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1
„Ertragen können wir sie nicht. Martin Luther und die Juden“ Inhalt
Grußwort Ratsvorsitzender der EKD, Nikolaus Schneider 4
Begleitheft zur Ausstellung
Vorwort 4
Idee, Konzept und Redaktion: Hanna Lehming, Zentrum für Sola Scriptura – Solus Christus 43
Mission und Ökumene – Nordkirche weltweit Luther und die Juden – und wir? 46
2 3
Forderung der Reformatoren, die biblischen Schriften zu studieren und den christ-
lichen Glauben immer wieder neu im biblischen Wort zu begründen, dürfte heute so
Martin Luther aktuell sein wie damals. Erinnert sei aber auch an eine grundlegende Forderung zum
Umgang mit den „Anderen“, die Martin Luther erhob: „Sine vi, seb verbo“ – „Nicht
„wie könnte man ( . . . ) den Ketzern weh- mit Gewalt, sondern mit dem Wort“ solle ein Christ geistliche, theologische, religiöse
ren? Antwort: das sollen die Bischöfe tun, Auseinandersetzungen führen. Was für eine wichtige und hilfreiche Erinnerung im
denen ist solches Amt befohlen und nicht Zeitalter interreligiösen Zusammenlebens!
den Fürsten. Denn Ketzerei kann man
nimmermehr mit Gewalt abwehren. ( . . . ) Umso erschreckender ist es, zu erfahren, wie sich der Reformator selbst gegenüber
Gottes Wort soll hier streiten; wenn‘s das „Anderen“ und insbesondere gegenüber Juden verhalten und artikuliert hat. Die sie-
nicht ausrichtet, so wird‘s wohl unausge- ben „Empfehlungen“ zum Umgang mit den Juden, die Luther in seiner Schrift „Von
richtet bleiben von weltlicher Gewalt ( . . . ). den Juden und ihren Lügen“ abgibt, lesen sich wie eine Anstiftung zum Pogrom.
Ketzerei ist ein geistlich Ding, das kann man
Kann man die erklärte Judenfeindschaft, die sich in dieser und anderen Schriften
mit keinem Eisen zerhauen, mit keinem Feuer
Luthers ausdrückt, als „Entgleisung“ betrachten oder als zeitbedingt relativieren?
verbrennen, mit keinem Wasser ertränken.
Das scheint nicht möglich, ist es doch offensichtlich, dass Luther Zeit seines Le-
Es ist aber allein das Gotteswort da, das
tut‘s.“ bens davon ausging, dass das Judentum verblendet ist und einer Irrlehre anhängt.
So versucht er zu Beginn seines Wirkens noch, die Juden mit freundlicher Umwer-
enn
Von weltlicher Obrigkeit, 1523 bung „auf den rechten Weg“ zu bringen. Zum Ende seines Lebens aber fordert Lu-
Foto: C. W
ther geradezu zur Gewaltanwendung auf und benutzt eine derart unflätige Sprache,
dass selbst Zeitgenossen entsetzt sind ob solcher „schmutzigen Ausfälle“ (Heinrich
Bullinger, 1504-1575) gegen das Judentum.
Nikolaus Schneider
Wie passt nun der aggressiv antijüdische Luther zu dem Luther, der als Waffe des
Vorsitzender des Rats der
Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD)
geistigen Kampfes nur das Wort gelten lassen will? Wird Luther seinen eigenen Prin-
zipien untreu? Oder geht das antijüdische Moment in seiner Theologie doch tiefer?
„Das Reformationsjubiläum sollte Anlass Bezieht Luther gar aus der Konstruktion des schärfsten Gegensatzes zum Juden-
sein, uns kraft des reformatorischen Schrift- tum seine reformatorische Energie? Luthers Ansage, Christus allein solle die Richt-
verständnisses mit Luther von Luthers Bibel- schnur des Bibelverständnisses sein, war eine Kampfansage an seine Kirche. Wie
auslegung in seinen Judenschriften kann solches Schriftverständnis aber heute in einen fruchtbaren Dialog mit jüdischer
zu distanzieren.“ Schriftauslegung treten, die die Schrift anders liest und versteht?
Die Ausstellung „Ertragen können wir sie nicht – Martin Luther und die Juden“ will in-
formieren und zu einer umfassenden Auseinandersetzung anregen. Das Reformati-
onsjubiläum kann auf diese Weise einen Lernprozess befördern, der für das Zusam-
Martin Luthers Judenfeindschaft – menleben in einer globalisierten Welt unverzichtbar ist. „Denn wir sind Menschen
von Gott dem Allmächtigen auf der Erden zu wohnen geschaffen, bei euch und mit
eine notwendige Auseinandersetzung euch zu wohnen und zu handeln.“ (Josel von Rosheim, Sprecher der Judenschaft in
Im Jahr 2017 begehen die evangelischen Kirchen weltweit das 500. Jubiläum der Deutschland, 1530).
Reformation. Das Datum erinnert an den 31. Oktober 1517, als Martin Luther 95
Thesen gegen den Missbrauch des Ablasses in der damaligen katholischen Kirche
veröffentlichte und damit einen Aufbruch in der Kirche initiierte. Grundlegende Mo-
tive der reformatorischen Theologie sollten die evangelischen Kirchen auch heute Hanna Lehming
noch beschäftigen und sie zur beständigen Erneuerung inspirieren. Vor allem die Beauftragte für den Christlich-Jüdischen Dialog der Ev.-Luth. Kirche in Norddeutschland
4 5
Martin Luther, Lebensklugheiten:
6 Foto: C. Wenn
7
Martin Luther – Rechts: Die 95 Thesen am heutigen Portal
der Schlosskirche zu Wittenberg
Unten: Luther vor Kardinal Cajetan,
1483 Elternhaus
Luthers Vorfahren waren erbzinspflich-
tige thüringer Bauern. Sein Vater über- 1517 Thesenanschlag in
ließ den Hof einem Bruder und sparte Wittenberg
als einfacher Bergmann so viel Geld Der Dominikaner-Bettelmönch
zusammen, dass er sich schließlich an Johannes Tetzel begann 1517,
Genossenschaften beteiligen konnte, in ein furchtbares Gewitter geraten war im Auftrag Albrechts von Bran-
die Kupfererz abbauten. und unmittelbar neben ihm der Blitz denburg Ablassbriefe zu verkau-
Martin Luther (eigentlich: Luder) wurde eingeschlagen hatte. fen, deren Erlös für den Bau der
am 10. November 1483 als Sohn von Peterskirche in Rom bestimmt war.
Hans (1459 - 1530) und Margarethe 1508 Studium der Theologie Tatsächlich aber sollte die Hälfte da-
(1459 - 1531) in Eisleben geboren und Luther litt ständig an Gewissensnöten, von benutzt werden, um Albrechts
wuchs in Mansfeld auf. da er sich als unfähig empfand, Got- Schulden bei den Fuggern zu tilgen.
tes Forderungen aus Liebe, statt aus Martin Luther empörte sich über Tet- 1518 Verhör vor Kardinal
8 9
Der deutschsprachige Raum gliederte sich im
15./16. Jahrhundert in viele, teils kleinste Territo-
rien, deren Herrscher ein unterschiedliches Maß
an Autonomie genossen. Innenpolitisch bestand
ein dauernder Machtkampf zwischen dem Kaiser
und den Fürsten. Das Heilige Römische Reich
umfasste nahezu das gesamte Gebiet der heutigen
Bundesrepublik, darüber hinaus weite Teile
Mitteleuropas.
