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Focus

No. 35 / 2021

„Slowbalisation“ –
Effekte auf
Produktions- und
Logistikstandorte
Editorial
Sehr geehrte Damen und Herren,

Adam Smith, Begründer der modernen Wirtschaftstheorie, zeigte, dass die inter-
nationale Arbeitsteilung Vorteile für alle Handelspartner bringt, wenn sich jeder auf
diejenigen Güter spezialisiert, welche er jeweils kostengünstiger als die Handelspart-
ner produzieren kann. Direkte Kostenvorteile (insbesondere Lohnkosten) sind bei
diesem Credo das Maß aller Dinge. Diese Art der Kostenbetrachtung hat in den ver-
gangenen Jahrzehnten dazu geführt, dass heute komplexe und fragmentierte Liefer-
ketten die ganze Welt umspannen. Doch die Handelswelt wandelt sich. Nicht erst die
Corona-Krise hat zu einem Überdenken der mitunter anfälligen Wertschöpfungsket-
ten geführt. Entwicklungen wie zunehmend protektionistische Tendenzen oder neue
Dr. André Scharmanski Produktionsmöglichkeiten durch die Industrie 4.0 (mit neuen Kostenvorteilen) haben
Leiter Research ein Abbremsen der Globalisierung bewirkt. „Schwarze-Schwan-Ereignisse“, wie wir
sie gerade durchlaufen, machen jedoch deutlich, dass Kosten nicht das alleinige Maß
der Dinge bleiben können. Es braucht resiliente Lieferketten und eine robuste Wert-
schöpfung.

Die globalen Wertschöpfungs- und Lieferketten werden rekonfiguriert. Aber was


bedeutet das für die Logistik- und Produktionsimmobilien, die schließlich Dreh- und
Angelpunkte der Weltwirtschaft sind? Der aktuelle Quantum Focus No. 35 „Slow-
balisation und Immobilienmärkte“ zeigt auf, wie sich insbesondere die bislang unter-
allokierte Assetklasse Light Industrial in einer sich wandelnden Handelswelt zukünftig
entwickeln wird. Dabei kristallisieren sich regionale Schwerpunkte für diese Anlage-
klasse heraus, die von der Neuordnung der Wertschöpfungs- und Lieferketten beson-
ders profitieren werden und damit für Investoren zunehmend attraktiv sein dürften.

Wir freuen uns, wenn der Focus Ihr Interesse findet und wünschen Ihnen eine auf-
schlussreiche und interessante Lektüre!

Dr. André Scharmanski

FOCUS 35 1
Seite 10
„Slowbalisation“ – eine neue Ära im Welthandel?

Seite 17
Logistik- und Produktionsimmobilien in einer sich wandelnden
Handelswelt

2 FOCUS 35
Inhalt
5 Weltwirtschaft und
internationale Arbeitsteilung
Was sind globale Wertschöpfungsketten und wie haben diese die Weltwirt-
schaft geprägt?

10 „Slowbalisation“ – eine neue


Ära im Welthandel?
Was sind die Gründe für die nachlassende Geschwindigkeit der Globalisierung?

17 Logistik- und Produktions-


immobilien in einer sich
wandelnden Handelswelt
Wie wirkt sich die Neuordnung globaler Wertschöpfungsketten auf die Nach-
frage nach Lager- und Produktionsflächen in Deutschland aus?

30 Kurz & knapp


Das Wichtigste dieser Ausgabe kurz zusammengefasst.

„ S LO W B A L I S AT I O N “ – E F F E K T E A U F P R O D U K T I O N S - U N D LO G I ST I K STA N D O R T E 3
FOCUS 35
Weltwirtschaft und
internationale Arbeits-
teilung

5
Als wesentlicher Taktgeber der ökonomischen Globalisierung gilt die
zunehmende Verflechtung der industriellen Produktion. Während in
früheren Phasen grenzüberschreitender Beziehungen der Handel mit
Rohstoffen und Endprodukten dominierte, etablierte sich Anfang der
1990er Jahre eine internationale Arbeitsteilung in der Produktion, bei
der immer mehr Zwischenprodukte einzelner Wertschöpfungsstufen in
andere Länder exportiert und dort weiterverarbeitet werden.

Die theoretische Grundlage für diese Entwicklung in den Industrieländern (Abb. 01). Ganze 60 Prozent
liefert das Ricardianische Prinzip der komparativen des globalen Handelswachstums zwischen 1990 und
Kostenvorteile, wonach alle Handelsteilnehmer bzw. 2008 (Ära der Hyperglobalisierung) gingen auf grenz-
Länder von einer vollständigen Spezialisierung auf überschreitende Wertschöpfungsketten zurück. Das
jene Güter profitieren, bei denen sie über einen kom- bedeutet, dass immer mehr Güter auf einer Vielzahl
parativen Vorteil verfügen. Gerade Unternehmen aus von Produktionsstufen in zwei oder mehr Ländern
den industriellen Kernländern der Triade (Asien, Euro- produziert wurden und auf jeder Stufe ein bestimm-
pa, Nordamerika) haben aus Effizienzerwägungen vor ter Wert hinzugefügt wurde. Im Fokus der Arbeitstei-
allem arbeitsintensive Produktionsbereiche zuneh- lung stehen Effizienzgewinne im Rahmen des globa-
mend in Niedriglohnländer ausgelagert, um Arbeits- len Outsourcings, das durch die Auswahl der weltweit
kosten zu sparen. Einen deutlichen Schub erfuhr die günstigsten Anbieter geringe Preise für Vorleistungen
internationale Arbeitsteilung in den Folgejahren durch garantiert. In der Vergangenheit wurde das Outsour-
den Fall des Eisernen Vorhangs, die globale Integra- cing in vielen Fällen durch die Strategie multinationaler
tion Chinas, den Abbau von Handels- und Investitions- Unternehmen vorangetrieben, ihre Betriebsabläufe
hemmnissen, die Fortschritte in den Informations- und zu optimieren, indem sie die Lagerbestände durch
Kommunikationstechnologien und sinkende Transport- Just-in-time-Produktion verringerten und die Auslas-
kosten dank der Containerschifffahrt. tung der Anlagen erhöhten. Es wurde immer weniger
vorproduziert und eingelagert, sondern die Maschi-
Ein Großteil der weltweiten Produktion wird seitdem in nen liefen erst an, wenn ein Produkt oder Bauteil tat-
sogenannten globalen Wertschöpfungsketten (Global sächlich bestellt wurde. Den niedrigeren Preisen der
Value Chains) organisiert. Heute ist fast jedes Land in Vorprodukte stehen allerdings generell die extremen
die internationale Arbeitsteilung integriert, wenn auch Abhängigkeiten von der exakten Einhaltung aller ver-
auf unterschiedliche Weise. Während Schwellenlän- einbarten Details der Lieferbeziehungen (Qualität und
der Rohstoffe liefern und auch Vorprodukte herstel- Quantität der gelieferten Vorleistungen und der ge-
len, konzentriert sich die hochqualifizierte Tätigkeit naue Zeitpunkt der Lieferung) als Risiko gegenüber.

6 FOCUS 35
Abb. 01
Integration in internationale Wertschöpfungsketten
kaum Beteiligung Rohstoffe Verarbeitung Vorprodukte innovative Tätigkeiten
keine Daten

Quelle: Weltbank 2020

Anteil der Wertschöpfung über globale


Wertschöpfungsketten 2015

12%
Weltweit

17%
Deutschland

Quelle: Flach et al. 2020

W E LT W I R T S C H A F T U N D I N T E R N AT I O N A L E A R B E I T S T E I L U N G 7
Ebenso kritisch ist die einseitige Ausrichtung auf eine Tab. 01
Weltregion (v.a. Asien), was die grenzüberschreitende Anteil importierter Vorleistungen an den
Produktion anfällig für Schocks macht. Gesamtinputs nach Branchen

Deutschland als Teil globaler Wertschöpfung


Branche Importierte Inputs in %
der Gesamtinputs 2015
Die deutsche Wirtschaft ist überdurchschnittlich stark
in solche globalen Ketten eingebunden wie nur weni-
ge andere Volkswirtschaften: 2019 importierten deut- Textilindustrie 75,5
sche Unternehmen Vorprodukte im Wert von 606 Mrd.
Euro. Etwa 17 Prozent der deutschen Wertschöpfung Elektroindustrie 55,9
fand über globale Wertschöpfungsketten statt (Flach
et al 2020). Damit ist Deutschland auch im Vergleich Chemische Industrie 51,8
mit China (11,5 Prozent) und den USA (5,5 Prozent) ein
wesentlicher Knotenpunkt und Treiber globaler Pro-
duktionsverflechtungen (Abb. 02). Etwa 69 Prozent
Maschinenindustrie 36,9
der deutschen Wertschöpfung hatte keine interna-
tionale Grenze überquert (Weltdurchschnitt = 80 Pro- Automobilindustrie 29,1
zent), der Rest nur eine Ländergrenze.

