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18 1682
274 Neutralität und Neutralisierungen
kratien die geistige Rüstung für ihren „gerechten K rieg“. H ier scheinen
sie noch zu glauben, in der Offensive zu sein. Auch das wissenschaftliche
Ansehen und die respectability berühm ter Juristen w eiden hier als Kampf
m ittel eingesetzt. D iejenigen deutschen Rechtswahrer, denen der Sinn eines
solchen Kampfes noch verschlossen sein sollte, verw eise ich auf den Aufsatz
von J. W. G arner im Januar-H eft 1939 des „Am erican Journal of Inter
national Law “ : „T heNazi proscription of germ an professors of international
law “, mit seineu Beschimpfungen Deutschlands und seinem unzweideutigen
Schluß. Vielleicht genügt das, um jedem von uns den Intensitätsgrad der
gegenw ärtigen weltpolitischen Auseinandersetzung zu dokum entieren und
ihm die eigene Situation zum Bew ußtsein zu bringen.
I.
Die innerstaatlich-verfassungsrechtliche Neutralisierung von Staat
und Regierung
Die Geschichte der europäischen Staatsw erdung ist eine Geschichte der
N eutralisierung konfessioneller, sozialer und anderer Gegensätze inner
halb des Staates. D er Staat selbst, als eine machina machinarum, w ar
seinem Wesen nach neutral und konnte auf die D auer nichts anderes sein.
D er liberale Konstitutionalism us des 19. Jahrhunderts führte diesen Neu
tralisierungsprozeß w eiter, indem er auch die staatliche Regierung erfaßte
und den absoluten Fürsten in ein neutrales, von der aktiven Regierung
abgetrenntes Staatsoberhaupt verw andelte. Es ist bezeichnend, daß die
Theorie und die Form el vom König als „neutraler G ew alt“, vom pouvoir
neutre, durch den aus Lausanne stam menden Rom antiker Benjam in Con
s ta n t nach der N iederlage Napoleons I. im Jahre 1814 aufgestellt w urde1.
Die Spitze der Staatsgew alt w ird dadurch von der Regierung abgetrennt.
Aus dem mit dem Staate sich identifizierenden absoluten Monarchen w ird
eine innenpolitisch indifferente Größe, die nicht einm al in dem Gegensatz
von Regierungs- und O ppositionspartei Stellung nehmen darf. D er in der
Teilung steckende K ern einer W ahrheit, nämlich die Unterscheidung von
auctoritas und potestas, kommt nur gelegentlich zur A usw irkung.
Die verfassungsgeschichtliche Bedeutung dieser Lehre und die Praxis
des neutralen Staatsoberhaupts sind bisher noch nicht, wie sie es ver
dienten, in einer erschöpfenden G esam tdarstellung in den großen Zu
samm enhang der innerpolitischen Geschichte des 19. Jahrhunderts ein
gefügt worden. Im Zwielicht ih rer innenpolitischen N eutralität haben die
verschiedenen konstitutionellen Könige und Staatspräsidenten im 19. und
20. Jah rhundert oft sehr verschiedene Rollen, gute und böse, gespielt, und
manche Methoden „indirekter G ew alt“ ausgebildet, die nach Lage der
innenpolitischen Verhältnisse nützlich und vorteilhaft sein konnten.
