senschaftler darauf hin, daß »mächtige sowjetische Raketen und schwere Satelliten
militärische Aufgaben viel besser durchführen können als die amerikanischen Rake-
ten und Satelliten mit ihrer geringen Kapazität«.25 Im gleichen Zusammenhang
haben Chruschtschow und andere die Aufmerksamkeit auf die militärische Bedeu-
tung der bemannten Weltraum flüge der Sowjets gelenkt, so Marschall Malinowski
nach den Doppelflügen von Wostock III und IV im August 1962: »Unsere Feinde
sollen wissen, welche Techniken und welche Soldaten unserer Sowjetmacht zur Ver-
fügung stehen.« 26
digkeit und elektromagnetischer Energie, die in der ersten Auflage angeführt wur-
den, erwähnte der neue Text folgende Entwiddungen:
Als Mittel für die Raketenabwehr werden aum versmiedene Systeme in Betramt gezogen,
die auf der Nutzung der Strahlung, Antigravitation und Antimaterie, von Plasma (Kugel-
blitz) usw. beruhen. Besondere Aufmerksamkeit wird den Lasern (»Todesstrahlen«) gewid-
met und man remnet damit, daß in Zukunft jede Rakete und jeder Erdsatellit durm starke
Laser vernimtet werden kann 88.
Wie weit das sowjetische Interesse an der Entwicklung von Bombersatelliten geht,
ist weniger scharf umrissen als im Fall der Satelliten-Abwehrwaffen, obschon die
sowjetische Weltraumtechnologie vermutlich in der Lage ist, Satellitenbomber zu
entwickeln 37. Sowjetische Sprecher haben bei verschiedenen Anlässen darauf hin-
gewiesen, daß die sowjetischen bemannten Raumschiffe in Satellitenbomber zu ver-
wandeln sind. So sagte Chruschtschow im Dezember 1961: »Wenn wir die Raum-
schiffe von Yuri Gagarin und Gherman Titow auf einer bestimmten Stelle landen
lassen konnten, können wir natürlich auch >andere Nutzlasten< raufschicken und
sie >landen< lassen wo wir wollen.« 38 Anfang des Jahres 1963 wollte Marschall
Birjusow, damals Oberbefehlshaber der sowjetischen strategischen Raketenwaffe,
offenbar einen ähnlichen Eindruck vermitteln: »Man kann nunmehr auf ein Kom-
mando von der Erde aus von Satelliten zu jedem Zeitpunkt und von jedem Punkt
der Umlaufbahn aus Raketen starten.« 39 Seit der UNO-Resolution vom Oktober
1963 gegen das Stationieren von Kernwaffen im Weltraum haben derartige sowje-
tische Andeutungen aufgehört, obwohl die USA, wie erwähnt, von Zeit zu Zeit
noch beschuldigt werden, sie planten Satelliten zur kosmischen Bombardierung. Ob
die Sowjetunion trotz der UNO-Resolution die Entwicklung solcher Systeme voran-
treiben wird mit der Begründung, sie ergreife nur VorsidltSmaßnahmen gegen mög-
liche kapitalistische Tücke, ist eine Frage, über die man verschiedener Meinung sein
kann, und nur die Zeit wird darauf die Antwort geben.
Eine andere Richtung eines eventuellen Interesses der Sowjets im Weltraum ist die
Entwicklung von Aufklärungskapazitäten, die schon im Jahre 1959 ziemlich aus-
führlich in der sowjetischen Literatur propagiert wurden 40. Die Sowjets haben
kein besonderes Interesse daran gezeigt, hier mitzutun - vielleicht auf Grund ihrer
Bestrebungen, jede amerikanische Entwicklung von Aufklärungssatelliten in Miß-
88 Ibid., S. 433 f.; Soviet Military Strategy, S. 419.
87 Siehe Statement of Secretary of Defense Robert S. McNamara to the House Armed
Services Committee, the Fiscal Year 1964-1968 Defense Program and 1964 Defense
Budget, January 31, 1963, S. 321, wo er sagte: »Die Sowjetunion hat vielleimt die Fähig-
keit, Bomber-Satelliten auf Umlaufbahnen zu bringen, oder wird sie bald haben ... <c
38 Rede auf dem 5. Weltkongreß der Gewerksmaften, Prawda, 10. Dezember 1961. Chru-
smtschow hatte davor den Flug Titows mit der - nimt ausgespromenen - Fähigkeit der
Sowjets in Zusammenhang gebramt, Kernwaffen mit großem Detonationswert »an jeden
Punkt der Erde« zu befördern, obsmon seine Erklärung genügend Doppelsinn hatte um
es unklar zu lassen, ob er von einer Bombardierung vorn Weltraum aus spram oder von
gewöhnlimem Raketeneinsatz. New York Times, 8. September 1961.
39 Moskau Domestic Service, 21. Februar 1963.
40 Siehe G. W. Petrowim, ,.Der erste künstlime Satellit der Sonne«, Vestnik Akademii
Nau SSSR (Journal der Akademie der Wissensmaften der UdSSR), Nr. 3, März 1959,
S.8-14.
212 Kapitel XVI
41 Siehe die veröffentlidlten Photos, die Nikolaew und Popowich auf ihrem Flug aufnah-
men, in der Zeitsduift UdSSR, November 1962, S. 45-47.
42 Siehe N. Warwarow, »Kosmische Landmesser«, Ekonomicheskaia Gazeta (ökonomisdle
Gazette), 8. Januar 1961; Militär-Strategie, S. 118
43 »Wissensmaftlich-temnismer Fortschritt und sein Einfluß auf die Entwiddung der mili-
tärismert Angelegenheiten«, Der Kommunist in den bewaffneten Kräften, Nr. 3, Fe-
bruar 1963, S. 30.
44 Helsingin Sanomat, 3. September 1963.
45 Siehe New York Times, 30. Mai 1964.
Kapitel XVII
Das strategische Denken der Sowjets in der Nachkriegszeit war weitgehend von den
Problemen in Anspruch genommen, die sich auf die Konfrontation der USA mit
ihren NATO-Verbündeten einerseits und dem sowjetischen Blode andererseits bezo-
gen. In den letzten Jahren sah die Sowjetunion sich jedoch gezwungen, die Auf-
merksamkeit teilweise sozusagen nach innen zu richten, auf die Fragen, die sich aus
den militärischen Beziehungen innerhalb des kommunistischen Lagers ergaben. Zwei
Erscheinungen sind dafür weitgehend verantwortlich: erstens, die Warschauer Pakt-
Staaten haben allmählich einen Status etwas größerer Autonomie innerhalb des so-
wjetischen Lagers erreicht; zweitens, zwischen Moskau und Peking ist eine harte
und weitreichende Kontroverse ausgebrochen. In diesem Kapitel wollen wir einige
Entwidelungen des strategischen Denkens der Sowjets und der militärischen Bezie-
hungen innerhalb des BIodes streifen, die zusammen mit diesen Erscheinungen
auftraten.
eine Reihe bereits bestehender bilateraler Verteidigungspakte a, mit denen die So-
wjetunion wahrscheinlich alle nötigen militärischen übereinkommen mit den ost-
europäischen Ländern hätte treffen können, wäre nicht ein kollektiver Pakt als ein
wünschenswertes politisch-propagandistisches Instrument gegenüber dem Westen
erschienen. Die anfängliche sowjetische Propagandadarstellung des Warsc:hauer
Pakts und die seltenen Zusammenkünfte seiner offiziellen Organe sowie auch die
Tatsache, daß man es offenbar unterließ, diesen Gremien in den ersten Jahren des
Bestehens des Pakts Substanz zu verleihen, legt den Schluß nahe, daß in den Augen
der Sowjets der Symbolik der politischen Rolle viel mehr Gewicht beigemessen
wurde als den militärischen Aspekten der Zusammenarbeit '.
Der Warschauer Vertrag sah zwei hauptsächliche Körperschaften zur Durchführung
der Funktionen des Pakts vor. Eine davon war ein Politischer Beratender Ausschuß,
an dessen Sitzungen gewöhnlich der Erste Sekretär der Partei oder der Regierungs-
chef zusammen mit dem Außen- und Verteidigungsminister teilgenommen haben 5.
Zusätzlich der politischen Funktionen soll diese Körperschaft ,.wichtige Funktionen
in militärischen Angelegenheiten« haben, zu denen Entscheidungen über ,.die Stär-
kung der Verteidigungskraft und die Organisation der Vereinten Streitkräfte ge-
hören 8. Die zweite wichtige Körperschaft, die der Warschauer Vertrag gründete,
war ein Vereintes Kommando. Seine erklärte Funktion ist ,.eine direkte Koordinie-
rung militärischer Operationen« durchzuführen und ,.im vorhinein für eine wirk-
same Verteidigung im Falle eines bewaffneten Angriffs zu sorgen« 7.
An der Spitze des Vereinten Kommandos stand immer ein sowjetischer Offizier.
Bisher gab es zwei Oberbefehlshaber, Marschall I. Konew und den gegenwärtigen,
Marschall A. Gretschko. Der Oberbefehlshaber hat zwei Stellvertreter, die Vertei-
digungsminister der Mitgliedstaaten des Pakts sind und nominell »das Kommando
über die Streitkräfte jedes Partnerstaates, die er den gemeinsamen Streitkräften zur
Verfügung stellt« behalten 8. Es ist interessant und vielleicht aufschlußreich, daß
in beiden Sokolowski-Ausgaben die Beschreibung dessen, wie die Führungs-
3 W. Berezhkow, ,.Auf der Warschauer Konferenz«, Novoe Vremia (Neue Zeiten), Nr. 20,
Oktober 1955, S. 9; Ludwik Gelbert, Uklad Warsoza'lL'ski (Warschau-Pakt), Warschau
1957, S. 64, zitiert bei Polansky, S. 2.
4 Polansky, S. 3-5. Zum Kommentar eines gut unterrichteten expolnischen Offiziers über
den größtenteils symbolischen Charakter des militärischen Stabs des Warschauer Pakts in
den Jahren 1955-1958 siehe Pawel Monat, mit John Dille, Spy in the U.S., Harper
and Row, New York 1962, S. 188-189.
5 Zwei Hilfsorgane des Politischen Beratenden Ausschusses, eine Ständige Kommission, die
sich mit Fragen der Außenpolitik befassen sollte und ein Vereintes Sekretariat, waren im
Vertrag vorgesehen, es ist jedoch nichts über eine Tätigkeit dieser Körperschaften bekannt.
Polansky, S. 3.
a Gelbert, Warschauer Pakt, S. 113 f., zitiert bei Polansky, S. 3.
7 Schukow, Der Warschauer Vertrag, S. 21.
8 V. K. Sobakin, Kollektivnaia Bezopasnost' Garantiia Mirnogo Sosuchestvovaniia (Kol-
lektive Sicherheit: Die Garantie für friedliche Koexistenz), Izdatelstvo IMO, Moskau
1962, S. 385. Das einzige andere Element in der Kommandostruktur des Warschauer
Pakts, das öffentlich erwähnt wurde, ist der Stab der Vereinten Streitkräfte, der sich aus
Vertretern der nationalen Generalstäbe zusammensetzt und in Moskau sitzt. Bis zu
seinem Tod im Jahre 1962 stand General A. 1. Antonow, der im Krieg mit Stalin eng
Koalitionsaspekte 215
zusammengearbeitet hatte, diesem Stab vor. Ein anderer sowjetischer Offizier, General
P. 1. Batow, ist gegenwärtig Stabschef. Siehe Oberst S. Lesnewskii, »Militärische Zu-
sammenarbeit der Streitkräfte der sozialistischen Länder«, Der Kommunist in den be-
waffneten Kräften, Nr. 10, Mai 1963, S. 72.
9 Soviet Military Strategy, S. 495; Militär-Strategie, S. 518 f.
10 Robert A. Kilmarx, A History 0/ Soviet Air Power, Frederid>. A. Praeger, Inc., New
York, 1962, S. 267.
216 Kapitel XVlI
Für diesen Vorgang, dem Warschauer Pakt für die gemeinsame Verteidigung des
sozialistischen Lagers in der öffentlichkeit mehr Ansehen zu verschaffen, sind zwei
Erklärungen Marschall Gretschkos, zwischen denen zwei Jahre liegen, bezeichnend.
Am 9. Mai 1960 sagte er:
Die Stärke der sowjetischen Streitkräfte ist ein zuverlässiger Bürge für den Weltfrieden,
eine zuverlässige Garantie der Sicherheit der Grenzen unseres Vaterlandes, eine Garantie
der Sicherheit der brüderlichen sozialistischen Staaten 11.
zusammenrückten« 17. Marschall Malinowski war 1963 mit seiner Erklärung »der
Pakt ist mit Blut besiegelt« noch dramatischer 18. Im Einklang mit dieser häufigen
Aufzählung der Maßnahmen, die dazu beitrugen, »die sozialistischen Streitkräfte
enger zusammen«zubringen, stellte der veröffentlichte Bericht einer Konferenz
über Militärdoktrin, die im Mai 1963 in Moskau stattfand fest, einer der eingehend
diskutierten Punkte sei die Notwendigkeit der Entwicklung »einer einzigen militä-
rischen Doktrin« für alle Länder des Warschauer Pakts gewesen 19.
Wenngleich man aus dieser Bemerkung schließen könnte, daß die militärische Zu-
sammenarbeit nicht ganz soweit gediehen war, wie andere Darstellungen glauben
machen wollen, so bleibt doch die Tatsache, daß die Sowjetunion es für nützlich
gehalten hat, die engen militärischen Bande zwischen den Warschau-Pakt-Ländern
zu betonen. Es ist nicht leicht zu sagen, wieweit diese Bestrebung aus militärischen
überlegungen resultiert und wieweit aus politischen. Beides ist miteinander eng
verknüpft. Das Hauptmotiv der Sowjets kann man vielleicht in der Tatsache sehen,
daß die sowjetischen Streitkräfte in Osteuropa nicht nur der NATO gegenüberste-
hen, sondern auch lange eine Art Besatzungsfunktion ausgeübt haben, damit Re-
gime, die mit der sowjetischen Politik sympathisieren, an der Macht bleiben - wie
Ungarn ziemlich anschaulich bewies. Da die osteuropäischen Länder allmählich ein
größeres Maß an Autonomie auf wirtschaftlicher, kultureller und sogar politischer
Ebene erworben haben, würde der offene Besatzungsmachtaspekt der sowjetischen
Anwesenheit in Osteuropa in zunehmendem Maß unangenehm werden, gäbe es
nicht den Warschauer Pakt, durch den die sowjetische Anwesenheit unter dem Zei-
chen der Verteidigung gegen die NATO-Bedrohung kollektiv sanktioniert wird.
Die unterschiedliche Interpretation, die die Polen und die Sowjets der Ungarn-Epi-
sode gaben, zeigt, daß es zwischen den osteuropäischen Ländern und der Sowjet-
union immer noch Spannungen und Mißverständnisse darüber geben kann, wieweit
unter der Deckung des Warschauer Pakts sowjetische Polizeiaktionen möglich
sind 20. Dennoch erscheint der Pakt der Sowjetunion heute wertvoller wegen der
17 Oberst S. Lesnewskii in: Der Kommunist in den bewaffneten Kräften, Nr. 10, Mai 1963,
S. 73. Siehe auch Marschall A. Gretschko, »Die Heldentat der Nation«, Iswestija, 9. Mai
1963; Oberst A. Ratnikow, »Ein zuverlässiger Hüter der Sicherheit des Volks«, Roter
Stern, 14. Mai 1963.
18 »45 Jahre Wacht über das sozialistische Vaterland«, Prawda, 23. Februar 1963.
19 Oberst L. Belousow, »Konferenz über sowjetische Militärdoktrin«, Journal für Kriegs-
geschichte, Nr. 10, Oktober 1963, S. 126. In diesem Zusammenhang hob ein Artikel vom
Herbst 1963, der offensichtlich mit der Absicht geschrieben war, die »militärische Freund-
schaft« des Warschauer Pakts im Gegensatz zu dem chinesischen Einzelgängertum zu be-
tonen, die Notwendigkeit einer Ausarbeitung gemeinsamer Aktionen hervor, da es zu
spät wäre, wenn ein sozialistisches Land »um Hilfe rufen« würde, nachdem die Bomben
angefangen haben zu fallen. Oberst 1. Sidel'nikow und Oberst W. Zmitrenko, »Die ge-
genwärtige Epoche und die Verteidigung der Errungenschaften des Sozialismus«, Roter
Stern, 19. September 1963.
