Es ist eine alte Geschichte: Im wunderschönen Monat Mai des Jahres 1840 ver-
tonte Robert Schumann zwanzig Gedichte aus Heinrich Heines Buch der Lie-
der und stellte sie zu einem Zyklus zusammen. Hatte er sich für einen ersten
Liederkreis nach Heine-Texten im Februar dieses ‹Liederjahres› auf die Jun-
gen Leiden beschränkt (den ersten Teil von Heines Anthologie), so entnahm er
nun alle Gedichte dem zweiten Teil, dem Lyrischen Intermezzo. Anfänglich wa-
ren (wie man den Skizzen und Schumanns Handexemplar der Heine-Erstaus-
gabe entnehmen kann) offenbar 29 Lieder zur Vertonung vorgesehen. Tatsäch-
lich vertont wurden im Laufe einer einzigen Woche schließlich 20, gedruckt
erschienen vier Jahre später (nach ersten vergeblichen Publikationsversuchen
und Umarbeitungen) letztlich nur 16 Lieder, und zwar unter dem passenden,
aber nicht auf Heine zurückgehenden Titel Dichterliebe. Die Uraufführung
des kompletten Zyklus sollte erst nach Schumanns Tod, im Jahre 1861 (durch
den Bariton Julius Stockhausen, begleitet von Johannes Brahms) erfolgen.
Einzelne Lieder des Zyklus, die Schumann alle als «für sich ein Abgeschlosse-
nes» betrachtete, erreichten jedoch schon vorher große Popularität, insbeson-
dere das Lied Ich grolle nicht : 1844 brachte Clara Schumann es im Gewandhaus
mit der Sängerin Livia Frege zu Gehör, und schon kurz darauf erschien es als
Einzelausgabe. Die Sängerin Wilhelmine Schröder-Devrient (Widmungsträ-
gerin des gesamten Zyklus) machte es zu einem ihrer Paradestücke.
So weit, so bekannt. Schumanns Dichterliebe wurde (gemeinsam mit dem
Liederkreis nach Eichendorff und Schuberts Winterreise) zum Inbegriff des ro-
mantischen Liederzyklus, die stereotyp als «kongenial» bezeichneten Verto-
nungen zu viel diskutierten Beispielen für das diffizile Verhältnis zwischen
Text und interpretierender musikalischer Vertonung. Dieses Verhältnis wird
im folgenden Essay zu einer Dreiecksbeziehung ausgebaut, nämlich zur Be-
ziehung zwischen Text, Notenschrift und klanglicher Realisierung. Genauer
gesagt geht es um das Wechselverhältnis von Musikforschung und Auffüh-
rungspraxis, und zwar vor allem um den Einfluss der Praxis auf die Wissen-
schaft, nämlich um die Frage, inwiefern vermeintliche Aussagen über Partitu-
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1 Ich greife damit einen Gedanken von Daniel Leech-Wilkinson auf: «[…] much of what is
said about pieces is actually about performances of pieces: manners of performance have
become absorbed into the scholarly imagination of scores.» («Compositions, Scores, Per-
formances, Meanings», in: Music Theory Online 18/1 [2012], 3; http://mtosmt.org/issues/
mto.12.18.1/mto.12.18.1.leech-wilkinson.pdf [06.03.2018]).
2 Wulf Arlt, «Vom Umgang mit theoretischen Quellen zur Aufführungspraxis, oder: Warum
die Begegnung nicht stattfand», in: Christoph-Hellmut Mahling und Sigrid Wiesmann
(Hgg.), Bericht über den internationalen musikwissenschaftlichen Kongress Bayreuth 1981,
Kassel: Bärenreiter 1985, 221–232. Vgl. auch ders., «Musicology and the Practice of Mu-
sic: Thoughts from the Work of the Schola Cantorum Basiliensis», in: Current Musicology
14 (1972), 88–94; deutsch in: 104. Jahresbericht der Musik-Akademie der Stadt Basel 1970/71,
51–60. Vgl. auch das Interview mit Wulf Arlt in: Martina Wohlthat (Hg.), Tonkunst macht
Schule. 150 Jahre Musik-Akademie Basel, 1867–2017, Basel: Schwabe 2017, 339–353.
3 Wulf Arlt, «Musik, Schrift und Interpretation. Zwei Studien zum Umgang mit Aufzeich-
nungen ein- und mehrstimmiger Musik aus dem 14. und 15. Jahrhundert», in: BJbHM 4
(1980), 91–132; 93.