10 11
„Was von Wittenberg im 16. Jahrhun-
dert ausging, veränderte Deutschland,
Europa und die Welt. Das Reformati-
onsjubiläum 2017 wird daher – anders
als alle Luther- und Reformationsjubi-
läen bisher – in globaler Gemeinschaft
1524/25 Die Bauernkriege 1530 Der protestantische
von Feuerland bis Finnland, von Südko-
Während Luthers Aufenthalt auf der Glaube wird anerkannt rea bis Nordamerika gefeiert.“
Wartburg führte der Theologe An- Nach dem Massaker an etwa 5000
dreas Karlstadt in Wittenberg radikale aufständischen Bauern bei Franken- Quelle:
Reformen durch. Es kam zu Tumulten Website der Staatlichen Geschäftsstelle
hausen (1525) verlor die Reformation
„Luther 2017“ und der Evangelischen Kirche
und gewalttätigen Auseinandersetzun- ihren Charakter als Volksbewegung in Deutschland (EKD): www.luther2017.de
gen. Die Bauern lehnten sich gegen und wurde zur Angelegenheit der Lan-
die Unterdrückung durch die Fürsten desfürsten, die aus der Niederlage der
und gegen die Leibeigenschaft auf Bauern gestärkt hervorgingen.
und beriefen sich dabei auf Luther. Der Als die katholischen Reichsstände
Bauernkrieg schwoll zur größten so- 1529 auf dem zweiten Reichstag zu
zialpolitischen Massenbewegung der
12 13
Martin Luthers Kirchenlieder
14 15
„Kehrseite(n)“
Gegen „Aufrührer“
„Aber wie der Papst der „Ein toter Sohn ist besser als
Antichrist, so ist der Türke ein ungezogener.“
der leibhaftige Teufel.“
Gegen „Hexen“
16 Foto: C. Wenn
17
Luther empfiehlt Vertreibung der Juden aus
Frankreich im Jahr 1182,
Miniatur aus Grandes Chronique
Drei Jahre vor seinem Tod, im Jahr serm Lande, wie sie rühmen, sondern
1543, verfaßte Luther die Schrift „Wi- in der Verbannung und gefangen, wie
der die Juden und ihre Lügen“. Aus der die ohne Unterlass vor Gott über uns
insgesamt 135 Seiten umfassenden Zeter schreien und klagen.
Schrift wird hier die wohl bekannteste
Passage zitiert. Die Schärfe und Ag- Dritte Empfehlung
gression, mit der Luther sich hier ge- Zum dritten: dass man ihnen alle Bet-
gen die Juden wendet, sind schockie- büchlein und Talmudisten nehme, wor-
rend – und dies nicht erst aus heutiger in solche Abgötterei, Lügen, Fluch und
Sicht: Lästerung gelehrt wird.
18 19
„Judenschriften“ Luthers
1513 - 1526
Einige Schriften Luthers wurden 1513–1516 Frühe Vorlesungen 1521 Magnificat
schon 1555 als „Schriften wider Ju- In seiner ersten Psalmenvorlesung 1521 kommentierte Luther das Mag-
den“ eingeordnet. In der 1920 erschie- übernahm Luther die altkirchliche nificat: Dass Christus der verheißene
nenen Weimarer Ausgabe der Werke Substitutionstheologie: Gott habe Retter sei, hätten bereits alle biblischen
Luthers wurden seine Schriften von sein Volk wegen dessen fortgesetz- Erzväter und Propheten Israels gewusst
1543 unter dem Titel „Judenschriften“ ter Überheblichkeit „ausgespien“. Als und gelehrt. Die Tora sei nur als Anreiz
veröffentlicht und prägten damit ihr Strafe für Jesu Kreuzigung hätten die gegeben worden, den künftigen Erlöser
Verständnis. Oft werden alle Schrif- Juden ihren Tempel verloren und sei- noch stärker zu erhoffen. Doch die „ver-
ten Luthers seit 1523 so bezeichnet, en zerstreut worden. Israel habe seine stockten“ Juden hätten dieses Heilsan-
die sich mit Juden befassen und Rat- Heilsprivilegien wegen der Ablehnung gebot missverstanden und glaubten, dann solle man „nicht das Gesetz des
schläge zum Umgang mit ihnen ent- Jesu Christi verloren. sich durch Gesetzeserfüllung selbst er- Papstes, sondern christlicher Liebe“ an
halten. Bis in die Neuzeit prägten sie lösen zu können. ihnen üben, sie „freundlich annehmen“,
das Judenbild des Luthertums. arbeiten und mit Christen zusammen-
1519 Sermon zur Betrachtung
wohnen lassen, damit sie die Chance
des heiligen Leidens Christi
Doch Luthers Bezugnahme auf Ju- 1523 Dass Jesus Christus ein erhielten, „unsere christliche Lehre und
In dieser Passionspredigt kritisierte
den und jüdischen Glauben ist nicht geborener Jude sei unser Leben zu hören und zu sehen“.
Luther, dass die Kirche aus dem Be-
auf bestimmte seiner Schriften be- Diese Schrift gilt allgemein als Beleg
trachten des Gekreuzigten ein Beden-
schränkt. Vielmehr befasste sich der für Luthers zunächst judenfreundliche 1526 Vier tröstliche Psalmen an
ken der Bosheit der Juden gemacht
Reformator in seiner ganzen Wir- habe. 1520 verwarf Luther auch die zur
Haltung. Er lehnt hier die bisherige Ge- die Königin von Ungarn
kungszeit als Theologe mit dem Ju- waltmission und Unterdrückung der Ju- 1525 führte Luther in Wittenberg
Passionszeit üblichen antijüdischen
dentum: in exegetischen Kommen- den ab. Päpste, Bischöfe, „Sophisten“ sein einziges direktes Streitge-
Hetzpredigten von Volkspredigern ge-
taren, Predigten, Briefen, Tischreden (Scholastiker) und Mönche, die „groben spräch mit drei Juden. Dabei begeg-
gen die Juden und verlangte eine Ab-
und besonderen thematischen Auf- Eselsköpfe“, seien bisher mit ihnen so nete er der missionarischen Kraft ih-
kehr davon. Dazu formulierte er eine
sätzen. umgegangen, dass ein guter Christ res Messianismus, der nach den Ver-
neue Passionshymne:
Jude geworden wäre. Die Heiden seien treibungen des 15. Jahrhunderts da-
stets keinem Volk feindseliger begeg- mals unter Juden verbreitet war. Er
„Unsre große Sünde und
net als den Juden. Man habe glaubte, diesen genauso
schwere Missetat Jesum,
sie bloß gewaltsam dem hart wie die „Schwär-
den wahren Gottessohn,
ans Kreuz geschlagen Papsttum unterworfen „Ich will aus der Schrift erzählen mer“ bekämpfen
hat. Drum wir dich, armer und „wie Hunde“ statt die Ursachen, die mich bewe- zu müssen, weil er
Juda, dazu der Juden als Menschen behan- gen, zu glauben, dass Christus in beiden die Ge-
delt, beschimpft und ein Jude sei von einer Jungfrau fahr gesetzlichen
Abb. S. 21: Wikimedia Commons
ist unser zwar. Kyrielei- sie doch Jesu Bluts- auch etliche Juden zum Chris- Christen sah. Lu-
son.“ verwandte, die Gott tenglauben reizen möge.“ ther legte darauf-
vor allen Völkern aus- hin den Fluchpsalm
gezeichnet und mit Martin Luther, „Das Jesus Christus 109 so aus, als sei
der Bibel betraut habe. ein geborener Jude sei“, 1523 er gegen die Juden
Wolle man ihnen helfen, gerichtet.
20 21
„Judenschriften“ Luthers
1537 - 1543
1537 Brief an Josel von Rosheim 1543 Von den Juden und ihren Christen „an sich zu locken“. Er wolle Dann fragte er: „Was sollen wir Chris-
siehe auch S. 40-42 Lügen nur noch „die schwachen Christen vor ten nun tun mit diesem verdammten,
1536 verbot Kurfürst Joh. Friedrich I. Mit dieser Schrift begann Luthers den Juden warnen“. verworfenen Volk der Juden?“ und
den Juden im Kurfürstentum Sach- Serie judenfeindlicher Schriften von Im letzten Teil zog er praktische Folge- schlug drastische Unterdrückungs-
sen Aufenthalt, Erwerbstätigkeit und 1543, die einen gezielten Zweck ver- rungen. Schon in die theologi- maßnahmen als „scharfe Barmherzig-
Durchreise. Daraufhin bat Josel von folgten: das Judentum theologisch schen Anfangsteile ließ er lau- keit“ vor (s. S. 18-19).
Rosheim, der damalige Anwalt der vollständig zu entkräften und zu ver- fend viele damalige Stereotype Wiewohl er Juden gern eigenhän-
Juden im Reich, Luther darum, sich teufeln, um die Vertreibung der Juden einfließen: Juden seien blutdürstig, dig erwürgen würde, sei es Christen
beim Kurfürsten für die Aufhebung aus allen evangelischen Gebieten zu rachsüchtig, das geldgierigste Volk, verboten, sie zu verfluchen und per-
dieses Verbots einzusetzen. Luther erreichen. leibhaftige Teufel, verstockt. Ihre „ver- sönlich anzugreifen. Die Obrigkeit,
verweigerte seine Hilfe mit Hinweis Luther erklärte zu Beginn, er wolle die dammten Rabbiner“ verführten die die Gott zur Abwehr des Bösen ein-
darauf, dass die Juden sich trotz sei- Juden nicht mehr bekehren, weil dies christliche Jugend wider besseres gesetzt habe, müsse die Christen vor
nes freundlichen Werbens nicht be- sowenig möglich sei wie beim Teufel. Wissen, sich vom wahren Glauben den „teuflischen“ Juden schützen, sie
Abb. gemeinfrei
kehrt hätten. Er lehnte Disputationen mit Juden und abzuwenden. notfalls vertreiben.