Besonders trifft das für die deutsche Textil-, Elektro-


und chemische Industrie zu, für die der Anteil impor-
tierter Vorleistungen an den Gesamtinputs der jeweili-
gen Industrie auf zwischen 52 und 76 Prozent beziffert
wird. (Tab. 01) Mit einem Vorleistungsanteil von rund 37
bzw. 29 Prozent ist ebenso die deutsche Maschinen-
Quelle: World Input Output Database
und Autoindustrie relativ stark in die Weltwirtschaft
integriert (Kilic/Marin 2020).

Hochkomplexe, fragmentierte Wertschöpfungsketten und Kontinente hinweg vernetzt. Damit sind geogra-
phisch entfernte Regionen in solcher Weise miteinander
Insbesondere bei der Produktion hochentwickelter In- verbunden, dass Ereignisse an einem Ort durch Vor-
dustrieerzeugnisse bilden sich immer stärker fragmen- gänge geprägt werden, die sich an einem viele Kilome-
tierte und komplexe Wertschöpfungsketten, die selbst ter entfernten Ort abspielen und umgekehrt. So hat das
für die Unternehmen kaum noch vollständig zu überbli- Herunterfahren der Produktion in einer Branche eines
cken sind. Autos und Maschinen stehen häufig am Ende Landes unmittelbar Auswirkungen auf die Auslastung
langer Lieferketten, die aus diversen vorgelagerten Zu- der Produktionskapazitäten der direkten und indirekten
lieferern zusammengesetzt sind und sich in der Regel Zulieferer aus unterschiedlichen Branchen in mehreren
weltweit erstrecken. So zählt etwa Daimler über 200 Ländern.
direkte so genannte Tier-1-Zulieferer, die den Automo-
bilhersteller mit den größten Komponenten oder Sub-
systemen für das Fahrzeug, wie zum Beispiel die Auf-
hängung oder das Getriebe, beliefern. Allein die zehn
Größten davon kommen zusammen nochmals auf fast
»Geographisch entfernte
600 so genannte Tier-2-Zulieferer, die Komponenten für Regionen sind in solcher Weise
die Tier-1-Zulieferer bereitstellen. Diese wiederum hän-
gen von mehr als 2.900 weiteren Zulieferern (Tier 3) ab
miteinander verbunden, dass
(Wohlmann/ Rebeggiani 2020). All diese Unternehmen Ereignisse an einem Ort durch
sind über den gesamten Globus verteilt und besitzen
zudem vielfältige Querverbindungen und Mehrfachbe-
Vorgänge geprägt werden, die
ziehungen untereinander. Während sich Tier-1-Zulieferer sich an einem viele Kilometer
oft in der Nähe des Herstellers befinden, kommen Tier-
2- oder 3-Lieferanten aus der ganzen Welt. Produktion
entfernten Ort abspielen und
und Unternehmen sind heute also häufig über Länder umgekehrt«
8 FOCUS 35
Abb. 02
Globale Netzwerke internationalen Handels in Zwischenprodukten
Handelszentrum Bruttohandelsströme

Österreich Tschechien
Grad der Zentralisierung:
Schweden
Ungarn
niedrig
hoch Polen
Frankreich
Irland Niederlande
Italien Russland
Vereinigtes Königreich
Deutschland
Kanada Belgien
Türkei
Mexiko Schweiz
USA Spanien

Südkorea
China Brasilien
Taiwan Portugal
Japan

Singapur Indien
Australien Hongkong, China
Israel

Thailand Südafrika
Malaysia
Indonesien
Argentinen

Vietnam Chile

Quelle: World Bank 2017

W E LT W I R T S C H A F T U N D I N T E R N AT I O N A L E A R B E I T S T E I L U N G 9
„Slowbalisation“ –
eine neue Ära im
Welthandel?

Die zunehmende Verflechtung des internationalen 2020). Wir leben in einer Welt, die immer komplexer
Handels war in den vergangenen 30 Jahren einer der wird und sich ständig verändert. Vorhersehbarkeit und
dominierenden Faktoren, der die Entwicklung der Berechenbarkeit von Ereignissen nehmen rapide ab,
Weltwirtschaft geprägt hat. Die Phase der Hyperglo- Prognosen und Erfahrungen aus der Vergangenheit
balisierung führte zu einer starken Fragmentierung der als Grundlage für die Gestaltung von Zukunft verlieren
Produktion und der internationalen Wertschöpfungs- ihre Gültigkeit und Relevanz. Seit der Finanz- und Wirt-
ketten, von der vor allem die Schwellenländer und hier schaftskrise hat sich die Unsicherheit entsprechend
in erster Linie China profitierten. Doch mit der globalen mehr als verdreifacht (Abb. 03).
Finanzkrise wurde das Ende der Hyperglobalisierung
eingeläutet. Das globale Wirtschaftswachstum hat sich Zu diesem Umfeld haben verschiedenen Faktoren bei-
in den vergangenen zehn Jahren verlangsamt, die bis getragen. So kam es etwa nach der globalen Finanz-
dahin stark wachsende Expansion globaler Lieferket- krise weltweit zu einer zuerst schleichend einsetzen-
ten wurde abgebremst und immer mehr Unternehmen den, dann in den jüngeren Jahren expliziten Rückkehr
verlagern ihre Produktion zurück nach Deutschland. protektionistischer Politik. Stark zur ökonomischen
Die Weltwirtschaft befindet sich in einer neuen Phase, Verunsicherung beigetragen haben auch so genannte
in der ausländische Vorprodukte für die Produktion der „Schwarzer-Schwan-Ereignisse“, die in der volkswirt-
heimischen Güter tendenziell weniger wichtig gewor- schaftlichen Theorie für extrem unwahrscheinliche
den sind. So ist der Anteil der heimischen Wertschöp- Ereignisse stehen, die das Gewohnte aus dem Gleich-
fung an den Exporten Deutschlands, der Vereinigten gewicht und Volkswirtschaften und Kapitalmärkte
Staaten und Chinas seit ungefähr 10 Jahren wieder zum Taumeln bringen. Dazu zählen beispielsweise die
leicht steigend. Dieser Trend der „Slowbalisation“, d.h. Terrorattacken vom 11. September 2001, die Finanz-
die Verlangsamung der Globalisierung, geht einher mit marktkrise, der Super-GAU in Fukushima oder aktuell
der zunehmenden ökonomischen Unsicherheit, die die Corona-Pandemie, durch welche unter anderem
sich im von Stanford-Forschern entwickeltem Welt- die Risiken globaler Lieferbeziehungen deutlich auf-
unsicherheitsindex ablesen lässt (Felbermayr/Görg zeigt werden. Als Reaktion hat sich in den letzten zehn

10 FOCUS 35
Abb. 03
Economic Policy Uncertainty Index

450

400

350

300

250

200

150

100

50

0
1997

1998

1999

2000

2001

2002

2003

2004

2005

2006

2007

2008

2009

2010

2011

2012

2013

2014

2015

2016

2017

2018

2019

2020
Quelle: PolicyUncertainty.com

Jahren eine Gegenbewegung in Form einer Rückver- Gesamtzahl weltweiter handelspolitischer Inter-
lagerung von Produktionsaktivitäten aus dem Ausland ventionen seit November 2008:

15.721
in die Industrieländer (Reshoring) herausgebildet. Da-
bei spielen auch die stärkere Nutzung von Technolo-
gien zur digitalen Vernetzung der Produktion (Industrie
4.0), aber auch Fragen der nationalen Sicherheit eine
gewisse Rolle. All diese Entwicklungen bewirken eine
Modifizierung/Neuausrichtung der globalen Arbeits-
teilung und damit auch der Produktionsstandorte.
Protektionistische Interventionen
Protektionismus – Freihandel verliert an Strahlkraft

6.945
Politische Regulierungen und Handelsbeschränkun-
gen verändern globale Handelsströme stetig. Die Welt
der frühen Neunzigerjahre, als die Idee des Multilate-
ralismus Hochkonjunktur hatte, ist zunächst mal passé.
Im Zuge der Finanzkrise hat die Idee des Freihandels
deutlich an Strahlkraft verloren, gerade weil auch China
Handelserleichternde Interventionen
mit seinem planwirtschaftlichen Modell und der Wirk-
mächtigkeit eines intervenierenden Staates besser
durch die Krise kam als der Westen. In vielen Teilen der
Welt sind seitdem protektionistische Tendenzen wie-
der auf dem Vormarsch. Es ist eine Zeitenwende, in der
die bisher gültigen Regeln der Weltwirtschaft und vor
allem des Welthandels auf der Kippe stehen. Protektio- Quelle: Global Trade Alert (Stand 11/20)

