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Der Völkerbund und Europa (1928)


D as W ort „V ölkerbund" und das W ort „E uropa" bezeichnen beide
lebhaft um strittene und in hohem Maße problem atische Vorstellungen.
Sowohl das Interesse fü r jed en dieser Begriffe w ie auch ih re W ertschätzung
und B eurteilung in der öffentlichen M einung än dern sich oft und lassen
k ein k lares Bild erkennen.
A ber auch abgesehen von diesen Schw ankungen der öffentlichen Mei­
nung ist je d e r der beiden Begriffe bei n ä h e re r B etrachtung in sich selbst
außerordentlich vieldeutig und unsicher. D er G edanke eines V ölkerbundes
h at allerdings die S phäre der bloßen Idee verlassen und im G enfer V ölker­
bund eine organisatorische V erw irklichung gefunden. A ber w eder in der
O rganisation seiner beiden w ichtigsten Einrichtungen, V ölkerbundsver-
samm lung und V ölkerbundsrat, noch in der A rt seiner Zuständigkeiten und
Befugnisse läßt das G enfer G ebilde eine k la re Stellungnahm e erkennen.
Alle wichtigen politischen F ragen sind h ier noch offen, vor allem deshalb,
w eil fü r den G enfer V ölkerbund w eder die praktische Möglichkeit noch
ü berh au p t die anerk an n te Pflicht besteht, sich m it allen den F rieden der
E rde b erührenden A ngelegenheiten zu befassen. E r kann (nach dem W ort­
lau t seiner Satzung) alles und braucht nichts zu tun. So ist der V ölkerbund
heute politisch nichts als ein System von K onferenzgelegenheiten, v er­
bunden m it einem internationalen B ureau, dem G en eralsek retariat, und
seine H auptleistung besteht darin, eine A tm osphäre intern atio n aler V er­
ständigung und V erhandlungsbereitschaft zu bew irken. Das kan n sehr
viel und sehr wenig sein. Jedenfalls ist ein endgültiges, sachliches U rteil
h ier noch nicht möglich.
Noch viel w eniger bezeichnet das W ort „E uropa" heute bereits eine
k lare und erkennbare V orstellung. Es ist schon schwierig, bei den v er­
schiedenen P ro je k te n und Begriffen von E uropa eine überzeugende geo­
graphische A bgrenzung zu erkennen. G ehört E ngland zu E uropa oder bildet
es nicht vielm ehr m it seinen Dom inions und Kolonien ein geschlossenes
Im perium , dessen V erbindung m it dem europäischen K ontinent unmöglich
und schädlich ist? G ehört Spanien dazu, oder ist es nicht enger m it den
lateinam erikanischen Staaten als m it D eutschland oder Skandinavien v e r­
bunden? G ehört R ußland dazu, und ist es richtig, zwischen dem H auptland
d er slawischen V ölker und den westlichen Slaw en einen Unterschied zu
konstruieren? Soll Frankreich m it allen seinen K olonien und seiner ganzen
m ilitärischen R üstung eintreten, d. h. die m ilitärische und politische H e rr­
schaft übernehm en? W ird nicht D eutschland durch seine wachsende V er­
schuldung m ehr an die V ereinigten Staaten von A m erika als an irgendeinen
D er V ölkerbund und Europa 89