Institutionell aber tritt in diesem System dev neutralen G ew alt immer ein
n eu tralisierter „Staatschef“ einem politischen „Regierungschef“ gegenüber
1 Der Hüter der Verfassung, 1931, S. 132/33.
Neutralität und Neutralisierungen 275
lb*
276 Neutralität und Neutralisierungen
der P arteiführer der Parlam entsm ehrheit regiert? Die politischen Tages-
meinungen aller bürgerlichen Parteien, auch der konservativen und der
freikonservativen, konnten sich im G runde nichts anderes denken. Manche
Äußerungen Bismarcks bestätigten diese Auffassung, und der allerhöchste
Erlaß vom 4. Januar 1882 gab ihr eine A rt Sanktion1. D ie staatsrechtliche
Wissenschaft und die allgemeine Staatslehre bew egten sich in denselben
Begriffsgeleisen und standen, wie Rudolf Smend richtig bem erkt*2, den
eigentlichen a rca n a im p e r ii der überaus kom plizierten Verfassung des
Zweiten Reiches viel zu fern, als daß sie gegenüber einem offiziell gewor
denen Begriffsschema etwas anderes hätten denken können. B efreien w ir
uns also einen Augenblick von der Suggestion dieser A ntithese und achten
w ir lieber auf das wirkliche V erhalten und die w irklichen V orstellungen
der regierenden Kaiser des Zweiten Reiches und einiger an d erer Persön
lichkeiten, von denen man annehm en kann, daß sie die A rk an a des Reiches
und die innersten Bereiche seiner V erfassungsw irklichkeit aus näh erer
W ahrnehmung kannten als die P arlam en tarier und Professoren dieser
Epoche. Dann zeigt sich bald, daß jene L ehre vom nicht-neutralen, konsti
tutionellen deutschen Monarchen vielleicht fü r den preußischen Staat
einen gewissen taktischen Sinn haben konnte, daß sie aber gegenüber der
Reichsregierung des Zweiten Reiches in jed e r Hinsicht versagt hat und
höchstens geeignet ist, die Tatsache zu verschleiern, daß durch die bundes
staatliche Verteilung der Regierung auf Reich und P reußen und die un
widerstehlich fortschreitende N eutralisierung der R eichsregierung auch der
Staat Preußen in diesen N eutralisierungsprozeß hineingezogen w urde.
1. Das deutsche Kaiserreich der Verfassung Bismarcks hatte nicht nur
kein „verantwortliches“ Staatsoberhaupt, sondern auch keinen wirklich
regierenden Kaiser. Wilhelm I. wollte schon für Preußen ein „konstitutionell
korrekter“ Monarch sein. Aber seine königliche Macht in Preußen war
stark, die Armee gehorchte nur ihm, und das Beamtentum war ihm treu.
Als König von Preußen hatte er nicht etwa einen wirklichen Regierungs
chef, auch keinen Premierminister zur Seite, sondern ein Kollegium von
Ministern, unter denen jedenfalls der Kriegsminister und der Finanz
minister ihren eigenen Standpunkt durchsetzen konnten und, was das in
einem solchen Verfassungsaufbau wichtigste Recht ist, den Zugang zum
König hatten. Der Ministerpräsident war bekanntlich nur Vorsitzender
des Ministerrates, nur primus inter pares. Die großen Monarchen haben zu
allen Zeiten gewußt, was das Premierministersystem für ihre königliche
Macht3 bedeutet. Trotz dieser starken Stellung des Königs mußte es in
Ablehnung der Trennung von régner und gouverner hat sich Bismarck
an?; n Januar 1882, bei der Erörterung des Erlasses vom 4. Januar 1882, ausführlich
geäußert.
2 Der Einfluß der deutschen Staats- und Verwaltungsrechtslehre des 19. Jahr-
Bd I Vr (lW9) ga| ^ e^en *n Verfassung und Verwaltung, Deutsche Rechtswissenschaft,
3 Die Mahnung Ludwigs XIV. an seinen Sohn und seine Nachfolger lautet: «Quant
aux personnes qui dévoient seconder mon travail, je résolus, sur toutes choses, de
ne prendre point de premier ministre; et, si vous m’en croyez, mon fils, et tous vos
Neutralität und Neutralisierungen 277
sein, sind so tra u rig und in einer so peinlichen W eise m ißlungen, daß sich
