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Uber das Verhältnis der Begriffe Krieg undFeind (1938)


1. F e i n d i s t h e u t e d e r p r i m ä r e B e g r i f f . Das gilt aller­
dings nicht fü r T urnier-, K abinetts- und D uellkriege oder ähnliche nur
„agonale“ K riegsarten. Agonale Käm pfe rufen m ehr die Vorstellung einer
A ktion als eines Zustandes hervor. V erw endet m an nun die alte und
anscheinend unverm eidliche Unterscheidung von „Krieg als A ktion“ und
„K rieg als Zustand (status)“, so ist beim K rieg als A ktion bereits in
Schlachten und m ilitärischen O perationen, also in der A ktion selbst, in den
„Feindseligkeiten“, den h o s t i l i t é s , ein Feind als G egner (als Gegenüber)
so unm ittelbar gegenw ärtig und sichtbar gegeben, daß er nicht noch voraus­
gesetzt zu w erden braucht. A nders beim K rieg als Zustand (status). H ier ist
ein Feind vorhanden, auch w enn die unm ittelbaren und akuten Feindselig­
keiten und K am pfhandlungen aufgehört haben. B e l l u m m a n e t , p u g n a
c e s s a t . H ier ist die Feindschaft offenbar V o r a u s s e t z u n g des Kriegs­
zustandes. In der G esam tvorstellung „K rieg“ kann das eine oder das
andere, K rieg als A ktion oder K rieg als Zustand, überw iegen. Doch kann
kein Krieg restlos in der bloßen unm ittelbaren A ktion aufgehen, ebenso­
wenig wie er dauerd nur „Zustand“ ohne A ktionen sein kann.
D er sogenannte totale K rieg muß sowohl als A ktion wie auch als Zustand
total sein, w enn er w irklich total sein soll. E r h at daher seinen Sinn in
einer vorausgesetzten, begrifflich vorangehenden Feindschaft. Deshalb kann
e r auch n u r von der Feindschaft h er verstanden und definiert werden.
K rieg in diesem totalen Sinne ist alles, was (an H andlungen und Zuständen)
aus der Feindschaft entspringt. Nicht w äre es sinnvoll, daß die Feindschaft
erst aus dem K riege oder erst aus der T otalität des Krieges entsteht oder
gar zu einer bloßen Begleiterscheinung der T otalität des Krieges herab­
sinkt. Man sagt m it einer oft w iederholten Redewendung, daß die euro­
päischen V ölker im Sommer 1914 „in den K rieg hineingetaum elt“ sind. In
W irklichkeit sind sie allm ählich in die T otalität des Krieges hinein­
geglitten, und zw ar in der Weise, daß der kontinentale, m ilitärische Kom­
b attan ten k rieg und der englische, außerm ilitärische See-, Blockade- und
W irtschaftskrieg sich (auf dem W ege über Repressalien) gegenseitig
w eitertrieben und in die T otalität steigerten. H ier entstand also die Totali­
tä t des Krieges nicht aus einer vorangehenden, totalen Feindschaft, viel­
m ehr wuchs die T otalität der Feindschaft aus einem allmählich total w er­
denden Krieg. D ie Beendigung eines solchen Krieges w ar notw endiger­
weise kein „V ertrag“ und kein „F rieden“ und erst recht kein „Friedens­
v e rtrag “ im völkerrechtlichen Sinne, sondern ein V erdam m ungsurteil der
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Sieger über den Besiegten. D ieser w ird um so m ehr nachträglich zum Feind
gestempelt, je m ehr er der Besiegte ist.