Lernen von ihrer Bibelexegese ab, weil Durchgängig stellt Luther die kleine
1538 Wider die Sabbather dies sie erfahrungsgemäß nur in ih- Minderheit der Juden als Bedrohung 1543 Vom Schem Hamphoras
Luther erfuhr 1532 von den christli- rem Glauben bestärke und ermutige, des Christentums dar. Mit dieser Schrift veröffentlichte Luther
chen Sabbatern in Mähren, die den die von ihm ins Deutsche übersetzten
Sabbat anstelle des Sonntags einhiel- Toledot Jeschu, eine anti-christliche
ten. Er führte dies auf jüdischen Ein- mittelalterliche jüdische Sagensamm-
fluss zurück und sah darin den Beweis lung über das Leben Jesu. Dabei ver-
für jüdische Mission unter Christen. höhnte er die jüdische Tradition der
Dies enttäuschte ihn maßlos. Heiligung des Gottesnamens und die
In seiner Schrift „Wider die Sabbater“ jüdische Bibelexegese dazu aufs Äu-
behauptete Luther, in Mähren hätten ßerste: Er beschrieb sie als aus Exkre-
die Juden schon viele Christen be- menten des Judas Ischariot gewonnen,
schnitten und zu dem Glauben ver- griff dabei die Wittenberger Judensau-
führt, dass der Messias noch nicht Skulptur auf, nannte Juden „diese Teu-
gekommen sei. Diese zum Judentum fel“ und setzte so Juden, Judas, Exkre-
übergetretenen Christen hätten sich mente, Schweine und Teufel bildhaft
verpflichtet, die ganze Tora einzuhal- gleich. Seine vulgäre Fäkalsprache er-
ten. Um die Tora halten zu können, reichte auch im damals üblichen gro-
müssten die Juden jedoch zuerst den ben Schimpf- und Beleidigungsstil eine
Jerusalemer Tempel wiederaufbauen, maximale Schärfe.
das Land Israel zurückerobern und die
Tora dort zum allgemeinen Staatsge-
setz machen. Vertreibung der Juden, Abb. aus den
Chroniken von Offa, Tafel 183, British
Library, Cotton Nero D. I.
22 23
Die Abbildung zeigt die
Wittenberger Juden-
sau, Detail eines Ein-
Antijüdische Polemik
blattdrucks, Wolfgang
Meissner, 1596. bei den Kirchenvätern
Die sog. „Judensau“ ist
eins der abscheulich-
Martin Luther ist keineswegs der „Erfin- Nachdem im Jahr 380 n. Chr. das Chris-
sten Motive antijüdi-
scher christlicher Kunst der“ einer antijüdischen Theologie. Am tentum im Römischen Reich zur Staats-
im Hochmittelalter. Verhältnis zu den Juden haben sich be- religion erhoben wurde, änderte sich die
Besonders die Darstel- reits die ersten Theologen der christli- Situation von Juden und Christen radi-
lung eines Schweines, chen Geschichte, die sog. Kirchenväter, kal, wenn auch langsam. Der Übertritt
das im Judentum als
abgearbeitet. Als frühe Dokumente des von Nicht-Juden zum Judentum wurde
unreines Tier gilt, sollte
Juden verhöhnen und kirchlichen Antijudaismus gelten der Bar- staatlich verboten. Dadurch wurde der
demütigen. nabasbrief (um 100), der Diognetbrief Charakter des Judentums unmissiona-
(nach 120) und der ‚Dialog mit dem Ju- risch. Im 5. Jahrhundert wurde den Ju-
den Tryphon’ (155-160) des Kirchenva- den verboten, neue Synagogen zu bau-
ters Justin. Sie enthalten erstmals jene en. Juden sollen nicht bekehrt, schon
24 25
Zitate von Kirchenvätern Zitate von Martin Luther
(1. – 5. Jh. n. Chr.) 16. Jh. n. Chr.
Die Juden sind von Gott verworfen. Vorwurf der Blindheit für das richti- Verwerfung der Juden Vorwurf der Abgötterei
„Sie haben in der Tat Christus wie einen ge Bibelverständnis „Denn weil die Juden sein Wort we- „Nun ist der Juden Lehre jetzt nichts
Feind verworfen ... (Gott) hat ihre Frech- „Sie lesen es (= das Wort Gottes) als der sehen noch hören wollten, also andres als eitel Zusätze der Rabbinen
heit bestraft ... So hat sie (Gott) zu einem Blinde und singen es als Taube.“ hat Gott danach ihr Schreien, Beten, und Abgötterei des Ungehorsams… .“
Beispiel für alle Menschen gemacht, in- Augustinus von Hippo, 354 – 430 n. Gottesdienst und anderes auch we- Von den Juden und ihren Lügen
dem er sie nicht tötete, sondern sie am Chr., bedeutender lateinischer Kirchen- der sehen noch hören wollen, und
Leben ließ und überall hin zerstreute.“ lehrer und Philosoph ist sein Zorn nicht eher gestillt, bis Vorwurf der Blindheit
Johannes Chrysostomos, ca. 349 – 407, Jerusalem zugrunde getilgt ist, dass „Wiederum die Juden, weil sie diesen
Bischof von Konstantinopel Strikte Abgrenzung kein Stein auf dem anderen geblie- Christum nicht annehmen, können sie
„Eure Fastentage sollen nicht mit de- ben ist. Das haben sie so gewollt.“ nicht wissen noch verstehen, was Mo-
Vorwurf, die Juden seien Mörder nen der Heuchler zusammenfallen; Predigt zu Lukas 19, 41-48 ses, die Propheten und Psalmen sagen
„Jetzt aber haben die Juden ihr Sün- denn sie fasten am zweiten und am ... sondern die Schrift muss ihnen sein
denmaß endgültig vollgemacht, in- fünften Tage der Woche, ihr aber sollt „Darum schließt dies zornige Werk, wie ein Brief dem, der nicht lesen kann.“
26 27
Links: Darstellung der Kirche, die das Judentum
„besiegt“ hat, an der Kathedrale Notre-Dame de
Paris (13. Jh.). Zum Zeichen ihres Sieges trägt sie
Blütezeit des
Krone und Zepter.
Judentums
Zu Martin Luthers Zeiten lebten Juden des Heiligen Römischen Reiches ge-
schon mehr als 1000 Jahre in Deutsch- krönt wurde, schätzte ihre Wirtschafts-
land. Ihre Geschichte war wechselvoll. kraft und bot ihnen daher besonderen
Der Blüte des Judentums im Frühmit- Rechtsschutz, für den sie dem König
telalter folgten die Katastrophen der jährlich ein Zehntel ihres Handelsge-
Kreuzzüge, der Großen Pest und der winns abzuführen hatten.
Inquisition. Pogrome und Vertreibun-
gen waren die Folge. Blütezeit im Frühmittelalter
Zwischen dem 10. und 11. Jahrhundert
Bei ihrer Wanderung in den Norden folg- stieg die Zahl der Juden auf 20.000 Per-
ten die Juden den römischen Legionen. sonenstark an. Im 10./11. Jahrhundert
Sie halfen beim Ausbau des Handels- erlebten die jüdischen Gemeinden im
netzes und übernahmen gleichsam die Rheinland ihre Blütezeit. Ende des 10.
Rolle von Kolonisatoren. In Deutschland Jahrhunderts wanderten Juden auch
lebten Juden seit dem Jahr 321 n. Chr. weiter ostwärts. Überall erhielten sie
Ihre rechtliche Stellung war während der sehr günstige Privilegien durch die otto-
römischen Zeit gesichert. Juden besa- nischen und salischen Herrscher (z. B.
ßen das volle Bürgerrecht. Erste jüdi- Kaiser Heinrich IV.), die ihre Wirtschafts-
sche Gemeinden bildeten sich an der kraft nutzten.
rheinischen Nord-Süd-Straße.