„ S L O W B A L I S AT I O N “ – E I N E N E U E Ä R A I M W E LT H A N D E L? 11
12 FOCUS 35
Abb. 04
Protektionistische und liberale staatliche Maßnahmen
im Welthandel

protektionistisch liberal

2000
Anzahl der Maßnahmen

1800

1600

1400

1200

1000

800

600

400

200

0
2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019 2020

Quelle: Global Trade Alert 2020

nismus und Handelskriege dominieren die Agenda des vermeiden, werden sich globale Lieferketten eher in
Welthandels. Die Welthandelsorganisation meldete in regionale Pole umorganisieren. So haben sich im Zuge
den vergangenen Jahren historische Höchststände der fortschreitenden Eskalation des sino-amerikani-
an Zöllen, Kontingenten und anderen Abschottungs- schen Handelskonflikts nicht nur die Importe der USA
mechanismen. So waren die Jahre 2018-2020 durch aus China, sondern auch deren Exporte nach China
eine Zunahme protektionistischer Rhetorik und mehr reduziert (Deutsche Bank 2020), wodurch auch glo-
als 4.000 weltweit durchgeführte handelsbeschrän- bale Wertschöpfungsnetzwerke massiv beeinträchtigt
kende Maßnahmen geprägt. Demgegenüber wurden werden. Auch die wirtschaftlichen Folgen des Brexits
rd. 1.200 handelserleichternde Maßnahmen eingeleitet sind noch nicht gänzlich abzusehen. Dabei werden
(Abb. 04). Damit werden heute weltweit fast fünfmal nicht nur politische und ggf. handelsbeschränkende
mehr protektionistische Maßnahmen ergriffen als noch Maßnahmen, sondern auch logistische Probleme wie
2009 (Global Trade Alert 2020). die bevorstehenden Grenzwartezeiten den Handel und
den Wirtschaftsbereich Logistik stören. Die Unsicher-
Allein die G20 Staaten ergriffen von Mai bis Oktober heiten im Zusammenhang mit nationalen Bewegungen
2019 restriktive Maßnahmen auf ein geschätztes Han- und dem protektionistischen Umfeld veranlassen Un-
delsvolumen von über 460 Mrd. US-Dollar. Insbeson- ternehmen sich zunehmend auf „bekanntes“ und damit
dere die Vereinigten Staaten schlugen zuletzt mit der vermeintlich „sicheres Terrain“ zurückzuziehen. Teile
America-First-Politik von Donald Trump einen restrikti- der Wertschöpfung werden vereinzelt in die Heimat-
veren handelspolitischen Kurs ein, der u.a. auch Wider- länder zurückverlagert.
hall in den Handelspolitiken Russlands, der Türkei,
Chinas und Indiens findet (Deutsche Bank 2020). Die Industrie 4.0 – Neubewertung von Produktions-
Wiederkehr von Handelsbeschränkungen hat zur Folge, standorten
dass die globalen Durchschnittszölle wieder ansteigen
und sich das Wachstum des internationalen Handels Auch die neuen Technologien der Industrie 4.0 wirken
verlangsamt (Felbermayr 2020). Um Importzölle zu auf die Globalisierung insofern bremsend, dass Kosten

„ S L O W B A L I S AT I O N “ – E I N E N E U E Ä R A I M W E LT H A N D E L? 13
Abb. 05
Die globale Risikolandschaft 20201

4,4 Geopolitik
Scheitern der Klimamaßnahmen
Gesellschaft
4,2
infektiöse Krankheiten Technologie
4,0
Umwelt

3,8 Wirtschaft

3,6 1) Einschätzung von über 750 Experten


Einfluss1

extremes Wetter
2) Skala von 1 bis 5, 1 ist sehr unwahrscheinlich
und 5 sehr wahrscheinlich
3,4

3,2
Cyberangriffe

3,0
Terroranschläge

2,8

2,6

2,5 2,75 3 3,3 3,6 4 4,5

Wahrscheinlichkeit2

Quelle: World Economic Forum 2020

14 FOCUS 35
von Produktionsverlagerungen ins Ausland im Ver- globale Boom im grenzüberschreitenden Handel und
gleich zur eigenen Herstellung wieder neu bewertet der Trend zur Deglobalisierung setzte ein. In Deutsch-
werden. Fast sechs von zehn Industrieunternehmen land sank der Anteil von Güterexporten am BIP von
mit mehr als 100 Mitarbeitern in Deutschland nutzen fast einem Drittel (2008) auf 26 Prozent (2009). Nach
2020 bereits spezielle Anwendungen aus dem Bereich der Rezession stieg der Anteil wieder an, jedoch längst
Industrie 4.0 (Bitkom 2020). 2018 waren es noch 49 nicht so dynamisch wie zuvor.
Prozent. Deutschland gehört bei der Verwendung von
Robotern zu den weltweit führenden Staaten: 2018 Seltene Gefahren, wie Naturkatastrophen, Terror-
entfielen hierzulande auf 10.000 Arbeiter 338 Roboter. anschläge oder Epidemien, sind ungleich schwerer
Nur in Südkorea und Singapur war das Verhältnis noch abschätzbar als wiederholt eintretende Risiken, wie
höher (World Robotics 2019). Die führende Stellung Frachtschäden oder Qualitätsmängel, und sind in der
Deutschlands in Bezug auf Industrie 4.0-Anwendungen Regel von großer Reichweite geprägt. Basierend auf
innerhalb Europas bedeutet grundsätzlich eine Steige- einer Umfrage von über 750 Experten und Entschei-
rung der Wettbewerbsfähigkeit und somit ein „upgrade“ dungsträgern des World Economic Forums werden
der heimischen Industrie. Der Einsatz von Zukunfts- jährlich 30 globale Risiken in fünf Kategorien (Wirt-
technologien bei der Produktion kann eine Vielzahl schaft, Umwelt, Geopolitik, Soziales und Technologie)
neuer Geschäftsmodelle und damit neuer Arbeitsstel- nach Grad der Besorgnis, Wahrscheinlichkeit und Aus-
len hervorbringen und den Status Deutschlands als in- wirkungen, sowie deren Wechselwirkungen dargestellt
dustrielles Rückgrat Europas weiter stärken. Gleichzei- (siehe Abb. 05). Sie betreffen nicht nur die Industrie-
tig wird es für Unternehmen zunehmend unattraktiver unternehmen und Produktionen selbst, sondern bedro-
ihre Arbeitsplätze ins Ausland zu verlagern. Die „smart hen auch die für die globale Vernetzung wesentliche
factory“ benötigt im Zuge erhöhter Automatisierung Transportinfrastruktur. Durch das Erdbeben und den
und Robotik weniger Arbeitskräfte als die traditionelle Tsunami und die dadurch ausgelösten Reaktorunfälle
Fertigung und eine höhere Produktivität. Darum fallen im März 2011 in Fukushima wurden beispielsweise zahl-
die Lohnkosten, die nicht zuletzt auch in vielen klassi- reiche Industrieanlagen und Infrastrukturen entlang
schen Niedriglohnländern gestiegen sind (u.a. in China der Küste Japans zerstört. Insbesondere im Bereich
+10 Prozent Lohnsteigerung p.a. 2012-2018), bei einer der Elektronikzulieferung als eine der Schlüsselindus-
Standortentscheidung zukünftig weniger ins Gewicht. trien für viele Branchen, darunter auch deutsche Auto-
mobil- und Elektronikhersteller, kam es zu Lieferaus-
Bei der voranschreitenden Entwicklung weg von der fällen und -engpässen. Zwar stammten nur knapp fünf
spekulativen Massenfertigung hin zu einer nach- Prozent der deutschen Importe im Bereich der Metall-
fragegesteuerten Produktion werden insbesondere und Elektronikindustrie aus Japan. Im Juni 2011 ver-
hochqualifizierte Mitarbeiter (u.a. Mechatroniker, An- zeichneten dennoch 42 Prozent der Produzenten und
lageneinrichter und Automatisierungstechniker), leis- Distributoren von Elektronikgeräten in Deutschland
tungsfähige Infrastrukturen, die räumliche Nähe zu vorübergehend Lieferschwierigkeiten (Fuchs 2011).
kaufkräftigen Kunden und eine hohe Flexibilität ent-
lang der gesamten Wertschöpfungs- und Lieferkette Die veränderte globale Risikolandschaft schlägt sich
gefragt sein. Die Fertigung der Zukunft wird wohl nä- auch in den Unternehmensstrategien nieder. So zeigen
her am Kunden, flexibler, intelligenter und kleiner sein. Umfragen, dass rund die Hälfte produzierender Unter-
Und höchstwahrscheinlich werden immer mehr Unter- nehmen aus den führenden Industrienationen davon
nehmen die Kosten von Produktionsverlagerungen ins ausgehen, in den kommenden Jahren Teile ihrer Pro-
Ausland im Vergleich zur eigenen Herstellung sowie die duktion zurück ins Inland zu verlagern, da eine (poten-
Just-in-time-Produktion gegenüber Lagerhaltung neu zielle) Störung globaler Lieferketten ein signifikantes
bewerten. Risiko für ihre Geschäftstätigkeit bedeuten würde (Kin-
kel 2019). Deutschlands wichtigste Industriebranchen,
Schwarze Schwäne – Fragilität globaler Lieferketten wie die Automobilindustrie oder der Maschinenbau,
sind aufgrund ihrer komplexen Lieferketten besonders
Externe Schocks können die fragilen globalen Wert- von exogenen Schocks gefährdet. Die deutsche Wirt-
schöpfungsnetzwerke massiv beeinträchtigen. So schaft ist aber auf offene Märkte angewiesen: Jeder
kam es im Zuge der Finanz- und Wirtschaftskrise vierte Arbeitsplatz in Deutschland und jeder zweite
2008/2009 durch die Finanzierungsengpässe zu Arbeitsplatz in der Industrie hängt vom Export ab (DIHK
Brüchen in den globalen Lieferketten und infolge- 2020). Die Volatilität offener Märkte wird stark von der
dessen zu einem „Bottleneck“ bei Zulieferteilen (Fuchs Art des Schocks beeinflusst. Schocks sektoraler Natur,
2011). Mit der internationalen Finanzkrise endete der also branchenspezifische Ereignisse, führen zu einer