2. Im Paktsystem der G enfer Nachkriegspolitik w ird der A n g r e i f e r
als F e i n d bestimmt. A ngreifer und Angriff w erden tatbestandsm äßig
umschrieben: w er den K rieg erk lärt, w er eine Grenze überschreitet, w er
ein bestimm tes V erfahren und bestim m te Fristen nicht einhält usw., ist
Angreifer und Friedensbrecher. Die völkerrechtliche Begriffsbildung w ird
hier zusehends krim inalistisch - strafgesetzlich. D er A ngreifer w ird im
Völkerrecht das, was im heutigen Strafrecht der D elinquent, der „T äter“
ist, der ja auch eigentlich nicht ein „T äter“, sondern ein „U ntäter“ heißen
müßte, weil seine angebliche T at in W ahrheit eine U ntat ist1. Diese K rim i­
nalisierung und V ertatbestandlichung von Angriff und A ngreifer hielten
die Juristen der G enfer N achkriegspolitik für einen juristischen Fortschritt
des Völkerrechts. D er tiefere Sinn aller solcher Bem ühungen um die Defi­
nition des „A ngreifers“ und die Präzisierung des Tatbestandes des „An­
griffs“ liegt aber darin, einen F e i n d zu konstruieren und dadurch einem
sonst sinnlosen K rieg einen Sinn zu geben. Je autom atischer und mecha­
nischer der K rieg w ird, um so autom atischer und mechanischer w erden
solche Definitionen. Im Z eitalter des echten K om battantenkrieges brauchte
es keine Schande und keine politische Dum m heit, sondern konnte es E hren­
sache sein, den Krieg zu erklären, w enn man sich mit G rund bedroht oder
beleidigt fühlte (Beispiel: die K riegserklärung K aiser Franz Josefs an
Frankreich und Italien 1859). Jetzt, im G enfer N adikriegs-V ölkerrecht, soll
es ein krim ineller T atbestand w erden, weil der Feind zum Verbrecher
gemacht w erden soll.
5. F r e u n d und F e i n d haben in den verschiedenen Sprachen und
Sprachgruppen eine sprachlich und logisch verschiedene S truktur. Nach
deutschem Sprach sinn (wie in vielen anderen Sprachen) ist „F reund“
ursprünglich n u r der Sippengenosse. F reund ist also ursprünglich nur der
Blutsfreund, der B lutsverw andte, oder der durch H eirat, Schwurbrüder-
schaft, Annahm e an Kindes Statt oder durch entsprechende Einrichtungen
„verw andt Gemachte“. Vermutlich ist erst durch den Pietismus und ähn­
liche Bewegungen, die auf dem Weg zum „G ottesfreund“ den „Seelen­
freund“ fanden, die für das 19. Jah rh u n d ert typische, aber auch heute noch
verbreitete P rivatisierung und Psychologisierung des Freundbegriffes ein­
getreten. Freundschaft w urde dadurch eine Angelegenheit p riv ater
Sym pathiegefühle, schließlich gar m it erotischer Färbung in einer Mau-
passant-A tm osphäre.
Das deutsche W ort „Feind“ ist etymologisch w eniger k la r zu bestimmen.
Seine eigentliche W urzel liegt, wie es in Grimms W örterbuch heißt, „noch
unaufgehellt“. Nach den W örterbüchern von Paul, H eyne und W eigand soll
es (im Zusamm enhang m it f i j a n -hassen) den „Hassenden“ bedeuten. Ich
will mich nicht in einen Streit m it Sprachforschern einlassen, sondern möchte
1 Der Versuch, kriminelle „Tätertypen“ zu finden, würde zu der Paradoxie von
„Untäter-Typen“ führen.
246 Uber das Verhältnis der Begriffe Krieg und Feind

einfach dabei bleiben, daß Feind in seinem ursprünglichen Sprachsinn den­


jenigen bezeichnet, gegen den eine F e h d e geführt w ird. Fehde und Feind­
schaft gehören von Anfang an zusammen. Fehde bezeichnet, wie K arl von
A m ira (G rundriß des Germanischen Rechts, 3. Auflage, 1913, S. 238) sagt,
„zunächst nu r den Zustand eines der Todfeindschaft A usgesetzten“. Mit der
Entwicklung der verschiedenen A rten und Form en der Fehde w andelt sich
auch der Feind, das heißt der Fehdegegner. D ie m ittelalterliche U nter­
scheidung der nichtritterlichen von der ritterlichen Fehde (vgl. Claudius
F rh r. von Schwerin, Grundzüge der Deutschen Rechtsgeschichte, 1934, S. 195)
zeigt das am deutlichsten. Die ritterliche Fehde fü h rt zu festen Form en und
dam it auch zur agonalen Auffassung des Fehdegegners.