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Wissenschaft, «wenn sie diese Aufgabe ernst nimmt, gar nichts anderes übrig, als
sich weit auf Fragen einzulassen, die mit dem Schritt zur klanglichen Realisie-
rung verbunden sind, mithin das Experiment der Praxis voraussetzen oder doch
zumindest eine klare Vorstellung von den damit verbundenen Problemen.»4
Dieses Problem ist mit Blick etwa auf mittelalterliche Aufzeichnungen unmit-
telbar evident und nicht weiter zu erläutern. Doch auch die Entzifferung der
Notation des 19. Jahrhunderts, ja letztlich die Entzifferung jeder Notation, be-
darf der Überwindung des historischen Abstandes. Gerade an einem derart ‹jun-
gen› Beispiel wie Schumanns Dichterliebe, wo die Notenzeichen auf Anhieb gar
nicht der Entzifferung bedürftig erscheinen, wird die Rolle der klanglichen Rea-
lisierung besonders deutlich, wie im Folgenden gezeigt werden soll.
Der Text des Heine’schen Gedichtes, wie er Schumann vorlag, lautet wie
folgt:5
Ich grolle nicht, und wenn das Herz auch bricht,
Ewig verlor’nes Lieb! ich grolle nicht.
Wie du auch strahlst in Diamantenpracht,
Es fällt kein Strahl in deines Herzens Nacht.
Das weiß ich längst. Ich sah dich ja im Traume,
Und sah die Nacht in deines Herzens Raume,
Und sah die Schlang’, die dir am Herzen frißt,
Ich sah mein Lieb, wie sehr du elend bist.
6 Zur Rolle Fischer-Dieskaus für die Lied-Interpretation vgl. auch Daniel Leech-Wilkinson,
«Musicology and Performance», in: Zdravko Blazekovic (Hg.), Music’s Intellectual History.
Founders, Followers & Fads, New York: Répertoire international de la littérature musicale
2009, 791–804; 800–801. Er beschreibt dort anhand einiger Schubert-Lieder einen dem
hier geschilderten durchaus ähnlichen Fall.
7 Fischer-Dieskau, Schumann, das Vokalwerk, Stuttgart: Deutsche Verlags Anstalt 1981, 67;
zit. nach Thomas Synofzik, Heinrich Heine – Robert Schumann. Musik und Ironie, Köln:
Dohr 2006, 9.
8 Orfeo C 294921 B.
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Abb. : Detail aus dem Autograph von Schumanns Dichterliebe, Staatsbibliothek Berlin
Preußischer Kulturbesitz, mus.ms.autogr. R. Schumann 16,2, 45; Faksimile-Edition, hg.
von Elisabeth Schmierer, Laaber: Laaber Verlag 2006
19 Auf die späteren Aufnahmen Fischer-Dieskaus gehe ich hier nicht ein. Wenngleich sich
Nuancen durchaus ändern, scheint mir die Grundhaltung die gleiche geblieben zu sein.
Das Tempo hat dabei zugenommen (siehe Tabelle unten).
10 Hänssler CD 93.701.
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Abb. : Auszug aus Schumanns Dichterliebe, nach dem Erstdruck von 1884, S. 15
eine Aufnahme von Therese Behr-Schnabel (1876–1956) aus dem Jahre 1904.11
Behr-Schnabel war eine Schülerin von Julius Stockhausen (dem Sänger der zy-
klischen Uraufführung der Dichterliebe). Ihr Mann und Begleiter war der Pi-
anist Arthur Schnabel – ob er auch auf der Aufnahme von Ich grolle nicht spielt,
steht leider nicht fest. Die Aufnahme der Behr-Schnabel ist ein berührendes
und höchst aufschlussreiches Tondokument. Wo immer ich diese Aufnahme ei-
nem Publikum vorgespielt habe, war die erste Reaktion jedoch kopfschütteln-
des Schmunzeln, denn vieles im Aufführungsstil von Behr-Schnabel und ih-
rem Pianisten würde heute als geschmacklos oder dilettantisch aufgefasst: Das
gilt zunächst für den schluchzenden, seufzenden Gestus der Portamenti. Hinzu
kommt das langsame Tempo: Als Ganzes dauert das Lied dabei doppelt so lang
wie bei Wunderlich. Dabei ist das Tempo zu keinem Zeitpunkt stabil und be-
wegt sich in einer für heutige Maßstäbe abenteuerlichen Amplitude nach oben
und unten. Behr-Schnabel singt auch nicht das hohe a, sondern Schumanns
anfängliche Version. Hinzu kommen schließlich (schwieriger zu hören) die
vom Pianisten immer wieder arpeggierten Akkorde.