seiner feindlichen oder m ißtrauischen Nachbarn gewiesen? O der reduziert


sich das ganze Problem E uropa schließlich n u r auf eine deutsch-französische
Verständigung, vielleicht sogar n u r auf die Bildung eines W irtschafts­
komplexes, der W estdeutschland, Nord- und O stfrankreich, Belgien und
Luxem burg um faßt? Alle diese Fragen sind noch offen. Es w ird hier mit
einem W ort an sie erinnert, um die V ieldeutigkeit der Vorstellung „Europa“
zu zeigen.
So verbinden sich in der hier gestellten Frage zwei problematische Be­
griffe: „V ölkerbund“ und „E uropa“. Das bedeutet nicht etwa, daß der eine
unklare Begriff den andern k lä rt und aufhellt, sondern im Gegenteil, daß
die U nklarheit noch größer w ird und sich potenziert. Trotzdem müssen
beide Begriffe als Möglichkeiten und Problem e ernstgenomm en werden.
Denn jed er von ihnen bezeichnet eine Gesamtlage, zu der auch Deutsch­
land gehört, ob es w ill oder nicht. Man kann es als das Kennzeichen der
gegenwärtigen geschichtlichen Epoche betrachten, daß alle überlieferten
politischen G rößen sich vollständig um gruppieren und eine Neubildung
von Staaten und Staatensystem en in ungeheuer erw eiterten Dimensionen
eintritt. Das Interesse an den genannten Begriffen e rk lä rt sich eben daraus,
daß mit ihnen solche möglichen N eubildungen angedeutet sind. Ein Land
wie Deutschland, das im Schnittpunkt aller w iderstrebenden K räfte und
Strömungen liegt, ist geographisch, geschichtlich und ideologisch der p rä ­
destinierte Kriegsschauplatz einer solchen Umbildung. Daß es entwaffnet,
entm ilitarisiert und bis zu einem gewissen G rade sogar entpolitisiert ist,
bedeutet, politisch gesehen, daß diese geographische, geschichtliche und
moralische P rädestination garan tiert und gesichert w ird und seiner Be­
völkerung die Möglichkeit genommen w erden soll, sich ihrem Schicksal zu
entziehen.
W enn aber sowohl V ölkerbund wie E uropa zwei O rientierungspunkte
für die großen U m gruppierungen der G egenw art sind, so ist es notwendig,
die Frage zu stellen: W ie verhält sich das politische System des V ölker­
bundes zu einem denkbaren Gesam tsystem der europäischen Staaten? G ibt
es einen spezifischen Zusamm enhang zwischen dem G enfer V ölkerbund
und Europa? Viele begeisterte F reunde des W eltfriedens und der V ölker­
versöhnung scheinen den Zusammenhang für selbstverständlich zu halten.
Für sie ist der G enfer V ölkerbund ein M ittel des Friedens; die Einigung
Europas w äre ebenfalls ein M ittel des Friedens, und so kann beides, V ölker­
bund und Europa, zu einem einzigen Idealbild verschmelzen. A ber man
müßte wenigstens einen Augenblick das System des G enfer V ölkerbundes
und das System europäischer Staaten voneinander unterscheiden. D enn es
ist an sich unwahrscheinlich, daß zwei große politische Systeme und zwei
riesige O rganisationen nebeneinander genau demselben Zwecke dienen
sollten. G erade für dieses V erhältnis von Europa und V ölkerbund liegen
deshalb auch m erkw ürdig widersprechende Ansichten und Ä ußerungen
vor. Freunde der paneuropäischen Bestrebungen hoffen, der G enfer V ölker­
bund bedeute in W ahrheit heute schon eine europäische O rganisation. Sie
90 Der Völkerbund und Europa

weisen darauf hin, daß der V ölkerbund sich fast ausschließlich m it euro­
päischen A ngelegenheiten beschäftigt; die nichteuropäischen M itglieder
m üßten deshalb bald ih r Interesse an der O rganisation verlieren ; B rasilien
ist im H erbst 1926 ausgetreten, als D eutschland in den V ölkerbundsrat
aufgenom men w urde; vielleicht folgen andere außereuropäische M itglieder
nach, und so w äre das paneuropäische Problem durch einfache Subtraktion
gelöst, indem nämlich nach Abzug alle r übrigen S taaten der verbleibende
Rest als geeintes E uropa dasteht. A uf der anderen Seite aber bezeichnen
eifrige A nhänger des V ölkerbundsgedankens die K rise vom H erbst 1926
gerade als eine „E uropäisieruiigskrise“, w eil die E uropäisierung den
V ölkerbund als universales G ebilde gefährde. Ein b e k a n n te r Ju rist und
V orkäm pfer der Idee des Völkerbundes, G eorges Scelle, h at diesen Stand­
punkt in einer um fangreichen Schrift, „Une crise de la Société des N ations“,
P aris 1927, vertreten.
O ffenbar sind die verschiedenen K ontinente am G enfer V ölkerbund ver­
schieden beteiligt. Im ganzen kommen, von Japan abgesehen, hauptsächlich
europäische und am erikanische Staaten in B etracht1. D ie m eisten Staaten
sind europäisch. Doch sind 18 am erikanische Staaten M itglieder des G enfer
Völkerbundes; das sind rund ein D ritte l aller M itglieder. Es fehlen Mexiko
und vor allem die führende Macht des am erikanischen K ontinents, die Ver­
einigten Staaten von Am erika.
Das Problem des V erhältnisses von V ölkerbund und E uropa ist aber,
wie die Dinge heute liegen, zunächst das Problem des V erhältnisses von
V ölkerbund und Am erika. Dieses w iederum ist bei der überw ältigenden
wirtschaftlichen und politischen Macht der V ereinigten Staaten in erster
Linie das Problem des V erhältnisses von V ölkerbund und V ereinigten
Staaten. Äußerlich betrachtet scheint hier kein Problem vorzuliegen. Die
V ereinigten Staaten haben es abgelehnt, den V ertrag von V ersailles zu
unterzeichnen; sie haben den Sonderfrieden mit D eutschland vom 25. August