In anderen Sprachen ist der F e i n d sprachlich n u r negativ bestimm t als
der N i c h t - F r e u n d . So in den romanischen Sprachen, seitdem im universalen
F rieden der P ax Rom ana innerhalb des Im perium Rom anum der h o s t i s -
Begriff verblaßt oder zu einer innerpolitischen A ngelegenheit geworden
w ar: a m i c u s - i n i m i c u s ; a m i - e n n e m i ; a m i c o - n e m i c o usw. In slavischen
Sprachen ist der Feind ebenfalls der N icht-Freund: p r i j a t e l j - n e p r i j a t e l j
u s w .1. Im Englischen hat das W ort e n e m y das germ anische W ort f o e (das
ursprünglich nu r den Gegner im tödlichen Kampf, dann jeden Feind be­
deutete) ganz verdrängt.
4. Wo Krieg und Feindschaft sicher bestim m bare und einfach feststell­
b are Vorgänge oder Erscheinungen sind, k ann alles, was nicht K rieg ist,
eo ipso: Friede, was nicht Feind ist: eo ipso: F reu n d heißen. Um gekehrt:
wo Friede und Freundschaft selbstverständlich und norm al das Gegebene
sind, k ann alles, was nicht Friede ist: Krieg, und was nicht Freundschaft
ist: Feindschaft werden. Im ersten F all ist der Friede, im zw eiten Fall der
K rieg von dem bestimm t Gegebenen h er negativ bestimm t. Im ersten Fall
ist aus demselben G runde F reu n d der Nicht-Feind, im zw eiten Falle Feind
der Nicht-Freund. Vom F reund als bloßem Nicht-Feind ging zum Beispiel
die strafrechtliche Auffassung der „Feindlichen H andlungen gegen befreun­
dete Staaten“ (vgl. V ierter Abschnitt des Zweiten Teiles des Deutschen
Reichsstrafgesetzbuches, §§ 102—104) aus: befreundet ist danach jeder
Staat, m it dem der eigene Staat sich nicht im K riege befindet. D er tschecho­
slowakische Staat u nter dem Staatspräsidenten Benesch w äre danach im
Mai ,und Septem ber 1938 ein m it dem Deutschen Reich befreundeter
Staat gewesen!
Diese Fragestellung (welcher Begriff ist so bestim m t gegeben, daß
dadurch der andere Begriff negativ bestim m t w erden kann?) ist schon aus
dem G runde notwendig, weil wohl alle bisherigen völkerrechtlichen E r­
örterungen darüber, ob eine A ktion K rieg ist oder nicht, davon ausgehen,
daß die D isjunktion von K rieg und F rieden restlos und ausschließlich ist,
das heißt, daß von selbst und ohne d ritte M öglichkeit das eine von beiden *)
*) Nachträglich (Juli 1939) hat mir mein indologischer Kollege von der Berliner
Universität, Prof. Breioer, Beispiele aus dem Indischen, insbesondere den charakteri-
schen Ausdruck „a — m i t h r & (Nicht-Freund für Feind) mitgeteilt.