11 Die Aufnahme findet sich auf verschiedenen CDs, so etwa auf An Anthology of Song (Sym-
posium Records 1356). Wie viele der im Folgenden zitierten historischen Tondokumente
lässt sich die Aufnahme auch über YouTube hören.
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So ungewöhnlich das, was Behr-Schnabel und ihr Pianist hier machen, heu-
tigen Ohren auch erscheinen mag – es entspricht durchaus Aufführungstradi-
tionen des 19. Jahrhunderts.12 Tatsächlich stellt sich beim Hören weiterer frü-
her Aufnahmen heraus, dass Therese Behr-Schnabel mit ihrer Interpretation
kein exzentrischer Einzelfall war. Dies zeigen beispielsweise die Aufnahmen
von Jeanne Gerville-Réache (1911), Richard Tauber (1920) oder Georg Hen-
schel (1914 und 1928).13 Über jede dieser Interpretationen ließ sich Vieles sa-
gen; hier soll jedoch der Blick auf die Pointe gerichtet bleiben: Bei diesen Auf-
nahmen, vor allem aber bei Behr-Schnabel, meint man, ein ganz anderes Lied
zu hören. Ihre Interpretation drückt nicht (oder nicht nur) Groll aus, sondern
eher eine tiefe Traurigkeit, ja Sentimentalität. Die beschwörende Wiederholung
des Satzes «ich grolle nicht» ist hier kein blanker Zynismus.
Aber warum hat sich der interpretatorische Blick auf das Lied verändert?
Ich möchte behaupten, dass es nicht eine vorgängige literarische Interpreta-
tion war, die die Aufführungspraxis verändert hat, sondern dass – umgekehrt –
grundlegende Veränderungen in der Aufführungspraxis während der ersten
Hälfte des 20. Jahrhunderts den interpretatorischen Blick auf das Lied in eine
bestimmte Perspektive gedrängt haben. Ganz zentral betrifft das den Wandel
in der Tempogestaltung: An die Stelle romantischer Tempoflexibilität tritt, ver-
einfacht gesprochen, der durchgehaltene Puls. Hinzu kommt, das Schumanns
Lied im Laufe des 20. Jahrhunderts schneller und schneller wurde; eine Ent-
wicklung, wie sie auch von anderen Werken bekannt ist, ohne aber generali-
sierbar zu sein.14 Ich grolle nicht beschleunigt sich – wie die folgende Tabelle ver-
deutlicht – im Laufe eines halben Jahrhunderts auf das Doppelte:
12 Timothy Day, A Century of Recorded Music. Listening to Musical History, New Haven und
London: Yale University Press 2000, Kap. 3; Kenneth Hamilton, After the Golden Age.
Romantic Pianism and Modern Performance, Oxford: Oxford University Press 2008; Neal
Peres da Costa, Off the Record. Performing Practices in Romantic Piano Playing, Oxford: Ox-
ford University Press 2012.
13 Die Aufnahme von Jeanne Gerville-Réache findet sich auf der CD Preiser Records 89737,
Richard Tauber auf Naxos Historical 8.110739, die Aufnahmen von Henschel auf EMI/
Warner Classics B001PPLJAE (Aufnahme von 1914) und Symposium 1362 (Aufnahme von
1928). Georg Henschel, der sich selbst am Klavier begleitet, spielt auf den Aufnahmen das
Lied in unterschiedlichen Tonarten, jeweils folgt nach einer kurzen improvisierten Mod-
ulation Schumanns «Lied eines Schmieds». Zu Henschel vgl. Ulrich Messthaler, «Carl
Loewe oder das große Missverständnis», in: Musik & Ästhetik 83 (2017), 5–20; 18–19.
14 Day, A Century of Recorded Music (wie Anm. 12), 149–152. Vgl. auch Lars E. Laubhold,
Von Nikisch bis Norrington. Beethovens 5. Sinfonie auf Tonträger. Ein Beitrag zur Geschichte
der musikalischen Interpretation im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit, München:
edition text + kritik 2014, 117–137.
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Schnabels Interpretation etwa trifft all dies nicht zu: Dort sind die Akkorde ar-
peggiert und frei im Tempo – gerade nicht «gehämmert». Sams’ Schlussfolge-
rung, Schumann habe eine Musik geschrieben, die «nie wieder schwach sein»
wolle, mag dann für eine heute gängige Interpretationshaltung stimmen; die
älteren Interpretationen bringen durchaus auch Schwachheit zum Ausdruck.
«Nimmt man das Gedicht [Ich grolle nicht] vordergründig, so wäre musikalisch
ein versöhnend-resignativer Tonfall angemessen», bemerkt Thomas Synofzik.19
Genau dieser Tonfall spricht für mich aus der Aufnahme der Behr-Schnabel
und mancher ihrer Zeitgenossen.
