Sieger über den Besiegten. D ieser w ird um so m ehr nachträglich zum Feind
gestempelt, je m ehr er der Besiegte ist.
2. Im Paktsystem der G enfer Nachkriegspolitik w ird der A n g r e i f e r
als F e i n d bestimmt. A ngreifer und Angriff w erden tatbestandsm äßig
umschrieben: w er den K rieg erk lärt, w er eine Grenze überschreitet, w er
ein bestimm tes V erfahren und bestim m te Fristen nicht einhält usw., ist
Angreifer und Friedensbrecher. Die völkerrechtliche Begriffsbildung w ird
hier zusehends krim inalistisch - strafgesetzlich. D er A ngreifer w ird im
Völkerrecht das, was im heutigen Strafrecht der D elinquent, der „T äter“
ist, der ja auch eigentlich nicht ein „T äter“, sondern ein „U ntäter“ heißen
müßte, weil seine angebliche T at in W ahrheit eine U ntat ist1. Diese K rim i
nalisierung und V ertatbestandlichung von Angriff und A ngreifer hielten
die Juristen der G enfer N achkriegspolitik für einen juristischen Fortschritt
des Völkerrechts. D er tiefere Sinn aller solcher Bem ühungen um die Defi
nition des „A ngreifers“ und die Präzisierung des Tatbestandes des „An
griffs“ liegt aber darin, einen F e i n d zu konstruieren und dadurch einem
sonst sinnlosen K rieg einen Sinn zu geben. Je autom atischer und mecha
nischer der K rieg w ird, um so autom atischer und mechanischer w erden
solche Definitionen. Im Z eitalter des echten K om battantenkrieges brauchte
es keine Schande und keine politische Dum m heit, sondern konnte es E hren
sache sein, den Krieg zu erklären, w enn man sich mit G rund bedroht oder
beleidigt fühlte (Beispiel: die K riegserklärung K aiser Franz Josefs an
Frankreich und Italien 1859). Jetzt, im G enfer N adikriegs-V ölkerrecht, soll
es ein krim ineller T atbestand w erden, weil der Feind zum Verbrecher
gemacht w erden soll.
5. F r e u n d und F e i n d haben in den verschiedenen Sprachen und
Sprachgruppen eine sprachlich und logisch verschiedene S truktur. Nach
deutschem Sprach sinn (wie in vielen anderen Sprachen) ist „F reund“
ursprünglich n u r der Sippengenosse. F reund ist also ursprünglich nur der
Blutsfreund, der B lutsverw andte, oder der durch H eirat, Schwurbrüder-
schaft, Annahm e an Kindes Statt oder durch entsprechende Einrichtungen
„verw andt Gemachte“. Vermutlich ist erst durch den Pietismus und ähn
liche Bewegungen, die auf dem Weg zum „G ottesfreund“ den „Seelen
freund“ fanden, die für das 19. Jah rh u n d ert typische, aber auch heute noch
verbreitete P rivatisierung und Psychologisierung des Freundbegriffes ein
getreten. Freundschaft w urde dadurch eine Angelegenheit p riv ater
Sym pathiegefühle, schließlich gar m it erotischer Färbung in einer Mau-
passant-A tm osphäre.
Das deutsche W ort „Feind“ ist etymologisch w eniger k la r zu bestimmen.
Seine eigentliche W urzel liegt, wie es in Grimms W örterbuch heißt, „noch
unaufgehellt“. Nach den W örterbüchern von Paul, H eyne und W eigand soll
es (im Zusamm enhang m it f i j a n -hassen) den „Hassenden“ bedeuten. Ich
will mich nicht in einen Streit m it Sprachforschern einlassen, sondern möchte
1 Der Versuch, kriminelle „Tätertypen“ zu finden, würde zu der Paradoxie von
„Untäter-Typen“ führen.