an diesem Mißerfolge die W irklichkeit der Verfassungslage in einer
geradezu erschütternden Weise enthüllt. Im W iderstand gegen solche w irk
lichen oder verm eintlichen Versuche eines persönlichen Regiments und in
dem Bestreben, den K aiser über seine konstitutionellen G renzen zu be
lehren und ihn zu einer neutralen Größe zu erziehen, w aren sich in k riti
schen Augenblicken alle P arteien von rechts bis links, K onservative und
Liberale, Föderalisten und U nitarier, plötzlich einig. W ährend der soge
nannten N ovem berkrisis 1908, die aus A nlaß der Veröffentlichungen im
„D aily T elegraph“ vom 28. O ktober 1908 entstand, haben nicht etw a n u r
der B undesrat und die P arteien des Reichstags, einschließlich der Kon
servativen Partei, gegen dieses A ktivw erden des Monarchen Stellung
genommen, sogar das Preußische Staatsm inisterium faßte am 10. November
1908 einstimmig einen Beschluß, in dem es den H e rrn Reichskanzler und
M inisterpräsidenten bat, „Seiner M ajestät auch namens des Staatsm iniste
riums über den Ernst der Lage und die Notw endigkeit V ortrag zu halten,
daß Seine M ajestät alles verm eiden wollen, was eine ähnliche K ritik
herausfordern w ürde“1. D er K aiser persönlich wollte auch in W ahrheit
durchaus konstitutionell k o rre k t sein. „Habe ich jem als einen einzigen
Schritt getan, der als Eingriff in unsere Staatsverfassung aufgefaßt w erden
konnte?“ fragte er einmal den Fürsten Eulenburg12. Seine eigene Auffassung
von der verfassungsm äßigen Stellung eines deutschen K aisers hat er in
seinen „Ereignissen und G estalten aus den Jahren 1878 bis 1918“3 auf das
klarste form uliert. „G estützt darauf, daß der K anzler nach der Verfassung
allein die V erantw ortung für die ausw ärtige Politik zu tragen hat, schaltete
und w altete er (der Reichskanzler) frei nach Belieben. Das A usw ärtige Amt
durfte m ir n u r m itteilen, was dem K anzler paßte, so daß ich oft über wich
tige A ngelegenheiten nicht inform iert w orden bin. D aß das überhaupt
möglich w ar, liegt an der Reichsverfassung.“ Im Anschluß an diese v er
fassungsgeschichtliche Feststellung fügt der K aiser eine verfassungsrecht
liche D arlegung über das V erhältnis von K aiser und K anzler nach der
Reichsverfassung von 1871 im allgem einen an, wobei er betont, daß er h ier
nicht über sein V erhältnis zu H errn von Bethm ann persönlich, „sondern
ganz unpersönlich über die Schwierigkeiten in dem V erhältnis des deut
schen Kaisers zu den Reichskanzlern“ spreche, „die ihren G rund in der
Reichsverfassung h atten “. U nter den sechs Punkten, die er zu diesem
Thema aufstellt, kom men hier besonders vier in Betracht, die wörtlich
zitiert seien:
2. Der Kaiser hat auf die auswärtige Politik nur insoweit Einfluß, als der
Kanzler ihm einräumt.
3. Der Kaiser kann seinen Einfluß geltend machen im Wege der Diskussion,
Information, Anregung, durch Vorschläge und die Berichterstattung über seine auf
1 Vgl. die anschauliche und lehrreiche Darstellung dieser Krise bei H. E. F e i n e ,
Das Werden des deutschen Staates, Stuttgart 1936, S. 370 ff.
2 Johannes v. H a l l e r , Aus dem Leben des Fürsten Philipp zu Eulenburg-
Hertenfeld, 1924, S. 255/56.
3 Leipzig und Berlin 1922, S. 116—118.
280 Neutralität und Neutralisierungen
Reisen empfangenen Eindrücke, die dann als Ergänzung zu den politischen Berichten
der Botschafter oder Gesandten der Länder, die er persönlich besuchte, gilt.
5. Verfassungsmäßig hat der Kaiser kein Mittel, den Kanzler und das Auswärtige
Amt zur Annahme seiner Ansichten zu zwingen; er kann den Kanzler nidit zu einer
Politik veranlassen, die dieser nicht verantworten zu können glaubt; besteht der
Kaiser auf seiner Auffassung, so kann der Kanzler seinen Abschied anbieten oder
fordern.