1 Außer Rußland sind alle europäischen Staaten Mitglieder des Völkerbundes.


Asien ist dadurch vertreten, daß die asiatische Großmacht, Japan, einen ständigen
Sitz im Völkerbundsrate hat; China ist Mitglied, wenn auch infolge seiner inner­
politischen Verhältnisse tatsädilich ohne wirksame Regierung; Siam ist wie die beiden
vorigen Mitglieder Signatarstaat des Versailler Vertrages; ebenso Indien, das als
selbständiger Teil des englisdien Imperiums gilt. Persien beansprucht als Mitglied
des Völkerbundes den besonderen JCulturkreis des Tslam zu vertreten. Es fehlen
außer Rußland die Türkei und Afghanistan. Der Völkerbund hat eine sehr wichtige
asiatische Angelegenheit, die Mossulfrage, behandelt. Im übrigen kann man nicht
sagen, daß er für die Probleme dieses Kontinentes in Betracht kommt, vor allem
scheint niemand daran zu denken, ihn ernsthaft mit den chinesischen Fragen in
Berührung zu bringen. Afrika ist durch ein englisches Dominion, die Südafrikanische
Union, durch Liberia und den einzigen autodithonen Staat Afrikas, Abessinien,
vertreten. Ägypten ist nicht Mitglied. Das übrige afrikanische Gebiet ist teils Pro­
tektorat, teils Mandat oder Kolonie. Tn der Südafrikanischen Union macht sidi
übrigens das Bestreben geltend, eine südafrikanische Monroedoktrin zu beanspruchen.
Was das für die Stellung im Völkerbund bedeuten könnte, wird sich aus der Bedeu­
tung der gleich zu erörternden amerikanischen Monroedoktrin ergeben. Australien
und Neuseeland sind als englische Dominions vertreten; doch ist auch schon eine
australische Monroedoktrin aufgestellt worden.
D er V ölkerbund und Europa 91

1921 geschlossen und sind nicht M itglied des G enfer Völkerbundes ge­
worden. Selbst die Bemühungen, sie an dem ständigen Internationalen
Gerichtshof im H aag zu beteiligen, blieben erfolglos. Die Vereinigten
Staaten sind also anscheinend in einer besonders entschiedenen Weise
a b w e s e n d . A ber es w ird sich zeigen, daß hier wie bei anderen euro­
päischen F ragen die V ereinigten Staaten auf eine m ittelbare, aber darum
nicht w eniger effektive und intensive W eise doch w ieder a n w e s e n d
sind. Diese eigenartige Mischung von offizieller Abw esenheit und effektiver
Anwesenheit kennzeichnet das V erhältnis des Völkerbundes und Europas
zu den V ereinigten Staaten von Am erika.
Dem V ölkerbund gehört eine Reihe von am erikanischen Staaten an,
die man aus verschiedenen G ründen und Rücksichten als souveräne Staaten
bezeichnet, die aber von den V ereinigten Staaten abhängig sind und deren
außenpolitisches H andeln u n ter der „K ontrolle“ der Vereinigten Staaten
stellt. L änder wie Kuba, H aiti, San Domingo, Panam a und N ikaragua sind
M itglieder des G enfer Völkerbundes und gegebenenfalls auch des V ölker­
b u n d s ra te s . Sie sind aber nicht n u r wirtschaftlich und nicht nur faktisch
von den V ereinigten Staaten abhängig, sondern auch durch förmliche, aus­
drückliche V erträge gebunden. V erträge, wie sie die V ereinigten Staaten
mit Kuba u n ter dem 22. Mai 1903 oder mit Panam a unter dem 18. November
1903 abgeschlossen haben, sind typisch für die m oderne Form der Be­
herrschung eines Staates. Es sind Interventionsverträge, weil die politische
Kontrolle und H errschaft auf dem Recht der Intervention beruht. D er
kontrollierende Staat d a rf nach seinem Ermessen zum Schutz der Un­
abhängigkeit oder des Privateigentum s, zur A ufrechterhaltung der O rd ­
nung und Sicherheit oder aus andern G ründen, über deren Vorliegen er
selbst entscheidet, in die V erhältnisse des andern Staates eingreif en; sein
Eingriffsrecht ist durch Flotten- und Kohlenstationen, militärische Be­
setzung, Landpachtungen oder in anderer Weise gesichert. Die Einzel­
heiten dieser m odernen Herrschafts- und Kontrollm ethoden interessieren
hier nicht. Jedenfalls ist ein Staat, der in solcher Weise kontrolliert wird,
etwas anderes als ein unabhängiger Staat, der k raft eigener Bestimmung
über Begriffe w ie U nabhängigkeit und öffentliche O rdnung entscheidet.
Die genannten am erikanischen Staaten gehören nach den vorliegenden
völkerrechtlichen V erträgen zum politischen System der Vereinigten
Staaten von A m erika. W enn sie trotzdem M itglieder des G enfer V ölker­
bundes sind, so ragt an dieser Stelle neben dem politischen System des eng­
lischen W eltreiches ein zweites politisches System in das G enfer Gebilde
hinein, und zw ar in eigenartiger W eise: die kontrollierten Staaten sind
in Genf anwesend, der kontrollierende O berstaat ist abwesend.
Noch aus einem w eiteren G runde ist der Völkerbund von A m erika her
in seiner S tru k tu r bestimm t. In A rt. 21 seiner Satzung hat er sich der
M onroe-Doktrin ausdrücklich unterw orfen. Es heißt in diesem A rtikel,
daß die M onroe-Lehre m it der Satzung des G enfer V ölkerbundes „nicht
92 D er V ölk erb u nd und Europa

