weisen darauf hin, daß der V ölkerbund sich fast ausschließlich m it euro
päischen A ngelegenheiten beschäftigt; die nichteuropäischen M itglieder
m üßten deshalb bald ih r Interesse an der O rganisation verlieren ; B rasilien
ist im H erbst 1926 ausgetreten, als D eutschland in den V ölkerbundsrat
aufgenom men w urde; vielleicht folgen andere außereuropäische M itglieder
nach, und so w äre das paneuropäische Problem durch einfache Subtraktion
gelöst, indem nämlich nach Abzug alle r übrigen S taaten der verbleibende
Rest als geeintes E uropa dasteht. A uf der anderen Seite aber bezeichnen
eifrige A nhänger des V ölkerbundsgedankens die K rise vom H erbst 1926
gerade als eine „E uropäisieruiigskrise“, w eil die E uropäisierung den
V ölkerbund als universales G ebilde gefährde. Ein b e k a n n te r Ju rist und
V orkäm pfer der Idee des Völkerbundes, G eorges Scelle, h at diesen Stand
punkt in einer um fangreichen Schrift, „Une crise de la Société des N ations“,
P aris 1927, vertreten.
O ffenbar sind die verschiedenen K ontinente am G enfer V ölkerbund ver
schieden beteiligt. Im ganzen kommen, von Japan abgesehen, hauptsächlich
europäische und am erikanische Staaten in B etracht1. D ie m eisten Staaten
sind europäisch. Doch sind 18 am erikanische Staaten M itglieder des G enfer
Völkerbundes; das sind rund ein D ritte l aller M itglieder. Es fehlen Mexiko
und vor allem die führende Macht des am erikanischen K ontinents, die Ver
einigten Staaten von Am erika.
Das Problem des V erhältnisses von V ölkerbund und E uropa ist aber,
wie die Dinge heute liegen, zunächst das Problem des V erhältnisses von
V ölkerbund und Am erika. Dieses w iederum ist bei der überw ältigenden
wirtschaftlichen und politischen Macht der V ereinigten Staaten in erster
Linie das Problem des V erhältnisses von V ölkerbund und V ereinigten
Staaten. Äußerlich betrachtet scheint hier kein Problem vorzuliegen. Die
V ereinigten Staaten haben es abgelehnt, den V ertrag von V ersailles zu
unterzeichnen; sie haben den Sonderfrieden mit D eutschland vom 25. August
1921 geschlossen und sind nicht M itglied des G enfer Völkerbundes ge
worden. Selbst die Bemühungen, sie an dem ständigen Internationalen
Gerichtshof im H aag zu beteiligen, blieben erfolglos. Die Vereinigten
Staaten sind also anscheinend in einer besonders entschiedenen Weise
a b w e s e n d . A ber es w ird sich zeigen, daß hier wie bei anderen euro
päischen F ragen die V ereinigten Staaten auf eine m ittelbare, aber darum
nicht w eniger effektive und intensive W eise doch w ieder a n w e s e n d
sind. Diese eigenartige Mischung von offizieller Abw esenheit und effektiver
Anwesenheit kennzeichnet das V erhältnis des Völkerbundes und Europas
zu den V ereinigten Staaten von Am erika.
Dem V ölkerbund gehört eine Reihe von am erikanischen Staaten an,
die man aus verschiedenen G ründen und Rücksichten als souveräne Staaten
bezeichnet, die aber von den V ereinigten Staaten abhängig sind und deren
außenpolitisches H andeln u n ter der „K ontrolle“ der Vereinigten Staaten
stellt. L änder wie Kuba, H aiti, San Domingo, Panam a und N ikaragua sind
M itglieder des G enfer Völkerbundes und gegebenenfalls auch des V ölker
b u n d s ra te s . Sie sind aber nicht n u r wirtschaftlich und nicht nur faktisch
von den V ereinigten Staaten abhängig, sondern auch durch förmliche, aus
drückliche V erträge gebunden. V erträge, wie sie die V ereinigten Staaten
mit Kuba u n ter dem 22. Mai 1903 oder mit Panam a unter dem 18. November
1903 abgeschlossen haben, sind typisch für die m oderne Form der Be
herrschung eines Staates. Es sind Interventionsverträge, weil die politische
Kontrolle und H errschaft auf dem Recht der Intervention beruht. D er
kontrollierende Staat d a rf nach seinem Ermessen zum Schutz der Un
abhängigkeit oder des Privateigentum s, zur A ufrechterhaltung der O rd
nung und Sicherheit oder aus andern G ründen, über deren Vorliegen er
selbst entscheidet, in die V erhältnisse des andern Staates eingreif en; sein
Eingriffsrecht ist durch Flotten- und Kohlenstationen, militärische Be
setzung, Landpachtungen oder in anderer Weise gesichert. Die Einzel
heiten dieser m odernen Herrschafts- und Kontrollm ethoden interessieren
hier nicht. Jedenfalls ist ein Staat, der in solcher Weise kontrolliert wird,
etwas anderes als ein unabhängiger Staat, der k raft eigener Bestimmung
über Begriffe w ie U nabhängigkeit und öffentliche O rdnung entscheidet.