246 Uber das Verhältnis der Begriffe Krieg und Feind
(entweder K rieg oder Frieden) anzunehm en ist, w enn das andere nidit vor
liegt. I n te r p a c e m e t b e llu m n ih il e s t m e d iu m \ Anläßlich des Vorgehens
Japans gegen C hina 1931/32 zum Beispiel ist zur Abgrenzung der (noch
keinen K rieg darstellenden) m ilitärischen R epressalien vom Krieg stets
mit dieser Begriffsmechanik gearbeitet w orden. Dieses n ih il m e d iu m ist
aber gerade die Situationsfrage. Richtigerw eise muß die völkerrechtliche
Frage so gestellt w erden: Sind m ilitärische G ew altm aßnahm en, insbeson
dere m ilitärische R epressalien, m it dem F rieden v ereinbar oder nicht, und
wenn sie es nicht sind, sind sie dann aus diesem G runde Krieg? D as w äre
eine Fragestellung, die vom F rieden als k o n k reter O rdnung ausgeht. Den
besten Ansatz zu ih r finde ich bei A rrigo C a v a g l i e r i i n einem Aufsatz aus
dem Jahre 191512. D ort sagt e r in der Sache: m ilitärische G ew altm aßnahm en
sind mit dem Friedenszustand unvereinbar, also sind sie Krieg. Das In te r
essante an seiner G edankenführung ist die Auffassung des Friedens als
konkreter und geschlossener O rdnung und als des stärkeren, daher m aß
gebenden Begriffes. D ie m eisten sonstigen E rörterungen sind w eniger k la r
in der Fragestellung und bew egen sich in dem leeren K lipp-K lapp einer
scheinpositivistischen B egriffsalternative.
Ob m an nun K rieg annim m t, weil kein F rieden ist, oder Frieden, w eil
kein K rieg ist, in beiden F ällen m üßte vorher gefragt w erden, ob es denn
wirklich kein drittes, keine Zwischenmöglichkeit, kein n ih il m e d iu m gibt.
Das w äre natürlich eine A bnorm ität, aber es gibt eben auch abnorm e
Situationen. Tatsächlich besteht heute eine solche abnorm e Zwischenlage
zwischen K rieg und F rieden, in der beides gemischt ist. Sie h a t drei
Ursachen: erstens die P ariser F riedensdiktate; zweitens das K riegs
verhütungssystem der N achkriegszeit m it K elloggpakt und V ölkerbund3;
und drittens die A usdehnung der V orstellung vom K riege auch auf nichtmili
tärische (wirtschaftliche, propagandistische usw.) B etätigungen der F eind
schaft. Jene F riedensdikate w ollten ja aus dem F rieden eine „Fortsetzung
des Krieges m it anderen M itteln“ machen. Sie haben den Feindbegriff so
weit getrieben, daß dadurch nicht n u r die Unterscheidung von K om battan
ten und N icht-K om battanten, sondern sogar die U nterscheidung von K rieg
und F rieden aufgehoben w urde. Gleichzeitig aber suchten sie diesen un
bestim m ten und absichtlich offengehaltenen Zwischenzustand zwischen
1 Cicero in der 8. Philippika: zitiert bei Hugo Grotius, de jure belli ac pacis,
Buch III, Cap. 21 § 1.
2 Note critidie su la teoria dei mezzi coercitivi al difuori della guerra, Rivista
di diritto internazionale, Bd. IX (1915) S. 23 ff., 305 ff. Später hat Cavaglieri seine
Meinung unter dem Eindruck der Praxis geändert: Corso di diritto internazionale,
3. Auil. 1934 S. 555; Recueil des Cours de l’Académie Internationale de Droit Inter
national (1929 I) S. 576 ff. Das für unsern Zusammenhang allein Entscheidende ist
seine von einem starken Begriff des Friedens ausgehende Fragestellung.
3 „Die Wirkung vom Völkerbundpakt und Kelloggpakt scheint die werden zu
wollen, daß in Zukunft zwar keine Kriege mehr geführt werden, aber militärische
Aktionen größten Stils sich als ,bloße Feindseligkeiten* ausgeben, was kein Fort
schritt, sondern ein Rückschritt ist“, Josef L. Kunz, Kriegsrecht und Neutralitätsrecht,
1935, S. 8, Aum. 37. Vorzüglich: Frhr. von Freytagh-Loringhoven, Zeitschr. d. Akad.
f. Deutsches Recht, 1. März 1938, S. 146.