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(entweder K rieg oder Frieden) anzunehm en ist, w enn das andere nidit vor­
liegt. I n te r p a c e m e t b e llu m n ih il e s t m e d iu m \ Anläßlich des Vorgehens
Japans gegen C hina 1931/32 zum Beispiel ist zur Abgrenzung der (noch
keinen K rieg darstellenden) m ilitärischen R epressalien vom Krieg stets
mit dieser Begriffsmechanik gearbeitet w orden. Dieses n ih il m e d iu m ist
aber gerade die Situationsfrage. Richtigerw eise muß die völkerrechtliche
Frage so gestellt w erden: Sind m ilitärische G ew altm aßnahm en, insbeson­
dere m ilitärische R epressalien, m it dem F rieden v ereinbar oder nicht, und
wenn sie es nicht sind, sind sie dann aus diesem G runde Krieg? D as w äre
eine Fragestellung, die vom F rieden als k o n k reter O rdnung ausgeht. Den
besten Ansatz zu ih r finde ich bei A rrigo C a v a g l i e r i i n einem Aufsatz aus
dem Jahre 191512. D ort sagt e r in der Sache: m ilitärische G ew altm aßnahm en
sind mit dem Friedenszustand unvereinbar, also sind sie Krieg. Das In te r­
essante an seiner G edankenführung ist die Auffassung des Friedens als
konkreter und geschlossener O rdnung und als des stärkeren, daher m aß­
gebenden Begriffes. D ie m eisten sonstigen E rörterungen sind w eniger k la r
in der Fragestellung und bew egen sich in dem leeren K lipp-K lapp einer
scheinpositivistischen B egriffsalternative.
Ob m an nun K rieg annim m t, weil kein F rieden ist, oder Frieden, w eil
kein K rieg ist, in beiden F ällen m üßte vorher gefragt w erden, ob es denn
wirklich kein drittes, keine Zwischenmöglichkeit, kein n ih il m e d iu m gibt.
Das w äre natürlich eine A bnorm ität, aber es gibt eben auch abnorm e
Situationen. Tatsächlich besteht heute eine solche abnorm e Zwischenlage
zwischen K rieg und F rieden, in der beides gemischt ist. Sie h a t drei
Ursachen: erstens die P ariser F riedensdiktate; zweitens das K riegs­
verhütungssystem der N achkriegszeit m it K elloggpakt und V ölkerbund3;
und drittens die A usdehnung der V orstellung vom K riege auch auf nichtmili­
tärische (wirtschaftliche, propagandistische usw.) B etätigungen der F eind­
schaft. Jene F riedensdikate w ollten ja aus dem F rieden eine „Fortsetzung
des Krieges m it anderen M itteln“ machen. Sie haben den Feindbegriff so
weit getrieben, daß dadurch nicht n u r die Unterscheidung von K om battan­
ten und N icht-K om battanten, sondern sogar die U nterscheidung von K rieg
und F rieden aufgehoben w urde. Gleichzeitig aber suchten sie diesen un­
bestim m ten und absichtlich offengehaltenen Zwischenzustand zwischen
1 Cicero in der 8. Philippika: zitiert bei Hugo Grotius, de jure belli ac pacis,
Buch III, Cap. 21 § 1.
2 Note critidie su la teoria dei mezzi coercitivi al difuori della guerra, Rivista
di diritto internazionale, Bd. IX (1915) S. 23 ff., 305 ff. Später hat Cavaglieri seine
Meinung unter dem Eindruck der Praxis geändert: Corso di diritto internazionale,
3. Auil. 1934 S. 555; Recueil des Cours de l’Académie Internationale de Droit Inter­
national (1929 I) S. 576 ff. Das für unsern Zusammenhang allein Entscheidende ist
seine von einem starken Begriff des Friedens ausgehende Fragestellung.
3 „Die Wirkung vom Völkerbundpakt und Kelloggpakt scheint die werden zu
wollen, daß in Zukunft zwar keine Kriege mehr geführt werden, aber militärische
Aktionen größten Stils sich als ,bloße Feindseligkeiten* ausgeben, was kein Fort­
schritt, sondern ein Rückschritt ist“, Josef L. Kunz, Kriegsrecht und Neutralitätsrecht,
1935, S. 8, Aum. 37. Vorzüglich: Frhr. von Freytagh-Loringhoven, Zeitschr. d. Akad.
f. Deutsches Recht, 1. März 1938, S. 146.