20 In diesem Zusammenhang war die polnische Haltung durchgängig, daß »der Warschauer
Pakt nicht als eine legale Basis der Aktionen der sowjetischen Streitkräfte während der
tragischen Ereignisse, die in Ungarn stattfanden, gebraucht werden kann«. W. Moraiwecki,
»über den Warschauer Pakt«, Sprawy Miezynarodowz (Internationale Angelegenhei-
ten), Nr. 5, 1958, S. 29, zitiert bei Polansky, S. 16. Die Sowjetunion hat andererseits die
218 Kapitel XVII
Funktion, die er für den inneren Zusammenhalt hat als das wahrsmeinlim vor neun
Jahren der Fall war.
Auf rein militärismer Ebene entstehen der Sowjetunion zweifellos aus der engeren
Zusammenarbeit mit Streitkräften Warsmauer Pakt-Länder einige Vorteile. In
Friedenszeiten ist der sowjetisme Zugang zu Manövergeländen, der Durmgang, die
logistisdle Unterstützung usw. im Rahmen des Pakts wahrsmeinlim vereinfamt. Im
Falle lokaler Feindseligkeiten, die möglimerweise Westdeutsmland beträfen, könnte
der Pakt eine stärkere sowjetisme Kontrolle der nationalen Streitkräfte ermög-
limen, obschon dies wohl nimt eine Hauptüberlegung ist, vor allem solange die so-
wjetische Politik den Streitkräften der anderen Paktländer keine Kernwaffen in die
Hand gibt, was bis jetzt der Fall gewesen zu sein scheint. Bei größeren Feindselig-
keiten hätte die vorherige Durchführung von Manövern, von gemeinsamen Pla-
nungs- und Stabsübereinkommen offensimt1iche Vorteile. Die Kernfrage - wie-
weit ein wachsendes Gefühl der Sowjets, daß sie militärisch auf die anderen War-
smau-Pakt-Streitkräfte angewiesen sind, die Aufwertung des Pakts in den letzten
Jahren erklären könnte - ist nicht leicht zu beantworten.
Auf den ersten Blick könnte man annehmen, die strategische Raketenstärke der So-
wjets, besonders die großen mit Mittelstreckenraketen ausgerüsteten Streitkräfte,
die vom sowjetischen Gebiet selbst aus gegen Westeuropa ausgebildet werden, hätte
die sowjetische Abhängigkeit von osteuropäischen Ländern etwas verringert. Ein
weiterer Punkt, die sowjetische Einschätzung der Zuverlässigkeit der osteuro-
päischen Streitkräfte, gehört hierzu. In diesem Zusammenhang ist es vielleicht be-
zeichnend, daß die modernistische Richtung des sowjetischen Militärdenkens nie
vorgebracht hat, daß durch das Bestehen großer osteuropäismer Streitkräfte sowje-
tisme Massenstreitkräfte alten Stils weniger erforderlich seien - obschon dies als
ein logisches Argument der Modernisten erschiene. Das läßt vermuten, daß die So-
wjetunion einige Zweifel darüber hegen könnte, wieweit sie sich auf andere Pakt-
Streitkräfte verlassen kann und daß die sowjetischen Militärplanungen vielleicht
davon ausgehen, die Erfordernisse eines Krieges auf dem europäischen Smauplatz
im wesentlichen aus ihren eigenen Mitteln zu decken.
Schließlich besteht eine Parallelität zwischen dem Nachdruck, den die Sowjets auf
die kollektive Stärke und militärische Einheit der Warschau-Pakt-Länder legen und
der Verschlechterung der Beziehungen zu Peking, was darauf hindeutet, daß eine
Funktion des Themas der Warschau-Pakt-Zusammenarbeit darin besteht, chine-
sischen Anschuldigungen, die Sowjetunion sei an der Spaltung des kommunistischen
Lagers schuld und stelle ihre eigenen Interessen über die der anderen kommuni-
stischen Staaten, zu begegnen.
polnischen Erklärungen, daß die sowjetischen Truppen die ungarische Revolution nicht
unter dem Mantel der Legalität des Warschauer Pakts niederschlagen konnten, weiterhin
bestritten. Die sowjetische Auffassung war, noch im Mai 1963, daß »die operative
Stärke dieser Zusammenarbeit (i. e. des Warschauer Pakts) in den Tagen des gegenrevolu-
tionären Putsches in Ungarn im Herbst 1956 überzeugend demonstriert wurde.« Les-
newskii in: Der Kommunist in den bewaffneten Kräften, Nr. 10, Mai 1963, S. 73.
Koalitionsaspekte 219
hatten die Chinesen von der sowjetisdten Hilfe beim Aufbau moderner, regulärer
Streitkräfte sehr profitiert 26. Gleidtzeitig hatte aber die dtinesisdte Abhängigkeit
von der Sowjetunion sehr zugenommen. Das galt besonders für die Zukunft, denn
wollte China wie die Sowjetunion und die USA eine militärisdte Atommadtt und
die tedtnisdt-industrielle Basis um sie zu unterstützen erwerben, so war die Hilfe
Moskaus in ziemlidt großen Portionen nötig ZO.
Diese Hilfe stand offenbar nie so freigiebig zur Verfügung, wie die Chinesen es
gerne gesehen hätten, wenngleidt die Sowjetunion zwisdten den Jahren 1954 bis
1960 in mandter Hinsidtt mehr zur Zusammenarbeit geneigt war als zu Stalins
Zeiten. So wurden z. B. nadt dem Besudt von Chrusdttsdtow und Bulganin in Pe-
king Ende 1954 einige der Bedingungen, die Stalin erfeilsdtt hatte, aufgehoben:
Port Arthur wurde 1955 den Chinesen zurückgegeben und die Abmachung, nadt
der allein die Sowjets das Sinkiang Uran gewinnen konnten, aufgehoben. Auch eine
vermehrte Hilfe beim Aufbau der dtinesisdten Industrie, einschließlich einer eigenen
Waffenindustrie, war zu erwarten und 1955 wurde ein wissensdtaftlidt-tedtnisches
Abkommen unterzeidtnet. Dem folgte im Oktober 1957 - wie später durdt die
Polemik enthüllt wurde - ein Geheimabkommen über »neue Tedtnologie für die
nationale Verteidigung« 27.
Trotz der sowjetisdten Zusammenarbeit mit Peking von 1955-1960 hielten die
Sowjets die Chinesen offenbar bezüglidt militärisdter Verpflidttungen in dieser Zeit
eher knapp 28. Dazu gehört die etwas unklare sowjetisdte Unterstützung von Maos
Unternehmung in der Straße von Taiwan im Jahre 1958, die in Form einer War-
nung Chrusdttsdtows an Präsident Eisenhower am 18. September 1958 geschah,
daß die Sowjets im Falle eines amerikanischen Kernwaffenangriffs auf China
nukleare Vergeltungsschläge durdtführen würden 29. Seitdem ist auch bekanntge-
worden, daß in dieser Zeitspanne die chinesisdt-sowjetischen Beziehungen wegen der
Frage einer nuklearen Unterstützung Chinas ernsthaft in Unordnung gerieten. Pe-
king erhebt nunmehr die Ansdtuldigung, die Sowjetunion habe am 10. Juni 1959
das neue Technologie-Abkommen »einseitig gebrochen« und sich »geweigert, China
ein Modell einer Atombombe und die technischen Daten zu ihrer Herstellung zu
25 Siehe Harold Hinton, »Communist China's Military Posture«, Current History, Sep-
tember 1962, S. 151.
26 Siehe Alice Langley Hsieh, Communist China's Strategy in the Nuclear Era, Prentice
Hall, Inc., Englewood Cliffs, New Jersey 1962, S. 72-75.
27 Erklärung des Sprechers der chinesischen Regierung, 1. September 1963 - Ein Kommen-
tar zu der Erklärung der sowjetischen Regierung vom 21. August People's Daily (Volks-
zeitung), 1. September 1963, Peking, Radiosendung der Nachrichtenagentur Neues China,
31. August 1963.
28 Garthoff in: Annals 0/ the Amerikan Academy 0/ Political and Social Science, Sep-
tember 1963, S. 82,86 H.
29 Das Ausmaß der sowjetischen Unterstützung ist immer noch unklar, da die Chinesen
später die Anschuldigung erhoben, Chruschtschow nähme fälschlich einen Sieg für sich in
Anspruch, da seine Warnung erfolgte, nachdem die Gefahr einer nuklearen Auseinan-
dersetzung in der Taiwan-Krise vorüber war. Siehe chinesische Erklärung, 1. September
1963, und die Erklärung der sowjetischen Regierung, 20. September 1963, Prawda,
21. September 1963, die Peking Undankbarkeit vorwirft.
Koalitionsaspekte 221
geben« 30. Kurz gesagt, die Belastungen, die in den chinesisch-sowjetischen Militär-
beziehungen seither deutlich geworden sind, hatten sich schon entwickelt, ehe es
Mitte 1960 zum Bruch kam.
Die hauptsächlichen Streitfragen militärischer Natur, die seit dem Jahre 1960 in
den chinesisch-sowjetischen Polemiken enthüllt wurden, gehen häufig weit über die
Bereiche rein militärischer überlegungen hinaus. Das ist in bezug auf die zentrale
Frage: Krieg oder Frieden? sicherlich der Fall. Die sowjetische Führung, ernüchtert
durch ihre Einsicht in die Folgen eines Kernwaffenkriegs und bis jetzt noch der ein-
zige Wächter nuklearer Kapazitäten innerhalb des kommunistischen Lagers, trägt
gezwungenermaßen die Bürde der Verantwortung dafür, daß tatsächliche Schritte
zur Vermeidung des Risikos eines nuklearen Krieges unternommen werden. Die
Chinesen, die seit langem dazu neigen, von der sowjetischen Militärrnacht größere
politische Dividenden zu erwarten als die Russen selbst es tun 31 und nicht belastet
mit der tatsächlichen Verantwortung für die Kontrolle von Waffen, die sie nicht
besitzen, übten unter dem Mantel der sowjetischen Raketen- und Weltraumerrun-
genschaften zuversichtlichen Druck auf den Westen aus. Bis zu einem gewissen Grad
mag die chinesische Sicht durch ihre eigene Erfahrung im Korea-Krieg und in Süd-
ostasien gefärbt sein, wo der Westen trotz ziemlich großen Drucks nicht mit Kern-
waffen antwortete.
Diese Haltungsunterschiede kommen zusammen in der chinesischen Kritik der Art,
wie die Sowjetunion die Politik der friedlichen Koexistenz betrieben hat - was
ein Beobachter als Moskaus eigene »Theorie der Eindämmung« gegen den Westen
bezeichnet hat. Der chinesischen Kritik liegt vielleicht die Angst zugrunde, daß das
taktische Mittel der friedlichen Koexistenz, wodurch die sowjetischen Führer hof-
fen, den Druck auf den Westen zu regulieren um eine nukleare Katastrophe zu ver-
hindern, mit der Zeit eine Daseinsweise werden könne - ein Mildern des früheren
militanten Kommunismus, mit einem allmählichen Divergieren der Endziele der
kommunistischen Weltbewegung und der nationalen Interessen der Sowjetunion.
An der Spitze der Listen der einzelnen Fragen, über die die Sowjetunion und China
sich entzweit haben, steht die Entschlossenheit der Chinesen, in den »Atom-Club«
einzubrechen, wie sie sich am plastischsten in der chinesischen Erklärung ausdrückt,
zu diesem Zweck notfalls »mit oder ohne Hosen« zu sein 32. Während nicht bekannt
ist, wieweit die Sowjets den Chinesen schon bei einer nuklearen Kapazität geholfen
30 Chinesische Erklärung vom 1. September 1963 und Erklärung des Sprechers der chinesi-
schen Regierung, 15. August 1963 - Ein Kommentar zu der Erklärung der sowje-
tischen Regierung vom 3. August 1963, Peoples Daily (Volkszeitung), 15. August 1963,
Peking, Radiosendung der Nachrichtenagentur Neues China, 14. August 1963. Die so-
wjetische Regierung hat einen Vertrauensbruch stillschweigend zugegeben in bezug auf
das Abkommen vom Oktober 1957, indem sie die Chinesen deswegen kritisierte, daß sie
in diesem Zusammenhang geheime Verteidigungsinformationen bekanntgegeben haben.
Erklärung der sowjetischen Regierung, 21. August 1963, Prawda, 21. August 1963.
31 Siehe Donald S. Zagoria, The Sino-Soviet Conflict: 1956-1961, Princeton University
Press, Princeton, New Jersey, S. 154-172; Hsieh, Communist China's Strategy, S. 83
bis 99,169.
32 Interview japanischer Journalisten mit Chen Yi, Tokio, Radio Kyodo, 28. Oktober
1963.
222 Kapitel XVII
hatten, ehe sie es sidt anders überlegten, wissen wir nunmehr aus den bereits er-
wähnten Polemiken, daß die dllnesisdt-sowjetischen Beziehungen nach der ange-
limen Aufhebung der sowjetischen Verpflimtungen im Juni 1959 ein Musterstück
der Bombe und Daten zur Waffenproduktion zu stellen, sidt sc:hnell verschlec:hter-
ten. Es ist auch evident, daß die Sowjets es sim noch einmal überlegt haben, ob es
wünsmenswert sei, den Chinesen andere fortentwickelte militärisdte Stücke zu lie-
fern. Im Juni 1959 sagte Chrusdttsdtow zu Averell Harriman, daß die Sowjetunion
bereits einige Raketen nam China gesdlickt habe (ob mit oder ohne atomare Spreng-
köpfe oder sowjetisdte Mannsmaften, sagte er nidtt) um ihm bei der Verteidigung
gegen Taiwan zu helfen sa. Jedoch hörte die sowjetisdte Großzügigkeit irgendwann
auf und seitdem werden China sogar solche neuen Typen von Flugzeugen verwei-
gert, wie die Sowjetunion sie nichtkommunistisdten Ländern wie Indonesien und
Kgypten liefert 84.
Man kann nur Mutmaßungen darüber anstellen, weshalb die Sowjetunion sidt ent-
schloß, China keine nukleare Unterstützung zu gewähren. Ein möglidtes Motiv ist,
daß sie, besonders nam der Taiwan-Episode des Jahres 1958, befürdttete, durdt die
Chinesen in eine nukleare Konfrontation mit den USA hineingezogen zu werden.
Diese Annahme erhält einige Wahrsdteinlichkeit durdt die ziemlidt häufig vor-
gebradtten sowjetisdten Ansmuldigungen, von Chrusdttsdtows Rede am 12. Dezem-
ber 1962 über Kuba angefangen, daß die Chinesen hofften, einen amerikanism-so-
wjetischen Kernwaffenkrieg zu provozieren, während sie selbst sim draußen halten
würden - mehr oder weniger in der Rolle des ladtenden Dritten und darauf war-
teten, die Reste einzusammeln 35. Eine zweite Möglidtkeit ist, daß die sowjetischen
Führer die falsche Kalkulation angestellt haben, die Verweigerung von Kernwaffen
würde die Chinesen zur Modifizierung einiger anderer Aspekte ihres Verhaltens,
die den Sowjets nicht genehm sind, zwingen. Anzeichen dafür, daß die Chinesen
sich selbst nidtt einig waren, ob sie die sowjetisdte Militärhilfe aufs Spiel setzen oder
den »Alleingang« wagen sollten, haben vielleidtt Moskau in dem Glauben bestärkt,
diese Taktik der Druckausübung wäre erfolgreich 38. Ein drittes sowjetisdtes Motiv,
das im Zusammenhang mit dem Dialog über den Teststop offen eingestanden
wurde, ist, daß falls die Sowjetunion China Kernwaffen geben würde, die USA
diesem Beispiel folgen und sie Ländern wie Westdeutschland und Japan geben wür-
den, was nach sowjetismer Auffassung nur "das Wettrüsten verstärken« und »die
Verteidigung des sozialistismen Lagers ersmweren« würde 37.
Die Frage, wie stark die sowjetisme Absmreckungsmamt verpflimtet ist, die chine-
sismen Interessen zu unterstützen, ist mit der Thematik der Vorenthaltung der
Kernwaffen als eine Quelle der chinesisch-sowjetischen Spannung eng verbunden.
