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schreiben-sie-herr-kehlmann-1754335.html

In wie vielen Welten schreiben Sie, Herr Kehlmann?

Daniel Kehlmann vermisst die Welt nicht mehr, in seinem neuen Buch „Ruhm“ zersplittert er
die von der Technik durchdrungenen Lebensläufe. Ein Gespräch über das Schreiben als
amoralische Tätigkeit, die Unwägbarkeiten der Kommunikationstechnik und die Freiheit des
Bestsellerautors.

29.12.2008

Das nasskalte Wiener Wetter kann der guten Laune Daniel Kehlmanns nichts anhaben. Wir
treffen uns im Café Griensteidl. Und noch bevor der Kaffee kommt, sagt der Schriftsteller
lauter kluge Dinge.

Herr Kehlmann, der englischen „Financial Times“ haben Sie kürzlich gesagt, auf Ihr
neues Buch seien Sie besonders stolz, hielten es für Ihr bisher bestes. Warum?

Ich glaube, dass es formal das Avancierteste ist, was ich je gemacht habe. Ich bin damit
künstlerisch am weitesten vorangekommen.

Die Reaktionen werden spannend zu beobachten sein ...

Es wird wohl einige Kritiken geben, die gar nichts mit dem Text zu tun haben, weil es nach
einem Erfolg immer Leute gibt, die, wie John Updike so schön sagt, nicht das Buch, sondern
die Reputation des Autors rezensieren wollen. Aber ich bin sehr gespannt, auch auf die
Reaktionen der Leser.

Der Roman heißt „Ruhm“ – etwas, was im Buch total verpufft, ja ad absurdum geführt
wird.

Es ist natürlich ein ironischer Titel. Zu meiner Verblüffung fragten mich einige Leute, als das
Buch angekündigt wurde, ob ich größenwahnsinnig geworden sei. Das ist natürlich lustig,
aber zugleich ein wenig kränkend, denn wie dumm müsste ich sein, um so einen Titel nicht
ironisch zu meinen. Mir schien das eindeutig – wie bei Feuchtwangers „Erfolg“ oder
„Money“ von Martin Amis.

Es ist ein Roman in neun Geschichten. Viele dieser Geschichten handeln davon, was
passiert, wenn die Technik versagt.

Eines der Hauptmotive ist die Kommunikationstechnologie, wie sehr man sich auf sie
verlässt, was ihr Versagen ausrichten kann und vor allem wie sie Parallelwirklichkeiten
schafft. Ich glaube, dass Handy, E-Mail und iPod die größte Veränderung unserer
Lebenswirklichkeit seit der industriellen Revolution bedeuten. Wir haben noch nicht mal
angefangen, das zu verstehen.

Was könnte es denn in künstlerischer Hinsicht bedeuten?


Nun, es ändern sich die Geschichten, die wir erzählen können. Den großen Abschied zum
Beispiel gibt es nicht mehr. Ein Mann und eine Frau fallen sich um den Hals, Geigenmusik,
Nimmerwiedersehen, gebrochene Herzen. Die Frau geht an Bord des Flugzeugs – und noch
vor dem Start schickt sie eine SMS. Und von da an gehen jede Stunde Nachrichten hin und
her. Das ist eine tief andere Lebenswirklichkeit, auch seelisch. Das kommt mir als Autor
natürlich entgegen. Ich interessiere mich immer schon für sanften Surrealismus, für das
Unwirklichwerden des Alltags. Mobiltelefone und E-Mails schaffen eine Parallelwirklichkeit.
Man kann neben dem eigenen zusätzliche Leben führen – ein weiteres Thema des Romans.

Dazu gehört die nicht unerhebliche Differenz zwischen der eigenen Innenansicht und
der Wahrnehmung, die andere von einem haben. Im Buch gibt es etwa den Blogger
Mollwitz, der im Netz den großen Macker gibt, aber im wirklichen Leben ein rechter
Versager ist.