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höheren makroökonomischen Volatilität. Demgegen- In der zweiten Phase kam es mit der weltweiten Ver-
über sind liberale internationale Handelsbeziehungen breitung des Virus sukzessive zu weiteren Produktions-
weniger anfällig gegenüber länderspezifischen Schocks, stopps in vielen Ländern entlang der Lieferketten. Das
die sich in der Regel auf einen Währungsraum beschrän- führte wiederum zu Lieferengpässen von Zwischen-
ken. Hier verleiht der internationale Handel eine Art produkten in Ländern, in denen noch oder schon wie-
„Versicherungsfunktion“ (Felbermayr/Görg 2020). der produziert wurde. Durch die einsetzende Rezessi-
on und die damit verbundenen Einkommenseinbußen
Covid-19 – Produktionsstopps und Lieferengpässe ging außerdem die Nachfrage nach Konsumgütern
zurück. Zusätzlich wurde die Nachfrage nach Investi-
2020 testet die Corona-Pandemie die Belastbarkeit tionsgütern gedämpft, weil Unternehmen aufgrund der
der globalen Wertschöpfungsketten. 2019 kamen etwa Produktionsstopps, Umsatzeinbußen und zunehmen-
10 Prozent aller importierten Vorleistungen der deut- der Unsicherheit Investitionen vorübergehend zurück-
schen Industrie aus China. Die „Werkbank“ China ist ein stellten. Durch eine analoge Entwicklung bei weiteren
bedeutender Abnehmer von global gewonnenen Roh- Knotenpunkten des Welthandels entsteht eine Ab-
stoffen und Zwischenprodukten, Produzent verschie- wärtsspirale in den globalen Wertschöpfungsketten,
dener Produkte und Komponenten und damit Knoten- die weltweit erhebliche wirtschaftliche Schäden ver-
punkt vieler globaler Wertschöpfungsnetzwerke. Der ursacht. Die Corona-Pandemie ist ein systemischer
Ausbruch der Corona-Pandemie führte landesweit zu Schock, der alle Länder und Branchen (in unterschied-
krankheitsbedingtem Fernbleiben von Arbeitskräften, lichem Maße) betrifft. Die WTO prognostiziert, dass der
Schließungen von Betrieben und strengen wirtschaft- Welthandel 2020 um rund ein Drittel geringer ausfallen
lichen Einschränkungen. In dieser ersten Phase der wird als ohne die Krise (Abb. 06). Darüber hinaus hat
Krise brach die Industrieproduktion in China stärker die Pandemie das protektionistische Klima verschärft
ein als beispielsweise während des SARS-Ausbruchs und Stimmen nach einer Verkürzung der Lieferketten
2002/2003 oder der Finanzkrise (Görg/Mösle 2020). und eine größere Selbstversorgung laut(er) werden
Kurz darauf folgte ein starker Rückgang der internatio- lassen.
nalen Handelsströme.

Abb. 06
Welthandel unter Corona
Index, 2015 = 100
Welthandel Optimistisches Szenario Pessimistisches Szenario Trend

140

Trend 2011 bis 2019


120

100

80

60

Trend 1990 bis 2008 Prognose

40
2000 2019 2022

Quelle(n): WTO, IWF 2020

16 FOCUS 35
Logistik- und
Produktionsimmobilien
in einer sich wandelnden
Handelswelt

Die Unsicherheiten im Kontext des zunehmend protektionistischen


Umfelds und der erhöhten Frequenz exogener Schocks veranlassen
immer mehr weltweit agierende Unternehmen, sich wieder stärker auf
bekanntes Terrain zurückzuziehen. Teile der Wertschöpfung werden
partiell wieder in die Heimatländer zurückverlagert. Die Geschwin-
digkeit der Globalisierung bremst ab und der Produktionsstandort
Deutschland erlebt eine Renaissance. Diese Neuordnung der globalen
Wertschöpfung wird nicht zuletzt auch die weitere Entwicklung deut-
scher Logistik- und Fertigungsstandorte prägen.
17
Rekonfiguration der globalen Wertschöpfungs- und von Einzelstücken zu den Kosten der Serienfertigung)
Lieferketten durch den Einsatz von Digitalisierungstechnologien er-
höhen grundlegend wieder die Attraktivität westlicher
Hatte die großflächige Verlagerung industrieller Fer- Industrieländer als Produktionsstandort.
tigungskapazitäten ins Ausland in den 1990er Jahren
noch eine Blütephase erreicht, flacht dieser Trend in Nicht nur die neuen Möglichkeiten der Digitalisierung
den letzten zehn bis zwanzig Jahren wieder ab. Obwohl könnten die Landkarte weltweiter Produktionsstand-
die Auslandsverlagerung (Offshoring) noch lange kein orte neu vermessen. Auch die wachsenden globalen
Auslaufmodell ist, hat sich in der deutschen Industrie Unsicherheiten mit einer zunehmenden Frequenz exo-
eine Gegenbewegung zurück ins Heimatland (Resho- gener Schocks führen dazu, dass weltumspannende
ring) oder zumindest ins nähere europäische Ausland Lieferketten sich eher wieder in regionale Pole umor-
(Nearshoring) herausgebildet. Rückverlagerungen ganisieren könnten. Pandemien wie Sars oder Corona,
von Produktion und Fertigung aus dem Ausland neh- Naturkatastrophen wie Fukushima oder die globale
men relativ zu Produktionsverlagerungen ins Ausland Finanzmarktkrise haben wie unter einem Brennglas
zu. Auf jeden dritten Verlagerer ins Ausland kommt ein verdeutlicht, wie brüchig hochkomplexe weltumspan-
Rückverlagerer ins Heimatland Deutschland (Kinkel nende Lieferketten sein können. Zwar ist es unmöglich,
2019). Die Motive für die Rückorientierung liegen v. a. in sich auf all diese „schwarzen Schwäne“ vorzubereiten.
Einbußen bei der Flexibilität und Lieferfähigkeit sowie Aber sehr wohl gilt es zukünftig aus den Krisen zu lernen
in Qualitätsproblemen begründet (Abb. 07). Generell und die Wirtschaft robuster, resilienter und „antifragi-
lässt sich bei denjenigen Unternehmen eine höhere ler“ aufzustellen. Viele Unternehmen werden daher zu-
Rückverlagerungsneigung festhalten, die Technologien künftig stärker darauf achten, ihre Versorgung mit Vor-
der Industrie 4.0 nutzen und keine standardisierten leistungen nicht nur unter Effizienzaspekten zu planen,
Produkte anbieten (Bailey et al 2018). Höhere Auto- sondern Risikoaspekte stärker zu gewichten (Zhenwei
matisierungspotenziale und verbesserte Fähigkeiten et al 2020). So könnte die steigende Unsicherheit in
zur individualisierten, flexiblen Produktion (Fertigung Folge der Corona-Krise – Kilic und Marin (2020) er-

18 FOCUS 35
Abb. 07
Motive für Rückverlagerung aus dem Ausland
Nennungen der befragten Betriebe des verarbeitenden Gewerbes in %