Das rheinisch-süddeutsche Gebiet hieß
Von einer fortlaufenden und dokumenta- hebräisch Aschkenas, was bald die jü-
risch gesicherten Geschichte der Juden dische Bezeichnung für ganz Deutsch-
auf deutschem Boden kann erst von der land wurde. In den größeren Gemeinden
Zeit der Karolinger (8. Jh.) an die Rede Worms, Mainz, Speyer und Regensburg
sein. Juden galten bis dahin – wie An- wurden auf hohem Niveau jüdische Stu-
gehörige anderer Völker auch – als Freie dien betrieben. Der Gelehrte Raschi
und Fremde, die Grund erwerben und (1040–1105) absolvierte sein Studium in
Waffen tragen durften, ohne die Schirm- Mainz und Worms vor seiner Lehrzeit in
herrschaft des Kaisers aber schutzlos Troyes.
Abb. S. 28: Wikimedia Commons
zerbrochener Lanze als mittelalterliches erbaten sie von Kaiser Karl dem Gro- 5. August 1105 ebenda; einer
Symbol für den Sieg des Christentums über das der bedeutendsten jüdischen
Judentum und für dessen angebliche “Blind-
ßen und später von seinem Sohn Lud- Gelehrten des Mittelalters
heit” für den Sinn der Bibel. Darstellung an der wig dem Frommen Schutzbriefe. Karl und der bekannteste jüdische
Kathedrale Notre-Dame de Paris. der Große, der im Jahr 800 zum Kaiser Bibelexeget überhaupt.
28 29
Rabbi Meir von Rothenburg,
genannt MaHaRaM,
geb. 1215 in Worms,
Kreuzzüge und
gest. 1295 in Wasserburg am Inn
Kammerknechtschaft
Die ersten Synagogen entstanden in nicht aufgenommen wurden. Das Ver-
Köln 1012, Worms 1034 und Trier 1066, hältnis der Juden zum Umfeld war
daneben standen bald Schul- und entspannt, einzelne Schutzjuden oder
Zeitleiste jüdische Geschichte in Lehrhäuser. Auch jüdische Friedhöfe ganze Gemeinden hatten Schutzbriefe
Deutschland 321 - 1520 wurden angelegt. Judenquartiere des Königs.
(Judengasse) wuchsen weniger aus
321 erste jüdische Gemeinde in Köln Zwang als aus praktischen Gründen Dies änderte sich nach den Pogromen
nachgewiesen; in der Römerzeit wahr-
(Sabbatgebot, Nähe zur Mikwe). Unter gegen jüdische Gemeinden, die wäh-
scheinlich auch in Regensburg, Trier und
Duldung der christlichen Obrigkeit ent- rend des Ersten Kreuzzugs ab 1096
Worms jüdische Siedlungen.
stand eine Selbstverwaltung (Kehillah), unter Papst Urban II. stattfanden. Die
1. Hälfte 9. Jh. Königliche Erlasse („Ka- die sich um Steuern, Kultus und Schule Juden in den rheinischen Städten fan-
pitularien“) zum Rechtsschutz der Juden kümmerte und Statuten erlassen durf- den nur unzureichenden Schutz vor
unter Karl dem Großen und Ludwig dem te. Die jüdischen Kaufleute waren in den Kreuzfahrern bei den bischöflichen
Frommen, erste Blütezeit des deutschen Sippen bis nach Italien und weiter or- Stadtherren. Viele zogen den Selbst-
Judentums. ganisiert. mord der Zwangstaufe vor. Etliche jüdi-
sche Gemeinden, vor allem im Rhein-
10.-13. Jh. Mainz, Speyer und Worms Im 12. Jahrhundert betrieben Juden land, wurden völlig ausgelöscht. Die
(nach den hebräischen Anfangsbuchsta- zunehmend das Kreditgeschäft, da es Kreuzfahrer bezeichneten ihre Pogro-
ben SCHUM genannt) sind Zentren des den Christen verboten war, Zinsen zu me als Rache an den vermeintlichen
geistigen und kulturellen Lebens. nehmen. Auch sind jüdische Acker- Mördern Jesu Christi. Ihr mörderisches
1335-38 „Armleder“-Pogrome in Franken, bürger und Handwerker bekannt, die Wüten hatte aber sicherlich auch damit
1096-99 Vernichtung zahlreicher jüdi- im Mittelrhein, Lahn- und Moselgebiet allerdings in die christlichen Zünfte zu tun, dass viele von ihnen aus Geld-
scher Gemeinden im Rheinland während sowie im Elsaß. (Zusammenschlüsse von Handwerks- verleihgeschäften Schulden bei den
des 1. Kreuzzugs. meistern, seit dem Mittelalter bekannt) Juden hatten.
Erneute Verfolgung während des 2. Kreuz- 1348/49 Pestpogrome, weitgehende Er-
1298 Pogrome in Franken und Bayern Vertreibung der Juden aus den meisten
durch die Anhänger des Fleischermeis- deutschen Städten
ters Rindfleisch („Rindfleisch-Unruhen“),
denen über 140 Gemeinden zum Opfer Quelle: Neues Lexikon des Judentums,
Jüdischer Geldverleiher nimmt
fielen. Gütersloh 2000, S. 195 (Auszug)
ein Pferd als Pfand gegen Bargeld;
Sachsenspiegel (Holzschnitt,
Anf. 14. Jh., Ausschnitt).
30 31
Der Judenhof Speyer war der zentrale Bezirk des
mittelalterlichen jüdischen Viertels von Speyer.
Die Männersynagoge wurde um 1100 erbaut,
Antijüdische Legenden
die Frauensynagoge wenig später hinzugefügt.
im Mittelalter
Ritualmordlegende Kräfte zu. Ihr Missbrauch konnte im
1144 tauchte in England erstmals Aberglauben der Bevölkerung weitrei-
Der einflussreiche Prediger und der Vorwurf auf, Juden hätten zum chende Folgen haben. Immer öfter kam
Franziskaner Berthold von Regens- Pessachfest ein vermisstes christliches die Behauptung auf, Juden bräuchten
burg nahm die Vorstellung von den Kind entführt und gemartert wie Chris- Christenblut zum Einbacken in ihre
Juden als Gottesmörder in seine Pre- tus am Kreuz. Das Gerücht löste eine Mazzen (die ungesäuerten Brote für
digt auf. Der Schwabenspiegel um 1275 Anklage gegen örtliche Juden aus, die das Pessachfest), für Zauberei oder zur
Am Ende stand die forderte bereits eine striktere Trennung ein Pogrom zur Folge hatte. Auf diesem Heilung ihnen angeborener Leiden. Sie
Kammerknechtschaft, die die Juden im Alltag, die aber bis 1350 nicht üblich Hintergrund entstand um 1150 eine an- müßten daher geradezu zwangsläufig
geschlossen als unfreie Kammerknech- wurde. tijüdische Legende, die bis in die Neu- Ritualmorde begehen. Die irrationalen
te des Kaisers Friedrich II. definierte. zeit zu Beschuldigungen und Anklagen hatten fast im-
Dies garantierte ihnen zwar Schutz von Ritualmordvorwürfe betrafen Juden Angriffen gegen Juden mer grausame Folgen
Leben und Eigentum sowie eine auto- erstmals 1234/1235 in Lauda und Ful- geführt hat. für die beschuldig-
nome Gerichtsbarkeit in innerjüdischen da. Kaiser Friedrich II. bekämpfte die ten Juden.
Angelegenheiten, auf der anderen Seite Legenden um Ritualmorde. Parallel Ritualmordankla-
war damit der Verlust von persönlicher kam der Vorwurf des Hostienfrevels gen wurden stets
Freiheit und eine Belastung mit Son- auf. Der marodierende verarmte Ritter zur Karwoche
dersteuern verbunden. Juden lebten in Rintfleisch zerstörte deshalb 1298 über oder nahe dem
Links: Erfundene
dieser Zeit weniger vom Warenhandel 140 Gemeinden im mittel- und süddeut- Pessachfest er-
Darstellung des an-
als von kleineren Darlehensgeschäften, schen Sprachraum. 1336 – 1339 zogen hoben. Sie be- geblichen Ritualmords
auch als Ärzte und Techniker. Sie durf- die Armlederbanden durch Franken und haupteten in vielen an Simon aus Trient,
ten christliche Bedienstete und sogar das Elsass und töteten 5.000 Juden. In Ausschmückungen Schedelsche Weltchronik,
immer die Folterung Nürnberg 1493.