unvereinbar“ sei. Ob sie das w irklich ist, w äre eine F rage für sich. D er
praktische Sinn der E rklärung liegt darin, daß die M onroe-Lehre mit allen
ihren w eittragenden Auslegungen der V ölkerbundssatzung vorgeht. D a­
mit hat der Genfer V ölkerbund auf jede ernsthafte Einwirkungsm öglich­
keit gegenüber den am erikanischen Staaten verzichtet. D enn der erste
G rundsatz dieser „Lehre“ besagt, daß keinerlei Einmischung eines euro­
päischen (das heißt nach der praktischen Bedeutung außeram erikanischen)
Staates oder Systems in A ngelegenheiten des am erikanischen Köntinents
stattfinden darf. Die Auslegung dieser vieldeutigen D oktrin und ihre An­
wendung im konkreten Einzelfall ist ganz in der H and der V ereinigten
Staaten von Am erika. Soweit es sich um Beziehungen zwischen am eri­
kanischen Staaten oder um Beziehungen eines außeram erikanischen Staates
zu amerikanischen Staaten handelt, ist daher eine Zuständigkeit oder Be­
fugnis des G enfer V ölkerbundes ausgeschlossen. Man darf sagen, daß der
V ölkerbund auf dieser Seite gelähm t ist und auf diesem Bein hinkt. Trotz­
dem aber sind selbstverständlich die Rechte der am erikanischen M itglied­
staaten innerhalb des G enfer V ölkerbundes die gleichen wie die anderer
M itgliedstaaten. Mit andern W orten: D ie Entscheidungen des G enfer
Völkerbundes sind durch die Beteiligung der am erikanischen M itglieder
beeinflußt, w ährend um gekehrt ein Einfluß des V ölkerbundes auf am eri­
kanische Verhältnisse infolge der M onroe-D oktrin ausgeschlossen ist. Die
Vereinigten Staaten sind in Genf nicht anwesend; aber wo die Monroe-
D oktrin anerkannt ist und andere am erikanische Staaten anw esend sind,
können sie tatsächlich auch nicht abw esend sein.
Diese Mischung von A bw esenheit und A nw esenheit ist nun alles andere
als ein kurioser Zufall. Sie ist nicht etw a durch die persönlichen E igenarten
des Präsidenten Wilson oder aus ähnlichen p eripheren G ründen zu er­
klären. Sie liegt in der G esam tstruktur der heutigen europäischen V er­
hältnisse tief begründet und w iederholt sich bei jed e r wichtigen Frage. Es
muß jedem aufm erksam en Betrachter auf fallen, wiei die V ereinigten
Staaten an der Regelung der deutschen R eparationsfragen entscheidend
beteiligt sind und dabei trotzdem form ell die äußerste Zurückhaltung
wahren. In der Reparationskom m ission saß kein am erikanisches Mitglied.
Die vier M itgliedstaaten sind: Frankreich, England, Italien und Belgien.
Das Londoner Protokoll vom 16. August 1924, in welchem die heutige Rege­
lung der Reparationszahlungen auf G rund des sog. D aw esplanes enthalten
ist, beruht auf V erträgen zwischen dem Deutschen Reich und der R epa­
rationskommission bzw. den in der Reparationskom m ission vertretenen
alliierten Mächten. Dazu kom men w eitere Interessenten, und das Londoner
Protokoll ist unterzeichnet von Belgien, G roßbritannien (mit Dominions
und Indien), Frankreich, Griechenland, Japan, Italien, Portugal, Rum änien
und dem serbo-kroatisch-slowenischen Königreich. In der Einleitungsform el
ist aber gesagt, daß die V ereinigten Staaten sich „durch V ertreter mit
genau um grenzter Vollmacht“ angeschlossen haben. Ebenso sind die Ver-
D er V ölk erb u nd u nd Europa 93