248 über das Verhältnis der Begriffe Krieg und Feind

Krieg und Frieden durch P akte zu legalisieren und juristisch als den
norm alen und endgültigen Status quo des F riedens zu fingieren. Die
typische Rechtslogik des Friedens, typische Rechtsverm utungen, von denen
der Jurist bei einer echt befriedeten Lage ausgehen kann und muß, w urden
dieser abnorm en Zwischenlage aufgepfropft. Zunächst schien das für die
Siegermächte vorteilhaft zu sein, w eil sie eine Zeitlang à d e u x mains
spielen konnten und, je nachdem sie K rieg oder F rieden annahm en, auf
jeden Fall die G enfer Legalität auf ih re r Seite hatten, w ährend sie deren
Begriffe, wie Paktbruch, Angriff, Sanktionen usw. ihrem G egner in den
Rücken stießen. In einem solchen Zwischenzustand zwischen K rieg und
Frieden entfällt der vernünftige Sinn, den die Bestim mung des einen
Begriffes durch den andern, des Krieges durch den F rieden oder des F rie­
dens durch den Krieg, sonst haben könnte. Nicht n u r die K riegserklärung
w ird gefährlich, weil sie den K riegerklärenden von selbst ins Unrecht setzt,
sondern jede abgrenzende Kennzeichnung m ilitärischer sowohl als auch
nichtmilitärischer Aktionen als „friedlich“ oder „kriegerisch“ w ird sinnlos,
weil nichtmilitärische Aktionen in w irksam ster, u nm ittelbarster und inten­
sivster Weise feindliche A ktionen sein können, w ährend um gekehrt mili­
tärische A ktionen unter feierlicher und energischer Inanspruchnahm e
freundschaftlicher Gesinnung vor sich gehen können.
Praktisch w ird die A lternative von K rieg und F rieden in einer solchen
Zwischenlage noch wichtiger, denn je tz t w ird alles Rechtsverm utung und
Fiktion, ob man nun annimmt, daß alles, was nicht F riede K rieg ist, oder
ob, um gekehrt, alles was nicht K rieg deshalb von selbst F riede ist. Das
ist der bekannte „Stock m it zwei E nden“. Jeder kann nach beiden Seiten
argum entieren und den Stock bald an dem einen oder dem andern Ende
anfassen. Alle Versuche, eine Definition des Krieges zu geben, müssen hier
bestenfalls in einem ganz subjektivistischen und voluntaristischen Dezisio­
nismus enden: Krieg liegt dann vor, w enn eine ak tiv w erdende P artei
K rieg w i 11. „Als einzig zuverlässiges U nterscheidungsm erkm al (heißt es
in einer neulich erschienenen, anerkennensw ert tüchtigen Monographie
zum völkerrechtlichen Kriegsbegriff) bleibt somit n u r der W ille der strei­
tenden Parteien. Ist er darauf gerichtet, die G ew altm aßnahm en als
kriegerische abzuwickeln, so herrscht K rieg, andernfalls F ried en “1. D i e s e s
„ a n d e r n f a l l s F r i e d e n “ i s t l e i d e r n i e ht w a h r . D abei soll der
W ille eines einzigen Staates zur Erfüllung des Kriegsbegriffs genügen,
gleichgültig, auf welcher Seite er vorliegt12. Ein solcher Dezisionismus ent­
spricht zw ar der Lage. E r äußert sich zum Beispiel in entsprechender
Weise darin, daß der politische C h a ra k te r einer völkerrechtlichen Streitig­
keit nur noch rein dezisionistisch durch den W illen jedes Streitenden
bestimmt wird, auch hier also der W ille das „unm ittelbare K riterium des
1 Georg K a p p u s , Der völkerrechtliche Kriegsbegriff in seiner Abgrenzung
gegenüber militärischen Repressalien, Breslau 1936, S. 57.