Sklaven halten. Colmar wurden alle umgebracht.
eines christlichen Kna- Unten: Darstellung (Detail) eines
angeblich 1477 in Passau began-
Gleichzeitig radikalisierte sich die kirch- ben, die das Leiden Christi genen Hostienfrevels: Ein Jude sticht mit
liche Haltung gegenüber den Juden. abbilden solle. Fast immer endeten einem Dolch auf eine Hostie mit Gesicht ein, die Blut
Das 4. Laterankonzil 1215 schrieb eine Ritualmordvorwürfe im Mittelalter mit verliert; Malerei 16. Jh.
Kennzeichnung von Juden vor und ver- Folter und Todesurteil für die Beschul-
bot Christen die Zinsleihe. Der vom 11. digten.
Der Gelbe Ring war im Mittelalter eine für Juden
bis zum 14. Jahrhundert bei jüdischen vorgeschriebene Kennzeichnung. Das 4. Lateran-
Männern übliche Judenhut wurde vom konzil unter Papst Seit dem 4. Laterankonzil 1215 konnte
Konzil nun zur Pflicht für sie gemacht. Innozenz III. beschloß sich der Vorwurf des Ritualmords mit
Abb..: Wikimedia Commons
Ebenso sollten Juden ihre Kleidung im Jahr 1215, dass dem des Hostienfrevels verbinden.
Juden ein Stoffstück Weil sich laut Dogma des Konzils Wein
durch einen gelben Ring (auch Juden-
in Kreis-, Ring- oder
ring, Judenkreis, Gelber Fleck genannt) und Brot beim Abendmahl in das re-
Foto: Nemracc
Rechteck-Form außen
kennzeichnen, den sie außen sichtbar sichtbar – meist vorn ale Blut und den Leib Christi verwan-
tragen mussten. Diese Vorschrift setzte in Brusthöhe – auf deln, schrieb man der Hostie (geweihte
sich jedoch erst im 14./15. Jahrhundert der Kleidung tragen Oblate für das Abendmahl) magische
müßten.
durch.
32 33
Juden werden auf das Rad geflochten und mit bren-
nenden Fackeln gefoltert, um das Geständnis der
Brunnenvergiftung von ihnen zu erzwingen. Bemühungen, Juden zu schützen
Der christliche Inquisitor hält ein Säckchen mit Gift
in der Hand, wie es im Haushalt jedes jüdischen Um weitere Pogrome zu verhindern, ließ „Wir haben die flehentliche Klage der
Arztes zu finden war.
Kaiser Friedrich II. einen Präzedenzfall (von Juden vernommen, dass manche kirch-
1235) durch eine große Theologenkommis- lichen und weltlichen Würdenträger gott-
sion untersuchen, der jüdische Konvertiten lose Anklagen gegen die Juden erfän-
aus ganz Europa angehörten. Das Ergebnis den, um sie aus diesem Anlass auszu-
Hostienschändung lautete: plündern und ihr Hab und Gut an sich
Als Hostienfrevel oder Hostienschän- „Weder das Alte noch das Neue Testa- zu raffen. Diese Männer scheinen ver-
dung bezeichnete die römisch-katholi- ment sagen aus, dass die Juden nach gessen zu haben, dass es gerade die
sche Kirche zwischen dem 13. und 16. Menschenblut begierig wären. Im Ge- alten Schriften der Juden sind, die für
Jahrhundert den angeblichen Miss- genteil: Sie hüten sich vor der Befleckung die christliche Religion Zeugnis ablegen.
brauch von geweihten Hostien (Obla- durch jegliches Blut. Dies ergibt sich aus Während die Heilige Schrift das Gebot
ten für das Abendmahl). Den Beschul- den Gesetzen des Moses, die hebräisch aufstellt: Du sollst nicht töten! und ihnen
Berechet (Tora) heißen, in Übereinstim- sogar am Passahfest die Berührung von
digten, meist Juden, manchmal auch
mung mit den Vorschriften, die hebräisch Toten untersagt, erhebt man gegen die
der Hexerei bezichtigte Personen, wur-
Talmillot (Talmud) heißen. Es spricht auch Juden die falsche Beschuldigung, dass
de unterstellt, sich geweihte Hostien sie an diesem Feste das Herz eines er-
eine nicht geringe Wahrscheinlichkeit
beschafft und diese zerschnitten oder mordeten Kindes äßen. Wird irgendwo
dafür, dass diejenigen, denen sogar das
anderweitig geschändet zu haben, um die Leiche eines von unbekannter Hand
Blut erlaubter Tiere verboten ist, keinen
Jesus Christus zu foltern. 1353 bezeichnet, die geschätzte 25 Durst nach Menschenblut haben kön- getöteten Menschen gefunden, so wirft
Millionen Todesopfer – ein Drittel der nen. Gegen diesen Vorwurf spricht: 1) der man sie in böser Absicht den Juden zu.
Hintergrund dieser Vorstellung ist die damaligen europäischen Bevölkerung Horror dieser Sache; 2) dass es die Natur Es ist dies alles nur ein Vorwand, um
katholische Lehre, nach der sich Brot – forderte. Juden wurden sehr schnell verbietet; 3) die menschliche Verbindung, sie in grausamster Weise zu verfolgen.
und Wein im Abendmahl tatsächlich beschuldigt, durch Giftmischerei und die Juden auch den Christen entgegen- Ohne gerichtliche Untersuchung, ohne
und substantiell in Leib und Blut Jesu Brunnenvergiftung die Epidemie aus- bringen; 4) dass sie nicht willentlich ihr Überführung der Angeklagten oder de-
Christi verwandeln. Wer also das ge- gelöst zu haben. Dies führte in vielen Leben und Eigentum gefährden würden. ren Geständnis, ja in Missachtung der
weihte Brot antastet, schändet nach Aus diesen Gründen haben wir im Kon- den Juden vom apostolischen Stuhl
Teilen Europas zu Judenpogromen
sens mit den regierenden Fürsten ent- gnädig gewährten Privilegien beraubt
dieser Vorstellung den Leib Christi. und einem lokalen Aussterben der jü-
schieden, die Juden des Reiches von man sie in gottloser und ungerechter
dischen Gemeinden. Weise ihres Besitzes, gibt sie den Hun-
Entsprechend stereotyp formulierte dem schweren Verbrechen, dessen man
sie angeklagt hat, freizusprechen und die gerqualen, der Kerkerhaft und ande-
Vorwürfe führten zu Prozessen mit vor- Das Gerücht, Juden träufelten Gift in ren Torturen preis und verdammt sie zu
übriggebliebenen Juden von allen Ver-
bestimmtem Ausgang. Die Beschul- Brunnen und Quellen, war Anfang 1348 einem schmachvollen Tode … Solcher
dächtigungen frei zu erklären.“
digten wurden nach einem durch pein- aufgekommen: In Savoyen hatten jüdi- Verfolgungen wegen sehen sich die Un-
Mit dieser rationalen Begründung verbot
liche Befragung erpressten Geständnis sche Angeklagte sich unter der Folter glückseligen gezwungen, jene Orte zu
der Kaiser weitere Ritualmordanklagen.
meist zum Feuertod verurteilt und auf solcher Vergehen für schuldig bekannt. verlassen, wo ihre Vorfahren von alters
Doch diese erfolgten weiterhin, verbreite-
dem Scheiterhaufen verbrannt. Infolge Ihr Geständnis fand in ganz Europa her ansässig waren. Eine restlose Ausrot-
ten sich europaweit und endeten fast alle
derartiger Hostienschänderprozesse rasch Verbreitung und war die Basis tung befürchtend, rufen sie nun den apo-
mit Massenhinrichtungen oder Massakern.
wurden oft alle ansässigen Juden ent- für eine Welle von Übergriffen in der stolischen Stuhl um Schutz an …“
Abb.: www.edjewnet.de
eignet und aus Städten und ganzen Schweiz und in Deutschland. So viele Auf einen besonders grausamen Fall von Der Papst forderte daher die Adressaten auf,
Regionen vertrieben. Juden starben durch Pogrome, Massa- Ritualmordanklage im Jahre 1247 reagier- die Christen dazu anzuhalten, den Juden
ker und Selbsttötungen um der Zwangs- ten die Judengemeinden mit einer Petition „freundlich und wohlwollend zu begegnen“.