einigten S taaten an dem P ariser V ertrag vom 14. Jan u ar 1925 beteiligt,
durch w eldien England, Frankreich, Italien, Japan, Belgien, Brasilien,
Griechenland, Polen, Portugal, Rum änien, Tschecho-Slowakei und das serbo­
kroatisch-slowenische Königreich sich über die V erteilung der A nnuitäten
einigen. Das E igenartige und A uffällige liegt nun darin, daß in allen ent­
scheidenden, d. h. politischen Augenblicken der D urchführung des Dawes-
planes ein „am erikanischer B ürger“ erscheint. Nach § 2 a des A rtikels I der
Anlage IV w ird, w enn die R eparationskom m ission über eine F rage des
D aw esplanes zu entscheiden hat, ein B ürger der V ereinigten Staaten von
Am erika, „a citizen of the U nited States of A m erica“ m it Stimmrecht an
den B eratungen teilnehm en; er ist „B ürger der V ereinigten Staaten“, aber
nicht deren offizieller V ertreter; er w ird durch einstim migen Beschluß der
Reparationskom m ission, gegebenenfalls durch den Präsidenten des Stän­
digen Gerichtshofes im H aag, aber nicht von der am erikanischen Regierung
ernannt. Bei d er Feststellung einer V erfehlung gegen die R eparationsver­
pflichtungen, dem eigentlich politischen A kt des Reparationsvollzugs, also
bei der Entscheidung über die Voraussetzung der Zulässigkeit von Sank­
tionen, erscheint w iederum ein „B ürger der V ereinigten S taaten“. Die durch
die R uhrbesetzung berühm t gew ordene Anlage II >zu Teil VIII des V er­
sailler V ertrages, die das Sanktionsrecht behandelt, ist im Londoner Proto­
koll m odifiziert, aber keinesw egs aufgehoben. Nach § 16 a dieser Anlage II,
in der Fassung des A rtikels I der Anlage IV des Londoner Protokolles, ist
es Sache der Reparationskom m ission, über jeden A ntrag auf Feststellung
einer N ichterfüllung Deutschlands zu befinden; bei A blehnung des A ntrags
oder M ehrheitsbeschluß kann jedes M itglied der Reparationskom m ission
eine Schiedskommission anrufen; der Vorsitzende der Schiedskommission
ist imm er ein am erikanischer B ürger. Auch Streitigkeiten desU bertragungs-
(Transfer-) Kom itees über die Frage, ob deutscherseits „verabredete finan­
zielle M anöver“ vorliegen, entscheidet ein Schiedsgericht und muß der Vor­
sitzende des Schiedsgerichts ein am erikanischer B ürger sein. Diese eigen­
artige Rolle eines nichtoffiziellen und doch auch w ieder nicht bloß privaten
am erikanischen B ürgers ist ein Symptom und ein Symbol. Vom deutschen
Standpunkt aus ist zu sagen, daß in der H eranziehung des „am erikanischen
B ürgers“ die W ahrscheinlichkeit einer gerechteren Entscheidung liegt, als
sie von den europäischen M itgliedern der Reparationskom m ission, d. h.
von den europäischen R egierungen, e rw a rte t w ird.
Daß die w ichtigsten N achkriegsfragen — R eparation und in teralliierte
Schulden — nicht ohne die V ereinigten Staaten von A m erika geregelt
w erden können, versteht sich, von selbst. D aß die V ereinigten Staaten auf
G rund der M onroe-Lehre jede Einmischung in politische V erhältnisse
Europas zu verm eiden suchen, ist bei der prinzipiellen Bedeutung dieser
Lehre erklärlich. A ber jen e wirtschaftlichen F ragen haben eine unverm eid­
lich politische Bedeutung, und so w ird eine wirkliche Abw esenheit doch
w ieder undurchführbar. D as E rgebnis ist jene Mischung von Abw esenheit
94 D er V ölk erb u n d u nd E uropa