Letztlich stellt diese Angelegenheit sogar die Gültigkeit des chinesisch-sowjetischen
Abkommens selbst in Frage. Im Laufe der Polemiken haben die Sowjets erklärt, der
sowjetische Kernwaffen- und Raketenschild erstrecke sich aum auf China. Das ist
sogar Teil der sowjetischen Begründung, weswegen sie Waffen vorenthalten 38.
Gleichzeitig haben die Sowjets keinen Zweifel daran gelassen, daß es Grenzen ihrer
Verpflichtung gebe 39 und daß sie nur so lange gültig sei, als die Chinesen die Richt-
linien ihrer Politik in Moskau bestimmen ließen. Wie Marsmall Malinowski das im
Januar 1962 formulierte, ist die sowjetische Militärmacht immer zur Verteidigung
»derjenigen sozialistischen Staaten, die uns freundlich sind«, bereit 40. Ein anderer
sowjetischer Marschall, Eremenko, drückte es im Oktober 1963 bildlich aus, als er
den Chinesen ein altes russisches Sprichwort zitierte: »Spuck' nicht in den Brunnen,
denn eines Tages mußt du vielleicht Wasser trinken.« 41
Die Chinesen haben sich ihrerseits simtlich daran gestoßen, daß sie von Moskau ab-
hängig sind und ihre Entschlossenheit, mit eigenen Kräften Kernwaffen zu erwer-
ben, deutlich zu verstehen gegeben. Sie betonen, daß alle Probleme Chinas, ein-
schließlich der der »nationalen Verteidigung« ohne sowjetische Hilfe gelöst werden
können 42.
Die Frage, welche Politik in bezug auf nationale Befreiungskriege und lokale Kriege
eingeschlagen werden soll, war ein weiterer Streitpunkt zwischen Moskau und
Peking. Wie smon aus der Erörterung im Kapitel X hervorging, scheinen die
Sowjets eine flexiblere Haltung gegenüber den Möglichkeiten der Eskalation bei
lokalen Auseinandersetzungen zu sumen; zum Teil um minesischen Vorwürfen des
»Kapitulationismus« gegenüber weniger verwundbar zu sein, die nam der Kuba-
Krise im Jahre 1962 heftiger wurden. Die Sowjetunion ist jedom bezüglich des An-
37 Erklärung der sowjetischen Regierung, 20. September 1963, Prawda, 21. September
1963; Oberst P. Trifonenkow, »Das heute vordringlichste Problem und das Abenteurer-
turn der chinesischen Dogmatiker«, Der Kommunist in den bewaffneten K)·äften, Nr. 21,
November 1963, S. 28.
38 Erklärung der sowjetischen Regierung, 20. September 1963, Prawda, 21. September
1963; Leitartikel, "Der leninistische Kurs unserer Außenpolitik«, Roter Stern, 24. Sep-
tember 1963; Trifonenkow in Der Kommunist in den bewaffneten Kräften, Nr. 21. No-
vember 1963, S. 28.
39 Merkwürdigerweise scheint die westliche Weh diese Verpflichtung ernster genommen zu
haben als die Chinesen. Sie schreibt der sowjetischen Abschredmng im Dienst Chinas
einen ziemlich hohen »Glaubwürdigkeitsgrad« zu. Siehe die Erörterung dieses Punktes
bei Thomas C. Schelling, »Deterrence: Military Diplomacy in the Nuclear Age«, Virgi-
nia Quarterly Review, Vol. 39, Nr. 4,1963, S. 545-547.
40 Prawda, 24. Januar 1962. Siehe auch Zagoria, Sino-Soviet Conflict, S. 335 f.
spruchs Pekings auf eine überlegene Doktrin zum Sieg in Revolutionskriegen nicht
gänzlich in der Defensive geblieben. Nicht nur hat sie einen Gegenangriff unter-
nommen, indem sie Peking daran erinnerte, sowohl das sozialistische Lager als auch
nationale Befreiungskriege lebten unter dem Schutz der sowjetischen Kernwaffen.
Die Sowjets haben auch die Chinesen sogar beschuldigt, sie legten es auf der Grund-
lage der militärischen Theorien Maos, der Menschenmaterial gegen Kernwaffen
setzt, auf einen Krieg an. Diese Angriffsrichtung wurde im Oktober 1963 von
Generalmajor Kozlow, dem Militärexperten der sowjetischen Nachrichtenagentur
Novosti, eingeschlagen, der damit Mao Tse-tung köderte. Kozlow bezog sich auf
die »Strategie und Taktiken zum Sieg der Schwachen über die Starken«, die Mao
in seinem Werk» Vom langandauernden Kriege« entwickelt. Er sagte: »Die Ten-
denz und Idee, daß in einem Krieg der Sieg durch >Schwäche< gewonnen werden
kann, ist, gelinde gesagt, naiv, wenn nicht kriminell.« 43 Kozlow stellt fest, es sei
»unmöglich, irgendwelche Hoffnungen auf Erfolg zu hegen, wenn moderne Tech-
niken der Kriegführung ignoriert werden«, und erhob die Anschuldigung, die
chinesische Vorstellung, »alles ausschließlich auf eine zahlenmäßige überlegenheit
über den Gegner an Soldaten zu reduzieren«, hieße schlicht, »kleine Nationen zur
Hoffnungslosigkeit zu verdammen«. Weiter sagte er, mit ihrem Versuch, »ihre be-
grenzte Erfahrung und entsprechenden Theorien als eine Anleitung für alle aufzu-
drängen, verzerren die chinesischen Führer ... die marxistisch-leninistische Theorie
des Krieges und fügen der kommunistischen Sache großen Schaden zu«.
Andererseits haben auch die Chinesen aus dem Problem Mensch gegen Technologie
eine Streitfrage gemacht. Wie schon in Kapitel VIII erwähnt wurde, scheinen eine
Reihe chinesischer Erklärungen zu diesem Thema darauf berechnet zu sein, die inter-
nen politisch-militärischen Beziehungen der Sowjets zu verschlechtern, indem sie sich
an einige Kreise des sowjetischen Militärs wenden, die Chruschtschows Militär-
theorien ablehnend gegenüberstehen. So bemerkte z. B. in einem Interview am
28. Oktober 1963 mit japanischen Korrespondenten der Außenminister Chen Yi
mit Nachdruck, seiner Meinung nach werde die KPdSU, das sowjetische Volk und
die Rote Armee nicht bereit sein, ihre Freundschaft gegenüber China aufzugeben« 44.
Ein gezielterer Schlag zur Trennung Chruschtschows vom sowjetischen Militär wurde
mit der chinesischen Erklärung vom 18. November 1963 erteilt, die Chruschtschow
wegen »nuklearem Fetischismus« und überbetonung der Technologie gegenüber dem
Menschen angriff. Die Chinesen bezeichneten die sowjetische Armee zwar weiterhin
als »eine große Macht, die den Weltfrieden behüte«, erklärten aber gleichzeitig:
Chruschtschows gesamte Militärtheorie steht völlig im Gegensatz zu den marxistisch-leni-
nistischen Lehren vom Krieg und den Streitkräften. Die Befolgung seiner irrigen Theorien
zieht notwendig die Auflösung der Streitkräfte nach sich ... 45
43 Generalmajor S. Kozlow, »Gegen den Dogmatismus und die Verzerrung der marxistisch-
leninistischen Lehren vom Krieg«, Narodna Armiya (Volksarmee), Sendung von Radio
Sofia, 8. Oktober 1963.
44 Tokio, Radio Kyodo, 28. Oktober 1963.
<c, "Zwei verschiedene Einstellungen zur Frage von Krieg und Frieden«, Kommentar des
Offenen Briefes, herausgegeben von Zentralkomitee der KPdSU, Volkszeitung (Pcople's
Daily) Rote Fahne, 19. Novenber 1963. Peking, Radiosendung der Nachrichtenagentur
Neues China, 18 November 1963.
Koalitionsaspekte 225
48 Edward Crankshaw, Sino-Soviet Rift Held Very Deep«, Washington Post, 12. Februar
1961. Chinesische Anschuldigungen in einem Artikel, der sowohl in der Volkszeitung
(People's Daily), als auch in der Roten Fahne erschien - am 6. September 1963 - die
Sowjetunion habe im Jahre 1958 versucht, ,.China unter sowjetisme Militärkontrolle zu
bringen«, standen offenbar in Zusammenhang mit der Frage des Marinekommandos, wie
sich aus einer Rede, die in Japan von einem chinesischen offiziellen Besucher, Chao An-
po, gehalten wurde, ergab, wie in der Japan Times vom 23. Februar 1964 berichtet wurde.
47 Siehe ,.Peking Spars with Soviets Over Wilds of Central Asia«, Christian Science Mo-
nitor, 2. Oktober 1963; Farnsworth Fowle, "Soviet Tightens Watdt on China«, New York
Times, 17. November 1963. Die Frage weiterer Grenzverletzungen wurde im Frühling
1964 von sowjetisdter wie auch von dtinesisdter Seite aufgeworfen. In seiner Rede vom
14. Februar 1964 vor dem Plenum des ZK der KPdSU, die am 3. April 1964 veröffent-
lidtt wurde, stellte M. A. Suslow fest, daß» Verletzungen der sowjetisdten Grenze 1962
bis 1963 zu einem ständigen Phänomen wurden und mandtmal die Form grober Provoka-
tionen annahmen«. Die Chinesen erhoben ihrerseits in einem Brief vom 29. Februar 1964
an die KPdSU die Ansdtuldigung, "die sowjetisdte Seite hat den status quo an der
Grenze häufig gebrodten, dtinesisdtes Gebiet besetzt ... Grenzzwisdtenfälle provo-
ziert ... in dtinesisdten Grenzzonen flagrante subversive Tätigkeiten großen Ausmaßes
durchgeführt«. Keine Seite konnte der anderen ein annehmbares Vorgehen zur Beilegung
der dtinesisdt-sowjetismen Grenzfragen anbieten. Siehe ȟber den Kampf der KPdSU
um Solidarität der internationalen kommunistisdten Bewegung«, Berimt des Genossen
M. A. Suslow an das Plenum des ZK der KPdSU, 14. Februar 1964, Prawda, 3. April,
1964; Notenaustausm zwisdten der chinesisdten und der sowjetismen Partei seit Novem-
ber 1963, veröffentlimt vom ZK der Chinesismen Kommunistischen Partei, Peking, Ra-
diosendung der Namrimtenagentur Neues China, 8. Mai 1964.
48 Zu weiteren Kommentaren zu diesen Dokumenten siehe Alice Langley Hsieh, Commu-
nist China's Military Doctrine and Strategy, The RAND Corporation, RM-3833-PR
(gekürzt), Oktober 1963.
226 Kapitel XVII
Obwohl die Versdtledtterungen der Beziehungen zwischen Moskau und Peking viel
weiter gegangen sind als der klügste Prophet vor zehn Jahren hätte ahnen können,
mag man mit Redtt zögern, eine Voraussage über die Zukunft der chinesisch-sowje-
tischen militärischen Beziehungen zu mac:hen. Auf der einen Seite ist es als extreme
Möglichkeit nicht unvorstellbar, daß die beiden Seiten aufeinander schießen könn-
ten, obschon das nicht wahrsmeinlich erscheint, es sei denn, ihre politischen Be-
ziehungen sinken noch unter den derzeitigen Punkt. Beide Seiten haben gewiß guten
Grund, gegenüber der westlichen Allianz den Schein der Einheit zu wahren und,
falls die Sowjetunion sich vor die Wahl gestellt sähe, entweder China zu helfen oder
zuzulassen, daß das Festland der kommunistischen Kontrolle entrissen wird, könnte
man vielleic:ht erwarten, daß die Sowjetunion die Hand zur Hilfe reicht. Ebenso
könnte man annehmen, daß China, falls die Sowjetunion in einen großen Krieg,
der außerhalb des Fernen Ostens seinen Anfang nimmt, verwickelt würde, seinen
Vertragsverpflic:htungen mit den UdSSR nachkommen würde. Die Ungewißheit,
welche Form die chinesische Unterstützung annehmen würde, könnte jedoch ein
wunder Punkt der sowjetischen Strategie sein.
Von solchen extremen Situationen abgesehen, die Voraussagen unsicher machen, ist
anzunehmen, daß die Tendenz beider Mächte anhalten wird, ihre Politik im Sinne
ihrer eigenen Interessen abzugrenzen. Hierbei bleibt die Aussicht, daß ihre militäri-
schen Beziehungen weiterhin zurückhaltend und etwas kühl sein werden. Die sowje-
tisc:he Strategie wird jedoch wahrsmeinlic:h an einen Sc:heideweg gelangen, wenn
China selbst eine Atommacht wird. Zu diesem Zeitpunkt wird die Sowjetunion
eventuell die Wahl haben, sich entweder mit ihrem bevölkerungsreichen Nachbarn
im Osten irgendwie zu arrangieren oder andere Vorkehrungen für die sowjetische
Simerheit zu treffen, die die Struktur der Ost-West-Beziehungen, wie sie heute be-
stehen, entsc:hieden ändern könnten.
Kapitel XVIII
Zwar wird die sowjetische Führung vielleicht zunehmend von schweren Zweifeln
befallen, ob ein Kernwaffenkrieg irgendwelchen vernünftigen politischen Zwecken
dienen würde, aber dieser Gedanke ist noch nicht bis zum Kern der sowjetischen mili-
tärischen Doktrin und Strategie durchgedrungen. Das sowjetische Militärschrifttum
hat keinen Platz für die Konzeption, es werde in einem künftigen Krieg »keinen
Sieger« geben. In dieser Hinsicht wiederholt sie noch die dogmatische Ideologie-
haltung, daß im Falle eines Krieges »das tatsächliche politische, wirtschaftliche und
militärische Kräfteverhältnis« der Gegner den Sieg des kommunistischen Lagers
garantiert 1.
Wenn es jedoch dazu kommt, den militärischen Weg zur Erreichung der »entschei-
denden politischen und militärischen Ziele« des sowjetischen Lagers in einem künfti-
gen allgemeinen Krieg gegen die westliche Koalition festzulegen, scheint die sowje-
tische Militärtheorie immer noch von widersprüchlichen Mein~ngen und Unsicher-
heit umgeben. Sie widerspiegelt die weiterhin bestehende Ambivalenz zwischen den
Konzeptionen eines kurzen, entscheidenden und eines langen Krieges, zwischen dem
radikalen Gedanken, die Schockwirkung moderner strategischer Waffen würde den
Sieg schnell herbeiführen durch die Lähmung des Widerstandswillens des Gegners
und dem traditionelleren Gedanken, der Sieg sei nur durch umfangreiche Operatio-
nen verbundener Waffen zu sichern, die mit der Besetzung des Heimatlandes des
Gegners endeten.
Die Sokolowski-Ausgabe von 1963 scheint sich in dieser Frage ebenso zu wider-
sprechen wie ihr Vorläufer. Schlüsselabsätze, die beide Standpunkte vertreten, wer-
den beibehalten. So wird z. B. in Aussicht gestellt, daß »die modernen strategischen
Mittel ... es gestatten, entscheidende Ergebnisse für die Erringung des Sieges im
Krieg häufig sogar ohne Beteiligung von Kräften und Mitteln auf taktischer und
operativer Ebene zu erzielen« 2, und daß ein Land, das »massierten Raketen- und
Kernwaffenschlägen ausgesetzt ist, selber dann zur Kapitulation gezwungen sein
kann, wenn seine Streitkräfte keine entscheidende Niederlage erlitten haben« 3.
1 Soviet Military Strategy, S. 313; Militär-Strategie, S. 294; siehe auch N. Talenskii, ,.The
>Absolute Weapon< and the Problems of Security«, International Affairs, Nr. 4,
1962, S. 26. Generalmajor N. Suschko und Major T. Kondratkow, »Krieg und Politik
im Atomzeitalter«, Der Kommunist in den bewaffneten Kräften, Nr. 2. Januar 1964,
S.20.
2 Militär-Strategie, S. 49 f.; Soviet Military Strategy, S. 94. Siehe auch Oberst V. Kono-
plew, "über wissenschaftliche Voraussicht in den militärischen Angelegenheiten«, Der
Kommunist in den bewaffneten Kräften, Nr. 24, Dezember 1963, S. 31.