6. Auf der anderen Seite besitzt der Kaiser kein verfassungsmäßiges Mittel, den
Kanzler und das Auswärtige Amt an einer Politik zu hindern, die er für bedenklich
oder falsch hält; es bleibt ihm, wenn der Kanzler auf seiner Auffassung besteht,
nur übrig, zum Kanzlerwedisel zu sdireiten; jeder Kanzlerwechsel ist aber eine
schwierige, in das Leben der Nation tief eingreifende Prozedur und deshalb in Zeiten
politischer Verwicklung und Hochspannung äußerst bedenklidi, eine ultima ratio,
die um so gewagter ist, als die Zahl der für diesen anormal ausgewachsenen Posten
geeigneten Männer sehr gering ist.
Soweit der K aiser selbst. D ieser verfassungsrechtlichen K larstellung
eines Staatsoberhauptes, das 30 Jahre regiert hat, w ird man einen gewissen
authentischen C h arak ter nicht absprechen können. D er K aiser versichert,
„es sein ein Beweis völliger U nkenntnis der früheren deutschen Reichs
verfassung“, den Kaiser für alles allein verantw ortlich zu machen, wie das
„seitens kritischer Besserwisser und nörgelnder U m stürzler“ geschehen sei.
Ich glaube nicht, daß diese verfassungsrechtliche Auffassung des Kaisers
eine bloß nachträgliche K onstruktion ist, die n u r dazu dienen soll, die Ver
antw ortlichkeit für das Unglück des W eltkrieges von ihm abzuwälzen. Sie
ist keine bloße Ausrede. Vielm ehr haben, wie eben erw ähnt, viele
b ittere persönliche E rfahrungen der V orkriegszeit den deutschen Kaiser
des Zweiten Reiches zu dieser, der konstitutionalistischen Folgerichtigkeit
entsprechenden N eutralität allmählich erzogen und über die w ahre Bedeu
tung der Form el von den persönlich regierenden deutschen Monarchen
gründlich belehrt. D araus e rk lä rt sich auch die n eutrale H altung, die er
w ährend des W eltkrieges, insbesondere in den kritischen Jahren 1916 bis
1918, im wachsenden Maße angenommen hat, bis er schließlich, wie v. Moser
in seiner anschaulichen Schilderung sagt, zum bloßen „Allerhöchsten Zu
hörer und Zuschauer der W eltbegebenheiten“ geworden w ar. Besser als mit
diesen W orten läßt sich das Ideal eines monarchischen pouvoir neutre nicht
umschreiben. D er deutsche K aiser des W eltkrieges übte nicht einmal die
Rolle eines höchsten, die M einungsverschiedenheiten und Gegensätze der
politischen und der m ilitärischen Führung entscheidenden Schiedsrichters
aus, so daß bereits damals, 1917/18, auf m ilitärischem G ebiet der G eneral
feldm arschall v. H indenburg, der ,Chef des G eneralstabes, unter dem
O bersten K riegsherrn in eine A rt von konstitutioneller Position hinein
wuchs, w ährend Erich Ludendorff, u n ter dem Nam en eines G eneral
quartierm eisters, der aktive Befehlshaber Avar. Trotz der Stellung als
O berster K riegsherr, trotz des angeblichen Unterschiedes eines aktiven,
deutsch-konstitutionellen Monarchen von einem passiven, englisch- oder bel
gisch-parlam entarischen Monarchen, hat der deutsche K aiser des Zweiten
Reiches nidit regiert, und zwar, wie er selbst sagt, deshalb nicht, weil ihm die
Reichsverfassung das nicht erlaubte.E s ist eine F rage für sich,ob es politisch
vernünftig w ar, so konstitutionell zu bleiben. A ber m an darf die damalige
Neutralität und Neutralisierungen 28t
I
284 Neutralität und Neutralisierungen
II.
Zwisdienstaatlich-völkerreditlidlie Neutralität und Neutralisierung
Daß ein zur Völkerrechtsgemeinschaft gehörender S taat in einem
Kriege zwischen anderen Staaten neu tral bleiben kann, gehört zu seiner
völkerrechtlichen Existenz. Die N eu tralität ist ein G rundbegriff der heu
tigen Völkerrechtsordnung. Nicht nu r deshalb, weil, praktisch gesehen,
wirkliche und starke N eutrale die besten G aranten und H ü ter des V ölker-
TT 1 Xd- verfassungsgeschichtlidie Darstellung bei E. R. H u b e r , Verfassung,
Hamburg 1937, S. 15 ff.