Brunnenvergiftung taufe zu entgehen, dass nach 1353 nur an den Papst in Rom. Innozenz IV. (1243– Doch er war es auch, der den Talmud und
Als ‚Schwarzer Tod‘ wird die große noch wenige Juden in Deutschland und 1254) gab daraufhin eine Schutzbulle an Disputationen mit Juden offiziell verbot, so
europäische Pandemie von 1347 bis den Niederlanden lebten. alle fränkischen und deutschen Bischöfe dass sie ihre Religion den Christen nicht er-
heraus: klären konnten.
34 35
36
Deutsche Fassung: C. Wenn, Kartenquelle: rjgolddotme.wordpress.com/
Ansiedlung und
37
Vertreibungen der Juden „Wollen aber die Herren sie (die Juden) nicht
zwingen, noch solchem ihrem teuflischen Mut-
willen steuern, so möge man sie, wie gesagt,
zum Lande austreiben und ihnen sagen, daß
sie in ihre Lande und Güter gen Jerusalem hin-
ziehen und daselbst Lügen, Fluchen, Lästern,
Speien, Morden, Stehlen, Rauben, Wuchern,
Das späte Mittelalter war für die Ju- Ihre Aufenthalte waren nun aber auf Judenfeindlichkeit, die sich Spotten und alle solche lästerliche Greuel trei-
den eine Zeit der Vertreibungen. Ne- wenige Jahre beschränkt und eine Ver- in grausamen Judenpogro- ben, wie sie bei uns tun, und uns unsre Herr-
ben der großen Judenvertreibung aus längerung nicht immer selbstverstän- men entlud. Der Hass auf schaft, Land, Leib und Gut lassen.“
Spanien im Jahre 1492 gab es viele dlich. Zusätzliche Abgaben wurden den „Judenwucher“ übertraf
»kleine« Vertreibungen aus vielen auferlegt. Daneben setzte die Auswan- häufig den auf Klerus und „Denn, wie gehört, Gottes Zorn ist so groß
deutschen Städten und Territorien. derung nach Polen und Litauen ein, Adel. über sie, daß sie durch sanfte Barmherzigkeit
Im Hintergrund dieser Vertreibun- wo das Jiddisch als Mischsprache nur ärger und ärger, durch Schärfe aber wenig
gen stand der in den Pestjahren des aus Mittelhochdeutsch, Hebräisch und Immer fanden sich neue An- besser werden. Darum immer weg mit ihnen.
14. Jahrhunderts erhobene Vorwurf, slawischen Vokabeln entstand. lässe zu Morden und Ver-
Juden würden Brunnen vergiften, treibungen. Während der Hus- Martin Luther,
aber mehr noch der Neid der Hand- Die Feindschaft gegenüber jüdischen sitenverfolgungen wurden die Von den Juden und ihren Lügen, 1543
werker und Kaufleute in den Städten Geldverleihern führte immer wieder Juden in Österreich, Böhmen,
auf die Warenimporte jüdischer zu Ausschreitungen gegen Juden. Jü- Mähren und Schlesien verfolgt. Aus
Fernhändler. Als Geldleiher wur- dische Geschäftsleute hatten in der dem Stift Trier wurden sie 1419 für hun-
den die Juden ferner des Wuchers spätmittelalterlichen und frühneuzeitli- dert Jahre, aus Köln 1424 (bis 1798), nen war Hostienfrevel und Kindsmord
beschuldigt, und die Prediger der chen Gesellschaft eine Sonderrolle, aus Konstanz 1431, aus Würzburg vorgeworfen worden.
Abb. gemeinfrei
Kirche beschimpften sie als Got- weil das Zinsverbot für sie nicht galt. 1434, aus Speyer 1435 und aus Mainz Bis 1520 waren Juden weitgehend aus
tesmörder und Christenfeinde. Viele Menschen drückte ihre Schul- 1473 endgültig vertrieben, 1442 aus den großen Städten verschwunden.
denlast. Zins und Tilgung in Verbind- München und ganz Oberbayern. Jo- Allerdings bot das territorial zersplit-
Die Pogrome, die die Große Pest um ung mit Neid führten zu allgemeiner hannes Capistranos Predigten lösten terte Reich oft Zuflucht beim näch-
1350 begleiteten, markierten einen tie- in Breslau 1453 eine Verbrennung mit sten Kleinfürsten, und bald setzte eine
fen Einschnitt. Sie begannen 1348 41 Opfern aus. Auch in Erfurt predigte Rückwanderung ein. Juden überlebten
in der Schweiz mit dem Vorwurf, die Capistrano, hier kündigte der Rat 1453 teilweise auch in Wäldern als Vagabun-
Juden hätten die Brunnen vergiftet. den Schutz der Juden auf. den und Bettler. In Frankfurt am Main
In 85 von 350 Städten mit jüdischen und Worms wurden Ghettos eingeri-
Einwohnern wurde gemordet, fast 1492 starben bei dem Sternberger chtet. Die Predigt der Bettelmönche
überall wurden Juden ausgewiesen. Judenpogrom 27 Juden auf den verbreitete antijüdische Vorstellungen.
Im Elsass wurde mit 29 Orten die Scheiterhaufen. Noch im gleichen Der Holz- und Buchdruck verbreitete
Hälfte aller jüdischen Siedlungen aus- Jahr wurden alle Juden aus Meck- das Bild vom Schwein als Mutter der
gelöscht, am Mittelrhein rund 85 von lenburg vertrieben. Am 19. Juli 1510 Juden („Judensau“). Nach dem Unter-
133 Siedlungen. Ihr Untergang brachte wurden in Berlin im Ergebnis des gang der Regensburger Gemeinde
vielen materielle Vorteile, besonders Berliner Hostienschänderprozesses 1519 blieb vielen nur noch das Wan-
für Kaiser Karl IV., der den Besitz der 38 Juden auf einem großen Gerüst derjudentum oder der befristete Au-
ermordeten und vertriebenen Juden verbrannt, zwei weitere Juden – sie fenthalt in einer Stadt. Neue jüdische
zum Abtrag seiner Schulden benutzte. waren durch Taufe zum Christentum Zentren entstanden in Böhmen, Polen
Nur zu schlechteren Bedingungen übergetreten – wurden enthauptet. Ih- und Osteuropa.
wurden Juden wieder aufgenommen,
weil Fürsten und Städte sie letztlich
brauchten. Hinrichtung auf dem Scheiterhaufen, französische
Buchmalerei um 1400
38 39
Josel von Rosheim Josel von Rosheim auf einem zeitgenössischen
antisemitischen Flugblatt (Ausschnitt), den Talmud
in einer Hand, in der anderen einen Beutel mit Geld.
(1476 - 1554) Auch die krumme Nase ist eine typisch antisemiti-
sche Karikatur.
Foto: gemeinfrei
Deutschland geltenden Judenordnung. von Juden gekommen sei und sogar zu intervenieren. Der letzten Bitte wurde ihren wichtigsten Führer, so dass diese
1539 verteidigte Josel von Rosheim die Drohungen, „man werde und solle uns nicht entsprochen; jedoch verbot der aktive Politik der jüdischen Gemeinden
Judenschaft gegen die antijüdischen totschlagen“, müsse eine weitere Ver- Rat für das Gebiet der Stadt den Druck bei den kaiserlichen Behörden in den
Äußerungen der Reformatoren Martin breitung von Luthers Schrift verhindert von Luthers Pamphleten. Gegen Ende Folgejahren wieder zum Erliegen kam.