8 Soviet Military Strategy, S. 105; Militär-Strategie, S. 61, s. auch Oberst P. Derevianko,
»Einige Merkmale der gegenwärtigen Revolution in militärischen Angelegenheiten«.
Der Kommunist in den bewaffneten Kräften, Nr. 1, Januar 1964, S. 20.
228 Kapitel XVIII
Andererseits wurde auen die traditionellere Auffassung wiederholt, mit dem Argu-
ment, für den letzdimen Sieg
wird es erforderlich sein, die völlige Vernichtung der feindlichen Streitkräfte herbeizufüh-
ren, dem Gegner strategische Aufmarschgebiete wegzunehmen, Militär5tÜtzpunkte zu be-
seitigen und strategisch wichtige Gebiete zu besetzen '.
In anderen jüngsten militärismen Erörterungen findet sien, vielleient als Teil der
Bemühungen der traditionalistisdten Rientung, sim gegen die Folgerungen aus
Chrusentsmows Grundsatzerklärung vom Dezember 1963, nämlim die Truppen-
kürzung, zu behaupten, die auffallende Tendenz, auf die vereinte-Waffen-Grund-
formel zum Sieg erneut Betonung zu legen. Die Serie im Roten Stern über die
,.Revolution in militärismen Angelegenheiten«, die im Januar 1964 mit General
N. Lomows zweiteiliger Darlegung der Militärdoktrin begann, wurde besonders in
diese Rimtung gewertet 6.
ihres Bumes über »Methoden zur Führung emes modernen Krieges« fügten die
Sokolowski-Autoren eine Ergänzung ein:
über diese Fragen ist eine Polemik im Gange. Bei dem Streit geht es um die Haupt-
methode der zukünftigen Kriegführung, um die Frage, ob dieser Krieg ein Landkrieg unter
Einsatz von Kernwaffen als Mittel zur Sicherstellung der Kampfhandlungen der Landstreit-
kräfte sein wird oder ein Krieg grundsätzlich neuer Art, in dem die Raketen- und Kern-
waffen das Hauptmittel zur Lösung strategischer Aufgaben darstellen 7.
Es mutet einen etwas sonderbar an, daß die Frage in dieser Weise aufgeworfen
wird, namdem alle Richtungen des sowjetischen Militärdenkens eine solme Unzahl
von Versicherungen abgegeben haben, ein neuer Krieg würde sich »von Grund auf«
unterscheiden von allen vergangenen Kriegen und strategische Kern- und Raketen-
waffen »das entscheidende Mittel« des Einsatzes sein. Zumindest beweist die Stelle
die Zähigkeit des traditionalistischen Gesichtspunkts, gegen den einige militärisme
Führer immer noch meinen herziehen zu müssen 8. Es kann jedoch sein, daß es hier
nicht so sehr darum geht, die eine oder die andere Strategie zu wählen, sondern
mehr um die Entscheidung, in welcher Beziehung nach Umfang, Art und zeitlicher
Abstimmung Kampfhandlungen auf dem eurasischen Kontinent zu globalen strate-
gischen Operationen stehen sollen. Das ist offensichtlim für die sowjetischen
Militärtheoretiker, die nach der Strategie für den Fall eines allgemeinen Krieges
mit den USA suchen, von größter Bedeutung, wie das umfangreiche Material im
Sokolowski-Buch selbst bezeugt.
Gleichzeitig zieht sich eine versteckte Rivalität der Stabsoffiziere alten Stils und
einer neuen Generation von technisch ausgerichteten sowjetischen Offizieren mit
Ingenieurausbildung um Befehlsprestige und bevorzugte Stellung durch die Debatte,
ob Operationen auf Kriegsschauplätzen oder strategische vorrangig sind. Die An-
gelegenheit kam in einem der Artikel vom Januar 1965 im Roten Stern, deren Ver-
fasser Generaloberst S. Shtemenko, Chef des Generalstabs der Landstreitkräfte,
war, ans Licht. Der Artikel befaßte sich mit der Frage, ob der Oberbefehlshaber
der verbundenen Waffen unter modernen Bedingungen noch als der »grundlegende
7 Militär-Strategie, S. 405.
8 Siehe z. B. die Ermahnung von Marschall R. Ia Malinowski an eine Gruppe von Militär-
Redakteuren im November 1963, wo er unter anderem sagte: »Wir müssen entschlossen
alles zerstören und hinauswerfen, was die schöpferische Entwicklung des fortschrittlichen
Militärdenkens stört und ... bereit sein für aktive, entscheidende Operationen, die bis
zur Tollkühnheit gehen, unter den Bedingungen des Einsatzes von Raketen und Kern-
waffen auf beiden Seiten.« "Die Revolution in militärischen Angelegenheiten und die
Aufgaben der Militärpresse«, Der Kommunist in den bewaffneten Kräften, Nr. 21, No-
vember 1963, S. 9 f. Siehe auch General P. Batitskii, »Die Hauptsache ist ständige
Kampfbereitschaft«, ibid., Nr. 18, September 1963, S. 24; Generalmajor I. Y. Kru-
pchenko, »über das Lehren der Geschichte der Kriegskunst an den höheren Truppen-
schulen«, Journal für Kriegsgeschichte, Nr. 9, September 1963, S. 40 f.; Konoplew,
Der Kommunist in den bewaffneten Kräften, Nr. 24, Dezember 1963, S. 32; Marschall
S. Birjusow, »Eine neue Stufe der Entwicklung der Streitkräfte und Aufgaben der Indok-
trination und Truppenausbildung«, ibid., Nr. 4, Februar 1964, S. 19 f. Dieser kritisierte
solche Offiziere, die sich an überholte Auffassungen klammern und sagte scharf (S. 19):
,.Bei den Raketentruppen haben Leute, die die neuen Arten der Kriegführung mit dem
alten Maß messen, keinen Platz.«
230 Kapitel XVlll
Organisator des Kampfes und der Operationen« anzusehen sei. Shtemenko bejahte
dies, stellte dabei jedom fest, daß die höheren tedJ.nisdJ.en Qualifikationen, die in
der modemen Kriegführung erforderlim seien, »einige Genossen veraniaßt haben
zu meinen, gegenwärtig müsse ein Oberbefehlshaber der verbundenen Waffen un-
bedingt ein Ingenieur sein« '. Shtemenko spram nur über das Personal der Land-
streitkräfte, aber die Frage Stabsoffizier oder tedJ.nismer Spezialist bezieht sim
auch auf weitere Kreise des sowjetisdJ.en Militärs, wie aus dem ungewöhnlimen Ein-
satz, mit dem die besonderen Qualitäten der Offiziere der strategismen Raketen
propagiert werden - wir wiesen bereits darauf hin - zu entnehmen ist.
9 Roter Stern, 16. Januar 1964. Siehe audl Kapitel VIII zur Erörterung eines anderen
Aspekts dieser Frage, nämlidl die Spannung zwischen den neuen "Militärspezialisten«
und dem Parteiapparat in den Streitkräften.
10 Voennaia Strategiia, 2. Ausg., S. 263; Soviet Military Strategy, S. 377.
11 Militär-Strategie, S. 349.
Suche nach einer siegreichen Strategie 231
in einem Krieg gegen einen überseeischen Gegner nicht erwarten kann, die Land-
streitkräfte würden ihre Aufgaben der völligen Vernichtung des Gegners und der
Ergreifung seines Gebiets ohne Marine- und Landungsoperationen erfüllen.
Diese Entfaltung eines stärkeren Realismus scheint zumindest teilweise einer wichti-
gen Lü<ke in der Doktrin der verbundenen Operationen, wie sie gewöhnlich in dem
sowjetischen Militärschrifttum dargelegt wird, Rechnung zu tragen. Sie soll viel-
leicht nur darauf hinweisen, daß die amphibische Kraft der Sowjets verbessert wer-
den sollte für Operationen um die sowjetische Peripherie oder in lokalen Konflikt-
gebieten. Sollte sie jedoch den Aufbau einer Invasionskapazität ehrgeizigeren Um-
fangs andeuten, dann ergeben sich daraus vielleicht größere Fragen als Antworten,
besonders in bezug auf die Ressourcen, die nötig wären, falls die Sowjetunion die
Entwi<klung von Marine- und Landungsfähigkeiten des für die Invasion eines über-
seeischen Gegners wie die USA erforderlichen Ausmaßes beginnen würde. Ange-
sichts der Belastung, der die sowjetischen Ressourcen ohnehin durch andere mili-
tärische und zivile Erfordernisse ausgesetzt sind, scheint ein derartig ehrgeiziges
neues Programm schwer durchführbar zu sein, falls die sowjetischen Führer nicht be-
reit sind, ihren Verteidigungsetat sehr erheblich in die Höhe zu treiben - ein Schritt,
der sie offenbar wenig begeistert, wie die Kürzung des sowjetischen Militärhaus-
halts für das Jahr 1964 erkennen läßt.
So haben die Verfechter der Anschauung, verbundene Waffen führten zum Sieg,
zwar vielleicht einige Unebenheiten in ihrer Theorie beseitigt, ihre Forderungen
beim sowjetischen Haushaltsplan jedoch nicht mit Erfolg geltend gemacht. Falls die
sowjetische Führung nicht auf die Alternativstrategie eines ersten Schlages mit
Scho<k-Effekt mehr Vertrauen setzt als bisher, scheint es, daß die Suche nach einem
militärischen Weg zum Sieg weiterhin zu den unerledigten Punkten der sowjetischen
Tagesordnung gehört.
Kapitel XIX
1 Siehe Malcom Mackintosh und Harry Willetts, »Arms Control and the Soviet National
Interest«, in Arms Control I ssues for the Public, Louis Henkin, ed., Prentiee-Hall, Ine.,
Englewood Cliffs, New Jersey 1961, S. 141-173; Richard J. Barnett, »The Soviet
Attitude on Disarmament«, Problems of Communism, Mai-Juni 1961, S. 32-37. Siehe
auch »Krushchev's Disarmament Strategy«, Orbis, Vol. 4, Nr. 1, Frühling 1960, S. 13 bis
27, vom Verfasser dieses Werkes.
2 In diesem Zusammenhang stellt ein neueres großes Werk über die sowjetische Außen-
politik fest, daß, obschon die sowjetische Abrüstungskampagne in der Nachkriegszeit
nicht zu Abmachungen geführt hat, die sowjetischen Anstrengungen doch dazu dienten,
»die Feinde der Abrüstung zu entlarven und die Weltmeinung zum Kampf gegen die
Gefahr des Krieges zu mobilisieren«. M. Baturin und S. Tarow, Vneshaia Politika 50-
vetskogo 50iuza Na 50vremennom Etape (Die Außenpolitik der Sowjetunion im gegen-
wärtigen Stadium), Izdatelstvo Instituta Mezhdunarodnykh Otneshenii, Moskau 1962,
S.67.
Sowjetische Strategie und Abrüstung 233
daß die Annahme dieser Vorschläge nicht wahrscheinlich war, hätte es der Sowjet-
union unterdessen erlaubt, ihr eigenes Programm zum Erwerb von Kernwaffen zu
verfolgen, unbehindert von internationalen Begrenzungen - was natürlich auch
geschah.
Ein weiteres Beispiel des engen Zusammenhangs zwischen sowjetischen strategischen
Interessen und sowjetischer Abrüstungspolitik bietet die Serie von Vorschlägen, die
die Sowjetunion im Mai 1955 einbrachte, nicht lange nachdem Chruschtsc:now
Malenkow aus der Führungsspitze verdrängt hatte. Bis zum Jahre 1955 hatte die
strategische Situation sich sehr geändert. Dem Koreakrieg war der intensive Aufbau
der amerikanischen strategischen Trägerwaffen und die Ausdehnung eines welt-
weiten Netzes amerikanischer Stützpunkte gefolgt, was der sowjetischen Führung
mehr denn je die möglichen Folgen eines Atomkrieges verdeutlichte. In Europa hat-
ten sich durch die bevorstehende Wiederbewaffnung Westdeutschlands die Zeichen
einer stärkeren NATO angekündigt, die ebenfalls ein unangenehmes neues Problem
für die Sowjetstrategie darstellte. Die sowjetische Militärmacht war zwar nicht ver-
nachlässigt und das amerikanische Kernwaffenmonopol gebrochen worden; den-
noch verschlechterte sich vom sowjetischen Standpunkt aus die strategische Situation.
Zu eben diesem Zeitpunkt brachte die Sowjetunion ihre neue Serie von Abrüstungs-
vorschlägen im Mai 1955 vor 8. Sie sahen einen Zweistufenplan vor, dessen Anfang
ein sofortiges »Einmotten« aller Streitkräfte sein sollte und der bis Ende 1957 ab-
geschlossen sein sollte. Die konventionellen Streitkräfte sollten auf den Stand redu-
ziert werden, den ein englisch-französischer Plan schon verlangt hatte., und die
Entfernung der Kernwaffen sollte beginnen, wenn 75 010 der konventionellen Ver-
ringerungen abgeschlossen waren. Neben anderen wichtigen Bestimmungen sollte
die Auflösung aller militärischen Stützpunkte auf fremdem Gebiet in der ersten
Stufe beginnen und alle Länder sollten auf den Einsatz von Kernwaffen verzichten.
Um Oberraschungsangriffe zu verhindern, sollten Beobachter an Verkehrsknoten-
punkten, Häfen und Flugplätzen stationiert werden. Nach Abschluß des Pro-
gramms hätten die Großmächte einen festgesetzten Stand der konventionellen
Streitkräfte und keine Kernwaffen oder ausländische Stützpunkte.
Vom sowjetischen Standpunkt aus hätte die Annahme dieser Vorschläge jene
Aspekte der westlichen Militärrnacht, die die Sowjetführer am meisten beunruhig-
ten, aus dem Weg geräumt. Die konventionelle überlegenheit der Sowjets würde
beibehalten, die deutsche Wiederbewaffnung im Keime erstickt, die NATO und
andere westliche Bündnisse auseinanderklaffen, wenn die amerikanischen Stütz-
punkte aufgelöst würden, und die Sowjetunion hätte endlich die Gefahr der ameri-
kanischen Atommacht beseitigt.
Auch einige der folgenden Abrüstungsvorschläge der Jahre nach 1955 zeigten das
Fortbestehen der Verbindung zwischen der wechselnden strategischen Lage und dem
Entstehen von Chruschtschows Militärpolitik. So machte die Sowjetunion z. B. An-
fang 1956, als die sowjetischen nuklearen Fähigkeiten wuchsen 10, und Chru-
schtschows Ideen, »Menschenmaterial durch Feuerkraft« zu ersetzen, Gestalt an-
nahmen, den Vorschlag, die Atomabrüstung solle im Augenblick zu den Akten
gelegt und eine neue Anstrengung, die konventionellen Waffen zu verringern,
unternommen werden 11. Obschon diese Vorschläge zu keinem Abrüstungsabkom-
men führten, begann die Sowjetunion im Jahre 1956 unilaterale Truppenkürzun-
gen 12, was die Annahme nahelegt, daß Chruschtschow hoffte, für Maßnahmen die
im Zusammenhang mit seinen Heeresreformen sowieso ergriffen werden mußten,
»Abrüstungs-Kilometergeld« zu bekommen. Khnliche Bestrebungen, aus unilatera-
len Truppenverringerungen auf dem Abrüstungsmarkt Nutzen zu ziehen, konnte
man bei Chruschtschows Truppenverringerungs-Erklärungen vom Januar 1960 und
Dezember 1963 beobachten. Sowjetische Truppenreduzierungen wurden auch im
Zusammenhang des strategischen Dialogs erwähnt - wie in Kapitel III dar-
gelegt -, um das Argument zu stützen, der Westen könne seine Waffenprogramme
nicht damit rechtfertigen, daß die sowjetischen Streitkräfte größer seien als die des
Westens. Ein weiteres Argument war, daß die sowjetischen unilateralen Reduzie-
rungen dem Westen den Vorwand dafür, auf einer Inspektion zu bestehen, ge-
nommen hätten 13.