Die genannten am erikanischen Staaten gehören nach den vorliegenden
völkerrechtlichen V erträgen zum politischen System der Vereinigten
Staaten von A m erika. W enn sie trotzdem M itglieder des G enfer V ölker
bundes sind, so ragt an dieser Stelle neben dem politischen System des eng
lischen W eltreiches ein zweites politisches System in das G enfer Gebilde
hinein, und zw ar in eigenartiger W eise: die kontrollierten Staaten sind
in Genf anwesend, der kontrollierende O berstaat ist abwesend.
Noch aus einem w eiteren G runde ist der Völkerbund von A m erika her
in seiner S tru k tu r bestimm t. In A rt. 21 seiner Satzung hat er sich der
M onroe-Doktrin ausdrücklich unterw orfen. Es heißt in diesem A rtikel,
daß die M onroe-Lehre m it der Satzung des G enfer V ölkerbundes „nicht
92 D er V ölk erb u nd und Europa
unvereinbar“ sei. Ob sie das w irklich ist, w äre eine F rage für sich. D er
praktische Sinn der E rklärung liegt darin, daß die M onroe-Lehre mit allen
ihren w eittragenden Auslegungen der V ölkerbundssatzung vorgeht. D a
mit hat der Genfer V ölkerbund auf jede ernsthafte Einwirkungsm öglich
keit gegenüber den am erikanischen Staaten verzichtet. D enn der erste
G rundsatz dieser „Lehre“ besagt, daß keinerlei Einmischung eines euro
päischen (das heißt nach der praktischen Bedeutung außeram erikanischen)
Staates oder Systems in A ngelegenheiten des am erikanischen Köntinents
stattfinden darf. Die Auslegung dieser vieldeutigen D oktrin und ihre An
wendung im konkreten Einzelfall ist ganz in der H and der V ereinigten
Staaten von Am erika. Soweit es sich um Beziehungen zwischen am eri
kanischen Staaten oder um Beziehungen eines außeram erikanischen Staates
zu amerikanischen Staaten handelt, ist daher eine Zuständigkeit oder Be
fugnis des G enfer V ölkerbundes ausgeschlossen. Man darf sagen, daß der
V ölkerbund auf dieser Seite gelähm t ist und auf diesem Bein hinkt. Trotz
dem aber sind selbstverständlich die Rechte der am erikanischen M itglied
staaten innerhalb des G enfer V ölkerbundes die gleichen wie die anderer
M itgliedstaaten. Mit andern W orten: D ie Entscheidungen des G enfer
Völkerbundes sind durch die Beteiligung der am erikanischen M itglieder
beeinflußt, w ährend um gekehrt ein Einfluß des V ölkerbundes auf am eri
kanische Verhältnisse infolge der M onroe-D oktrin ausgeschlossen ist. Die
Vereinigten Staaten sind in Genf nicht anwesend; aber wo die Monroe-
D oktrin anerkannt ist und andere am erikanische Staaten anw esend sind,
können sie tatsächlich auch nicht abw esend sein.
Diese Mischung von A bw esenheit und A nw esenheit ist nun alles andere
als ein kurioser Zufall. Sie ist nicht etw a durch die persönlichen E igenarten
des Präsidenten Wilson oder aus ähnlichen p eripheren G ründen zu er
klären. Sie liegt in der G esam tstruktur der heutigen europäischen V er
hältnisse tief begründet und w iederholt sich bei jed e r wichtigen Frage. Es
muß jedem aufm erksam en Betrachter auf fallen, wiei die V ereinigten
Staaten an der Regelung der deutschen R eparationsfragen entscheidend
beteiligt sind und dabei trotzdem form ell die äußerste Zurückhaltung
wahren. In der Reparationskom m ission saß kein am erikanisches Mitglied.
Die vier M itgliedstaaten sind: Frankreich, England, Italien und Belgien.