Flexibilität, Lieferfähigkeit 56%

Qualität 52%

Kapazitätsauslastung 33%

Transportkosten 31%

Koordination 27%

Infrastruktur 15%

Personalkosten 11%

Know-how-Verlust 6%

Nähe zu heimischer F&E 5%

0%

Quelle: Kinkel und Jäger 2017

warten basierend auf historischen Datenanalysen licher sowie technologischer Sicht für strategisch un-
eine Steigerung um 300 Prozent – die globale Liefer- verzichtbar gehalten werden oder die Versorgung mit
kettenaktivität um 35 Prozent verringern. Schon in lebenswichtigen Gütern betreffen. Gerade die Pharma-
den ersten Monaten der Corona-Einschränkungen industrie zeigt derzeit deutliche Abhängigkeiten von
waren laut einer Umfrage rd. 86 Prozent der befragten einzelnen ausländischen Handelspartnern. So stammte
weltweit aktiven Unternehmen mit Lieferengpässen 2019 fast jede dritte Tonne der pharmazeutischen
konfrontiert und erwarten für die Zukunft, dass die Grundstoffe für die deutsche Industrie aus China
Auswirkungen von Engpässen gravierender werden (Joachimsen 2020). In der Post-Corona-Welt erwarten
(Inverto 2020). Diese wachsenden Herausforderungen nun einige Experten den Aufbau einer neuen Phar-
der Produktion in weltweiten Wertschöpfungsketten maproduktion, die stärker auf Autarkie sowie lokale,
könnten in einigen Branchen/Sektoren eine Rückbe- regionale und nationale Produktionsketten statt „ge-
sinnung auf heimische oder stärker regional orientierte streckter“ Globalisierung setzt.
Produktion und/oder eine ausreichende Lagerhaltung
einleiten.
»Others believe that COVID-19
Die Lieferengpässe in der Corona-Krise haben paral- has become a wake-up call for a
lel auch die politischen Debatten darüber angestoßen,
unter dem Aspekt der nationalen Sicherheit weltum-
new balance between risk and
spannende Produktionsnetzwerke zu reduzieren und reward for GVCs, as pandemics,
die Produktion wieder stärker zurück in die Industrie-
länder zu verlagern. Viele Staaten stellen in der Corona-
climate change, natural disasters
Krise ihr eigenes Wohlergehen in den Vordergrund, and manmade crises may ex-
wodurch der Protektionismus zunimmt (World Invest-
ment Report 2020). Die Forderungen kaprizieren
pose the world to more frequent
sich dabei vor allem auf Industrien, die aus wirtschaft- crises.« Zhenwei et al. 2020

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20 FOCUS 35
Zwar besteht unter Ökonomen Konsens darüber, dass keit reduziert werden. Diese Entwicklung kann wiede-
nicht von einem branchenübergreifenden radika- rum die Wettbewerbsfähigkeit der nationalen und EU-
len Trend zur Deglobalisierung auszugehen ist (Egger weiten Zulieferer steigern.
und Görg/Mösle 2020). Denn eine vollständige Rück-
verlagerung der Lieferketten ins eigene Land birgt Auch die Bestandshaltung wird, angestoßen durch die
vor allem Risiken einer höheren Exposition gegen- Corona-Krise, wohl neu überdacht werden. Just-in-
über regionalen Schocks und geht einher mit Effizienz- Time gilt als ideale Strategie für ruhige Zeiten, baut
verlusten. Und der Druck, Kosten zu optimieren, dürfte aber auf stabilen Prozessen in Lieferung, Produktion
sich durch die Corona-Krise für viele Unternehmen und Absatz auf und kann plötzlich gestiegene Unsicher-
eher noch verstärken. Aber es ist zu erwarten, dass heiten nicht abfedern. So kam es in der europäischen
sich insbesondere in Sektoren, die stark von globalen Automobilindustrie in der Krise durch die vorherr-
Wertschöpfungsketten abhängen und in der Produkti- schende Just-in-time Mentalität zu massiven Liefer-
on auf Roboter zurückgreifen können, wie zum Beispiel engpässen bis hin zum Produktionsstillstand und
die Auto- und Transportzulieferer sowie die Elektro-, Werksschließungen. Daher sind neue krisenfeste Lo-
Chemie- und Textilindustrie, der Trend zum Reshoring gistik- und Bestandsstrategien, die eine geringere
weiter verfestigen wird. Genauso wahrscheinlich ist es, Abhängigkeit der Warenverfügbarkeit ermöglichen,
dass sich systemrelevante Branchen nicht mehr so künftig gefragt. Dabei wird wohl auch die Abhängig-
stark wie bislang von Drittländern abhängig machen keit zu Single Lieferanten abgebaut werden. Mit der
und daher mehr Waren lokal produzieren und auch be- weiteren Diversifizierung der Bezugsquellen von Vor-
vorraten werden. Durch die immer geringer werdenden und Zwischenprodukten sowie der Erhöhung lokaler
Lohnunterschiede zwischen (Ost-) Europa und dem Sicherheitsbestände, sieht man sich eher in der Lage,
asiatischen Raum können künftig mehr lokale Struktu- die Auswirkungen kommender „Schwarzer-Schwan-
ren entstehen, die Produktionen für den europäischen Ereignisse“ besser zu steuern und abzufedern.
Bedarf in Osteuropa ermöglichen. Ein vollständiges
Abreißen der globalen Lieferketten ist allerdings auch
in diesen Bereichen unwahrscheinlich.

Neben der Relokalisierung von Produktionsstandorten


und der Teilverlagerung von Lieferketten wird außer-
dem eine stärkere Diversifizierung der Lieferketten
erwartet. Um die Abhängigkeit von nur einem oder
wenigen Importländern sowie von der exakten Einhal-
tung aller vereinbarten Details der Lieferbeziehungen
weiter zu reduzieren, bedarf es alternativer Lieferan-
ten. Unternehmen werden höchstwahrscheinlich ihre
Produkte zukünftig häufiger von mehreren Quellen
aus unterschiedlichen Regionen beziehen. Die Kom-
bination der Vorteile lokaler Lieferketten (Sicherheit,
kurze Beschaffungswege, engere Bindungsmöglich-
keiten) und globaler Märkte (niedrige Beschaffungs-
preise) wird unter dem Konzept der „Glokalisierung“
diskutiert. Durch diese sogenannten Dual- bzw. Multi-
Sourcing-Strategien mit sowohl inländischen als auch
internationalen bis globalen Lieferbeziehungen können
„Bottlenecks“ vermieden werden. Dabei wird die Ab-
hängigkeit zu Single Lieferanten abgebaut. Rund 80
Prozent von 250 befragten Entscheidern aus den
Bereichen Produktion, Logistik, Supply Chain Manage-
ment und Einkauf gaben in einer Umfrage an, dass es
künftig mehr Multiple Sourcing und Zusammenarbeit
mit europäischen Lieferanten geben wird (Abels &
Kemmner 2020). So können Risiken durch Störungen
innerhalb einzelner Lieferketten und damit verbundene
Lieferengpässe gestreut und die Schadensanfällig-

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Auswirkungen auf den Markt für Light Industrial — Transformationsimmobilien sind umgenutzte und
Immobilien revitalisierte Gewerbeliegenschaften auf Industriebra-
chen mit Nachverdichtungspotenzial, die häufig einen
Die Neuordnung der globalen Wertschöpfungsketten Campuscharakter aufweisen und in zentraler Lage in
durch (Teil-) Rückverlagerung von Produktionsstätten gut erschlossenen urbanen Gebieten zu finden sind.
und die Bedeutungszunahme einer sicheren Versor-
gung (durch Einführung von Pufferlagern, Multi-Sour- — Zu Produktionsimmobilien zählen vor allem Hal-
cing) wird deutliche Effekte für den Industrie- und lenobjekte für vielfältige Arten der Fertigung und mit
Logistikstandort Deutschland mit sich bringen. Viele moderatem Büroanteil, die – je nach Lage – grund-
Aspekte sprechen dabei für eine nachhaltig hohe Flä- sätzlich auch für andere Nutzungen, wie Lagerung,
chennachfrage im Light Industrial Bereich. Darunter Forschung und Service oder Groß- und Einzelhandel,
versteht man Objekte, die erstens zum Lagern, Kom- einsetzbar sind.
missionieren und Distribuieren von Wirtschaftsgütern
genutzt werden oder zweitens „leicht industriell“ (ohne — Gewerbeparks sind zusammenhängende Gebäude-
nennenswerte Emissionen oder sonstige umwelt- ensembles mit gemeinsamer Infrastruktur und zentra-
belastende Herstellungsprozesse) geprägt sind und lem Management, die für Mischnutzungen konzipiert
nahe an der Herstellung und Fertigung liegen. Dazu wurden und meist in zentralen Lagen mit guter städti-
zählen gemischt genutzte Gewerbeobjekte mit Büro-, scher Anbindung lokalisiert sind.
Lager-, Fertigungs-, Forschungs-, Service- und/oder
Großhandelsflächen mit typischerweise mittelständi- — Unter Lagerimmobilien sind vorwiegend Bestands-
scher Mieterstruktur. Angelehnt an die Initiative Unter- objekte mit einfachen Lagermöglichkeiten, teilwei-
nehmensimmobilien unterteilt sich das Light Industrial se Serviceflächen und anteiligen Büroflächen zu
Segment in fünf Teilbereiche: verstehen, die durch Nachrüstung auch für höher-
wertige Nutzungen geeignet sind und vorwiegend
innerhalb gewachsener Gewerbegebiete liegen.