Die Wiederbelebung eines Vorschlags - im Litwinow-Stil - für eine allgemeine,
vollständige Abrüstung, gekennzeichnet durch Chruschtschows Rede vor der Voll-
versammlung der Vereinten Nationen im September 1959 14, hatte ganz andere
strategische Implikationen als frühere sowjetische Nachkriegsvorschläge. Hier war
die Verbindung mit unmittelbaren militärischen überlegungen viel schwächer und
es ging um Größeres. Politisch gesehen sollte der weittragende Vorschlag Chru-
schtschows zweifellos den Westen in die Defensive drängen, mit wenig Aussicht, daß
er zu etwas Konkreterem als ausgedehnten, erfolglosen Verhandlungen führen
würde, aus denen die Sowjetunion hoffen konnte, ein Maximum an politischen
Propagandavorteilen zu ziehen. Falls unerwarteterweise ein Plan ungefähr dieses
Inhalts und anschließende sowjetische Vorschläge zur völligen Abrüstung angenom-
men würden 15 - welche Möglichkeiten könnte das etwa vom sowjetischen Stand-
punkt aus bieten?
Einmal könnte es der sowjetischen Führung scheinen, daß die eher drastische Knde-
rung der Beziehungen in einer plötzlichen gänzlich abgerüsteten Welt ein günstiges
Klima für den Sieg gut organisierter revolutionärer Bewegungen schaffen würde
Während des Auflösungsvorgangs der militärischen Maschinerie z. B. könnten reelle
Chancen zur Beschleunigung .. nationaler Befreiungsbewegungen« sich ergeben,
ohne die Angst vor wirksamer westlicher Intervention. Das scheint der Sinn von
Mikojans Vorwurf Anfang 1962 gegen die chinesischen Kritiker der sowjetischen
Abrüsmngspolitik gewesen zu sein, als er sagte, daß die Abrüstung, wie die Sowjet-
union sie vorgeschlagen habe, den nationalen Befreiungskampf nicht erschweren
werde, sondern vielmehr die Imperialisten der Mittel entblößen würde, lOfevolutio-
nären Aktionen des Proletariats und der Bauern Widerstand zu leisten« 17.
Selbst wenn das Ziel einer gänzlim abgerüsteten Welt noch ein gutes Stück entfernt
wäre, könnten die sowjetischen Führer der Meinung sein, die teilweise Erfüllung
von Maßnahmen wie das Verschrotten der nuklearen Trägerwaffen und das Zu-
rückziehen von überseeismen Militärstützpunkten würde die Demoralisierung und
den Zusammenbrum des westlimen Bündnissystems herbeiführen - ein politismer
und strategismer Preis, nam dem zu streben sich wohl lohnt.
Militärisch gesehen würde die Annahme eines Plans im sowjetischen Stil schließlich
nur zur Aufrechterhaltung der inneren Ordnung leimt bewaffnete nationale Bür-
gerwehren bestehen lassen. Einheiten der nationalen Bürgerwehr ständen aum dem
Simerheitsrat der Vereinten Nationen zu Zwecken der internationalen Friedens-
wahrung zur Verfügung 18. Mit den im Verhältnis größeren Bürgerwehren, die der
Sowjetunion und ihren osteuropäismen Hilfskräften zur Verfügung ständen und
unter dem Smutz des Vetos im Weltsicherheitsrat, könnten die sowjetismen Führer
meinen, es würden sim Gelegenheiten bieten, im Falle von Aufruhr in nichtkommu-
nistismen Ländern Westeuropas dort einzugreifen 19. Die USA hätten natürlim
keine Möglichkeit, zur Hilfe zu kommen. Die einzige Wolke an diesem sonst un-
bedeckten Himmel wäre eventuell China, das wahrscheinlich eine noch größere Bür-
gerwehr hätte als die Sowjetunion.
Zu den möglichen Vorteilen, die ein Plan zur völligen Abrüstung den Sowjets brin-
gen könnte, würde natürlich zählen, daß das Risiko, ein Kernwaffenkrieg könne die
sowjetische Gesellschaft zerstören, beendet wäre. Dazu kommt das Freiwerden von
Ressourcen für nichtmilitärische Zwecke. Ein derartiger Plan würde auch das Pro-
blem der Behauptung in einem verschärften Wettrüsten beseitigen, obschon dieses
16 Siehe Thomas W. Wolfe, Some Factors Bearing on Soviet Attitudes Toward Disarma-
ment, The RAND Corporation, P-2766, Juli 1963, S. 9.
11 Wahlrede in Yeveran, Prawda, 15. März 1962.
18 Während die traditionelle sowjetische Opposition gegen eine internationale Polizeirnacht
zu Zwecken der Friedenswahrung Mitte 1964 unerwartet nachließ, ist die Haltung der
Sowjets der Idee einer internationalen Streitmacht, die von einem sowjetischen Veto unab-
hängig ist, gegenüber immer noch ablehnend. Ein sowjetisches Memorandum vom 7. Juli
1964 schlug eine UNO-Streitkraft vor, die nach dem »Troika«-Prinzip organisiert ist
und in der westliche, neutrale und kommunistische Staaten vertreten sind. Es ging aus
dem Vorschlag nicht hervor, ob dies ein stehendes Herr sein solle oder ob es nach Bedarf
aufgestellt werden sollte. Es ging aber aus ihm hervor, daß Streitkräfte der Großmächte
nicht daran teilnehmen sollten und daß die Entscheidungen über seinen Einsatz dem Veto
der Großmächte im Sicherheitsrat unterworfen wären. New York Times, 8. Juli 1964.
'0 Siehe Mackintosh and Willetts, in Arms Controllssues, S. 156.
Sowjetische Strategie und Abrüstung 237
dazu bei, die internationale Spannung zu verringern und bedeutete vielleicht einen
Schritt in Richtung auf ein Verlangsamen der Verbreitung der Kernwaffen, was
nach dem Bekenntnis beider Seiten im gemeinsamen Interesse ist. Andererseits stellte
die Sowjetunion schnell fest, daß das Abkommen Tests derartiger Waffen ausschloß,
,.in denen die überlegenheit auf seiten der Sowjetunion liegt«, während es der
Sowjetunion erlaubte, »unterirdische Versuche mit Kernwaffen durchzuführen, falls
das für die Sicherheitsinteressen der Sowjetunion und anderer sozialistischer Staaten
nötig sei 20. Die sowjetischen Führer sind vielleicht selbst nicht sicher, welche dieser
Kriterien wichtiger sind. Es ist jedoch mit Wahrscheinlichkeit anzunehmen, daß,
selbst wenn das Kriterium des gegenseitigen Interesses in Erscheinung tritt, wie im
Fall des Teststopps, die Sowjetführer weiter ihre Entscheidungen wesentlich auf
Eigeninteresse stützen werden.
Die Rolle, die die sowjetischen Militärs bei der Formulierung der Abrüstungspolitik
spielen und das militärische Interesse an den technischen Aspekten eines Gebiets, das
offensichtlich eng mit militärischen Angelegenheiten zusammenhängt, das sind The-
men, auf die die öffentliche sowjetische Diskussion sehr wenig Licht wirft. Die Ein-
haltung des Rituals der Befürwortung der sowjetischen Abrüstungsvorschläge wird
von den Militärführern erwartet und, wie wir feststellen werden, auch befolgt - ihr
öffentliches Interesse an dem Thema scheint jedoch hiermit erledigt zu sein. Die
sowjetische Militärliteratur selbst zeichnet sich durch eine fast völlige Gleichgültig-
keit gegenüber der Abrüstung und der Waffenkontrolle als ein technisches Problem
von ernsthaftem Fachinteresse für Militärtheoretiker und -planer aus.
Es findet sich nichts - weder in sowjetischen Militärveröffentlichungen noch in den
überreichlichen Produkten der Organe der politischen Propaganda zum Thema Ab-
rüstung 21 -, was der westlichen Erforschung der Techniken der Waffenkontrolle
zur Verringerung der Risiken eines Krieges durch Zufall, zur Straffung der Kom-
20 Leitartikel »Zur Vergrößerung der Stärke unseres Landes«, Roter Stern, 21. September
1963. Siehe auch Leont'ew in Roter Stern, 30. August 1963; Leitartikel, »Im Interesse
der ganzen Menschheit«, Prawda, 26. September 1963.
21 Zusätzlich der schon erwähnten sowjetischen Veröffentlichungen zur Abrüstung sind
als einige der repräsentativen neue ren Werke zum Thema aufzuführen: W. M. Khaitsman,
SSSR i Problema Razoruzheniia (Die UdSSR und das Problem der Abrüstung), Izda-
telstvo Akademii Nauk SSSR, Moskau 1959, eine Monographie zur Geschichte der so-
wjetischen Abrüstungspolitik; E. K. Fedorow, Prekrashchenie Iadernykh Ispytanii (Das
Einstellen der Kernwaffenversuche), Izdatelstvo Akademii Nauk SSSR, Moskau 1961,
ein Bericht eines sowjetischen Wissenschaftlers über die Frage des Test-Stopps; O. V. Bog-
danow) Iadernoe Razoruzhenie (Atomare Abrüstung), Izdatelstvo Instituta Mezhduna-
rodnykh Otnoshenii, Moskau 1961, eine Beschreibung der sowjetischen Politik zu dem
Thema und eine Kritik westlicher Auffassungen; I. S. Glagolev) ed., Ekonomicheskie Vo-
pros)' Razoruzheniia (Wirtschaftliche Probleme der Abrüstung), Izdatelstvo Akademii
Nauk SSSR, Moskau 1961, eine Sammlung von Artikeln) die der marxistisch-leninisti-
schen Anschauung folgen.
Sowjetiswe Strategie und Abrüstung 239
22 Zu einer guten Aufzählung und kritischen Diskussion einer Auswahl der umfangreichen
amerikanischen Literatur zur Rüstungskontrolle und Abrüstung siehe James E. Dougher-
ty, »The Disarmament Debate: A Review of Current Literature«, in zwei Teilen, Orbis,
Vol. 5, Nr. 3, Herbst 1963, S. 342-359, und Vol. 5, Nr. 4, Winter 1962, S. 489-511.
23 Beispiele dieses Trends im sowjetischen Schrifttum sind V. Pechorkin, "About >Ac-
ceptable< War«, International Affairs, Nr. 3, März 1963, S. 22-25, ein Angriff auf
die strategischen Konzeptionen von Herman Kahn und Raymond Aron; Boris Dimi-
triew, Pentagon i Vneshnaia Politika SShA (Das Pentagon und die amerikanische
Außenpolitik), IzdateIstvo Instituta Mezhdunarodnykh Otnoshenii, Moskau 1961, ein
etwas überholter Propagandaangriff auf den militärischen Einfluß in den Vereinigten
Staaten, mit Abschnitten, die den Konzeptionen der ,.massiven Vergeltung« und »gegen-
seitigen Abschreckung« gewidmet sind; N. Talenskii, .. Sincere? - Yes. Realistic?-
No.« International Affairs, Nr. 3, März 1963, S. 98-100, eine Kritik der von Louis B.
Sohn gemachten Vorschläge zur Abrüstung in bestimmten Zonen und zur Inspektion (ein
,.Gastartikel« von Prof. Jay Orear von der Columbia University, der die Konzeption der
Abrüstung in bestimmten Zonen verteidigte, erschien in der gleichen Ausgabe); A. A.
Blagonrawow, ,.Die Zerstörung der nuklearen Trägerwaffen«, Novoe Vremia (Neue Zei-
ten), Nr. 52, 1960, S. 10, eine frühere Erörterung eines sowjetischen Wissenschaftlers, die
von den Problemen der Entdeckung von Raketenabschüssen handelte. Zu dieser Kategorie
gehören auch die schon erwähnten Artikel von General Newski in dem World Marxist
Review, März 1963, der Glagolev-Larionov-Artikel in International Affairs, Novem-
ber 1963, und Teile der revidierten Sokolowski-Ausgabe von Voennaia Strategiia (Mili-
tär-Strategie). Siehe auch den .. Gast«-Artikel von Yuri Shemin, ,.A Soviet Scientist
Looks at Disarmament«, Bulletin 0/ the Atomic Scientists, Januar 1964, S. 19-22, in
dem ein sowjetischer Autor argumentiert, daß die amerikanische Konzeption der" Waf-
fenkontrolle« nicht einen ausreichenden Ersatz bieten kann für die »nicht-triviale« Auf-
fassung einer lOVollständigen und allgemeinen Abrüstung«.
240 Kapitel XIX
Die sowjetisdte Militärabsicht der Abrüstung drüdtt sich gewöhnlich in der Formel
aus: ,.Solange nicht eine Einigung erreicht und eine allgemeine Abrüstung vollendet
ist, halten die Sowjetunion und alle anderen Länder des sozialistisdten Lagers ihre
Verteidigungsstärke auf der nötigen Höhe und werden das auch weiterhin tun.« 24
Man hat den Eindruck, der sowjetische Durchschnittsmilitär ginge, nachdem er sich
das von der Seele geredet hat, seinen Geschllften nach und verwende auf die Ab-
rüstung als eine tatsächliche Aussicht, mit der zu rechnen sei, keine weiteren Gedan-
ken. Die Standardformulierung wird manchmal allerdings etwas dahin ausgebaut,
daß zu verstehen gegeben wird, die sowjetischen Militärs seien eher als die west-
lichen bereit, ihre Uniformen an den Nagel zu hängen und Schluß zu machen. So
erklärte Marschall A. Eremenko im Januar 1964:
Einige Leute im Westen finden es vielleidtt ungereimt, daß sowjetisdte militärisdte Kreise
sidt in der Befürwortung der Abrüstung und dem Aussdtluß von zwisdtenstaatlidten
Kriegen vom Leben der Gesellsdtaft zusammenfinden. Es ist allgemein bekannt, daß west-
lidte Militärs sidt sehr bemühen, den Beweis zu erbringen ... ein nuklearer Weltkrieg,
oder zumindest ein besdtränkter, lokaler, sei völlig annehmbar und notwendig 16.
Interessanterweise hat Marschall Eremenkos Formel, die »zwischenstaatliche
Kriege« untersagt, Platz gelassen für die Fortsetzung dessen, was die Sowjets als
»nationale Befreiungskriege« bezeichnen, selbst in einer abgerüsteten Welt. Ein Kol-
lege, der etwas mysteriöse General Newski, brachte einen weiteren Punkt, den
Eremenko nicht erwähnt hatte, als er erklärte, »sowjetische Militärs sind willens,
ihre Uniformen mit Zivilkluft zu vertauschen, falls die sowjetischen Vorschläge für
eine allgemeine und völlige Abrüstung verwirklicht werden«. Newski begründete:
»Sie haben keine Privatinteressen, die der von der sowjetischen Regierung verfolg-
ten Friedenspolitik zuwiderlaufen.« 26
Dieses allgemeine Bild einer sowjetischen Militärelite, die nur darauf wartet, sich
aufzulösen, ist eine herkömmliche sowjetische Fiktion, die vielleicht einen wahren
Kern hat, die aber schwerlich auf eine genaue Beschreibung der komplizierten Reali-
täten des sowjetischen Lebens hinaufläuft. Eine Auflösung der Streitkräfte und ihre
Aufnahme in die Zivilbevölkerung brächte nicht nur gesellschaftliche und institu-
tionelle Probleme beträchtlichen Ausmaßes mit sich, sondern auch eine schwierige
Verschiebung der Werte, die die Sowjetführung seit über vier Jahrzehnten unauf-
hörlim den sowjetismen Soldaten einzuimpfen versumt. Werden diese Probleme auf
die leimte Schulter genommen, so läßt das darauf smließen, daß die Möglimkeit, sie
in großem Umfang zu meistern, nimt sehr ernst genommen wurde.
Dabei sollte man sim vergegenwärtigen, daß die Sowjetunion in der Namkriegs-
zeit umfangreime Demobilisierungsprogramme durchgeführt hat 27. Diese Pro-
gramme entsprechen zwar nimt einem Ausschalten der Militärelite und der Strei-
mung ihrer Rolle im Sowjetleben, sie sind aber aus mindestens zwei Gründen lehr-
reich. Erstens wurden sie durchgeführt, obwohl damit verbunden war, daß einzelne
Lebensläufe durcheinandergerieten, und gegen die Opposition, die offenbar einige
Militärführer leisteten. Zweitens gab es Unzufriedenheit und ein Sinken der Moral
der Truppe und zumindest in einem Fall - dem Truppenreduzierungsprogramm
vom Januar 1960 - wurden die Truppenbeschränkungen vorzeitig aufgehalten.
Die militärische Moral war jedom nimt die einzige Frage, die hier hineinspielte, wie
wir bereits in Kapitel III ausführten.