und A nw esenheit der V ereinigten Staaten, w ie sie das V erhältnis des


V ölkerbundes zu A m erika wie Europas zu A m erika kennzeichnet. Es liegt,
wie schon erw ähnt, tief in der gegenw ärtigen S tru k tu r E uropas begründet
und hat eine sehr k lare geschichtlich-politische Ursache. D enn es w aren
die Vereinigten Staaten von A m erika, die den W eltkrieg entschieden haben.
Sie haben auf der P ariser Friedenskonferenz m itgew irkt und dam als schon
eine Reihe von M ilderungen zugunsten D eutschlands durchgesetzt, also
dam als schon zwischen Siegern und Besiegten eine A rt schiedsrichterliche
Stellung eingenommen. Bis auf den heutigen Tag besteht diese schieds­
richterliche Stellung der V ereinigten Staaten tatsächlich w eiter. Sie äußert
sich in verschiedenartigen, aus m annigfachen G ründen form ell verschleier­
ten M ethoden der Beteiligung und E inw irkung, aus welchen dann jene
eigenartige V erbindung von A bw esenheit und A nw esenheit entsteht. Aber
die Beteiligung ist darum nicht w eniger effektiv und nicht w eniger inten­
siv. t ü r unsere Frage, fü r das V erhältnis von V ölkerbund und Europa,
liegt darin schon eine A ntw ort. Nicht der G enfer V ölkerbund ist der Schieds­
richter der fundam entalen europäischen Fragen, sondern die V ereinigten
Staaten, und was der Besiegte des W eltkrieges an G erechtigkeit und Billig­
keit noch zu erw arten hat, das e rw a rte t er nicht vom G enfer Völkerbund,
sondern von den Vereinigten Staaten. W enn der V ölkerbund nicht im stande
w ar, unparteiische Instanz zu sein und die T eilung E uropas in Sieger und
Besiegte zu überw inden, so kom m t er in keinem wesentlichen P u n k te für
das G esam tproblem Europas in Betracht. D enn die erste Aufgabe, die erste,
unum gänglichste Leistung einer europäischen Staatenvereinigung m üßte
d arin bestehen, dieser gefährlichen U nterscheidung ih r politisches Gift
zu nehmen.
D er G enfer V ölkerbund w ill kein spezifisch europäischer, sondern ein
universaler Bund sein. A ber das W ort „universal“ h at einen mehrfachen
Sinn. Es w ird meistens als eine bloß räumliche, te rrito ria le U niversalität
auf gef aßt in dem Sinne, daß der V ölkerbund alle Staaten der E rde um ­
fassen sollte. Mit einer solchen räum lichen U niversalität w äre selbstver­
ständlich nicht viel erreicht, w enn nicht eine sachliche U niversalität hinzu­
käme. D enn auch eine V erwaltungsgem einschaft, ein W eltpostverein, hat
diese räumliche U niversalität ohne entscheidende politische W irkung und
Bedeutung. Eine sachliche U niversalität aber besteht nicht n u r darin,
daß der V ölkerbund sich mit je d e r den F rieden der E rde berührenden
Angelegenheit befassen, also jed e wichtige politische F rage an sich ziehen
und zu ihr Stellung nehm en kann. D eshalb k an n er im m er noch das poli­
tische W erkzeug einer G ruppe von Staaten im K am pf gegen andere Staaten,
die O rganisation des status quo von Versailles, die L egitim ierung der
Beute sein. E rst w enn er sich über den politischen Egoismus einzelner
Mächte und G ruppen erhebt, w enn insbesondere die U nterscheidung von
Siegern und Besiegten in der Sache — nicht fü r Konferenzhöflichkeiten
und Festreden — so w eit beseitigt ist, daß d er Besiegte das G efühl haben
kann, gerecht behandelt zu w erden, w ird m an von einer echten U niversali-
D er V ölkerbund und Europa 95