2 G. K a p p u s , a. a. O. S. 65.
über das Verhältnis der Begriffe Krieg und Feind 249

Politischen“ w ird1. Was bedeutet das aber für unsere F rage nach dem
Verhältnis von Krieg und Frieden? Es zeigt, daß die Feindschaft, der
a n i m u s h o s t i l i s , der prim äre Begriff geworden ist. Das hat in dem gegen­
w ärtigen Zwischenzustand zwischen Krieg und F rieden eine ganz andere
Tragweite als frühere „subjektive“ oder „W illenstheorien“ des K riegs­
begriffes. Zu allen Zeiten h at es „halbe“, „partielle“ und „unvollkom m ene“,
„beschränkte“ und „getarnte“ Kriege gegeben, und der vom Lytton-Bericht
für das Vorgehen der Japaner gebrauchte Ausdruck „w ar disguised“ w äre
insofern an sich nichts Neues. Das Neue ist der juristisch ausgebaute, durch
Kelloggpakt und V ölkerbund institutionalisierte Zwischenzustand zwischen
Krieg und Frieden, der alle jene negativen Feststellungen — mögen sie
vom Nichtfrieden auf den Krieg oder vom Nichtkrieg auf den Frieden
schließen — heute unrichtig macht.
D er Pazifist H ans W ehberg sagte im Januar 1932 zum M andschurei­
konflikt: Was nicht Krieg ist, ist im völkerrechtlich juristischen Sinne
Friede. Das bedeutete damals praktisch: Das Vorgehen der Jap an er in
China w ar nicht Krieg, sie w aren also nicht „zum K riege geschritten“ im
Sinne des G enfer V ölkerbundspaktes und die Voraussetzung für V ölker­
bundssanktionen (vrie sie im H erbst 1935 gegen Italien unternom m en w u r­
den) w ar nicht gegeben. W ehberg hat seine Meinung und seine Form u­
lierung später geändert2, aber die eigentliche Logik des begrifflichen Ver­
hältnisses solcher negativen Bestimmungen h at er bis heute nicht erkannt.
Es handelt sich w eder um „subjektive“, noch uni „objektive“ Theorien des
Kriegsbegriffes im allgemeinen, sondern um das Problem der besonderen
Zwischenlage zwischen K rieg und Frieden. F ü r die G enfer A rt von Pazifis­
mus ist es typisch, daß sie aus dem F rieden eine juristische Fiktion macht:
Friede ist alles, was nicht Krieg ist, K rieg aber soll dabei nur der m ili­
tärische Krieg alten Stiles m it a n i m u s b e l l i g e r a n d i sein. Ein arm seliger
Friede! F ü r diejenigen, die mit außerm ilitärischen, zum Beispiel w irtschaft­
lichen Zwangs- und Einwirkungsm öglichkeiten ihren W illen durchsetzen
und den W illen ihres G egners brechen können, ist es ein K inderspiel, den
m ilitari sehen K rieg alten Stils zu verm eiden, und diejenigen, die mit m ili­
tärischer A ktion Vorgehen, brauchen n u r energisch genug zu behaupten,
daß ihnen jed er Kriegsw ille, jed er anim us belligerandi fehlt.
5. D er sogenannte t o t a l e K r i e g hebt den Unterschied von Kom­
battanten und N ichtkom battanten auf und kennt neben dem m ilitärischen
auch einen nichtmilitärischen K rieg (W irtschaftskrieg, P ropagandakrieg
usw.) als Ausfluß der Feindschaft. Die A ufhebung der Unterscheidung von
K om battanten und N ichtkom battanten ist hier aber eine (im Hegelschen
Sinne) d i a l e k t i s c h e Aufhebung. Sie bedeutet infolgedessen nicht etwa,
daß diejenigen, die frü h er N ichtkom battanten w aren, sich nunm ehr einfach *
1 Onno Ο n c k e n , Die politischen Streitigkeiten im Völkerrecht; ein Beitrag zu
den Grenzen der Staatengerichtsbarkeit, Berlin 1936.