Einige der »vorübergehenden« Verwirrungen und Probleme, die man in der De-
mobilisierungsperiode 1954-1959 erlebte, beschrieb im Januar 1960, am Vorabend
einer Runde von neuen Reduzierungsmaßnahmen, Marschall Malinowski ziemlich
offen in einer Rede 28. Zeichen von Unzufriedenheit und Anpassungsschwierigkei-
ten spiegelten sich auch in Veröffentlichungen nach Einsetzen des Reduzierungs-
programms des Jahres 1960, besonders in bezug auf Offiziere, von denen 250000
vorzeitig in den Ruhestand versetzt werden sollten 29. Selbst nachdem das Pro-
gramm im Jahre 1961 ausgesetzt worden war, gab es Anzeichen dafür, daß das
Problem der Wiederbeschäftigung der entlassenen Offiziere nicht gelöst worden
war. So wurden z. B. im Roten Stern im März 1962 Reserveoffiziere dazu aufge-
fordert, in den Fernen Osten zu gehen, wo in der Landwirtschaft Kräfte gebraucht
wurden 30. Ein Jahr danach wurde, zum Teil als Antwort auf die weiter bestehen-
den Anpassungsprobleme, eine Verlängerung des Dekrets vom 20. Januar 1960 im
Roten Stern angekündigt, das entlassenen Militärs Privilegien gewährte 31.
Andere Einblicke in die psychische Verfassung des sowjetischen Militärs lassen den
27 In einer Rede vom 14. Januar 1960 vor dem Obersten Sowjet hat Chruschtschow retro-
aktiv erklärt, daß die sowjetischen Streitkräfte Ende 1948 2,8 Millionen Mann zählten,
bis zum Jahre 1958 wieder 5,7 Millionen Mann erreicht hatten und dann bis zum Ja-
nuar 1960 auf 3,6 Millionen Mann reduziert wurden. Es ist nicht ganz sicher, ob diese
Zahlenangaben alle stimmen; auf jeden Fall scheint aber eine erhebliche Reduzierung
stattgefunden zu haben. Siehe Prawda, 15. Januar 1960.
28 Bericht vor dem Treffen des Aktivs der Offiziere der Moskauer Garnison, Roter Stern,
20. Januar 1960.
29 Siehe ,.Sorge und Aufmerksamkeit« Roter Stern, 9. Juli 1960; A. Isaew, Das Gespenst
der Atomschwellen tritt auf, Roter Stern, 14. Dezember 1960.
30 Major a. D. A. Liashow, »Das Land im Fernen Osten ist reich«, Roter Stern, 16. März
1962.
31 Roter Stern, 29. März 1963. Ein gewisses Ausmaß von chronischen Schwierigkeiten der
Wiedereingliederung, die mit der »normalen« Rückkehr entlassener Wehrdienstpflichtiger
ins bürgerliche Leben verbunden sind, spiegelt sich auch von Zeit zu Zeit in der sowjeti-
schen Presse. Siehe Oberst A. Mitiashin, »Ein Soldat kehrt heim«, Iswestija, 30. Januar
1964.
242 Kapitel XIX
Schluß zu, daß die Auffassung, die der sowjetisdte Offizier über seine Stelle im
sowjetismen Leben hat und seine Hingabe an die militärismen Werte etwas kom-
plexere Phänomene sind, als man der Fiktion des fügsamen Offiziers entnehmen
würde. So wurde z. B. einer gewissen Ernüchterung anbetracht der Gleichgültig-
keit der Bevölkerung gegenüber den Härten des Lebens eines Offiziers in der Presse
gelegentlich Ausdruck gegeben. Dieser Punkt wird durch N. Makeew, Chefredak-
teur des Roten Sterns, belegt, der im Februar 1963 für eine zivile Lesersmaft in der
IS'UJestija smrieb. In einem bitteren Kommentar über den ,.gleichgültigen Bürger«
sagte Makeew: ,.Was kümmert es ihn, daß, während Tausende von Offizieren un-
ermüdlich ihre schwierigen Pflimten erfüllen ..., was kümmert es den gleichgültigen
Bürger, ob der zehnfach verletzte Oberst seit dem Krieg an zwölf verschiedenen
Orten gedient hat ... « Makeew smloß damit, daß er seine zivile Lesersmaft daran
erinnerte, der Beitrag des Offiziers zum Sowjetleben sei nimt geringer als der ,.des
Farmers, des Ingenieurs, des landwirtsmaftlichen Fachmanns oder des Arztes« 82.
Andere sowjetisme Militärautoren haben in ähnlimer Form von Zeit zu Zeit über
die zivilistismen ,.Fehleinschätzungen« des militärismen Personals und seines Bei-
trags für die sowjetische Gesellschaft Bemerkungen gemamt 88. Solme Kommentare
lassen darauf schließen, daß das sowjetisme Offizierskorps an verletztem Stolz lei-
det, der seine Reassimilierung in das bürgerlime Leben wahrsmeinlich zumindest
ersmweren dürfte.
Die Militärführer haben auc;:h auf eine Unterhöhlung der kriegerischen Tugenden
und heroismen Taten, auf denen die Kampfmoral der sowjetismen Soldaten beruht,
empfindlich reagiert. So kritiserte z. B. in einer Ansprame vor einer Gruppe von
sowjetischen Smriftstellern und Künstlern im Februar 1964 Marsmall Malinowski
»inkorrekte Tendenzen« bei der Darstellung des letzten Krieges und erhob die An-
schuldigung, verschiedene Kunstwerke enthielten ,.pazifistische Themen und eine
abstrakte Verneinung des Krieges« und stellten »unentschlossene und kleinliche
Leute« ins Rampenlicht. Malinowski gab zu, daß Kriege grausam und verheerend
sind, sagte jedoch: ,. Wir weisen eine solche einseitige Haltung gegenüber diesem
wichtigen Thema zurück.« 34 Pazifistisme Werte werden in der Sowjetunion nicht
32 »Die Ehre eines sowjetischen Offiziers«, Iswestija, 12. Februar 1963. Das Problem, wel-
chen Platz der sowjetische Militär im nationalen Leben einnimmt, ist alt. Mitte der 20er
Jahre z. B. war dies eine der Fragen, die M. W. Frunse ansprach, der, nachdem Trotzki
ausgebootet war, eine zentrale Rolle bei der Reform der Streitkräfte spielte. Frunse
brachte seine Argumente vor auf der Basis von Lenins Voraussage, daß die Sowjetunion
eines Tages in "fürchterliche blutige Zusammenstöße« mit dem westlichen »Imperialis-
mus« verwickelt sein werde, daß das sowjetische Militär von dem Gefühl einer Aufgabe
erfüllt sein müsse und »nicht vom politischen Leben des Landes isoliert sein sollte«. M.
W. Frunse, Isbrannie Proizvedeniia (Ausgewählte Werke), Vol. II, Voenizdat Minister-
stva Oborony SSSR, Moskau 1957, S. 219, 274, passim.
33 Siehe Oberst M. Makoweew, "Unser Offizier«, Roter Stern, 18. Februar 1964
34 Roter Stern, 9. Februar 1964. Zu einer ähnlichen Kritik von seiten des Militärs über
Kunstwerke, die keine richtige »heroische« Inspiration vermittelten, siehe Hauptmann
A. Chernomys und Oberstleutnant V. Fedorow, "Worin die Schönheit einer heroischen
Tat liegt«, Roter Stern, 29. Januar 1964; Marschall I. Bagramian, »Starke Mittel der
patriotischen Erziehung«, Sovetskii Patriot, 29. Januar 1964. Siehe auch Marschall Kry-
lows Kommentare zum Pazifismus, »Ein ehrenhafter Beruf, den die Nation braucht«,
Roter Stern, 9. Juni 1963.
Sowjetische Strategie und Abrüstung 243
gutgeheißen, und keine populäre Literatur der Fail-Saje-Art darf darstellen, der
sowjetische Soldat sei eine größere Bedrohung für die Sicherheit seines Landes als
der Feind 35; und dennoch hat Marschall Malinowski interessanterweise sich darüber
besorgt gezeigt, die sowjetische Jugend könne durch antimilitärische Kunst vergiftet
werden.
Man kann natürlich auf Grund solcher gelegentlicher Einblicke in die psychische
Verfassung des Militärs der Sowjetunion nicht schließen, das sowjetische Militär
würde sich einem allgemeinen Abrüstungsprogramm mehr oder weniger widersetzen
als die entsprechenden Leute in anderen Ländern. Sie deuten aber darauf hin, daß
die übertriebene Vereinfachung der offiziellen sowjetischen Ansicht viele Probleme
verdeckt, mit denen die sowjetischen Führer ebenso wie die Führer anderer Gesell-
schaften fertig werden müßten.
35 Siehe Sidney Hook, The Fail-Sa/e Fallacy, Stein and Day, New York, 1963 S. 19-23.
Kapitel XX
Zu einem Zeitpunkt, wo die USA und die Sowjetunion nam Wegen zu sumen smei-
nen, ihre gegenseitige strategisme Beziehung im Atomzeitalter zu klären, kommt
der Vorstellung, die sie voneinander haben, mehr Bedeutung zu denn je. Diesbezüg-
lim hat, wie bereits erwähnt, das Bild des Westens, wie es aus der sowjetismen Dis-
kussion der letzten ein oder zwei Jahre hervorgeht, in einiger Hinsicht begonnen,
objektivere Formen anzunehmen, vor allem darin, daß die USA als starker, aber
- verglimen mit früheren Darstellungen - im ganzen verantwortungsvollerer Geg-
ner behandelt werden. Beide Sokolowski-Ausgaben bilden hierfür eine Art Wende-
punkt.
Die erste Sokolowski-Ausgabe vermittelte ein Image des Westens, das in einiger
Hinsicht auffallend von der bekannten Mär vom »imperialistischen Gegner« ab-
wich. Obwohl das Werk natürlich durch größere Verzerrungen der westlichen Mo-
tive und Absimten gefärbt war, enthielt es doch eine relativ offene und im ganzen
realistische Darstellung der USA- und NATO-Militärmacht und -Strategie. Die
revidierte Auflage folgte in dieser Hinsicht größtenteils dem Muster der ersten und
zeichnete die USA als einen bedrohlichen und gesmickten Gegner. Jedom war die
Wertung der westlichen Militärstärke hier durm eine größere Betonung auf innere
Widersprüche und Unsicherheit des NATO-Bündnisses bestimmt.
Man muß vor der Annahme warnen, daß ein größerer Realismus bei der Betrach-
tung der Vereinigten Staaten unter sowjetischen Autoren allgemein verbreitet sei
oder daß er notwendig ein Nachlassen der Feindschaft, die der Betrachtung des
Westens zugrunde liegt, bedeute. Wie ein gut Teil des Materials, das in diesem Buch
untersucht wurde, zeigt, sind die Prämissen, auf die sowjetische Sprecher ihre Inter-
pretation des Gegners stützen, im wesentlichen unverändert. Noch einen weiteren
Punkt muß man sich vergegenwärtigen. Offene Kußerungen von sowjetischen An-
sichten über den Westen sollen meistens irgendwelchen Propagandazwecken die-
nen, z. B. in jedem westlichen Schritt eine aggressive Absicht aufzeigen. Die pri-
vate sowjetische Einschätzung mag andererseits von Fall zu Fall wechseln. So ent-
spricht das Image des Westens, wie es sich in öffentlichen sowjetischen Erklärungen
spiegelt, nicht unbedingt in jeder Hinsicht dem, was die Sowjetführer etwa persön-
lich über Strategie und Absichten ihrer Gegner denken.
Bis vor kurzem war es bei sowjetischen Militärautoren Mode, die USA als Anhänger
einer Ein-Waffen-Strategie zu schildern, die zur Konzeption der ausgeglichenen
Das Bild des Gegners 245
Kräfte nur ein Lippenbekenntnis abgaben. Diese Auffassung hat sich jetzt geändert
- so weit, daß zumindest ein führender sowjetischer Militär, Marschall Tschuikow,
zu verstehen gegeben hat, die amerikanische Verwerfung der »einseitigen« Theorien
sei ein Beispiel, das die Sowjetunion bedenken solle 1. Die allgemeine Tendenz geht
in der Sowjetunion heute dahin, den USA zuzuschreiben, sie hätten ihre Strategie
und die Struktur ihrer Streitkräfte in der Erkenntnis geändert, daß der Sieg in
einem globalen Kernwaffenkrieg nur durch die gemeinsame Anstrengung aller Waf-
fen erlangt werden kann, wennschon die strategischen Kräfte noch die zentrale
Rolle innehaben 2. Das ist interessanterweise eine Konzeption, die derjenigen, zu
der sich die meisten sowjetischen Strategen bekennen, sehr nahe kommt. Während
sowjetische Kommentatoren von dem allgemeinen Trend der amerikanischen Stra-
tegie mit einem gewissen Maß von versteckter Zustimmung sprechen, waren sie
jedoch gleichzeitig einer bestimmten Entwicklung des amerikanischen strategischen
Denkens - der »counter-force«- oder »Ausklammerung-der-Städte«-Doktrin, die
Verteidigungsminister McNamara im Jahre 1962 formulierte, gegenüber sehr kri-
tisch. Wir werden auf dieses Thema noch ausführlicher zurückkommen.
Die USA waren nach sowjetischer Sicht gezwungen, von ihrer ehemaligen starren
Strategie des »massiven Gegenschlags« auf die einer »elastischen Reaktion« über-
zuwechseln, weil die sowjetische Vergeltungsmacht so gewachsen war, daß ein all-
gemeiner Krieg für die USA nicht gewinnbringend wäre 3. Zwischen dieser Schilde-
rung einer Wandlung in der amerikanischen Strategie und der fortgesetzten Be-
hauptung, die USA bereiteten sich auch darauf vor, den allgemeinen Krieg »prä-
ventiv« zu führen, besteht ein offensichtlicher innerer Widerspruch, den die sowjeti-
schen Autoren tunlichst übersehen haben 4. Wie wir schon andeuteten, wird die
sowjetische Anschuldigung, die USA planten einen Präventivkrieg - eine Gefahr,
die die oberste sowjetische Führung selbst nunmehr als ziemlich entfernt liegend zu
betrachten scheint -, wahrscheinlich zu einem gewissen Maß aus Gewohnheit und
in tendenziöser Absicht vorgebracht 0. In den sowjetischen Auffassungen über das
amerikanische Interesse an Operationen für lokale Kriege und das Planen dafür als
Teil einer Bemühung, die amerikanische Position in den Entwicklungsländern zu
stärken, bestehen jedoch auf allen Ebenen keine derartigen Vorbehalte 6.
1 ,.Moderne Landstreitkräfte«, Iswestija, 22. Dezember 1963. Siehe die Diskussion von
Tschuikows besonderem Drängen zu diesem Punkt in Kapitel XII.
2 Soviet Military Strategy, S. 168-170, Militär-Strategie, S. 115-118.
3 Soviet Military Strategy, S. 157-159; Militär-Strategie, S. 109-112. General A. Newski,
,.Moderne Bewaffnung und Probleme der Strategie«, World Marxist Review,Nr.3,März
1963, S. 32-33; B. Treplinski, ,.U. S. Grand Strategy, International Affairs, Nr. 2; Fe-
bruar 1964, S. 24-25.
4 Soviet Military Strategy, S. 160.
5 Siehe die Diskussion sowjetischer Auffassungen über die Wahrscheinlichkeit eines Krieges
in Kapitel IX.
6 Oberst E. Dolgopolow, "Ceeil Rhodes und die Gegenwart«, Roter Stern, 27. November
1963; Soviet Military Strategy, S. 158-159; Teplinskii in: International Affairs,
Februar 1964; S. 25-27, 29. Siehe auch unsere Erörterung der vermehrten Aufmerk-
samkeit, die der amerikanischen Theorie des begrenzten Krieges in der zweiten Sokolow-
ski-Ausgabe gegeben wird, in Kapitel X.
246 Kapitel XX
1963 1966
leBM 1. Ausg. 2. Ausg. l.Ausg. 2. Ausg.