In einer Episode schildert Mollwitz sich selbst in seiner eigenen, sehr seltsamen Sprache – das
ist wahrscheinlich die lustigste Geschichte, ich habe beim Schreiben viel gelacht –, in einer
anderen sieht man ihn mit den Augen eines Kollegen. Und wieder in einer anderen taucht ein
Internet-Blogeintrag auf, den er geschrieben hat, und der betroffene Schauspieler fragt sich,
was das eigentlich für Leute sind, die solch gehässiges Zeug schreiben. Er erfährt es nie, aber
das Buch gibt die Antwort.

Und dann gibt es ja auch Gegengeschichten wie die des Schauspielers Ralf Tanner, in
der Sie erzählen, wie einer aus seinem Leben hinausfällt ...

Aus seinem Leben und seinem Ruhm. Die Geschichte ist eine kleine Buñuel-Hommage, eine
Verbeugung vor dem klassischen Surrealismus. Beim Schreiben habe ich immer wieder
Buñuels „Das Phantom der Freiheit“ gesehen, da gibt es auch diese Figurenverdoppelungen.
Am Ende steht Tanner ja ganz buchstäblich sich selbst gegenüber.

Jede der Geschichten in „Ruhm“ ist in einem anderen Stil geschrieben. Sind das alles
auch Hommagen an Autoren, die Ihnen wichtig sind?

Eher an unterschiedliche Formen der Kurzgeschichte. Der graue Raymond-Carver-Realismus


am Anfang ist zum Beispiel eine kalkulierte Täuschung, das Buch biegt dann plötzlich in eine
andere Richtung ab. Aber alle Geschichten sind eng verbunden, und das Ganze ist keine
Sammlung, sondern wirklich ein Roman.

War die Ausgangsidee also das Spiel mit der Form?

Ja, ein Experiment in Struktur. Der Ausgangspunkt war ein formaler. Es gibt ja diese schöne
Tradition der verbundenen Kurzgeschichten, wo in einer Erzählsammlung ein paar Figuren
wiederkehren, ein paar Verbindungen da sind. Meine Idee war nun, das wesentlich weiter zu
treiben und zu verdichten, oder anders gesagt: die Form des Episodenfilms auf den Roman zu
übertragen – also einen Roman zu schreiben, der aus Episoden besteht, jede abgeschlossen,
aber alle eng zusammengehörend in einem großen Bogen.

... und es dem Leser zu überlassen, diese Verbindungen selbst herzustellen.

Man kann sie natürlich auch ignorieren. Jede Geschichte außer der letzten funktioniert auch
für sich allein.
Dann würde man aber viel versäumen. Für mich ist das Buch wie ein Kreis gebaut, wo
man am Ende wieder von vorne anfangen muss, um gewissermaßen bei jedem
Rundgang neue Spuren zu sammeln.

Ja – das Erste, was passiert, ist, dass ein Handy läutet, und das Letzte, was passiert, ist, dass
ein Handy läutet. Nur läutet es zum Schluss in einer Region, wo es keinen Empfang gibt und
es gar nicht läuten könnte ... Das Buch hat nur zweihundert Seiten, aber es geschieht
wesentlich mehr, als erzählt wird, es passiert eine Menge in den Lücken und
Zwischenräumen. Durch die untergründigen Verbindungen zwischen den Episoden gibt es
viele Zusammenhänge, die man erraten muss.

Dabei darf man sich allerdings nicht nur linear in der Handlung bewegen, sondern muss
auch die Ebene wechseln – wenn ein Schriftsteller etwa von einem Schriftsteller erzählt,
der eine Geschichte schreibt, in der eine seiner Figuren ihn zur Rechenschaft zieht ...

Das war noch eine wichtige Idee: dass die Episoden sich auf unterschiedlichen Ebenen der
Fiktionalität ereignen. Es gibt diesen Schriftsteller namens Leo Richter, und manches stammt,
innerhalb der Logik des Buches, nicht von mir, sondern von ihm – etwa die dritte Geschichte,
„Rosalie geht sterben“.