22 FOCUS 35
Abb. 08
Investmentvolumen Light Industrial Immobilien 2015-2020 in Deutschland
Sonstige (Industrie) Unternehmensimmobilien
(Transformations-/ Produktionsimmobilien, Gewerbeparks)
Lager Logistikimmobilien

10.000

238
9.000

17
2.037
8.000

3.447
7.000 2.093 396

2.634
254
227

6.000
In Mio. Euro

1.821

425

345
5.000
296
308

4.000

197 1.146 2
3.000
4.357

4.439

6.631

5.123

5.055
2.000

2.531
1.000

0
2015 2016 2017 2018 2019 2020
1 HJ

Daten: Initiative Unternehmensimmobilien 2020

— Unter Logistikimmobilien versteht man Hallenflä- sich hauptsächlich Produktionsimmobilien in der


chen, die zum Lagern, Kommissionieren und Distribuie- Realisierung, die zumeist als Single-Tenant-Immobilien
ren von Wirtschaftsgütern genutzt werden. Grob lassen genutzt werden.
sich die Logistikimmobilien in Cityparks in innerstädti-
scher Lage, die der Versorgung der letzten Meile die- Entsprechend ist das Interesse der Investoren ge-
nen, und großflächige Logistikparks mit Einheiten ab stiegen und richtet sich innerhalb der Assetklasse vor
3.000 Quadratmetern im Umfeld von Ballungsräumen allem auf Logistikimmobilien, gefolgt von Unterneh-
unterteilen. mensimmobilien (Abb. 08). Unter den Unternehmens-
immobilien sind Gewerbeparks mit knapp 1,2 Mrd. Euro
2019 erreichte das Investmentvolumen im Segment Transaktionsumsatz bei Investoren am begehrtesten.
Light Industrial mit über 9 Milliarden Euro eine neue Aus Investorensicht sorgt deren Flexibilität und He-
Rekordmarke. Die zunehmende Beliebtheit dieses Im- terogenität zwar für einen im Vergleich zu Single-Use-
mobilientyps liegt vor allem in der Mieterstruktur und Objekten höheren Managementaufwand, allerdings ist
der variablen Nutzungsmischung begründet. Zu den auch das Leerstandsrisiko geringer und die Verweil-
wichtigsten Mietern zählen nicht nur die Logistik- bzw. dauer der Mieter hoch.
Transportdienstleister, sondern die Nachfrage wird zu
jeweils rund einem Drittel aus Industrie, Handel und Light Industrial Immobilien weisen in der Regel lang-
Logistik gespeist. All diese Branchen zeigten in den fristige Mietverträge mit stabilen Cashflows auf. Die
letzten Jahren eine positive Beschäftigungsentwick- Vielzahl von Nutzern aus unterschiedlichen Branchen
lung, die sich auch auf dem Vermietungsmarkt in reduziert auch gerade in Krisenzeiten das Mietaus-
Gestalt steigender Flächennachfrage und Mieten fall- oder Leerstandsrisiko gegenüber anderen Asset-
widerspiegelte. Trotzdem ist die Objekt-Pipeline in den klassen wie Einzelhandels-, Hotel- oder Betreiber- und
letzten Halbjahren tendenziell rückläufig bzw. stagniert. Spezialimmobilien mit einheitlicher Nutzung und oft
Auch in den kommenden Jahren wird man wohl nicht nur einem Mieter. Die hohe Nutzungsreversibilität von
mit einer Entlastung rechnen können. Derzeit befinden Light Industrial Immobilien ermöglicht eine rasche

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Anteil der institutionellen Anleger, die in Logistikimmobilien
investieren wollen:

8,0 %
2019

17,4 %
2020

Quelle: Universal Investment 2020

24 FOCUS 35
Anpassung an sich wandelnde Rahmenbedingungen, den Störungen der globalen Lieferketten waren Auto-
wie eine veränderte Flächennachfrage, die Berück- mobilhersteller von den Auswirkungen der Corona-
sichtigung individueller Anforderungen oder die Inte- Krise kurzfristig besonders betroffen. Kürzere Liefer-
gration technischer Neuerungen. Gleichzeitig machen wege und alternative Lieferanten werden als gangbare
es die modernen Intralogistiktechnologien, Robotik Lösungen betrachtet, die die Wettbewerbsfähigkeit
und fahrerlose Transportsysteme Unternehmen mög- der Automobilindustrie auch in Zukunft sicherstel-
lich, ihre Flächen flexibler und skalierbarer zu nutzen. len sollen. Experten erwarten zudem einen Rückgang
Die Produktionsfläche muss nicht wie früher um die des sogenannten „Teiletourismus“ (das Hin- und Her-
Technik herum gebaut werden, vielmehr kann die Auto- senden von Komponenten für einzelne Produktions-
matisierung an die Halle angepasst werden. Dadurch schritte zwischen mehreren Ländern), der durch die
können Light Industrial Flächen in der Regel ohne um- Klimaschutzdebatte als „grüner Schwan“ zunehmend
fangreiche Anpassungen an neue Nutzer weiterver- in Frage gestellt wird.
mietet werden (IZ 2020).
Im Einzelhandel wiederum sorgten die Ladenschließun-
Vom hohen Marktpotenzial des Light Industrial Seg- gen und die kurzfristig drastisch gesunkene Nach-
ments mit einem geschätzten Marktwert von deutlich frage etwa für eine erhöhte Auslastung der Warenla-
über einer Billion Euro in Deutschland kam bislang al- ger. Gleichzeitig kam es im Lebensmitteleinzelhandel
lerdings nur ein kleiner Teil im Immobilieninvestment- und Medizinbereich zu einem sprunghaften Anstieg
markt an (Initiative Unternehmensimmobilien 2020). der Nachfrage nach Lagerflächen. Der steigende
Die Eigennutzerquote in diesem Segment liegt aktuell Umsatzanteil des E-Commerce am Handelsgeschäft
noch bei über 90 Prozent, jedoch gewinnen Mietlösun- wurde durch die Pandemie weiter beschleunigt. Ex-
gen zunehmend an Bedeutung. 2019 wurden Objekte perten zufolge wird die Nachfrage aus dem elektro-
mit einem Gesamtvolumen von rd. 530 Mio. Euro von nischen Handel und der Pharmaindustrie langfristig
Eigennutzern veräußert, 60 Prozent mehr als im Mittel hoch bleiben, denn diversifizierte und damit weniger
der vergangenen Jahre. Die Corona-Krise beschleu- krisenanfällige Produktionskapazitäten in diesen Be-
nigt diese Entwicklung. Denn bei vielen Unternehmen reichen haben Systemrelevanz und sind mittlerweile
steigt die Bereitschaft, eigene Büros, Produktions- und ein Politikum. Aufgrund ihrer Robustheit dürften diese
Lagerhallen zu verkaufen und zurückzumieten, um Nutzungsarten auch langfristig einen größeren Anteil
dringend benötigtes Kapital freizusetzen (IZ 2020). in den Beständen und Ankaufsprofilen vieler Investo-
Das eröffnet Marktchancen für die Investoren. Nicht ren einnehmen. Denn trotz Corona-Krise gab es fast
zuletzt sind mit Sale-and-lease-back-Verfahren nicht keine Portfolioausfälle bei Logistikfonds (IZ/Realogis
selten steigende Flächeneffizienzen und Nachverdich- 2020). Und nicht nur die Industrie setzt in Zukunft ver-
tungspotenziale für den Investoren verbunden. stärkt auf Diversifizierung. Auch Investoren setzen ihr
Kapital zunehmend breiter gefächert ein und erwei-
Höhere Krisenresilienz im Light Industrial Bereich tern ihr Suchprofil mit bislang überwiegend oder aus-
schließlich Büro-, Hotel- und/oder Handelsimmobilien
Dass Light Industrial Nutzungen insgesamt eine relativ um Logistik- und Fertigungsnutzungen. Entsprechend
stabile Nachfrage aufweisen und auch in Krisenzeiten ist davon auszugehen, dass die Nachfrage nach Light
vergleichsweise resilient sind, bestätigen die Entwick- Industrial Immobilien hoch bleiben oder sogar weiter
lungen der letzten Monate. Durch die Corona-Krise steigen wird.
gewannen einige Teilbranchen an Bedeutung, andere
schwächelten vorübergehend, sodass sich die nega- Dazu wird auch der Trend der Slowbalisation beitragen,
tiven und positiven Auswirkungen auf die Flächen- der durch die Corona-Krise nochmal deutlich an Fahrt
nachfrage insgesamt kompensierten (so genannter gewonnen hat. Durch die Rückverlagerung von Fer-
K-Effekt) (IZ/CBRE 2020). So entfielen in der Logistik- tigung und Produktion nach Deutschland und Europa
branche 2019 etwa 28 Prozent des Flächenumsatzes werden zunächst einmal mehr Produktionsimmobilien
auf Nutzer aus dem Bereich Produktion und Fertigung, und Logistikflächen benötigt. Die bereits vor Jahren
die durch die Corona-Krise vor große Herausforde- einsetzende Tendenz zum Re- bzw. Nearshoring führt
rungen gestellt wurden. Etablierte Logistikmärkte, wie auch dazu, dass weniger Umschlaghallen entlang der
beispielsweise Stuttgart, München und Leipzig, hän- globalen Wertschöpfungskette, dafür aber mehr Lager-
gen stark von der Entwicklung der Automobilindustrie hallen in Deutschland und Europa (insbesondere in
ab. Diese durchläuft aktuell weitreichende strukturel- Osteuropa) erforderlich werden (Savills 2020). Diese
le Veränderungen. Durch die große Abhängigkeit der Entwicklung dürfte sich durch die Krise verstärken und
Branche vom Importland China und die weitreichen- die benötigten Logistik- und Lagerflächen nachziehen.