Neutralität und Neutralisierungen 285
rechts sind1 und, wie der W eltkrieg in den Jah ren 1917/18 gezeigt hat,
ein V ölkerrecht des K rieges ohne stark e N eutrale w ertlos ist. Eine auf
unabhängige S taaten gegründete Völkerrechtsgem einschaft h a t vielm ehr
den K ern ih re r kon k reten O rdnung darin, daß es selbständige Staaten
sind, die diese Gem einschaft bilden, nicht andere G ebilde, seien es Kirchen,
Klassen, O rden, P arteien oder irgendwelche sonstigen, der S taatsqualität
entbehrenden O rganisationen. Das V ölkerrecht setzt bei jedem Staat ein
M indestmaß in n erer staatlicher O rganisation und äu ß erer W iderstands
k raft voraus. Staatliche Selbständigkeit und U nabhängigkeit bew ähren sich
darin, daß der Staat aus eigener Entscheidung und auf eigene G efahr K rieg
fü h rt oder nicht führt, d. h. im K riege D ritte r n e u tra l bleibt. D er K rieg
aber h at seine völkerrechtliche O rdnung und G erechtigkeit darin, daß es
auf beiden Seiten Staaten sind, die ihn gegeneinander führen. D er Staaten-
lcrieg ist demnach ein von einer O rdnung gegen eine andere O rdnung ge
fü h rter Krieg, nicht ein K rieg einer O rdnung gegen U nordnung. D ie K riege
sind daher auf beiden Seiten in gleichem Maße völkerrechtlich gerecht, aber
nur w eil und solange auf jed e r Seite ein S taat vorhanden ist. D er K rieg ist
in einem solchen völkerrechtlichen System nichts Außerrechtliches, sondern
eine echte R echtsinstitution. “In the eye of international law all w ars are
ju st” sagt, in Ü bereinstim m ung m it seiner ganzen Zeit, der gute alte F re e
man Snow in seinem Lehrbuch des Seekrieges (W ashington 1898). D ie
völkerrechtliche B eurteilung des S taatenkrieges ist h ier analog der eines
rechtlich an erk an n ten D uells, das als Institution seine innere O rdnung und
G erechtigkeit in erste r Linie darin findet, daß es auf beiden Seiten satis
faktionsfähige Personen sind, die den Zw eikam pf u n ter sich ausmachen.
D aß dieser nichtdiskrim inierende Kriegsbegriff dem L andkrieg zugeordnet
ist und durch die englische, vom See- und H andelskrieg ausgehende V or
stellung zerstört w ird, habe ich an an d erer Stelle gezeigt12.
Die grundlegende E rkenntnis der Bedeutung eines nichtdiskrim inieren
den K riegsbegriffs und der n u r daraus abzuleitenden M öglichkeit einer
völkerrechtlichen N e u tra litä t h at sich in den letzten Jah ren von neuem
durchgesetzt, nachdem die Thesen des am erikanischen P räsidenten W ilson
und die K onstruktionen der G enfer V ölkerbundsjurisprudenz zwei J a h r
zehnte hindurch eine große V erw irrung angerichtet h a tte n 3. Ich k ann mich
1 Peter Albert M a r t i n i , Reformvorschläge zum Seekriegsrecht, Berlin 1934
(Völkerrechtsfragen, Heft 39), hat das einfach und anschaulich ausgesprochen. Zu
demselben Ergebnis kommt W. P. J. A. v a n R o y e n , Analyse de revolution de
la neutralité au cours de l’évolution du droit des gens, Den Haag 1938.