Die Interpretation von «Ich grolle nicht» läuft also letztlich hinaus auf die
Frage nach der ‹Ironie›. So schreibt Eric Sams: «Schumann has been charged
with insensitivity to Heine’s characteristic irony. But [...] he demonstrated a
keen sense for parody and for the destruction of illusion in his setting of [...]
‹Ich grolle nicht›.»20 Hier wird deutlich, dass die Schumann-Forscher offen-
bar froh darüber waren, bei Schumann ein musikalisches ‹Verständnis› der
Heine’schen Ironie nachweisen zu können, denn so ließen die Schumann-Lie-
der sich leichter dem Sentimentalitäts-Verdacht entziehen. Nachdem die ältere
Schumann-Forschung dem Komponisten (zu Unrecht) jegliche Fähigkeit zur
Ironie abgesprochen hatte,21 scheinen jüngere Zugänge in ihrer Korrektur die-
ser Meinung nun geradezu davon besessen zu sein, Schumanns Ironie allent-
halben nachzuweisen. Nun ist ja die Frage mit Blick auf Schumanns Verto-
nung eigentlich gar nicht, ob Schumann Heines Ironie ‹verstanden› hat.22 Die
Frage ist vielmehr, zu welcher ästhetischen Reaktion und musikalischen Um-
setzung sich Schumann entschieden hat. Nehmen wir einmal an, Schumann
fasst das Gedicht von Heine, den er als «ironisches Männchen» bezeichnete,23
tatsächlich als ‹ironisch› auf, als eine Rede also, die – nach der Definition von
Abb. : Beginn von Schumanns Ich grolle nicht, nach dem Erstdruck (1844), S. 14
gen (vgl. Abb. 4). Der Bass schreitet (beginnend in T. 4) vom Grundton c in re-
gelmäßigen Schritten eine Oktave plus eine Quarte abwärts bis zur Dominante
g. Ab Takt 5 wird er dabei von einer Oberstimme in konsequenten Dezimpar-
allelen begleitet, mit der zweiten Takthälfte wird das Ganze zu einer regelmä-
ßig absteigenden zweigliedrigen Sequenz («Fundamentalbass 1» in Abb. 4). Im
Hintergrund (markiert durch die Sequenz der Gesangsstimme und die Quin-
ten im Außenstimmensatz zu Beginn der T. 5, 7 und 9) wird sogar eine ge-
dehnte Quintfallsequenz hörbar («Fundamentalbass 2» in Abb. 4). Es ließe sich
viel über die Sequenzmodelle sagen, die sich hier überschneiden, doch sei hier
mit Blick auf den gegebenen Rahmen und die allgemeine Fragestellung nur
das Wesentliche angesprochen: Dissonanzen, die sich in Dissonanzen lösen,
insbesondere Septklänge die sich in Septklänge lösen, sind durchaus bekannte
Satztechniken im Sequenzkontext, auch wenn das hier verwendete Verfah-
ren außergewöhnlich ist.27 Das Ganze hat mit dem Abwärtsschreiten in Dezi-
27 Man studiere etwa die Auflistung derart dissonanter Sequenzen, die Schumanns Freund
Ferdinand Hiller in seinen Übungen zum Studium der Harmonielehre und des Contrapunk-
tes, Köln: DuMont 1860, 19, unter dem Stichwort «Auflösung der Septimenakkorde in an-
dere Septimenakkorde» gibt. Bei Hiller findet sich z. B. auch die Abfolge von Terzquartak-
korden und Septakkorden über absteigendem Bass wie bei Schumann, nur dass bei ihm
eben das traditionelle Modell mit übergebundenem (bzw. wiederholtem) Bass angegeben
wird, das eine Fundamentquintschrittsequenz bildet. Der Wegfall dieser Syncopatio im
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Abb. : Analyse der Takte 4–9 aus Schumanns Ich grolle nicht.
Bass führt zum außergewöhnlichen Modell bei Schumann, wobei diese Abweichung eben
andererseits durch den stabilen Dezimensatz zusammengehalten wird.
28 Diese Seite des Lieds wird deutlich, wenn man sich anhört, wie mühelos Paula Morelen-
baum, Ralf Schmid und die SWR Bigband Schumanns Lied in eine Bossanova verwandelt
haben (CD Bossarenova, Skip Records 2009, Track 10). Ich danke Janina Klassen für diesen
Hinweis.
29 Preisendanz, «Der Ironiker Heine» (wie Anm. 23), 106.
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