248 über das Verhältnis der Begriffe Krieg und Feind
Krieg und Frieden durch P akte zu legalisieren und juristisch als den
norm alen und endgültigen Status quo des F riedens zu fingieren. Die
typische Rechtslogik des Friedens, typische Rechtsverm utungen, von denen
der Jurist bei einer echt befriedeten Lage ausgehen kann und muß, w urden
dieser abnorm en Zwischenlage aufgepfropft. Zunächst schien das für die
Siegermächte vorteilhaft zu sein, w eil sie eine Zeitlang à d e u x mains
spielen konnten und, je nachdem sie K rieg oder F rieden annahm en, auf
jeden Fall die G enfer Legalität auf ih re r Seite hatten, w ährend sie deren
Begriffe, wie Paktbruch, Angriff, Sanktionen usw. ihrem G egner in den
Rücken stießen. In einem solchen Zwischenzustand zwischen K rieg und
Frieden entfällt der vernünftige Sinn, den die Bestim mung des einen
Begriffes durch den andern, des Krieges durch den F rieden oder des F rie
dens durch den Krieg, sonst haben könnte. Nicht n u r die K riegserklärung
w ird gefährlich, weil sie den K riegerklärenden von selbst ins Unrecht setzt,
sondern jede abgrenzende Kennzeichnung m ilitärischer sowohl als auch
nichtmilitärischer Aktionen als „friedlich“ oder „kriegerisch“ w ird sinnlos,
weil nichtmilitärische Aktionen in w irksam ster, u nm ittelbarster und inten
sivster Weise feindliche A ktionen sein können, w ährend um gekehrt mili
tärische A ktionen unter feierlicher und energischer Inanspruchnahm e
freundschaftlicher Gesinnung vor sich gehen können.
Praktisch w ird die A lternative von K rieg und F rieden in einer solchen
Zwischenlage noch wichtiger, denn je tz t w ird alles Rechtsverm utung und
Fiktion, ob man nun annimmt, daß alles, was nicht F riede K rieg ist, oder
ob, um gekehrt, alles was nicht K rieg deshalb von selbst F riede ist. Das
ist der bekannte „Stock m it zwei E nden“. Jeder kann nach beiden Seiten
argum entieren und den Stock bald an dem einen oder dem andern Ende
anfassen. Alle Versuche, eine Definition des Krieges zu geben, müssen hier
bestenfalls in einem ganz subjektivistischen und voluntaristischen Dezisio
nismus enden: Krieg liegt dann vor, w enn eine ak tiv w erdende P artei
K rieg w i 11. „Als einzig zuverlässiges U nterscheidungsm erkm al (heißt es
in einer neulich erschienenen, anerkennensw ert tüchtigen Monographie
zum völkerrechtlichen Kriegsbegriff) bleibt somit n u r der W ille der strei
tenden Parteien. Ist er darauf gerichtet, die G ew altm aßnahm en als
kriegerische abzuwickeln, so herrscht K rieg, andernfalls F ried en “1. D i e s e s
„ a n d e r n f a l l s F r i e d e n “ i s t l e i d e r n i e ht w a h r . D abei soll der
W ille eines einzigen Staates zur Erfüllung des Kriegsbegriffs genügen,
gleichgültig, auf welcher Seite er vorliegt12. Ein solcher Dezisionismus ent
spricht zw ar der Lage. E r äußert sich zum Beispiel in entsprechender
Weise darin, daß der politische C h a ra k te r einer völkerrechtlichen Streitig
keit nur noch rein dezisionistisch durch den W illen jedes Streitenden
bestimmt wird, auch hier also der W ille das „unm ittelbare K riterium des
1 Georg K a p p u s , Der völkerrechtliche Kriegsbegriff in seiner Abgrenzung
gegenüber militärischen Repressalien, Breslau 1936, S. 57.