Das Londoner Protokoll vom 16. August 1924, in welchem die heutige Rege
lung der Reparationszahlungen auf G rund des sog. D aw esplanes enthalten
ist, beruht auf V erträgen zwischen dem Deutschen Reich und der R epa
rationskommission bzw. den in der Reparationskom m ission vertretenen
alliierten Mächten. Dazu kom men w eitere Interessenten, und das Londoner
Protokoll ist unterzeichnet von Belgien, G roßbritannien (mit Dominions
und Indien), Frankreich, Griechenland, Japan, Italien, Portugal, Rum änien
und dem serbo-kroatisch-slowenischen Königreich. In der Einleitungsform el
ist aber gesagt, daß die V ereinigten Staaten sich „durch V ertreter mit
genau um grenzter Vollmacht“ angeschlossen haben. Ebenso sind die Ver-
D er V ölk erb u nd u nd Europa 93
einigten S taaten an dem P ariser V ertrag vom 14. Jan u ar 1925 beteiligt,
durch w eldien England, Frankreich, Italien, Japan, Belgien, Brasilien,
Griechenland, Polen, Portugal, Rum änien, Tschecho-Slowakei und das serbo
kroatisch-slowenische Königreich sich über die V erteilung der A nnuitäten
einigen. Das E igenartige und A uffällige liegt nun darin, daß in allen ent
scheidenden, d. h. politischen Augenblicken der D urchführung des Dawes-
planes ein „am erikanischer B ürger“ erscheint. Nach § 2 a des A rtikels I der
Anlage IV w ird, w enn die R eparationskom m ission über eine F rage des
D aw esplanes zu entscheiden hat, ein B ürger der V ereinigten Staaten von
Am erika, „a citizen of the U nited States of A m erica“ m it Stimmrecht an
den B eratungen teilnehm en; er ist „B ürger der V ereinigten Staaten“, aber
nicht deren offizieller V ertreter; er w ird durch einstim migen Beschluß der
Reparationskom m ission, gegebenenfalls durch den Präsidenten des Stän
digen Gerichtshofes im H aag, aber nicht von der am erikanischen Regierung
ernannt. Bei d er Feststellung einer V erfehlung gegen die R eparationsver
pflichtungen, dem eigentlich politischen A kt des Reparationsvollzugs, also
bei der Entscheidung über die Voraussetzung der Zulässigkeit von Sank
tionen, erscheint w iederum ein „B ürger der V ereinigten S taaten“. Die durch
die R uhrbesetzung berühm t gew ordene Anlage II >zu Teil VIII des V er
sailler V ertrages, die das Sanktionsrecht behandelt, ist im Londoner Proto
koll m odifiziert, aber keinesw egs aufgehoben. Nach § 16 a dieser Anlage II,
in der Fassung des A rtikels I der Anlage IV des Londoner Protokolles, ist
es Sache der Reparationskom m ission, über jeden A ntrag auf Feststellung
einer N ichterfüllung Deutschlands zu befinden; bei A blehnung des A ntrags
oder M ehrheitsbeschluß kann jedes M itglied der Reparationskom m ission
eine Schiedskommission anrufen; der Vorsitzende der Schiedskommission
ist imm er ein am erikanischer B ürger. Auch Streitigkeiten desU bertragungs-
(Transfer-) Kom itees über die Frage, ob deutscherseits „verabredete finan
zielle M anöver“ vorliegen, entscheidet ein Schiedsgericht und muß der Vor
sitzende des Schiedsgerichts ein am erikanischer B ürger sein. Diese eigen
artige Rolle eines nichtoffiziellen und doch auch w ieder nicht bloß privaten
am erikanischen B ürgers ist ein Symptom und ein Symbol. Vom deutschen
Standpunkt aus ist zu sagen, daß in der H eranziehung des „am erikanischen
B ürgers“ die W ahrscheinlichkeit einer gerechteren Entscheidung liegt, als
sie von den europäischen M itgliedern der Reparationskom m ission, d. h.
von den europäischen R egierungen, e rw a rte t w ird.
Daß die w ichtigsten N achkriegsfragen — R eparation und in teralliierte
Schulden — nicht ohne die V ereinigten Staaten von A m erika geregelt
w erden können, versteht sich, von selbst. D aß die V ereinigten Staaten auf
G rund der M onroe-Lehre jede Einmischung in politische V erhältnisse
Europas zu verm eiden suchen, ist bei der prinzipiellen Bedeutung dieser
Lehre erklärlich. A ber jen e wirtschaftlichen F ragen haben eine unverm eid
lich politische Bedeutung, und so w ird eine wirkliche Abw esenheit doch
w ieder undurchführbar. D as E rgebnis ist jene Mischung von Abw esenheit
94 D er V ölk erb u n d u nd E uropa
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