* Vgl. Die Friedenswarte, Januarheft 1932, S. 1—13, mit Heft 3/4 von 1938, S. 140:
ferner Nr. 19 unserer Sammlung oben S. 162.
250 Uber das Verhältnis der Begriffe Krieg und Feind

in K om battanten alten Stils verw andeln. Vielm ehr verändern sich b e i d e


Seiten, und der Krieg w ird auf einer ganz neuen, gesteigerten Ebene als
eine nicht m ehr rein m ilitärische B etätigung der Feindschaft w eitergeführt.
Die Totalisierung besteht hier darin, daß auch außerm ilitärische Sach­
gebiete (Wirtschaft, Propaganda, psychische und moralische Energien der
Nichtkom battanten) in die feindliche A useinandersetzung einbezogen w er­
den. D er Schritt über das rein M ilitärische hinaus brin g t nicht nu r eine
quantitative Ausweitung, sondern auch eine qualitative Steigerung. D aher
bedeutet er keine M ilderung, sondern eine Intensifizierung der Feindschaft.
Mit der bloßen Möglichkeit einer solchen Steigerung der Intensität w erden
dann auch die Begriffe F reund und Feind von selbst w ieder politisch und
befreien sich auch dort, wo ihr politischer C h a ra k te r völlig verblaßt war,
aus der Sphäre priv ater und psychologischer R edensarten1.
6. D er Begriff der N e u t r a l i t ä t im völkerrechtlichen Sinne ist eine
Funktion des Kriegsbegriffes. D ie N eu tralität w andelt sich daher mit dem
Krieg. Sie kann, praktisch gesehen, heute in vier verschiedenen Bedeutungen
unterschieden werden, denen vier verschiedene Situationen zugrunde liegen:
a) Gleichgewicht der Macht von N eutralen und K riegführenden: hier ist
die „klassische“ in „U nparteilichkeit“ und paritätischem V erhalten be­
stehende N eutralität sinnvoll, möglich und sogar wahrscheinlich; der Neu­
tra le bleibt F reund — amicus — jedes der K riegführenden: a m itié im­
partiale;
b) eindeutige M achtüberlegenheit der K riegführenden über die Neu­
tralen: hier w ird die N eu tralität ein stillschweigender Kom promiß zwischen
den K riegführenden, eine A rt N iem andsland oder stillschweigend verein­
b a rte r Ausklam m erung aus dem Kriegsbereich nach M aßgabe des Macht­
gleichgewichts der K riegführenden (W eltkrieg 1917/18);
c) eindeutige M achtüberlegenheit der N eutralen über die K riegführen­
den: hier können die starken N eutralen den schwachen K riegführenden
einen Spielraum für die K riegführung anweisen. Im reinsten Falle w äre
das der von Sir John Fisher W illiam s in die V ölkerrechtslehre eingeführte
Begriff des „dog-fight“12;
d) volle Beziehungslosigkeit (bei großer E ntfernung oder genügend
au tark er, isolierbarer Macht): hier zeigt sich, daß N e u tra litä t nicht Iso­
lation, und daß Isolation (das heißt völlige A bsonderung und Beziehungs­
losigkeit) etwas anderes als N eu tralität ist; der sich Isolierende w ill w eder
Feind noch F reund eines der K riegführenden sein.