2 Carl S c h m i t t , Totaler Feind, totaler Krieg, totaler Staat, Völkerbund und
Völkerrecht, Bd. IV, 1937, S. 139 f o b e n Nr. 28, S. 235.
a Carl S c h m i t t , Die Wendung zum diskriminierenden Kriegsbegriff, Schriften
der Akademie für Deutsches Recht, herausgegeben von Reichsminister Dr. Hans
Frank, Gruppe Völkerrecht Nr. 5, München 1938; Der Leviathan in der Staatslehre
des Thomas Hobbes, Hamburg 1938, S. 72 ff. Gustav Adolf W a l z , Die Inflation des
Völkerrechts, Beilage zur Zeitschrift für Völkerrecht, 1939. Ulrich Sch e u n e r . Die
Neutralität im heutigen Völkerrecht, Festschrift anläßlich des 25jährigen Bestehens
der deutschen Landesgruppe der International Law Association, 1938. Weiteres um
fangreiches Schrifttum ergibt sich aus diesen Abhandlungen.
286 Neutralität und Neutralisierungen
hier mit dieser kurzen Feststellung begnügen. Inter arm a silent leges, sed
non silet jus, nec silet fas. Dieses jus und dieses fas sind allerdings etwas
anderes als die in Versailles und Genf versuchten juristischen Legali
sierungen und Legitim ierungen eines in sich ungerechten status quo.
D er im Staat seine O rdnung findende Kriegsbegriff ist heute durch
universalistische, auf indirekte G ew alten sich stützende K onstruktionen
bedroht, die den zwischenstaatlichen Krieg in einen internationalen Bürger
krieg verw andeln. Sobald der Staat zum W erkzeug in d irek ter oder gar
geheimer Mächte w ird, ist diese Folgerung unvermeidlich. Ebenso hört
das Völkerrecht auf und beginnt der internationale W eltbürgerkrieg, so
bald statt des Staates eine internationale Klasse zur tragenden politischen
O rganisation gemacht wird. Das hat E rnst Bockhoff in vielen Veröffent
lichungen auf das nachdrücklichste gezeigt1. Dagegen heben der Prim at des
Volkes gegenüber dem Staat und die Auffassung des norm alen Staates als
einer Organisationsform eines Volkes die Möglichkeit einer Völkerrechts
ordnung und einer echten N eutralität nicht nu r nicht auf, sondern geben
ihm überhaupt erst die Substanz, die seinen grundlegenden O rdnungs
charakter auf die D auer zu erhalten und vor dem Mißbrauch indirekter
G ew alten zu w ahren vermag, dem die neutral-instrum entalen Elemente
des Staates immer ausgesetzt sind. Erst dadurch ist der Staatenkrieg vor
einer universalistischen V erwandlung in einen B ürgerkrieg w irksam ge
schützt. D er Totalitätsanspruch vernichtet das Völkerrecht nu r dann, wenn
er universalistischen C h arak ter hat und sich mit den typisch indirekten
G ew alten verbindet, w ährend der G edanke der völkischen T otalität im
Gegenteil den pluralistischen C h arak ter der W elt des Politischen wie auch
der W elt des objektiven Geistes überhaupt zur Voraussetzung h a t12. Vor
läufig allerdings w ird besonders in den angelsächsischen Ländern eine
summarische und geradezu panische Vorstellung von der T otalität propa
gandistisch benutzt, um den sog. totalitären Staat als einen menschenfeind
lichen und menschenverschlingenden L eviathan hinzustellen. A ber trotz der
ungeheuerlichen Suggestionen, die von solchen Vorstellungen ausgehen und
in allen Ländern der westlichen D em okratie die geistige A tm osphäre ver
nebeln, ist die grundlegende Verschiedenheit leicht zu erkennen. Völkische
T otalität und völkerrechtliche N eutralität heben sich nicht auf. Sie bedingen
und stützen sich gegenseitig3.