Und der Leser zieht selbst noch den dritten Boden ein, weil er ja weiß, dass Sie das Buch
geschrieben haben.

Und auch das wird wiederum thematisiert, wenn etwa Leos Figur ihn auslacht, weil er sich
einbildet, wirklich zu existieren.

Das kann man, auf selbstironische Art, als Hymne aufs Lesen und Gelesenwerden
verstehen.

Oder auf das Schreiben. Auf Macht und Ohnmacht des Erfinders.

Ein wichtiges Thema ist die Brutalität des Autors gegenüber seinen Figuren. So hadert
in der eben angesprochenen Geschichte Rosalie, eine todkranke alte Frau, mit dem
Autor Leo Richter, der sie erschaffen hat. Sie fragt, warum sie das erdulden muss. Hat
man als Schriftsteller Verantwortung für seine Figuren, oder ist Schreiben eine
amoralische Tätigkeit?

Schreiben ist eine amoralische Tätigkeit. Man sollte versuchen, im Leben einigermaßen
anständig zu sein, aber Schreiben ist etwas Brutales und Rücksichtsloses, da hilft nichts. Zum
einen ist es rücksichtslos gegenüber den Menschen, die einen umgeben, etwa – das macht Leo
Richter oft und ich nur selten – indem man ihr Leben für Geschichten verwendet, zum
anderen aber auch einfach deshalb, weil man beim Schreiben Wahrheiten aussprechen muss,
die man normalerweise lieber aus Rücksicht verschweigen würde. Und dann gibt es natürlich
die Brutalität den Figuren gegenüber, die man erfindet, um ihnen das Leben schwerzumachen.
Das ist ein Hauptthema von „Ruhm“: Leo tut es mit Rosalie, und ich tue es mit Maria
Rubinstein in „Osten“, und am Schluss tut Leo es sogar mit seiner Geliebten Elisabeth, die
sich durch seine Schuld allein in einer gefährlichen Situation wiederfindet.

Könnte man das als Hyperfiktion bezeichnen?

Vielleicht. Es ist ein Spiegelkabinett aus Geschichten.


Wie sind Sie bei der Arbeit an diesem Buch vorgegangen? Haben Sie an mehreren
Geschichten zugleich gearbeitet, oder hat sich die enge Verzahnung erst beim Schreiben
entwickelt?

Die Idee des Ganzen war zuerst da. Ich bin viel spazieren gegangen und habe Pläne im Kopf
entworfen, Pläne des Zusammenspiels der Episoden. Ich hatte dann zunehmend ein Gefühl für
das architektonische Gefüge. Dann erst kamen die Geschichten selbst. Nur „Rosalie geht
sterben“ hatte ich schon lange mit mir herumgetragen. Es ist wahrscheinlich meine beste
Geschichte, und ich habe sie Leo Richter geschenkt.

Leo Richter erklärt Rosalie, das sei eine „theologische Geschichte“.

Wenn ein Autor Figuren entwirft, damit sie es schwer haben, ist das ja auf einer höheren
Ebene auch das, wovon wir uns vorstellen, dass Gott es mit uns macht, dass unser Leiden
einen Sinn hat und dass es eben nicht anders möglich ist. Aber die Frage bleibt: Könnte es
nicht trotzdem anders sein? Wo ist die Gnade, wieso ist das Erbarmen nicht mächtiger als der
Plan? Ein dramaturgisches Problem, in dem sich ein theologisches verbirgt. In „Rosalie geht
sterben“ war aber das Wichtigste, dass die Geschichte darüber nicht zu abstrakt werden
durfte. Es musste eben immer auch um eine wirkliche Frau und ihr Schicksal gehen.
Metafiktionales Spiel allein ist zu wenig. Die Arbeit daran ist mir sehr nahegegangen. Es gibt
mehrere komische Episoden in „Ruhm“, aber diese gehört nicht dazu.

Wer ist der seltsame Typ mit der roten Mütze, der plötzlich auftaucht? Ein
Stellvertreter des Autors, von Gott?