40 41
Luther an Josel von Rosheim
Im Jahr 1536 verbot Kurfürst Johann Sola Scriptura – Solus Christus
Friedrich I. den Juden im Kurfürstentum
Sachsen Aufenthalt, Erwerbstätigkeit
und Durchreise. Daraufhin reiste Josel
von Rosheim an die sächsische Grenze
und bat Luther brieflich um ein Treffen Nur die Schrift allein! Glaubens (sola fide) von Gott aus reiner
und darum, sich beim Kurfürsten für die Nur Christus allein! Gnade (sola gratia) geschenkt. Neben
Aufhebung dieses Verbots einzusetzen. Nur der Glaube allein! das Motto „Sola Scriptura“ trat daher
Er sah in ihm noch einen möglichen Für- Diese Kampfrufe prägten den reforma- als zweiter reformatorischer Grund-
sprecher der Juden. Luther lehnte ab. torischen Aufbruch. Doch was für die satz „Solus Christus“ – „Nur Christus
In seinem Brief an Josel von Rosheim Christen als Befreiung des Glaubens allein!“.
schrieb er 1537: gedacht war, richtete sich gleichzeitig Jüdische Bibelauslegung war für Lu-
strikt gegen die Juden. ther schlicht ein Ding der Unmöglich-
„Mein lieber Josel ! keit. Da Jesus Christus für sie nicht die
Ich wollte wohl gerne bei meinem gnä- Sola Scriptura Mitte der Schrift ist, könnten Juden die
digsten Herrn für Euch handeln, beides Luther lehnte den Papst und die kirch- Bibel nur falsch auslegen. Juden als
mit Worten und Schriften, wie denn liche Hierarchie als letzte Instanz in Ausleger der Schrift waren für Luther
auch meine Schrift („Dass Jesus Chris- Glaubensfragen ab. Allein der Heili- daher „Lügner“, „Blinde“ oder „Ver-
tus ein geborener Jude sei“) der ganzen gen Schrift komme die oberste Auto- stockte“.
Judenheit gar viel gedient hat; aber die- rität für den christlichen Glauben und
weil die Euren solchen meinen Dienst das christliche Leben zu. Sein erstes „Gesetzesreligion“ und „Werkge-
so schändlich missbrauchen und solche zentrales Motto lautete daher: „Sola rechtigkeit“
Dinge vornehmen, die uns Christen von Scriptura“ – „Nur die Schrift allein“! Luthers Impuls für seine radikalen
ihnen nicht zu leiden sind, haben sie Dieses sog. Schriftprinzip ist eine gro- „Solus“ kam aus seiner Gegnerschaft
selbst damit mir genommen alle For- ße Errungenschaft der Reformation! zur Papstkirche. Vehement betonte er,
derung, die ich sonst hätte bei Fürsten Der Sinn der Schrift stecke allerdings dass weder gute Werke, noch Fürbitten
und Herren können tun. ... Darum wollet nicht in den Buchstaben, so Luther. der Heiligen oder sakramentale Ver-
doch uns Christen nicht für Narren und Vielmehr ginge es darum, ihren Geist mittlung das Seelenheil des Einzelnen
Gänse halten und Euch doch einmal be- Detail eines mittelalterlichen jüdischen Kalenders. zu erfassen und aus ihr immer wieder bewirken könnten. Doch die Wucht, mit
Palmwedel und Zitrone werden aus Anlass von Suk-
sinnen, dass Euch Gott wollte dermal- kot = Laubhüttenfest in die Synagoge gebracht das lebendige Wort Gottes hörbar zu der er zunächst die Papstkirche meinte,
einst aus dem Elende (Exil), das nun machen. richtete sich zuletzt nur noch gegen die
über fünfzehnhundert Jahre lang ge- Juden. Luther warf ihnen vor, sie woll-
währte, helfen, was nicht geschehen Solus Christus ten sich die Gnade Gottes durch gute
wird, Ihr nehmet denn Euren Vetter und Doch was ist der Maßstab für die rich- Werke „verdienen“. Ihre „Werkgerech-
Herrn, den lieben gekreuzigten Jesus, tige Schriftauslegung? Für Luther war tigkeit“ mache sie zu den schlimmsten
mit uns Heiden an. ... Darum mögt Ihr dies eindeutig: Jesus Christus allein! Feinden des Kreuzes Christi und führe
Eure Briefe an meinen gnädigsten Herrn „Denn wir sind Menschen von Gott Die Mitte der Schrift Alten und Neu- zu ihrer Verdammnis. Bis heute haftet
durch andere vorbringen. Hiermit Gott dem Allmächtigen auf der Erden zu en Testaments ist für Luther die Bot- die lutherische Theologie dem Juden-
befohlen. wohnen geschaffen, bei euch und schaft vom gekreuzigten Christus, der tum den Vorwurf der „Werkgerech-
Foto: gemeinfrei
Datum (Gegeben) aus Wittenberg, Mon- mit euch zu wohnen und zu han- durch seinen Tod die Schuld der Men- tigkeit“ an. Luther und in seiner Folge
tags nach Barnabae im 1537. Jahr.“ deln.“ schen auf sich genommen und sie so die lutherische Tradition bezeichnete
erlöst habe. Sein Seelenheil wird dem das Judentum konsequent als „Geset-
M. Luther, An den Juden Josel, Brief (Auszug), 1537 Rabbi Josel von Rosheim, 1530 Menschen also allein aufgrund seines zesreligion“. Der Begriff „Gesetz“ hat
42 43
Martin Luther als
Prediger, Gemälde
von Lucas Cranach
d. Jüngeren in der
Stadtkirche St. Marien
in Wittenberg, 1547
Fragen:
1. Wie kommt man vom „Solus Gemeinsames Engagement von Christen und Juden: Pastor Dr. Martin Luther King, Rabbi Maurice Eisendrath (mit
Christus“ zur Wertschätzung auch Torarolle) und Rabbi Abraham Joshua Heschel beim berühmten Marsch der amerikanischen Bürgerrechtsbewe-
jüdischer Schriftauslegung oder so- gung von Selma nach Montgomery im Jahr 1965.
gar zum gemeinsamen Lernen aus
und mit der Schrift?
2. Was wird aus einer lutherischen
Theologie, die das Klischee der jü-
dischen „Werkgerechtigkeit“ nicht
Abb. oben: Wikimedia Commons
Foto: www.mochajuden.com
44 45
Luther und die Juden – und wir? dernen Zeitalter des Antisemitismus
eine unrühmliche Beachtung gefunden
men Vokabeln umzugehen, ma-
chen aus Luthers „scharfer Barm-
haben, bei der die Begründung und herzigkeit“, d.h. aus seinen Kristall-
Zielsetzung der von Luther empfohle- nachtvorschlägen Barmherzigkeit.“ 7
nen „scharfen Barmherzigkeit“ völlig
übersehen wurde.“ 4 Martin Stöhr, Theologe
„Die Toleranz gegenüber Juden hat sprochen, aus dem Jesus als Mensch und Ökumeniker, 1960
46 47
len Lebzeiten der gleiche: national, sozi- „Es ist für die lutherische Kirche, die „Zur jüdischen Frömmigkeit hatte Lu-
al, antisemitisch und christlich im Sinne sich dem Werk und Erbe Martin Luthers ther aufgrund seines Verständnisses
des deutschen Reformators Martin Lu- verpflichtet weiß, unerläßlich, auch sei- des Gesetzes keinen Zugang. Er hat
ther.” 10 ne antijüdischen Äußerungen wahrzu- Talmud und Kabbala ebenso wie ihre
nehmen ... Hierbei müssen nicht nur christliche Deutung stets abgelehnt.
Franz Tügel, Bischof von Hamburg, seine Kampfschriften gegen die Juden, Auch hat er von der jüdischen Ausle-
1941 sondern alle Stellen im Blick sein, an gung des Alten Testaments keinen Ge-
denen Luther den Glauben der Juden brauch gemacht ...“. 16
pauschalisierend als Religion der Werk-
„Viele der antijüdischen Äußerungen gerechtigkeit dem Evangelium entge- Gottfried Seebaß, Theologe, 2006
Luthers sind im Lichte seiner Polemik gensetzt.“ 13
gegen das zu verstehen, was er als
Fehldeutungen der Schrift verstand. Evangelisch-Lutherische Kirche Es besteht auch in der theologischen
Er griff diese Fehldeutungen an, da in Bayern, 1998 Diskussion weitgehend Konsens, daß
ihm das richtige Verständnis des Wor- „Luther für die spezifisch deutsche
tes Gottes alles galt. Die Sünden von Ausprägung der Judenfeindschaft (...)