In dem (oben u nter 4.) behandelten Zwischenzustand zwischen K rieg und
Frieden hängt die sachliche Entscheidung darüber, ob der F a l l der
N eu tralität mit allen N eutralitätsrechten und Pflichten gegeben ist, davon
ab, ob K rieg das ist, was nicht F ried en ist oder um gekehrt. W enn diese
Entscheidung rein dezisionistisch von jedem fü r sich getroffen w ird, ist
1 Als ihm der behandelnde Zahnarzt sagte: „Sie sind kein Held“, erwiderte
W. Gueydan de Roussel: „Sie sind ja auch nicht mein Feind“.
2 Vgl. in dieser Sammlung Nr. 31 „Das neue Vae Neutris!“, unten S. 251.
Das neue Vae Neutris! 251

nicht einzusehen, w arum n u r der K riegführende und nicht auch der N eu­
trale rein dezisionistisch entscheiden soll. D er I n h a l t der N eu tralitäts­
pflichten erw eitert sich m it der E rw eiterung des K riegsinhaltes. Wo m an
aber nicht m ehr unterscheiden kann, was K rieg und was F rieden ist, da
wird es noch schwerer zu sagen, was N eu tralität ist.

31. Das neue Vae Neutris! (1938)


Ein englischer A utor von hohem Rang und repräsentativer Bedeutung,
Sir John Fisher W illiams, h at am Schluß eines Aufsatzes in dem von ihm
mit herausgegebenen B ritish Yearbook of International Law (Bd. XYII
1936 148/9) eine Prognose gestellt, die die größte Beachtung verdient. D er
berühm te englische V ölkerbunds ju ris t gibt hier einen Ausblick in die
Zukunft, der den E rnst der Lage erkennen läßt und den K ernpunkt der
gegenwärtigen Entwicklung des V ölkerrechts k la re r und schärfer zum
Bewußtsein b rin g t als jede w eitere R ede oder A rgum entation. Sir John
Fisher, W illiam s sagt, die kommende G eneration w erde wahrscheinlich
eher die Pflichten als die Rechte der N eutralen in den V ordergrund
stellen. A ußerdem aber könnten K riege kommen, in denen — w enn nicht
durch eine Aktion, so doch in G edanken — n i d i t Stellung zu nehmen, für
jeden sittlich denkenden Menschen unmöglich w ürde. In einem solchen
W eltkriege, der kein bloßer „dog-fight“ w äre und m it allen m oralischen
Energien geführt w ürde, könnte die N eutralität, mag sie auch respektabel
sein, doch nicht sehr w eitgehend resp ek tiert w erden. D ante, so schließt der
englische Rechtsgelehrte, h at diejenigen Engel, die in dem großen Kam pf
zwischen G ott und dem Teufel n eu tral blieben, besonderer Verachtung und
Strafe überliefert, nicht n u r w eil sie ein Verbrechen begingen, indem sie
ihre Pflicht, für das Recht zu käm pfen, verletzt, sondern auch deshalb, w eil
sie ihr eigenstes, w ahrstes Interesse v erkannt haben; die N eutralen eines
solchen Kampfes träfe also ein Schicksal, dem nicht n u r D ante, sondern
auch Machiavelli zustimm en w ürde.
Dam it ist vor das Vae Victis! noch ein w arnendes Vae N eutris! gestellt.
Es bezieht sich natürlich nicht auf to lerierte K leinkriege oder Konflikte
von perip h erer Bedeutung — „dog-fights“ nim m t der E ngländer ausdrück­
lich aus — wohl aber auf die eigentliche, große A useinandersetzung. D aß
der Aufsatz die inzwischen längst gescheiterten Sanktionsversuche des
Genfer V ölkerbundes gegen Italien behandelt, macht diesen Teil seiner
Ausführungen nicht etw a zu einer überholten Angelegenheit. D ie tiefer
liegende F rage ist noch ungelöst, und jede neue K risis verschärft sie nur.
Es handelt sich nämlich um das Problem des gerechten K rieges im Sinne
der Beseitigung des bisherigen, nichtdiskrim inierenden völkerrechtlichen
Kriegsbegriffes. Das N eutralitätsrecht ist von jedem W andel des Kriegs-

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