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Auch der zu erwartende Rückgang von Just-in-Time- Während beispielsweise großflächige Logistikparks
Lieferungen und die Tendenz zu mehr Sicherheits- der ersten Meile meist auf der grünen Wiese in der
beständen kurbelt die Lager- und Hallenflächennach- Nähe der Beschaffungs- oder Absatzmärkte angesie-
frage zusätzlich an. Denn wer seine Abhängigkeit von delt sind und in der Regel über eine gute Anbindung an
den globalen Lieferwegen reduzieren will, hat im Grun- das Fernstraßennetz verfügen, müssen Lagerflächen/
de nur zwei Möglichkeiten: mehr lokale Produktion oder Cityparks der letzten Meile in Form von Lieferzentren,
höhere Vorratshaltung (Pufferlager) bei essentiellen Hubs und kleineren Abholpunkten näher in die Innen-
Produkten mit Versorgungscharakter oder für heimi- städte vorrücken, um das stark wachsende Paketvolu-
sche Industrien (Pharma, Automotive, Maschinenbau men bei zugleich immer kürzeren Lieferzeiten (Stich-
etc.). Beide Optionen werden die Nachfrage nach Light wort „same hour delivery“) bewältigen zu können. Als
Industrial Flächen befeuern. Folge des auch zukünftig erwarteten, weiter steigen-
den Paketsendungsvolumens wird hier insbesondere
Räumliche Muster und Trends für den KEP-Sektor (Kurier-Express-Paket-Dienst)
und den E-Commerce weiter eine hohe Nachfrage-
Die Rekonfiguration der globalen Wertschöpfungs- kraft nach kleinteiligen, dezentralen Objekten als in-
und Lieferketten begünstigt nicht nur eine höhe- nerstädtische Verteilzentren mit einem schnellen Zu-
re Attraktivität des Light Industrials Segments in gang zu den bevölkerungsstarken Gebieten erwartet.
Deutschland insgesamt. Regional schlagen sich die Städtische Räume könnten darüber hinaus mit dem
strukturellen Veränderungen, beschleunigt durch die Trend zur digitalisierten, auf Industrie 4.0 ausgerich-
Corona-Krise, unterschiedlich nieder. Für Light Indus- teten Warenproduktion maßgebliche neue Impulse er-
trial Immobilien ist nach wie vor der Faktor Lage (Lage, fahren, wie das aktuell gerne verwendete Schlagwort
Lage) ausschlaggebend. Der optimale Standort ergibt der Urbanen Produktion verdeutlicht. Kennzeichnend
sich dabei aus einer Vielzahl an Parametern, wie einem dafür ist eine schadstoffarme und emissionsfreie
leistungsfähigen Daten-, Energie- und Verkehrsnetz, individuelle Produktion in kleinen Losgrößen unter
einem schnellen Zugang zu Absatzmärkten oder einer hohem Kundeneinbezug. Das typische Standort-
guten Verfügbarkeit gut ausgebildeter Arbeitskräfte. muster umfasst konsumnahe digitale Innovationen in
Entsprechend liegen die räumlichen Schwerpunkte der City, kreative Handwerksbetriebe, Manufakturen
der Fertigung, Logistik und Warenlagerung entlang der und Start-ups in sonstigen innerstädtischen Lagen,
ökonomischen Kernzonen. Dies lässt sich auf europäi- High-Tech-Distrikte vor allem im randstädtischen
scher Ebene deutlich am räumlichen Konstrukt der so- Raum sowie industrielle Fabrikproduktion, die eher
genannten „blauen Banane“ erkennen, in der sich von im Randbereich städtischer Agglomerationen ange-
Norditalien über Süd- und Westdeutschland und die siedelt ist. Mit den Standards der Industrie 4.0 geht
niederländische Randstadt bis nach London wichtige grundsätzlich eine sehr enge Verzahnung von Pro-
Produktions- und Logistikhubs aneinanderreihen. Mit duktion, Logistik, Büro und Service einher. Entspre-
dem Fokus auf Deutschland trifft das vor allem auf chend ist davon auszugehen, dass die Nachfrage nach
die Regionen Stuttgart, Rhein-Neckar, Rhein-Main, Transformationsimmobilien und Gewerbeparks in
Rhein-Ruhr zu, die mit ihrer Nähe zu Ballungsräumen urbanen Räumen langfristig hoch bleiben wird. Auch
und ihrer Verkehrsinfrastruktur optimale Bedingungen Lager- und Logistikflächen in städtischen Arealen
für Light Industrial Immobilien bieten (Karte 01). sind gerade im Zuge des wachsenden E-Commerce
äußerst gefragt, um näher an den Kunden zu rücken
Generell dürfte die zu erwartende stärkere Diversi- und immer kürzere Lieferzeiten zu garantieren.
fizierung der Lieferketten (Glokalisierung) und die
Erhöhung der Anzahl von Zulieferern (Multisourcing) Allerdings sind Freiflächen in vielen Verdichtungs-
zu einer steigenden Nachfrage nach intermodalen räumen stark verknappt, da sie hier mit Büro- und
Standorten führen, sodass insbesondere Standorte im Wohnobjekten konkurrieren und die Bodenpreise in
Umfeld von Güterverkehrszentren (Terminals für den der Regel sehr teuer sind. Dazu kommen hohe und
Kombinierten Verkehr) und wichtigen Transportkorri- zunehmende Auflagen bezüglich des Lärmschutzes,
doren weiter an Bedeutung gewinnen. Ferner dürften der Verkehrsbelastung und des täglichen Flächenver-
Standorte in Metropolregionen von einer Neuordnung brauchs (Stichwort Flächenverbrauchsziel „Netto-Null“
der Wertschöpfungs- und Lieferketten profitieren, bis 2050). Brownfield-Entwicklungen, d.h. Konversion
wenn auf die räumliche Nähe von Einkaufs-, Produk- und Nutzung ehemaliger gewerblich genutzter Flä-
tions- und Absatzmärkten gesetzt wird (Local-for- chen, werden in diesem Kontext immer wichtiger. Eine
Local-Sourcing). Lösung für die wachsende City-Logistik könnten mit-
telfristig auch zum Beispiel Baumärkte bieten. Zwar

26 FOCUS 35
Karte 01:
Erreichbarkeit von Großstädten

Erreichbarkeit von Großstädten innerhalb


von 90 Minuten LKW-Fahrzeit
Autobahn

Quelle: BSSR

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Karte 02:
Räumliche Schwerpunkte für Light Industrial Immobilien

Quantum Light Industrial


Scoring 2020

Score (max. 100 Pkt.)