Atlas 132 126 132 132
Titan-l 54 108 54
Titan-2 54
Minuteman 20 800 950
Bomber
Schwere 600+ 630 900 900 bis 1000
Mittlere 1300+ 1100
Raketen-U-Boote
U-Boote 6 9 41 41
Raketen 96 144 656 656
Aktive Raumflugkörper 34 34
So bleibt das diskrete Schweigen gewahrt, mit dem dieses Thema in der sowjetischen
Militärliteratur ständig behandelt wird, Hinsichtlich der Landstreitkräfte wurde
die Gesamtstärke von NATO, SEATO und CENTO mit ungefähr 5 Millionen Mann
oder ungefähr 180 Divisionen angegeben, gegenüber 160 Divisionen in der ersten
Auflage 10. Davon soll die NATO wie zuvor 90 Divisionen haben ".
Zur Frage der Kernwaffen wurde das Fehlen von irgendwelchen Zahlenangaben
über die Höhe der Kernwaffenvorräte der USA in der neuen Auflage durch einen
7 Siehe z. B. Marschall A. Gretslhko, ~Auf einem leninistischen Kurs«, Roter Stern, 22. De-
zember 1963; Marschall W. Tschuikow in: lswestija, 22. Dezember 1963.
8 Militär-Strategie, S. 136, 141; Soviel Military Strategy, S. 173, 177.
9 Militär-Strategie, S. 292; Soviet Military Strategy, S. 311.
10 Militär-Strategie, S. 145 f.; Soviet Military Strategy, S. 182.
U Militär-Strategie, S. 146; Soviet Military Strategy, S. 183.
Das Bild des Gegners 247
Hinweis auf »etwa 40 000« korrigiert, eine Zahl, die Chruschtschow verschiedent-
lich angeführt hat 12. Der sowjetische Vorrat wurde geheimnisvoll mit »mehr als
genug« bezeichnet. Zu den Zusätzen bei der Beschreibung der amerikanischen Rake-
tenstärke gehörten Zahlen über Detonationswerte, die für Atlas-E mit drei Mega-
tonnen, für Titan-l mit vier Megatonnen und für Minuteman mit 600 Kilotonnen
angegeben wurden 13.
In einem Buch, das unter anderem die sowjetische militärische überlegenheit bewei-
sen sollte, stellte die ziemlich ehrliche Einschätzung der amerikanischen Militär-
rnacht in bei den Ausgaben zweifellos die Autoren vor gewisse Probleme. Allein ge-
nommen, hätte das Bild eines westlichen Gegners mit furchtbarer Militärrnacht
schwerlich dazu beigetragen, das Image von den Sowjets als dem beherrschenden
Gewicht im Kräfteverhältnis der Welt zu steigern 14. Vielleicht neigten die Autoren
aus diesem Grund in der revidierten Ausgabe mehr dazu, ihre Beschreibung der
Militärrnacht des Westens durch Hinweise auf innere Spannungen und Wider-
sprüche im westlichen Bündnissystem auszugleichen. Diesen Kommentaren bot
natürlich die Entwicklung, die ungefähr vor einem Jahr einsetzte, einige Grundlage.
Der neue Band verbreitete sich über das Thema der wachsenden Instabilität inner-
halb der NATO, die zum Teil der zunehmenden Opposition der europäischen Part-
ner gegen die amerikanische Führung auf dem Gebiet der »Militärpolitik und -stra-
tegie« zugeschrieben wurde 15.
Der Tendenz der revidierten Auflage, Schwächen in der Politik und Kampfmoral
des Westens zu bemerken, entsprach es, das an anderen Stellen des Buches 16 - wie
auch in anderen jüngsten sowjetischen Militärveröffentlichungen - die überlegenen
politischen und moralischen Eigenschaften, die das Sowjetsystem bei den Streitkräf-
ten und der Bevölkerung hervorbringen soll, stärker betont wurden. Man erinnere
sich an unsere Darstellung der Frage in Kapitel XI, ob ein langer oder kurzer Krieg
zu erwarten sei, daß eine Richtung des sowjetischen Denkens diesen Faktor beson-
ders betont. Eine repräsentative Erklärung formulierte das so:
Die imperialistischen Staaten werden nicht in der Lage sein, die Härten eines modernen
Krieges zu ertragen ... Im Kriegsfall wird das politisch-moralische Potential des Systems
des Weltsozialismus den Kampfmoralfähigkeiten des imperialistischen Aggressors weit
überlegen sein. Das wird in erheblichem Maß das Ergebnis des Kampfes zugunsten des
Sozialismus bestimmen 11.
12 Militär-Strategie, S. 279.
13 Ibid., S. 136.
14 Dabei sollte man sich vergegenwärtigen, daß vom Standpunkt des sowjetischen Militärs
das Bild einer westlichen Militärbedrohung großen Ausmaßes nicht ohne gewisse, der
eigenen Sache dienliche Aspekte ist, da das die Position derer, die auf eine weitere Stär-
kung der sowjetischen Militärrnacht drängen, festigen könnte. Siehe die Erörterung in
Kapitel XII.
15 Militär-Strategie, S. 65; siehe auch S. 131. Zu einer sowjetischen Analyse der Schwierig-
keiten innerhalb der NATO, in der der Versuch unternommen wurde, zu zeigen, daß
trotz der wachsenden Uneinigkeit die Drohung einer NATO-Aggression nicht nach-
gelassen hat, siehe F. Fyodorow, »NATO and the Demand of the Times«, International
Affairs, Nr. 2, Februar 1964, S. 38-41.
16 Militär-Strategie, S. 78, 81, 535, 540.
17 Oberst P. 1. Trifonenkow, aber die Grundgesetze des Verlaufs und Ergebnisses eines
modernen Krieges, Voenizdat Ministerstva Oborony SSSR, Moskau 1962, S. 48.
248 KtJpitelXX
Außer dem politisc:h-moralisc:hen Faktor finden sic:h nac:h den Versic:herungen der
sowjetisc:hen Kommentare noc:h eine Reihe anderer sc:hwac:ner Punkte der Lage des
Westens. Einer davon ist die Verwundbarkeit Europas, im Falle eines Kemwaffen-
krieges wegen der Dic:hte seiner Bevölkerung und Industrie 18, im Frieden wegen der
Rolle als »Geisel«, auf die Chruschtsc:how so gern anspielt. Nic:ht weniger widttig
ist in sowjetisc:her Sic:ht, daß die USA sic:h selbst nic:ht mehr als unverwundbar be-
trac:hten können. Chruschtsc:how formulierte das bei einem Gespräc:h mit einer
Gruppe amerikanisc:her Gesc:häftsleute in Moskau im November 1963 so: ,.Die Zeit,
wo die USA, von Europa durch die Weite des Adantisc:hen Ozeans getrennt, sic:h
selbst als sicher und in Konflikte und Kriege nie hineingezogen betrachten konnten,
die Zeit ist vorbei.« 19.
Während die Sowjetführer sich völlig dessen bewußt sind, daß die Sowjetunion
selbst einem Kernwaffenangriff ausgesetzt werden kann, scheinen sie doc:h zu mei-
nen, die Verwundbarkeit des amerikanischen Mutterlands sei der eine Faktor, der
vor allen anderen die Ac:hillesferse ihre Hauptgegners darstelle. Hinsichdic:h der
amerikanischen überseeischen Stützpunkte ist die sowjetische Meinung etwas wider-
sprüchlich. Einerseits haben sowjetische Sprecher vorgebrac:ht, diese Stützpunkte
seien im Raketenzeitalter äußerst verwundbar 20 und daher eine Belastung, anderer-
seits waren eben diese Stützpunkte gleic:hzeitig Ziel einer intensiven diplomatisc:hen
und propagandistischen Kampagne der Sowjets, die auf ihre Auflösung geric:htet
war. Bei gründlicher überlegung sc:heint es, als betrachte die Sowjetunion die ame-
rikanischen überseeischen Stützpunkte eher als ein Element der Stärke des Westens
denn eines der Schwäche.
In einer Rede in Ann Abor am 16. Juni 1962 umriß Verteidigungsminister Robert
McNamara genau die neue strategisc:he Grundkonzeption, die auf die militärischen
Ziele als Angriffsobjekte in einem Atomkrieg mehr Betonung legte als auf Städte
und Bevölkerung. Er erklärte, der Westen sei stark genug, einen massiven über-
raschungsangriff zu überleben und immer noch »eine feindliche Gesellschaft zu zer-
stören, wenn er dazu gezwungen werde«. McNamara unterstrich auch: »Wir geben
einem möglichen Gegner den stärksten Anreiz, den man sich vorstellen kann, davon
Abstand zu nehmen, unsere eigenen Städte anzugreifen.« Z1
Seit der Rede McNamaras haben sowjetische Kommentatoren viel Aufmerksamkeit
auf die Kritik der amerikanischen »counter-force strategy« oder der Strategie der
»Ausklammerung der Städte« verwendet - Bezeichnungen, die unter Bezugnahme
auf die von McNamara verkündete Grundstrategie mehr oder weniger auswechsel-
bar gebraucht werden. Bei verschiedenen Gelegenheiten haben Chruschtschow und
eine Reihe von sowjetischen Militärführern entschieden negative Ansichten über
McNamaras Vorschläge geäußert, die sie als Versuche bezeichneten, »Regeln« für
einen Kernwaffenkrieg festzulegen 22. Einige sowjetische Sprecher deuteten die Ann-
Abor-Rede sogar als die Verkündung einer Doktrin des ersten Schlags und als »kon-
kreten und praktischen Beweis für die Vorbereitung eines Präventivkrieges« 23.
Wahrscheinlich im Hinblick auf diese sowjetischen Unterstellungen versuchten ame-
rikanische Sprecher klarzustellen, daß diese neue amerikanische Strategie nicht an
einen ersten Schlag gebunden sei. Noch im gleichen Jahr z. B. unterstrich Verteidi-
gungsminister McNamara, daß die amerikanische Strategie »genau das Gegenteil«
sei, da die USA mit einer »sicheren Fähigkeit zum zweiten Schlag« keinerlei Druck
ausgesetzt sein würden, zu versuchen, den ersten Schlag auszuführen 24.
Im Anschluß daran spiegelte die sowjetische Diskussion der amerikanischen Strate-
gie das vereinte Bestreben wider, die Konzeptionen, die McNamara in Ann Abor
vorgetragen hatte, in Mißkredit zu bringen. Jedoch haben sich in der Behandlung
dieses Themas einige interessante Veränderungen ergeben, die darauf schließen las-
sen, daß die Sowjets sich der Notwendigkeit bewußt sind, ihren Standpunkt über-
zeugender zu vertreten. Vier Punkte sollen hier festgehaIten werden. Erstens: Auf
die Stadtausklammerungsaspekte der Doktrin McNamaras sind die sowjetischen
Strategen nicht eingegangen, sie haben aber selbst begonnen zu betonen, daß ihre
eigene strategische Lage ihnen die Gewähr eines zweiten Schlages bietet 25. Zweitens:
Wie schon erwähnt, haben die Sowjets auf den Schluß, ihre Strategie sei weniger
human als die »counter-force«, Stadtausklammerungs-Haltung empfindlich re-
agiert 26. Drittens: Das Argument wurde vorgebracht, die »counter-force«-Doktrin
sei eine Weiterentwicklung der amerikanischen Strategie der »elastischen Reaktion«,
die den Versuch darstelle, aus der »Krise der Militärpolitik und -strategiec zu ent-
kommen, in der die westlichen Führer sich befinden sollen 17. Und viertens: Sdlließ-
lich hat man verstärkt versucht, die Entwiddung der »counter-forcec-Konzeption
zurüdtzuverfolgen und zu beweisen, daß sie vom militärismen Standpunkt aus un-
haltbar sei.
Diese Tendenzen zeigten sich in einigen der sowjetischen Analysen, die im Jahre
1963 erschienen. Die erste bedeutsame war das Werk General Newskis, des schon
erwähnten mysteriösen Militärkommentators 18. Die zweite Sokolowski-Ausgabe,
die die vollständigste Besprechung der amerikanismen »counter-forcec-Strategie
enthält, die sich bisher im sowjetischen Schrifttum findet, nahm die Argumente des
Artikels von Newski auf und führte sie weiter aus. Es lohnt sich, diese Kritik in
einiger Ausführlichkeit zu betrachten, nicht nur als Beispiel dafür, wie die Sowjets
den Vorgang der Formulierung der amerikanischen Strategie auffassen, sondern
auch, weil sie auf die sowjetischen überlegungen zur »counter-forcec-Doktrin selbst
ein Licht wirft.
Der erste Teil der Bespremung umfaßte die Entwicklung der amerikanischen
»counter-force«-Theorie, von der die Sokolowski-Autoren sagten, sie sei »das Er-
gebnis einer längeren Analyse des Problems der atomaren Kriegführung insgesamt«,
darauf abgezielt, die Kategorien von Zielen festzustellen, die vernimtet werden
müssen, »um eine rasme Zerschlagung des Gegners herbeizuführenc. Ursprüng-
lich gingen, nach Sokolowski, die Meinungen in den USA auseinander, ob es besser
sei, die Hauptangriffe auf die strategischen Mittel des Gegners zu konzentrieren
oder ob man große Bevölkerungszentren angreifen solle. Die erste Möglichkeit
brachte größere Schwierigkeiten mit sich:
Kernwaffensmläge gegen die strategismen Mittel des Gegners sind smwieriger zu führen
als Kernwaffensmläge gegen große Städte. Diese Smwierigkeiten ergeben sim hauptsäm-
lim erstens aus der großen Anzahl dieser strategismen Mittel und zweitens aus der Tat-
same, daß die meisten von ihnen, vor allem aber die Raketen, die unter den heutigen Ver-
hältnissen eine absolute Waffe darstellen, in smwer verwundbaren unterirdismen Basen,
auf U-Booten usw. untergebramt sind. Dabei geht die Tendenz dahin, diese Unverwund-
barkeit immer mehr zu erhöhen 80.
Noch ein weiterer Faktor beeinflußte die Entscheidung, gegen welche Ziele Kern-
waffensmläge durchgeführt werden sollen, denn nach den Sokolowski-Autoren
»hängt dies weitgehend von den vorhandenen Waffensystemen und der Zahl der
verfügbaren Waffen ab«. Wenn eine Waffe ungenau ist, ,.kann sie nicht zur Be-
kämpfung kleiner Ziele, wie Startplätze für ballistisme Raketen oder Flugplätze
eingesetzt werden«. Und wenn diese Waffe nicht in genügender Zahl vorhanden ist,
»kann sie nur gegen große Ziele, z. B. gegen Städte, eingesetzt werden« 31.
Weiter führten die sowjetischen Autoren in ihrer Beschreibung des Vorgangs aus,
auf Grund dessen die USA zu der Strategie kamen, die McNamara im Juni 1962
verkündete, das amerikanische Oberkommando habe mehrere Jahre lang unter Ver-
wendung von Rechenmaschinen Kriegsspiele durchgeführt, "bei denen Berechnun-
gen über Verfahren verschiedener Art angestellt wurden, nach denen mit strategi-
schen Mitteln Schläge gegen die Sowjetunion geführt werden könnten«. Die Schluß-
folgerung war, durch Angriffe auf Städte werde »die Gefahr von mächtigen Gegen-
schlägen von seiten des Gegners nicht beseitigt«, die die USA vernichten könnten.
Demgegenüber können durch Schläge gegen die strategischen Mittel des Gegners
»seine Möglichkeiten, amerikanische Städte und die Bevölkerung zu vernichten,
wesentlich verringert werden« 32.
Auf Grund dieser überlegungen kamen die Vereinigten Staaten »zu dem Ergebnis,
daß die Streitkräfte des Gegners - und in erster Linie seine strategischen Mittel -
vernichtet werden müssen« 33. So entstand nach Meinung der Sowjets die »counter-
force«- oder »Ausklammerung-der-Städte«-Strategie, die die USA nun »als eine
Art Vorschlag an die Sowjetunion über Regeln der Atomkriegführung anbot« 34.