Luthers antijüdischen Äußerungen „Die volle Übereinstimmung mit seiner eine entscheidende, weichenstellende
und die Heftigkeit seiner Angriffe auf Zeit ... entschuldigt Luther nicht. Er hat in Rolle“ (Christhard Hoffmann) spielte.
die Juden müssen mit großem Bedau- jedem Fall zur Erhöhung des Schuldkon- Doch trotz dieses Befundes ist es
ern zugegeben werden.“ 11 tos der Christen gegenüber den Juden simplifizierend und für heutige Ausein-
beigetragen.“ 14 andersetzungen wenig konstruktiv, eine
Vollversammlung des Lutherischen Kontinuitätslinie „von Luther zu Hitler“
48 49
Quellen zu Luther und die Juden –
und wir? Nachweise
Zitiert nach:
1 Martin H. Jung: Reformation und Tol- 10 Zit. nach: Annette Göhres u.a. (Hrsg.), S. 4 Zitiert nach: Nikolaus Schneider: Das Reformationsjubiläum im
eranz – und die Juden? Anmerkungen Als Jesus „arisch“ wurde. Kirche, Chris- Licht des christlich-jüdischen Verhältnisses, Vortrag vor der
eines Reformationshistorikers zum Isra- ten, Juden in Nordelbien 1933-1945, Bre- Delegiertenversammlung der Konferenz Landeskirchlicher Arbeits-
elsonntag 2013, in: Predigthilfe zum Isra- men 2003, S. 79. kreise Christen und Juden (KLAK) am 20. Januar 2014 in der
elsonntag 2013 der Aktion Sühnezei- Evangelische Bildungsstätte auf Schwanenwerder, Berlin, in: Pro-
chen/Friedensdienste e.V., Berlin 2013, 11 Erklärungen „Luther, das Luthertum tokoll der Konferenz.
S. 30-37. und die Juden“ der Vollversammlung des
Lutherischen Weltbundes, 1984. S. 8-13 Quelle: www.dieterwunderlich.de (stark gekürzt)
2 Johannes Brosseder: Luthers Stellung 12 Wilhelm Halfmann, Die Kirche und S. 13 Quelle: Website der Staatlichen Geschäftsstelle „Luther 2017“ und
zu den Juden im Spiegel seiner Inter- der Jude, Amt für Volksmission, Heft 11, der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD): www.luther2017.de
preten: Interpretation und Rezeption von Breklum 1937, S. 13f.
Luthers Schriften und Äußerungen zum S. 23 Josel-Zitat: Zitiert nach: http://wikimedia.org/wiki/Martin_Luther_
Judentum im 19. und 20. Jahrhundert vor 13 Christen und Juden: Erklärung der und_die_Juden aus Luthers Schrift: „Von den Juden und ihren
allem im deutschsprachigen Raum. Mün- Evangelisch-Lutherische Kirche in Bayern, Lügen“, 1543
chen 1972, S. 80. 1998.
S. 21 Zitat: Martin Luther, „Das Jesus Christus ein geborener Jude sei“,
1523
3 Andrea Liesner, Zwischen Weltflucht 14 Heinz Zahrnt: Martin Luther in seiner
und Herstellungswahn, Königshausen & Zeit – für unsere Zeit. München 1983, S. 20-24 Quelle: http://de.wikipedia.org/wiki/Martin_Luther_und_die_Juden,
Neumann, 2002. zitiert nach: www.ursulahomann.de/Mar- stark gekürzt
tinLutherUndDieJuden/kap006.html.
4 Gerhard Müller: Antisemitismus VI. In: 28, 31, 32 Quelle: http://de.wikipedia.org/wiki/Geschichte_der_Juden_in_
Theologische Realenzyklopädie, Studien- 15 Thomas Kaufmann: Reformation. In: Deutschland
ausgabe Band I, 1993, S. 148. Wolfgang Benz (Hrsg.): Handbuch des S. 30 Zeitleiste: Neues Lexikon des Judentums, J. Schoeps (Hg.),
Antisemitismus Band 3: Begriffe, Theo- Gütersloh 2000, S. 195 (gekürzt)
5 Wolfgang Wippermann: Rassenwahn rien, Ideologien. Walter de Gruyter, Berlin
und Teufelsglaube. Frank & Timme, 2013, 2010, S. 286. S. 33-35 Quelle: wikipedia.org/wiki/Ritualmordlegende, stark gekürzt
S. 69–71. S. 38-39 Quelle: wikipedia.org/wiki/Geschichte_der_Juden_in_Deutschland
16 Gottfried Seebaß: Geschichte des
6 Walther Bienert, Martin Luther und die Christentums Band 3: Spätmittelalter S. 42 Martin Luther, An den Juden Josel, Brief von 1537 (Auszug),
Juden, S. 188. – Reformation – Konfessionalisierung. Zitat Josel von Rosheim, Zitiert nach: Haim Hillel-Ben Sasson,
Kohlhammer, Stuttgart 2006, S. 292. Geschichte des jüdischen Volkes, München 1994, S. 797
7 Martin Stöhr, Luther und die Juden, in: S. 40-41 Quellen: Andreas Pangritz, Zeitgenössische jüdische Reaktionen
Ev. Theologie 20, 1960, S. 175. 17 Birgit Gregor: Zum protestantischen auf Luther und die Wittenberger Reformation (in Auszügen) und
Antisemitismus. In: Fritz Bauer Institut http://de.wikipedia.org/wiki/Josel_von_Rosheim
8 Josel von Rosheim, Sefer ha-Miqna, (Hrsg.): Jahrbuch zur Geschichte und
zit. nach: www.imdialog.org/bp2011/04/ Wirkung des Holocaust: “Beseitigung des
luther_pangritz.pdf. jüdischen Einflusses...”: Antisemitische
Forschung, Eliten und Karrieren im Na-
9 H.H. Ben-Sasson, Geschichte des jü- tionalsozialismus: 1998/99. 1999, S. 173.
dischen Volkes. Von den Anfängen bis zur
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Literaturhinweise Ausstellung
Kontakt und Ausleihe
Kaufmann, Thomas: Luthers „Judenschriften“, Tübingen 2011.
Kremers, Heinz (Hrsg.): Die Juden und Martin Luther. Neukirchen-Vluyn 1987.
Osten-Sacken, Peter von der: Martin Luther und die Juden. Neu untersucht anhand
von Anton Margarithas „Der gantz Jüdisch glaub“ (1530/31), Stuttgart 2002.
Pangritz, Andreas: Zeitgenössische jüdische Reaktionen auf Luther und die Witten-
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Battenberg, Friedrich: Die Juden in Deutschland vom 16. bis zum Ende des 18. Jahr-
hunderts. Oldenbourg, München 2001.
Foto: C. Wenn
Oberman, Heiko Augustinus: Luther, Israel und die Juden. Befangen in der mittelalter-
lichen Tradition. In: Martin Luther heute. Themenheft 3, Bundeszentrale für politische
Bildung, 1983.
Kirchenamt der EKD (Hrsg.): Christen und Juden I–III: Die Studien der Evangelischen Die Ausstellung „Ertragen können wir sie nicht. Martin Luther und die Juden“ kann
Kirche in Deutschland 1975–2000. Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2002. gegen eine Schutzgebühr im Referat für Christlich-Jüdischen Dialog der Nordkirche
ausgeliehen werden. Sie ist als Wanderausstellung konzipiert und umfasst insgesamt
Osten-Sacken, Peter von der: Martin Luther und die Juden – neu untersucht anhand 18 Tafeln, die thematisch wie das Inhaltsverzeichnis dieses Heftes gegliedert sind. Die
von Anton Margarithas ‘Der gantz Jüdisch glaub’ (1530/31), Stuttgart, 2002. einzelnen Tafeln sind auf sog. Roll Ups gedruckt, die mit wenigen Griffen im Raum frei
stehend aufgebaut werden können (je Tafel Höhe: 210 cm, Breite: 85 cm).
Mayrock, Andreas: “Von den Jüden und ihren Lügen”. Eine Untersuchung der juden-
feindlichen Schrift von Martin Luther bezüglich antijüdischer Bewertungskomponenten Information und Ausleihe:
und Stilelemente, München 2007 (Taschenbuch). Pastorin Hanna Lehming
Referat für Christlich-Jüdischen Dialog
Ben Sasson, Haim Hillel : Geschichte des jüdischen Volkes, München 1994. Zentrum für Mission und Ökumene - Nordkirche weltweit
Agathe-Lasch-Weg 16 | 22605 Hamburg
http://de.wikipedia.org/wiki/Martin_Luther_und_die_Juden
Tel. 040 88181-224 | Fax 040 88181-310
http://de.wikipedia.org/wiki/Geschichte_der_Juden_in_Deutschland h.lehming@nordkirche-weltweit.de
www.nordkirche-weltweit.de
http://de.wikipedia.org/wiki/Ritualmord-legende
Weitere Informationen sowie die Ansicht einer Beispieltafel
finden Sie auch im Internet unter:
www.nordkirche-weltweit.de/interreligioeser-dialog/christlich-juedischer-dialog/
zur-ausstellung-ertragen-koennen-wir-sie-nicht.html.
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