≥ 90,0

≥ 80,0

≥ 70,0

≥ 60,0
≥ 50,0
≥ 40,0
≥ 30,0

Logistikregionen

Quelle: bulwiengesa, Quantum Research 2020

28 FOCUS 35
profitieren diese derzeit als eine der wenigen Bran- intensität, eine gute Erreichbarkeit und ein attraktives
chen von der Corona-Pandemie. Jedoch befindet Absatzgebiet verfügen. Die polyzentrische Struktur
sich die Branche in einem strukturellen Umbruch. Der Deutschlands und die heterogene Verteilung von Be-
große Verdrängungswettbewerb und die Tendenz zum völkerung und Wirtschaftskraft bedingen, dass jeder
Onlinehandel machen viele Baumarktflächen über- Standort eine unterschiedliche Prägung erhält und
flüssig und geben diese frei für neue Nutzungen. Und die Zielgruppen von Standort zu Standort variieren.
auch neue Flächenkonzepte, wie zweistöckige Lager- So lassen sich regionsspezifisch gewisse Branchen-
immobilien, könnten für die städtische Logistik auf der schwerpunkte feststellen, die unterschiedliche An-
letzten Meile an Bedeutung gewinnen (IZ/GLP 2020). forderungen an die Immobilien und Standorte stellen.
Insgesamt dürfte die städtische Logistik damit wieder Häufig sind diese durch lokale Schwerpunktbranchen
mehr Akzeptanz gewinnen und die Flächennachfrage (z.B. Automobilindustrie) geprägt. Die Spitzenregion
in diesen Märkten weiter steigen. Rhein-Main/Frankfurt kennzeichnet etwa eine star-
ken Chemie- und Pharmabranche und vor allem eine
Light Industrial Schwerpunkte in Deutschland hohe Zentralität mit einem der leistungsfähigsten
Straßen-, Schienen-, Wasserstraßen- und Luftraum-
Bei der Identifizierung zukünftig attraktiver Light netze in ganz Kontinentaleuropa. Hamburg wiederum
Industrial Investmentstandorte sind verschiedene In- zählt aufgrund des Hafens sowie der hervorragen-
dikatoren ausschlaggebend. Der Trend zur Rückver- den Anbindung an das Straßen- und Schienennetz zu
lagerung von Vorproduktion nach Deutschland in die den so genannten Gateway Logistikregionen. Ebenso
Nähe der Endproduktionsstätten und Verbraucher punkten stärker industrie- und produktionsgetrie-
rückt vor allem Räume mit einer hohen Dichte an Ein- bene Light Industrial Standorte wie Köln, München
wohnern und Unternehmen des verarbeitenden Ge- oder Stuttgart mit leistungsstarken Unternehmen im
werbes in den Fokus. Grundlage für die Abschätzung Bereich Automotive, Chemie, Elektronik und Maschi-
der regionalen Nachfrage nach Light Industrial Flächen nenbau. In Ballungsraum Berlin wiederum sind infolge
sind damit einerseits die SVP-Beschäftigten aus dem der geografischen Lage sowie der stetig wachsenden
Wirtschaftszweig der Logistik, die Anzahl der Unter- Einwohnerzahl zahlreiche Akteure aus dem Stückgut-
nehmen im verarbeitenden Gewerbe und Handel, die verkehr sowie Kurier-, Express und Paketdienstleister
Lager-, Fertigungs- und Logistikflächen benötigen, aktiv und fragen Flächen nach. Aufgrund der zentralen
sowie die jeweiligen regionalen Zukunftschancen und geografischen Lage innerhalb Europas, der Nähe zu
-risiken. Anderseits gilt es auch die Anzahl der Einwoh- den Niederlanden und der hohen Bevölkerungsdich-
ner im Verdichtungsraum und die Einwohner-Arbeits- te zählen nicht zuletzt auch Duisburg oder Essen im
platz-Dichte zu berücksichtigen. Um die Lieferketten Rhein-Ruhr-Bereich zu den wichtigsten Knotenpunk-
zukünftig zu stabilisieren, zeichnet sich schließlich eine te für den internationalen Warenverkehr. In der aktu-
Erhöhung der Anzahl von Zulieferern (Multisourcing) ellen Wirtschaftslage im Kontext der Corona-Krise
und ein höherer Bedarf an Pufferlagern ab. Damit ge- profitieren vor allem die Standorte mit Fokus auf die
winnen die Erreichbarkeiten von KV-Terminals und Au- Ballungsraumversorgung sowie die Standorte mit ho-
tobahnen eine zunehmende Relevanz für die Zukunfts- her Zentralität aufgrund der erhöhten Ansprüche an
fähigkeit der Light Industrial Standorte (Karte 02). die Versorgungssicherheit mit Gütern des täglichen
Bedarfs. Regionen, bei denen Maschinen- und Fahr-
Insgesamt wurden im Quantum Light Industrial zeugbau und damit auch entsprechend die logistische
Scoring 16 Hotspots identifiziert, die über eine über- Ver- und Entsorgung dieser Industrien im Vordergrund
durchschnittliche Nachfrage nach Light Industrial steht, werden hingegen eher negativ von den Pandemie-
Immobilien, eine hohe Produktions- oder Logistik- Auswirkungen betroffen sein.

L O G I S T I K- U N D P R O D U K T I O N S I M M O B I L I E N I N E I N E R S I C H W A N D E L N D E N H A N D E L S W E LT 29
Kurz & knapp

30 FOCUS 35
Die zunehmend globale Verflechtung der industriellen von Produktionsverlagerungen ins Ausland wieder neu
Produktion war in den vergangenen 30 Jahren einer bewertet werden.
der dominierenden Faktoren, der die Entwicklung der
Weltwirtschaft geprägt hat. Nach wie vor gibt es nur Diese Rekonfiguration der weltweiten Wertschöp-
wenige Volkswirtschaften, die so stark in globale Wert- fungsketten wird in Deutschland deutliche Effekte auf
schöpfungsketten eingebunden sind wie Deutschland. die Flächennachfrage im Light Industrial Bereich ha-
Doch die Geschwindigkeit der Globalisierung hat sich ben. Darunter versteht man Objekte, die erstens zum
nach der globalen Finanzkrise verlangsamt. Obwohl Lagern, Kommissionieren und Distribuieren von Wirt-
die Verlagerung von Vorprodukten ins Ausland (Off- schaftsgütern genutzt werden oder zweitens „leicht in-
shoring) noch lange kein Auslaufmodell ist, bildet sich dustriell“ (ohne nennenswerte Emissionen oder sons-
auch in der deutschen Industrie eine Gegenbewegung tige umweltbelastende Herstellungsprozesse) geprägt
zurück ins Heimatland (Reshoring) oder zumindest ins sind und nahe an der Herstellung und Fertigung liegen.
nähere europäische Ausland (Nearshoring) heraus. Denn durch die Zunahme von Re- und Near-Shoring
Unternehmen setzen zunehmend auf die Ansiedlung sowie den steigenden Bedarf an Pufferlagern wächst
von Produktions- und Lagerstätten in der Nähe der auch der Bedarf an Logistikflächen und Produktions-
eigenen Kunden und Standorte. immobilien in den Kernbranchen Deutschlands und
Europas. Diese Entwicklung dürfte sich durch die
Dieser Trend zur so genannten Slowbalisation lässt Corona-Krise verstärken und die benötigten Logistik-
sich vor allem auf die stark steigenden ökonomischen und Lagerflächen nachziehen. Auch der zu erwarten-
Unsicherheiten in Zeiten wiedererstarkter protek- de Rückgang von Just-in-Time-Produktion und die
tionistischer Politiken und einer erhöhten Frequenz Tendenz zu mehr Sicherheitsbeständen kurbelt die
exogener Schocks zurückführen. So haben die Liefer- Lager- und Hallenflächennachfrage zusätzlich an.
engpässe in der Corona-Krise nicht nur bei Unter-
nehmen ein Umdenken angestoßen, sondern auch die In der aktuellen Wirtschaftslage profitieren aufgrund
politischen Debatten darüber verstärkt, unter dem der erhöhten Ansprüche an die Versorgungssicher-
Aspekt der nationalen Sicherheit weltumspannende heit mit Gütern des täglichen Bedarfs vor allem die
Produktionsnetzwerke zu reduzieren. Bei systemrele- Standorte, die auf die Versorgung der Ballungsräu-
vanten Produkten mit Versorgungscharakter oder für me ausgerichtet sind sowie die Standorte mit hoher
die heimische Industrie (Pharma, Automotive, Maschi- Zentralität. Regionsspezifisch können sich Branchen-
nenbau etc.) ist demnach in Zukunft eine höhere Vor- schwerpunkte mit unterschiedlichen Anforderungen
ratshaltung (Pufferlager) zu erwarten. Fragile Liefer- an Immobilien und Standorte herausbilden bzw. ver-
ketten sollen zudem durch eine Erhöhung der Anzahl stärken. In jedem Fall sind leistungsfähige Daten-,
und Diversifizierung der Zulieferer (Multisourcing) sta- Energie- und Verkehrsnetze, schnelle Zugänge zu at-
bilisiert werden. Zusätzlich zur Unsicherheit wirken traktiven Absatzmärkten und die Verfügbarkeit gut
auch die neuen Technologien der Industrie 4.0 inso- ausgebildeter Arbeitskräfte wichtige Lagefaktoren für
fern auf die Globalisierung bremsend, dass Kosten etablierte und zukünftige Light Industrial Standorte.

KURZ & KNAPP 31


Literaturtipps Disclaimer

BAILEY, D.; CORRADINI, C.; DE PROPRIS, L. (2018): Für die in dieser Publikation enthaltenen Daten und
‘Home-sourcing’ and closer value chains in mature Informationen wird trotz größtmöglicher Sorgfalt bei
economies: the case of Spanish manufacturing. der Auswahl und Recherche keine Haftung für die
Cambridge Journal of Economics 2018, 42, 1567–1584 Richtigkeit, Vollständigkeit, Zuverlässigkeit, Genauig­
keit, Aktualität oder Angemessenheit der Informa-
DEUTSCHE BANK (2020): Folgen des zunehmenden tionen und Einschätzungen übernommen. Wertent­
Protektionismus. Monatsbericht Januar 2020. wicklungen aus der Vergangenheit stellen keine
Garantie für zukünftige Entwicklungen dar. Soweit
FELBERMAYR, G.; GÖRG, H. (2020): Die Folgen von Aussagen in dieser Darstellung keine historischen
Covid-19 für die Globalisierung. Perspektiven der Fakten darstellen, handelt es sich um Erwartungen,
Wirtschaftspolitik Schätzungen und Prognosen. Daraus ergibt sich, dass
diese von den effektiven Ergebnissen der Zukunft
FLACH, L.; AICHELE, R.; BRAML, M. (2020): Status maßgeblich abweichen können. Der Newsletter dient
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