Ich weiß nicht genau. Er ist ein irrationales Element. Strenge Konstruktion muss auch immer
wieder gebrochen und gestört werden, wie im Leben. Er ist außerdem der seltsame
Autostopper aus „Ich und Kaminski“. Der Kerl kommt immer wieder vor in meinen Büchern.
Keine Ahnung, wer er ist und was er will!

War dieses Buch schwieriger zu schreiben als Ihre vorigen, weil Sie sich mehr unter
Druck fühlten? Oder hat der Erfolg der „Vermessung der Welt“ Sie im Gegenteil freier
gemacht?

Natürlich macht es Spaß, Erwartungen zu unterlaufen. Wenn man wirklich realisiert, dass der
Vorteil eines Bestsellers darin liegt, dass man nie wieder einen Bestseller schreiben muss,
dass der Bestseller eine Art Querfinanzierung von allem ist, was einem an seltsamen Dingen
künftig einfallen mag, so hat das etwas unglaublich Befreiendes. Und ich habe es auch als
befreiend empfunden, dass „Ruhm“ so anders ist als die „Vermessung der Welt“. Es ist ein
zersplitterter, multiperspektivischer Roman und insofern wirklich das Gegenteil der
festgefügten Einheit der „Vermessung“.

Im Buch sind fast alle unterwegs, auf Promotiontour, Lesereise, Dienstreise, Pressereise.
Warum war dieses ständige Reisen so wichtig?

Sicher nicht nur, weil ich selbst viel unterwegs war. Es geht eben in „Ruhm“ um die sich jetzt
gerade ereignenden Veränderungen unseres Lebens. Menschen sind heute viel mehr auf
Reisen als noch vor ein paar Jahren. Raum ist zu etwas anderem geworden: Man ist selbst
ständig woanders, und zugleich führt man zu jedem Zeitpunkt ein Dutzend Konversationen
mit Leuten, die über die halbe Welt verteilt sind. Das sind alles keine oberflächlichen
Veränderungen. Was wir da mitmachen, ist eine große seelische Umwälzung.
Erleben Sie unsere zunehmende Abhängigkeit von der Technik als totale Entfremdung?

Heidegger konnte selbst noch gar nicht wissen, wie sehr er recht haben würde mit seiner
Analyse, dass wir einer technischen Lebenswelt überantwortet sind, der wir nicht entkommen
können, weil das eben keine Verschwörung ist, sondern eine immanente Entwicklung der
Dinge. Heideggers Antwort wurde ja zur legendären „Spiegel“-Schlagzeile: „Nur ein Gott
kann uns retten.“ Ich befürchte immer mehr, dass das stimmt und dass wir tatsächlich eine
Entwicklung erleben, die keinen Ausweg hat – oder wenn, dann nur einen Ausweg, den wir
nicht wollen können, nämlich einen Totalzusammenbruch des Systems, eine ungeheure
Katastrophe oder einen Weltkrieg. Sowohl im Beruflichen, wo man für Vorgesetzte
inzwischen immer erreichbar sein muss, als auch im Privaten kann man ja nicht mehr
entfliehen – und meistens will man es auch gar nicht, weil man von dieser Technik ja
gleichzeitig profitiert.

Aber so vieles ist jetzt schon irreversibel anders geworden. Goethe gerät in Weimar in eine
zunehmend unerträgliche Situation mit Frau von Stein und haut kurzerhand nach Italien ab,
hinaus aus der Enge und den Beziehungsnöten – das geht heute schon nicht mehr, weil man ja
das Handy mitnimmt und die Beziehungsprobleme einem folgen und man die Mails auch
anderswo abfragen muss, sonst sind alle gekränkt und man verliert seinen Job. Die Maschen
des Netzes werden immer enger. Wenn es überhaupt einen Ausweg gibt, dann wird dieser nur
Einzelnen offenstehen – als Luxus für reiche Erben.

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Das Gespräch führte Felicitas von Lovenberg.

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