tät sprechen dürfen. F ü r die europäischen Staaten und Angelegenheiten ist


diese echte U niversalität so wenig erreicht, daß im Gegenteil die Anwesen­
heit außereuropäischer, insbesondere am erikanischer Staaten im Völker­
bund als ein Elem ent der Gerechtigkeit und Billigkeit gelten kann. Soweit
es sich um die Vereinigten Staaten handelt, dient jene Verbindung von
Abwesenheit und A nw esenheit dem gleichen Ergebnis einer gewissen
N eutralität.
D er V ölkerbund ist also kein universaler Bund, w eder im räumlichen
noch in irgendeinem sachlichen Sinne. Weil er aber nicht universal ist,
braucht er nicht deshalb schon ein europäischer Bund zu sein. D afür ist
seine Verbindung mit den F riedensverträgen von Versailles, St. Germain,
Trianon unc^N euilly zu eng. Die Besiegten dieser vier Friedensverträge
sind zw ar sämtlich europäische, in der Hauptsache sogar mitteleuropäische
Staaten. D er Inhalt der F riedensverträge betrifft infolgedessen hauptsäch­
lich E uropa und um faßt keine Regelung des W eltfriedens, d. h. des Friedens
der ganzen Erde, keine universale politische O rdnung. D aran verm ag die
allen vier F riedensverträgen vorangestellte Völkerbundsatzung nichts zu
ändern. Die vier F rieden von 1919/20 sind kein W eltfrieden. Denn auch
der Krieg von 1914—18 w ar nicht in der vollen Bedeutung des W ortes
ein „W eltkrieg“. E r w ird gewöhnlich so bezeichnet, in einem gewissen
Sinne mit Recht, weil nämlich seit dem Eingreifen Am erikas die ganze
W elt gegen zwei m itteleuropäische, im wesentlichen kontinentale Staaten
Krieg führte und weil das Deutsche Reich mit einer unerw arteten, un­
glaublichen K raft diesen Kam pf gegen die W elt m ehrere Jahre ausgehalten
hat. A ber das w ar nicht in dem Sinne ein W eltkrieg, wie es z. B. heute
ein Krieg w äre, in welchem auf der einen Seite die angelsächsischen
Imperien, auf der andern Rußland, Japan und C hina einander gegenüber­
ständen. Das bedeutet: D er Krieg von 1914 bis 1918 w ar kein W eltkrieg in
dem Sinne, wie die napoleonisehen Kriege von 1799 bis 1815 europäische
Kriege waren. Die europäische Koalition gegen Napoleon I. um faßte ganz
Europa; die beiden P arteien w aren militärisch und wirtschaftlich einander
gewachsen; die Kriege erfaßten den ganzen europäischen Kontinent, ihre
Beendigung w ar infolgedessen ein e u r o p ä i s c h e r Friede. Auf dem
W iener Kongreß w urde eine G esam tregelung der europäischen V erhält­
nisse getroffen, die man als eine systematische O rdnung Europas bezeichnen
kann und deren politische G arantie, die heilige Allianz vom 14. Septem ber
1815, ein politisches Bündnis zwischen Rußland, Österreich und Preußen,
seit dem B eitritt Frankreichs (1818) in viel höherem Maße den G edanken
einer europäischen E inheit verw irklichte als der G enfer V ölkerbund vom
Jahre 1919.
Das Schicksal der heiligen Allianz, des einzigen europäischen Gesamt­
systems der letzten Jahrhunderte, zeigt besser als jede Konstruktion,
welche politischen Schwierigkeiten einer Einigung Europas entgegen­
stehen. D enn kaum tra t damals ein solches europäisches System auf, als
auch sofort von der anderen Seite die G egengruppierung auftrat. Die (unter
96 D er V ölk erb u nd u nd Europa

Billigung Englands) von den V ereinigten Staaten im Jah re 1823 prokla­


m ierte M onroe-Doktrin richtete sich eben gegen diese heilige A llianz und
stellte dem Versuch eines europäischen Bundes den einheitlichen am erika­
nischen Kontinent gegenüber, noch bevor dieser K ontinent vollständig
kolonisiert und besiedelt w ar. Eine politische Einigung E uropas w äre w elt­
politisch ein u n erhörter Vorgang. Sie w äre etw as viel Unwahrscheinlicheres
als die Einigung Deutschlands im 19. Jah rh u n d ert, von der m an doch sagen
muß, daß sie trotz einer generationenlangen V orbereitung, trotz natio­
naler Freiheitskriege und einer nationalen R evolution doch n u r durch die
G enialität eines einzigen Mannes und n u r m it H ilfe günstiger außenpoli­
tischer Konstellationen möglich w urde. Jedem Staatsm ann des 19. Ja h r­
hunderts, vor allem aber Bismarck selbst, w ar das Erstaunliche dieses
Gelingens bewußt, und keiner hat sich eingebildet, eine d erartige politische
Neubildung könnte ohne das Risiko gefährlicher Feindschaften, ohne
gefährliche K riege und unabsehbare außenpolitische W irkungen vor sich
gehen. D er W eltkrieg von 1914 bis 1918 ist n u r eine von den Folgen der
politischen Einigung Deutschlands. Eine politische Einigung Europas aber
w äre im Vergleich zu dieser nationalen Einigung Deutschlands ein w ahres
W under. W enn dieses Europa nicht bloß eine harm lose D ekoration, sondern
eine politische, d. h. von den wechselnden wirtschaftlichen Interessen und
K onjunkturen unabhängige, dauernde und aktionsfähige Einheit sein soll,
so w äre es nicht weniger als eine neue W eltmacht. Ih re bloße Existenz
w ürde neue Freund- und Feindgruppierungen bew irken, und m an m üßte
abw arten, ob die bestehenden W eltmächte, insbesondere die angelsäch­
sischen Staatensysteme, ein Interesse daran haben, neben sich ein politisches
Gebilde von einiger K raft und Selbständigkeit entstehen zu lassen. Wie
dem aber auch sei, der G enfer V ölkerbund w äre auf keinen F all das M ittel
einer solchen politischen Einheit. Sein politischer Zweck besteht nach fra n ­
zösischer Auffassung eher darin, den europäischen status quo von 1919
zu stabilisieren und dem Erfolg der A lliierten die W eihe der Legitim ität
zu geben. E r g aran tiert jedenfalls den bestehenden S taaten ih re politische
U nabhängigkeit und Selbständigkeit. Sollte es w irklich zu ernsthaften
Einigungsbestrebungen kommen, so w ürde er also wahrscheinlich fü r diese
Einigung ein noch w eit stärkeres H indernis bilden, als es der Deutsche
Bund von 1815 für die nationale Einigung Deutschlands gewesen ist. Auch
unter diesem Gesichtspunkt einer denkbaren politischen Einigung Europas
erscheint der G enfer V ölkerbund nicht in irgendeinem spezifischen Sinne
als eine europäische O rganisation.
Die Frage nach dem V erhältnis von V ölkerbund und E uropa fü h rt also
zu einem negativen Ergebnis. Nach seiner heutigen G estaltung und T ätig­
keit kann man wohl sagen, daß der G enfer V ölkerbund hauptsächlich euro­
päische A ngelegenheiten behandelt, er ist aber w eder der A usdruck einer
gesamteuropäischen Selbstbestimm ung noch in einer besonderen W eise der
Schiedsrichter der eigentlich entscheidenden europäischen Fragen, näm ­
lich der R eparationen und der in te ralliierte n Schulden, die er w eder regeln
V ölkerrechtliche P rob lem e im R hein geb iet 97