Daß N eutralität und Zugehörigkeit zum G enfer Völkerbund unverein
bar sind, ist durch die gründliche E rörterung des Problem s der Schweizer
N eutralität1 im Laufe des letzten Jahres w eithin überall dort zum Bew ußt
sein gekommen, wo man den totalen W eltkrieg zu verm eiden sucht. Einige
M ißverständnisse, die hier noch obwalten und die namentlich, in der Dis
kussion zwischen dem Züricher Völkerrechtslehrer Professor Dietrich
Schindler und Ernst Bockhoff zutage tra te n 12, bedürfen allerdings noch der
wissenschaftlichen K lärung. Ich denke dabei nicht so sehr an die von
Dietrich Schindler in den V ordergrund gestellte Frage, ob und w ieweit es
völkerrechtliche Neutralitätspflichten im Frieden überhaupt geben kann;
diese Frage liegt für die Schweiz angesichts ih rer völkerrechtlichen situation
unique durchaus eigenartig, weil die Schweiz sich in einem Kriege der
anderen Staaten nicht nach freier Entscheidung von Fall zu Fall zur
N eutralität entschließen kann, sondern ein dauernd neutralisiertes Land
ist, dessen völkerrechtlicher G esam tstatus in Krieg und Frieden durch die
Pflicht zur N eutralität dauernd bestimm t w ird 3. Auch einen zweiten P unkt
möchte ich hier nicht behandeln, obgleich er schon deshalb nicht un
erw ähnt bleiben kann, weil er bei Schindler zu Unrecht ganz unbeachtet
bleibt: daß nämlich die eigentliche G efahr für jede, nicht nu r die schweize
rische völkerrechtliche N eutralität vom G enfer V ölkerbund ausging. Ich
darf H errn Professor Schindler daran erinnern, daß das eigentliche und
gefährlichste Vae Neutris! von englischer Seite zum Ausdruck gebracht
worden ist, und zw ar in dem Aufsatz, den Sir John Fischer W illiams zu
der völkerrechtlichen Frage der Sanktionen gegen Italien vom H erbst 1935
veröffentlicht h a t4. Im Rahm en unserer gegenw ärtigen Bem erkungen zu
dem allgem einen Problem der N eu tralität liegt m ir aber vor allem daran,
auf den praktisch und theoretisch überaus wichtigen grundsätzlichen Zu
sammenhang von zwischenstaatlicher un<^ innerstaatlicher N eutralitäts
stru k tu r aufm erksam zu machen. Die in unserem vorigen K apitel (unter I)
behandelte innerstaatliche N eutralität des Staates hat nämlich im Laufe
des 19. Jahrhunderts eine große zwischenstaatlich-völkerrechtliche Aus
w irkung gehabt und die gesamte konkrete Ausprägung der zwischenstaat
lichen und außenpolitischen N eu tralität von G rund auf bestimmt. Sie w irkt,
wie fast jedes A rgum ent von Professor Schindler beweist, trotz vollständig
veränderter Lage auch heute noch w eiter, und jede U nklarheit in diesem
P unkt ist geeignet, eine Verständigung unmöglich zu machen.
Die im Z eitalter des europäischen Konstitutionalism us erfolgte inner-
1 Die einzelnen Daten sind in dem Aufsatz von Prof. Dr. Dietrich S c h i n d l e r ,
Die schweizerisdie Neutralität 1920—1938, Zeitsdirift für ausländisdies öffentlidies
Recht und Völkerrecht, Bd. VIII (1938) S. 413 ff., mitgeteilt.
2 Nationalsozialistische Monatshefte, Januar 1939, und Neue Schweizer Rund
schau, Januar 1939, S. 1 f. (Neutralität und Presse).
a Darauf weist auch die treffende Bemerkung „Echte und falsche Neutralität“
in den von Fritz B e r b e r herausgegebenen Monatsheften für auswärtige Politik,
Jahrgang 6, Februar 1939, S. 158, hin.
4 The British Yearbook of International Law XVII, 1936, S. 130—149: dazu
Carl S c h m i t t , Die Wendung zum diskriminierenden Kriegsbegriff, 1938, S. 26 ff.;
und Das neue Vae Neutris!. Völkerbund und Völkerredit IV (1938) S. 633 ff.. oben
Nr. 31, S. 251 f.
288 Neutralität und Neutralisierungen
19*
292 Neutralität und Neutralisierungen
m ehr gebunden sind, w ird dieses Buch vom Reich auch in seinem un
vollendeten und unvollkom menen Zustand richtig zu lesen wissen. E r w ird
es für die eigene A rbeit fruchtbar machen, dem tapferen V orkäm pfer dank
b a r sein und den Namen C hristoph Stedings in Ehren halten.