Im zweiten Teil der Besprechung ging es um Probleme der Durchführung einer
»counter-force«-Strategie. Die sowjetischen Autoren zählten unter anderem fol-
gende Hindernisse einer derartigen Strategie auf: 1. Wie kann man andere von der
Notwendigkeit »überzeugen«, diese »neuen Regeln«, nach denen keine Städte an-
gegriffen werden sollen, einzuhalten, »wenn die militärischen Ziele sich in ihrer
Mehrzahl in oder bei Städten befinden«? 2. Wenn diese »Regeln« befolgt werden
sollen, müßten die USA und ihre europäischen Verbündeten beginnen, alle ihre
militärischen Objekte aus den Städten auszulagern. Dies ist jedoch nicht nur un-
durchführbar; wie in der westlichen Presse hervorgehoben wird, würde, falls man
einen solchen Schritt durchführte, ,.die UdSSR daraus die Schlußfolgerung ziehen,
die USA bereiteten sich auf einen Angriff vor. »Außerdem setzt die 'counter-
force<-Strategie die Notwendigkeit eines umfangreichen Netzes von Schutzräumen
für die Bevölkerung voraus«, deren Rolle und Bedeutung in einem künftigen Krieg
jedoch höchst problematism sind.« 35
Nam Auffassung der Autoren hängen die Realisierbarkeit und Wirksamkeit der
»counter-force«-Strategie von fünf Grundvoraussetzungen ab. Die folgenden wur-
den genannt 36:
32 Ibid.
33 Ibid., S. 116.
30 Ibid., S. 117. An anderer Stelle der revidierten Sokolowski-Ausgabe waren die Auto-
ren skeptisch, daß die USA tatsächlich im Falle eines Krieges bestimmten Regeln zu fol-
gen versuchen würden. Sie sagten (S. 403): »Die ... imperialistischen Kräfte, vor allem
die Militaristen der USA, haben nicht die Absicht, ihre Kernwaffen einzig und allein
gegen militärische Objekte ... einzusetzen. Sie haben vor, diese Waffen in erster Linie
gegen im Hinterland gelegene Ziele, gegen Städte, gegen die Zivilbevölkerung und gegen
die Wirtschaft einzusetzen, daneben selbstverständlich auch gegen ... die Streitkräfte.«
35 Ibid., S. 117. Siehe auch L. Glagolev und V. Larionov, »Soviet Defence Might and
Peaceful Coexistence«, International Affairs, Nr. 11, November 1963, S. 31-32; New-
ski in: World Marxist Review, März 1963, S. 33; Pechorkin in: International Affairs,
März 1963, S. 23-24.
36 Militär-Strategie, S. 117
252 Kapitel XX
Bezüglich des ersten Punkts sagten die Sokolowski-Autoren, die USA bauten auf
den Einsatz einer großen Anzahl von Satelliten, die augenblidclich schon in der Lage
sind, vom Weltraum aus Objekte »mit einem Durchmesser von 2 Metern« zu foto-
grafieren. Sie würden in den Jahren 1965-1970 möglicherweise »60 cm große Ob-
jekte aus einer Höhe von etwa 500 km fotografieren können«. Jedoch sind nam den
sowjetisdten Autoren die Aussimten für die Lösung des Aufklärungsproblems
sdtledtt. Unter Anführung der amerikanischen Presse und Henry Kissingers hoben
sie hervor, daß die sowjetischen Raketen immer mehr dezentralisiert und in unter-
irdisdten Schächten verstedtt werden; eine große Anzahl Raketen wird beweglidt
sein oder auf Sdtiffen untergebracht werden, was ihre Aufklärung nodt mehr er-
sdtwert 87•
Bezüglidt der zweiten Voraussetzung hieß es, die USA stützten sich haupt-
sächlidt auf Feststoffraketen wie Minuteman und Polaris. Die Autoren gaben die
Vorteile der Minuteman zu, wiesen jedoch darauf hin, daß die Polaris nimt genau
genug sei, um gegen andere Ziele als große Städte eingesetzt zu werden, was die
»counter-force«-Strategie »verhindern soll« 88.
Zum dritten Punkt stellten die sowjetischen Autoren fest, die USA planten, Satel-
liten einzusetzen, um eine Warnung vor Raketenangriffen auf die USA 30 Minuten
vor Erreichung ihrer Ziele zu erhalten und ein unverwundbares Nadtrichten- und
Navigationssystem von globalem Maßstab zu erhalten. Sie erwähnten audt die Ein-
richtung von Kommandostellen in der Luft (von Flugzeugen) und auf See (auf
Schiffen). Zu der Wirksamkeit dieser Maßnahmen gaben sie keinen Kommentar
ab 39.
Zu dem Problem der koordinierten Planung bezogen sich die Sokolowski-Autoren
wieder auf die Meinung ungenannter amerikanischer Militärexperten, die Schwie-
rigkeit, Aufklärungsinformationen über die ständig wachsende sowjetische Raketen-
waffe zu erlangen, erschwere die Planung und Organisation eines Raketenangriffs
37 Ibid., S. 118.
38 Ibid., S. 119. Siehe auch N. Talenskii, »A NATO Nuclear Force 15 a Dangerous Ven-
ture«, International Allairs, Nr. 5, Mai 1963, S. 26; Newski in: World Marxist Review,
März 1963, S. 33.
39 Militär-Strategie, S. 119.
Das Bild des Gegners 253
durch die Vereinigten Staaten immer mehr 40. Alle diese Gründe, sagten sie, werfen
Zweifel auf die Wirksamkeit einer »counter-force«-Strategie, die auf die resdose
Vernichtung der strategischen Waffen des Gegners vertraut. Unter Anführung an-
onymer Stellungnahmen erklärten die Autoren dann, daß die Unsicherheit über die
Lösung dieses Problems
zu einer Verringerung des politischen Wertes der »counter-force strategy« führt, die viel-
leicht sogar noch eher eintritt als die Verringerung des militärischen Wertes: Es wird für
die Vertreter des Oberkommandos der Streitkräfte immer schwieriger werden, die politi-
schen Führer von der absoluten Zuverlässigkeit von Berechnungen und Plänen zu über-
zeugen, die auf lückenhaften Aufklärungsunterlagen über feindliche Ziele basieren 41.
Auch vom militärischen Standpunkt aus wird nach den Sokolowski-Autoren der
Wert der »counter-force«-Strategie während der sechziger Jahre abnehmen: »Auch
wenn der Prozentsatz an strategischen Kräften der Sowjetunion, die von den USA
vernichtet werden können, konstant bleibt (was eine ziemlich optimistische An-
nahme ist), wird sich die absolute Zahl der unversehrt bleibenden Kräfte doch
erhöhen« 42. Schließlich wendeten die Autoren sich der Frage des Oberraschungs-
angriffs im Zusammenhang mit der »counter-force«-Strategie zu und behaupteten,
eine solche Strategie sei ihrem Wesen nach aggressiv, da sie ohne einen Präventiv-
krieg und einen Oberraschungsangriff die Erwartung eines Sieges nicht zulasse.
»Diese Strategie«, sagten sie,
geht, wie ersichtlich, zunächst einmal von der Notwendigkeit eines Präventivkrieges aus.
Eine Strategie, die voraussetzt, daß zur Erringung des Sieges die Streitkräfte vernichtet
werden müssen, kann nicht auf dem Gedanken eines »Gegenschlages« aufbauen, sondern sie
geht von Präventivhandlungen und von der Ausnutzung des Uberraschungsmoments aus 43.
Die Sokolowski-Autoren schlossen ihre Kritik der »counter-force«-Strategie mit der
üblichen Unterstellung ab, die USA studierten eifrig Wege, durch den ersten Schlag
ein »maximales Oberraschungsmoment« zu erreichen; sie fügten aber im Jahre 1963
ihrer Diskussion etwas Neues hinzu, indem sie andeuteten, daß eine Veränderung
der Gegebenheiten nunmehr das amerikanische Vertrauen auf die Durchführbarkeit
eines Oberraschungsangriffs vermindern könnte. Dazu sagten sie:
Die Militärexperten der USA sind jedoch der Ansicht, daß die Möglichkeiten für ein stra-
tegisches Uberraschungsmoment immer geringer werden, und zwar deshalb, weil die moder-
nen Ortungs- und Warnmittel es ermöglichen, den Start ballistischer Raketen, vor allem
strategischer Waffen, zu orten und ihn den zuständigen KommandosteIlen zu melden ".
4° Ibid. Siehe auch Newski in: World Marxist Review, März 1963, S. 33. Dieser erwähnte
die Schwierigkeit der Zielbestimmung als ein Problem für die USA und deutete auch an,
daß dies für die Sowjetunion ein Problem sein würde, da der Standort der amerikani-
schen Ziele für den Gegner vom »Amerikanischen Verteidigungsminister« nicht genau
angegeben würde. Pechorkin fuhr in seiner Argumentation dann fort: »Folglich würden
große nukleare Sprengköpfe eingesetzt werden, um große Flächen zu decken, was bedeu-
ten würde, daß sie notwendig auch Städte treffen würden, vor allem in dimtbevölkerten
Ländern.«
41 Militär-Strategie, S. 119.
42 Ibid.
43 Ibid., S. 120.
" Ibid., S. 123. Man erinnere sich, daß eine ähnliche Auffassung auch in dem Artikel der
November-Ausgabe von International Affairs von Glagolev und Larinov (S. 32) ver-
treten wurde, siehe die Diskussion in Kapitel V.
254 Kapitel XX
Es wäre äußerst verfrüht, zu behaupten, daß das Bild, das die Sowjets vom Westen
haben, gegenwärtig der Wirklichkeit auch nur einigermaßen entspricht. Die so-
wjetische Sicht des Westens ist immer noch durch ideologische und enge Ver-
dächtigungen gefiltert, die ein beklagenswert verzerrtes Bild hervorbringen - vor
allem der westlichen Motive und Absichten. Dabei kann man aber sagen, daß die
beiden Sokolowski-Ausgaben und andere jüngste Manifestationen des sowjetischen
strategischen Denkens einen kleinen Fortschritt darin gemacht haben, ein objekti-
veres Bild der anderen Seite zu geben.
Darin könnte ein kleiner Schritt auf dem Weg zu einem sinnvolleren und frucht-
bareren Dialog zwischen Ost und West liegen, besonders zwischen den zwei gro-
ßen Atommächten auf beiden Seiten. Ein geringer Wandel der Art des Gesprächs -
ein direkteres Sprechen der Partner miteinander - ist ein anderer kleiner Schritt, der
Das Bild des Gegners 255
in einer Welt, die von der Politik der Stärke regiert wird, kann es niemals ein
Ersatz sein für militärische Macht. Das ist zweifellos richtig. Doch können die For-
men und die Art des strategischen Gesprächs die politischen Richtlinien, die die mili-
tärische Macht bestimmen, beeinflussen. In einem Zeitalter, wo das Zerstörungs-
potential der militärischen Macht so groß ist, daß sein Gebrauch oder Mißbrauch
alle angeht, scheint dies doch eine Verbesserung der Qualität des Dialogs hin~
reichend zu rechtfertigen.
Man sollte natürlich keine Wunder erwarten. Der strategische Dialog ist eine Ver-
ständigungsform zwischen Gegnern, nicht ein Mittel, die Feindschaft abzuschaffen
oder einen tiefverwurzelten Interessengegensatz zu bereinigen. Er kann dazu bei-
tragen, daß der Gegner keine falschen Eindrücke von der Lage des Gegenüber be-
kommt. Er könnte natürlich auch die genau entgegengesetzte Wirkung haben, aber
das ist ein Risiko, das auf jeden Fall besteht. Im besten Fall könnte der strategische
Dialog zu einem nützlichen Ziel führen, falls er, wie Walter Lippmann es kürzlich
ausdrückte, als er den Einfluß Präsident Kennedys auf den Lauf der Weltgescheh-
nisse beschrieb, dazu dient, »die Sowjetunion davon zu überzeugen, daß sie gezwun-
genermaßen innerhalb eines Systems der Kräfteverteilung leben muß und auch be-
quem und ehrenvoll leben kann, das entschieden zu unseren Gunsten ist« 45.
Bei einer Wertung der Aussichten für die weitere Entwicklung eines nützlichen stra-
tegischen Dialogs der Sowjetunion und der USA sollte die Bedeutung von Einver-
nehmen, die auf dem Gebiet der Rüstungskontrolle erreicht wurden, nicht übersehen
werden. Schritte wie das Atomstopp-Abkommen, das Abkommen über den »heißen
Draht« zwischen Moskau und Washington, der UNO-Beschluß gegen die Stationie-
rung von Kernwaffen im Weltraum und die gemeinsame Willenserklärung, die Pro-
duktion spaltbaren Materials zu beschränken, sind von einer gewissen Verbesserung
der Qualität der Kommunikation über die strategischen Beziehungen der Super-
mächte begleitet worden. Obschon diese Maßnahmen nicht direkt eine Abrüstung
bedeuten, kann man doch sagen, daß sie unter anderem den gemeinsamen Wunsch
widerspiegeln, das Tempo des Wettrüstens zu verlangsamen, die wirtschaftliche Be-
lastung durch militärische Vorbereitungen zu er~eichtern und die Gefahr eines Krie-
ges durch Fehlberechnung zu verringern. Als solche sind sie dazu angetan, den strate-
gischen Dialog in einer Weise zu ergänzen, die man als den vorsichtigen Versuch be-
schreiben kann, die Konfrontation der USA und der Sowjetunion so zu »dirigieren«,
daß sie nicht außer Kontrolle gerät, ohne jedoch die politischen Interessen der bei-
den Mächte zu opfern. Wie gut dieses Bemühen die Probe von Zeit und Umständen
überstehen wird, bleibt abzuwarten.
Im Eingangskapitel dieses Buches stellten wir fest, daß die sowjetischen Führer heute
mit vielen Entscheidungen über Fragen der Strategie und Verteidigungspolitik am
Scheideweg zu stehen scheinen. Verschiedenartige Probleme, von denen einige nur
die sowjetische Situation betreffen, andere aber im Grund Problemen ähneln, mit
denen westliche Politiker und Strategen auch fertig werden müssen, sind in dieser
Phase des 20. Jahrhunderts auf die Sowjetführung zugekommen.
Eines der größten Probleme hängt, wie wir gesehen haben, mit der Verteilung der
Ressourcen zusammen. Schwierigkeiten innerhalb der sowjetischen Wirtschaft und
konkurrierende Forderungen an sie haben es den Sowjetführern offensichtlich unge-
wöhnlich schwer gemacht, zu entscheiden, welcher Anteil ihrer Ressourcen auf mili-
tärische Zwetke verwendet werden soll.
Ein anderes grundlegendes Problem, das aus der militärisch-technologischen Revo-
lution der Gegenwart erwächst, hat seinen Kern darin, daß die Sowjets sich der Zer-
störungsgewalt eines Atomkriegs bewußt sind. Das hat Fragen darüber aufkommen
lassen, ob der Krieg ein mögliches Instrument der Politik ist und wo die Grenzen
der militärischen Stärke im Kern- und Raketenzeitalter liegen.
Die weiterbestehende chinesisch-sowjetische Entfremdung stellt ein weiteres großes
Problem dar, das auch dazu beigetragen haben kann, daß die Möglichkeit einer
künftigen chinesisch-sowjetischen Militärzusammenarbeit und einige der strategi-
schen Grundvoraussetzungen, auf die die sowjetische Planung wahrscheinlich be-
ruhte, fraglich geworden sind.
Auf dem unmittelbaren Gebiet der sowjetischen Militärpolitik und Strategie hat es
den Anschein, daß die sowjetische Führung gut zwei Jahre nach der erfolglosen
Stationierung sowjetischer Raketen auf Kuba bei der Suche nach einer militärischen
Position, die den sowjetischen Bedürfnissen in dem Machtkampf mit den USA dien-
lich ist, immer noch einer Reihe ungelöster Fragen gegenübersteht. Der andauernde
militärische Dialog in der Sowjetunion, den wir in einiger Ausführlichkeit unter-
sucht haben, zeugt davon, daß es bei vielen Fragen, die schon seit einiger Zeit dis-
kutiert wurden, immer noch verschiedene Richtungen gibt. Dazu gehören, um nur
einige zu nennen: 1. Die Größe der Streitkräfte; 2. die Kriegsdauer, auf die die
sowjetischen Streitkräfte vorbereitet sein sollen; 3. die überlebenschancen unter den
Bedingungen eines Kernwaffenkrieges; 4. das relative Gewicht der strategischen
Raketentruppen und der Operationen mit verbundenen Waffen in einem künftigen
Krieg gegen einen mächtigen überseeischen Gegner; 5. die Frage, ob die Kriterien
beim Aufbau der sowjetischen Streitkräfte vor allem ihre Abschretkungs- und Ein-
258 Die sowjetiscIJe Strategie am SclJeitleweg