kann nodi auch n u r regeln will. Stimmungsmäßig und gefühlsmäßig w ird


der G edanke eines W eltfriedens m it dem G enfer V ölkerbund in Ver­
bindung gebracht, und abgesehen von den politischen Interessen einzelner
Großmächte ist es hauptsächlich diese V erbindung und das große Interesse
der zw eiten Internationale, das den V ölkerbund moralisch trägt. Das kann
dazu führen, daß der G enfer V ölkerbund vielleicht einm al einen euro­
päischen K rieg verh in d ert — gewiß etw as sehr W ertvolles. A ber dam it
sind die ungeheuren europäischen Problem e noch nicht gelöst. Die eigent­
liche B efriedung Europas — von seiner Einigung ganz zu schweigen — w ird
infolge d er eigenartigen V erbindung des V ölkerbundes m it den Friedens­
verträgen ebensosehr v erh in d ert w ie gefördert. Die Unterscheidung von
Siegern und Besiegten, Bewaffneten und Entwaffneten, von kontrollierten
und nichtkontrollierten, o kkupierten und freien, mit „Sanktionen“ be­
drohten und ih re „Sicherheit“ genießenden Staaten, diese fundam en­
talen Ungleichheiten sind durch den G enfer V ölkerbund nicht aufgehoben.
D aran h at auch die A ufnahm e Deutschlands in den V ölkerbundsrat nichts
geändert. Es ist notw endig, das m it aller K larheit zu sehen, dam it die
Begriffe „V ölkerbund“ und „E uropa“ auf hören, suggestive A nknüpfungs­
punkte fü r irgendw elche irrefü h ren d en K onstruktionen zu sein und der
w ahre Schiedsrichter E uropas erk en n b ar w ird. Man kann dieses Ergebnis
„negativ“ nennen, aber es ist sicher nicht w ertlos. F ü r das Interesse intellek­
tueller Redlichkeit ist jed e zerstörte Illusion ein großer Gewinn.

12. Völkerrechtliche Probleme im Rheingebiet (1928)


D ie deutschen G ebiete am R hein sind heute das O b jek t einer völker­
rechtlichen A usnahm ebehandlung, die sowohl in der W eite ihres Inhaltes,
wie in dem Maß ih re r D auer, wie endlich auch in der K om pliziertheit und
V ieldeutigkeit ih re r Regelung ganz beispiellos ist. Die Geschichte zivili­
sierter V ölker d ü rfte keinen zw eiten auch n u r ähnlichen F all einer derartig
vielgestaltigen, über ein national homogenes G ebiet verhängten Reihe von
A bnorm itäten kennen. Trotz der vielen E rörterungen über das R heinland­
problem kom m t der eigentliche C h a ra k te r dieses Zustandes nur allmählich
zum Bew ußtsein. D enn auf der einen Seite liegt es nahe, die Sonderbehand­
lung der R heinlande in dem großen Meer der Ungerechtigkeiten und
H ärten des V ersailler V ertrages auf gehen zu lassen, sich m it einem summa­
rischen G efühl heftiger Em pörung zu begnügen und dann n u r ganz auf­
dringliche Erscheinungen, wie die Besatzungsarm ee, zu sehen; auf der
anderen Seite beschränkt sich das Interesse juristischer und adm inistrativer
Fachleute gern auf technische Einzelfragen und v e rliert in der Fülle der
D etails, die ein solcher Zustand täglich m it sich bringt, leicht den Blick

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