2 G. K a p p u s , a. a. O. S. 65.
über das Verhältnis der Begriffe Krieg und Feind 249
Politischen“ w ird1. Was bedeutet das aber für unsere F rage nach dem
Verhältnis von Krieg und Frieden? Es zeigt, daß die Feindschaft, der
a n i m u s h o s t i l i s , der prim äre Begriff geworden ist. Das hat in dem gegen
w ärtigen Zwischenzustand zwischen Krieg und F rieden eine ganz andere
Tragweite als frühere „subjektive“ oder „W illenstheorien“ des K riegs
begriffes. Zu allen Zeiten h at es „halbe“, „partielle“ und „unvollkom m ene“,
„beschränkte“ und „getarnte“ Kriege gegeben, und der vom Lytton-Bericht
für das Vorgehen der Japaner gebrauchte Ausdruck „w ar disguised“ w äre
insofern an sich nichts Neues. Das Neue ist der juristisch ausgebaute, durch
Kelloggpakt und V ölkerbund institutionalisierte Zwischenzustand zwischen
Krieg und Frieden, der alle jene negativen Feststellungen — mögen sie
vom Nichtfrieden auf den Krieg oder vom Nichtkrieg auf den Frieden
schließen — heute unrichtig macht.
D er Pazifist H ans W ehberg sagte im Januar 1932 zum M andschurei
konflikt: Was nicht Krieg ist, ist im völkerrechtlich juristischen Sinne
Friede. Das bedeutete damals praktisch: Das Vorgehen der Jap an er in
China w ar nicht Krieg, sie w aren also nicht „zum K riege geschritten“ im
Sinne des G enfer V ölkerbundspaktes und die Voraussetzung für V ölker
bundssanktionen (vrie sie im H erbst 1935 gegen Italien unternom m en w u r
den) w ar nicht gegeben. W ehberg hat seine Meinung und seine Form u
lierung später geändert2, aber die eigentliche Logik des begrifflichen Ver
hältnisses solcher negativen Bestimmungen h at er bis heute nicht erkannt.
Es handelt sich w eder um „subjektive“, noch uni „objektive“ Theorien des
Kriegsbegriffes im allgemeinen, sondern um das Problem der besonderen
Zwischenlage zwischen K rieg und Frieden. F ü r die G enfer A rt von Pazifis
mus ist es typisch, daß sie aus dem F rieden eine juristische Fiktion macht:
Friede ist alles, was nicht Krieg ist, K rieg aber soll dabei nur der m ili
tärische Krieg alten Stiles m it a n i m u s b e l l i g e r a n d i sein. Ein arm seliger
Friede! F ü r diejenigen, die mit außerm ilitärischen, zum Beispiel w irtschaft
lichen Zwangs- und Einwirkungsm öglichkeiten ihren W illen durchsetzen
und den W illen ihres G egners brechen können, ist es ein K inderspiel, den
m ilitari sehen K rieg alten Stils zu verm eiden, und diejenigen, die mit m ili
tärischer A ktion Vorgehen, brauchen n u r energisch genug zu behaupten,
daß ihnen jed er Kriegsw ille, jed er anim us belligerandi fehlt.
5. D er sogenannte t o t a l e K r i e g hebt den Unterschied von Kom
battanten und N ichtkom battanten auf und kennt neben dem m ilitärischen
auch einen nichtmilitärischen K rieg (W irtschaftskrieg, P ropagandakrieg
usw.) als Ausfluß der Feindschaft. Die A ufhebung der Unterscheidung von
K om battanten und N ichtkom battanten ist hier aber eine (im Hegelschen
Sinne) d i a l e k t i s c h e Aufhebung. Sie bedeutet infolgedessen nicht etwa,
daß diejenigen, die frü h er N ichtkom battanten w aren, sich nunm ehr einfach *
1 Onno Ο n c k e n , Die politischen Streitigkeiten im Völkerrecht; ein Beitrag zu
den Grenzen der Staatengerichtsbarkeit, Berlin 1936.
* Vgl. Die Friedenswarte, Januarheft 1932, S. 1—13, mit Heft 3/4 von 1938, S. 140:
ferner Nr. 19 unserer Sammlung oben S. 162.
250 Uber das Verhältnis der Begriffe Krieg und Feind
nicht einzusehen, w arum n u r der K riegführende und nicht auch der N eu
trale rein dezisionistisch entscheiden soll. D er I n h a l t der N eu tralitäts
pflichten erw eitert sich m it der E rw eiterung des K riegsinhaltes. Wo m an
aber nicht m ehr unterscheiden kann, was K rieg und was F rieden ist, da
wird es noch schwerer zu sagen, was N eu tralität ist.